Anthony Giddens - Jörn Lamla - E-Book

Anthony Giddens E-Book

Jörn Lamla

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Beschreibung

Anthony Giddens ist einer der wichtigsten Soziologen der Gegenwart. Seine Theorie der Strukturierung steht gleichrangig neben großen soziologischen Entwürfen wie der Systemtheorie. Zugleich gilt er als scharfsinniger Analytiker der Spätmoderne und als Theoretiker der englischen Sozialdemokratie, vor allem mit seinen Überlegungen zur Politik des »Dritten Weges«. Seine zeitdiagnostischen und politischen Texte bieten zahlreiche Anregungen in aktuellen Debatten - von G wie Globalisierung bis S wie Sexualität.

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Lamla, Jörn

Anthony Giddens

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2003. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40042-6

|5|Für Melanie,

als kleiner Trost für die entgangene Zeit

|9|Siglen

CCHM 

Giddens, Anthony (1981): A Contemporary Critique of Historical Materialism. Vol. 1: Power, property and the state. London; Basingstoke

CP 

Giddens, Anthony (1979): Central Problems in Social Theory. Action, structure and contradiction in social analysis. Houndmills u.a.

IS 

Giddens, Anthony ([1976] 1984): Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung. Frankfurt/New York

JLR 

Giddens, Anthony ([1994] 1997): Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie. Frankfurt/M.

KdM 

Giddens, Anthony ([1990] 1995): Konsequenzen der Moderne. Frankfurt/M.

KG

Giddens, Anthony ([1984] 1992): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Mit einer Einführung von Hans Joas. Studienausgabe. Frankfurt/New York

KStr 

Giddens, Anthony ([1973] 1984): Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften. Frankfurt/M.

KTSM

Giddens, Anthony (1992): Kritische Theorie der Spätmoderne. Wien

MS 

Giddens, Anthony (1991): Modernity and Self-Identity. |10|Self and Society in the Late Modern Age. Cambridge

NSV 

Giddens, Anthony (1985): The Nation-State and Violence. Volume Two of A Contemporary Critique of Historical Materialism. Cambridge

RM 

Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott (1996): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt/M.

TW 

Giddens, Anthony (1998): The Third Way. The Renewal of Social Democracy. Cambridge

TWC 

Giddens, Anthony (2000): The Third Way and its Critics. Cambridge

WdI 

Giddens, Anthony ([1992] 1993): Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften. Frankfurt/M.

|11|Einleitung

Anthony Giddens gehört zu den weltweit bekanntesten Soziologen der Gegenwart. Er ist einer der ganz wenigen Vertreter seiner Generation, die das Fach Soziologie noch in voller Breite repräsentieren und programmatisch zu integrieren versuchen. Sein Werk erstreckt sich von zahlreichen Kommentierungen soziologischer Klassiker und Gegenwartstheoretiker über die Ausarbeitung eines methodologischen Rahmens für die sozialwissenschaftliche Forschung – seine »Theorie der Strukturierung« – bis hin zu einer langen Reihe politischer Problem- und Zeitdiagnosen der Gegenwartsmoderne. Zudem hat er umfassende Einführungen für das Soziologiestudium verfasst und im angelsächsischen Sprachraum gute Chancen, ganze Studierendengenerationen damit soziologisch zu prägen. Giddens will die Geschichte des sozialtheoretischen Denkens neu schreiben, das begriffliche und methodische Inventar der sozialwissenschaftlichen Disziplinen insgesamt erneuern und eine profunde Analyse der modernen Gesellschaft vorlegen, die uns deren Eigenheiten gegenüber früheren Gesellschaften begreiflich macht (vgl. Giddens/Pierson 1998, S. 44f.).

In den letzen Jahren hat sich sein missionarischer Eifer zudem aus den Grenzen der sozialwissenschaftlichen Disziplin heraus- und in die Sphäre der Politikberatung hineinverlagert: Giddens hat nicht unerheblich zur programmatischen Erneuerung |12|von »New Labour«, der nach langer Oppositionszeit 1997 wieder an die Regierung gelangten sozialdemokratischen Partei Großbritanniens, beigetragen. Er gilt als intellektuelle Schlüsselfigur und einer der wichtigsten Berater Tony Blairs, und seine führende Rolle in der »Global Third Way Debate« (Giddens 2001) hinterlässt weit über die britische Insel hinaus Spuren in der Politik der Mitte-Links-Regierungen. Seit 1997 (bis September 2003) ist Anthony Giddens ferner Direktor der bekannten London School of Economics and Political Science (LSE) und bemüht sich in dieser Position vor allem, wissenschaftliche Politikanalysen zu den brennenden reformpolitischen Fragen unserer Zeit voranzutreiben: Wie können die Nationalstaaten die Herausforderungen der Globalisierung bewältigen? Was ist zu verändern, damit die Krise des modernen Sozialstaats abgewendet werden kann? Gibt es eine Zukunft für die Demokratie, für die Familie, für ein solidarisches und gewaltfreies Zusammenleben? Und wie sollen wir mit den hausgemachten Risiken und unseren Fähigkeiten, tief in die natürlichen, insbesondere auch genetischen Lebensgrundlagen einzugreifen, verantwortungsvoll umgehen?

Die Hinwendung zu praktischen Fragen der Politik impliziert für den Sozialtheoretiker Giddens keinen Rollenwechsel, sondern resultiert aus seinem Wissenschaftsverständnis. Denn die Sozialwissenschaften, darauf zielt sein Theorem der doppelten Hermeneutik, haben es im Unterschied zu den Naturwissenschaften mit einem Gegenstand zu tun, der selbst intelligente Vorstellungen und Theorien über das soziale Leben anfertigt und dabei nicht unwesentlich auf das zurückgreift, was die sozialwissenschaftliche Forschung an Erkenntnissen abwirft. Dieses soziologische Wissen wird nicht eins zu eins in die Praxis übersetzt, sondern von den Menschen auf ihre alltäglichen Lebensprobleme bezogen und vielfältig modifiziert oder umgedeutet. Wurden zum Beispiel die australischen Aborigines von der anthropologischen Forschung lange als exotisches Objekt |13|behandelt, so kann man heute (soziologisch) beobachten, wie Bücher über ihre ursprünglichen Kulturformen, die lange in Bibliotheken verstaubten, von den Ureinwohnern selbst gelesen und gezielt politisch eingesetzt werden, um etwa Landrechte oder staatliche Fördergelder für ihre Traditionspflege einzufordern (vgl. RM 182; KTSM 31). »Soziologisches Wissen schraubt sich in den Bereich des sozialen Lebens hinein und aus diesem Bereich wieder heraus, und es gehört als integraler Bestandteil mit zu diesem Vorgang, dass dieses Wissen dabei sowohl sich selbst als auch diesen Bereich umgestaltet« (KdM 26). Die Soziologie habe somit nicht nur Verstehens- und Erkenntnisprobleme, sondern könne sich auch ihrer praktischen Verantwortung nicht entziehen und müsse sich als kritische Wissenschaft der Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse verpflichten – auch wenn sie dafür keine Garantien liefern kann. Enthaltsamkeit in politischen Fragen wäre für Giddens der falsche Weg.

Im heutigen Medien-, Kommunikations- und Informationszeitalter erreicht sozialwissenschaftliches Expertenwissen auch die entlegensten Winkel unserer Erde. Das ist ein Beispiel für die globale Ausdehnung, die das moderne Institutionengefüge inzwischen erreicht hat. Zugleich ist diese institutionelle Reflexivität (vgl. MS 20), das heißt die alltägliche Verwendung des Wissens über die Gesellschaft, eine wesentliche dynamische Triebkraft, die den Wandel des modernen Lebens bestimmt. Mit ihrer reflexiven Haltung bringen die Menschen alltäglich die Gesellschaft hervor und verändern sie zugleich. Die Reflexivität bezeichnet somit mehr als die Verwobenheit der Soziologie mit der Alltagspraxis. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist für Giddens generell durch diese Haltung der Handelnden gegenüber ihren Lebensumständen gekennzeichnet: Individuen sind kompetente Akteure und intelligente Beobachter ihrer sozialen Umwelt, die eine ausgesprochen aktive Rolle bei der Hervorbringung des gesellschaftlichen Zusammenhalts |14|spielen – besonders nach dem Wegbrechen traditionaler Konventionen. Wenn das Alltagsleben auch zum großen Teil aus Routinen besteht, über die das handelnde Individuum kaum nachdenken muss, gleicht sein Verhalten doch keinem Automatismus. Anknüpfend an Arbeiten von Schütz, Garfinkel, Goffman und Wittgenstein betont Giddens die aktiven Interpretationsleistungen, die erforderlich sind, um in alltäglichen Interaktionsroutinen einfachste sprachliche Verständigungen oder Kooperationen zustande zu bringen. Soziale, also überindividuelle Regeln funktionieren nicht wie ein selbstlaufendes Computerprogramm, sondern sind die praktischen Werkzeuge, die von kompetenten, mit stillschweigendem Wissen und kreativen Fertigkeiten ausgestatteten Individuen den ständig wechselnden Lebensumständen angepasst werden müssen.

Giddens betont allerdings, dass sich Gesellschaft nicht auf bewusstes soziales Handeln reduzieren lässt. Auch wenn Individuen aktiv, mit Gründen und intelligenter Interpretations und Beobachtungsgabe in die sozialen Geschehnisse eingreifen, haben sie ihr Handeln doch nicht vollständig unter Kontrolle. Insbesondere weist Giddens den naiven Aufklärungsglauben zurück, zwischen dem Anwachsen des reflexiven Wissens und der kollektiven Fähigkeit, die gesellschaftliche Entwicklung zu steuern, bestehe ein linearer Zusammenhang. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein, wie unsere Gegenwartsgesellschaft überdeutlich zeige. Giddens (KdM 173) vergleicht diese mit dem »Juggernaut« der indischen Mythologie: Wie ein riesiges Gefährt, das – einmal ins Rollen gebracht – nicht mehr zu bremsen ist, sich kaum lenken lässt und alles zermalmt, was sich in den Weg wirft, produziert die moderne Gesellschaft ihre Segnungen nur mit hohen Folgekosten wie selbstfabrizierte ökologische, militärische und soziale Risiken. Heute werden diese »Konsequenzen der Moderne« sichtbar: Der Kapitalismus forciert durch seine grenzüberschreitenden Finanzströme eine Globalisierung, die auf alle Lebensbereiche durchgreift |15|und deren Ungewissheiten erhöht; Umweltzerstörungen durch das industrielle Produktionssystem überschreiten die nationalen Grenzen ebenso wie Fragen militärischer Sicherheit, des Rechts oder staatlicher Informationskontrolle; neue Kommunikationstechnologien helfen, Zeit-unabhängig enorme Distanzen zu überbrücken und soziale Beziehungen werden entbettet, das heißt, aus traditionalen Zusammenhängen lokaler Gemeinschaften herausgelöst und damit brüchig.

Globalisierung, Post-Traditionalität und soziale Reflexivität markieren die wichtigsten Entwicklungen unserer Zeit. Sie beinhalten erhebliche Bedrohungen und Schwierigkeiten für das soziale Zusammenleben und das Überleben der Gattung, werden von Giddens aber nicht nur negativ beurteilt. Wichtige positive gesellschaftliche Veränderungen führt er zum Beispiel auf die Erfolge der Frauenbewegung im Kampf um Gleichstellung zurück: Auch wenn die Anforderungen an die Organisation und den emotionalen Haushalt des Alltags- und Familienlebens bisweilen erhebliche Belastungen und Rückschläge mit sich bringen, belegen die Veränderungen in den Intimbeziehungen doch die Robustheit einer demokratischen Kultur, die das Wegbrechen von Tradition gut verkraften kann.

In anderen Bereichen, etwa was die Krisen- und Destabilisierungspotenziale der globalen Finanzmärkte oder die Auswirkungen der biotechnologischen Revolution anbelangt, fällt die Diagnose sehr viel skeptischer aus. Hier habe die Entwicklung der Moderne eine neue Schwelle weitreichender Transformationen erreicht, und Giddens wagt keine Prognose, wie es ausgehen wird (vgl. Hutton/Giddens 2001, S. 259ff.). Klar sei nur, dass sich radikale Veränderungen im Gefüge der modernen Gesellschaft abzeichnen, auch wenn die alten institutionellen Dimensionen weiterhin ihre Struktur und Dynamik prägen. Giddens unterscheidet mit dem Kapitalismus, dem Industrialismus, dem bürokratischen System staatlicher Überwachung und dem System der Nationalstaaten als Form der Kontrolle |16|militärischer Gewaltmittel vier institutionelle Dimensionen, die historisch eine eigenständige Rolle bei der Herausbildung der Moderne gespielt haben und nach wie vor von zentraler Bedeutung sind, auch wenn sie im Zuge der Globalisierung ihr Gesicht verändern. Die Soziologie steht vor der großen Aufgabe, das Ausmaß dieser Kontinuitäten und Veränderungen genauer abzuschätzen. Für Giddens ist dabei zentral, die gegenwärtigen Wandlungstendenzen nicht einseitig irgendwelchen anonymen Mächten zuzuschreiben, sondern die Verwobenheit mit dem Alltagshandeln und den Chancen und Risiken einer aktiven Gestaltung der Zukunft zu analysieren.

Darin liegen erhebliche theoretische Herausforderungen. Wenn unklar ist, in welchem Ausmaß das Anwachsen des reflexiven Wissens über die gesellschaftlichen Institutionen im Alltagshandeln mit kollektivem Kontrollverlust einhergeht, muss die Analyse zwei unterschiedliche Perspektiven auf die soziale Wirklichkeit zusammenbringen: hier die Cleverness der handelnden Subjekte, dort die dynamischen Eigenwirkungen objektiver gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge. Diesem theoretischen Problem von »Agency« und »Structure« hat sich Giddens in der zweiten Hälfte der 1970er bis in die 1980er Jahre hinein gewidmet, als er seine Theorie der Strukturierung entwarf (vgl. IS; CP; KG). Gut gerüstet durch seine lange Beschäftigung mit den soziologischen Klassikern ebenso wie mit der Sozialtheorie seiner Zeit und überzeugt, dass die Aufspaltung der Soziologie in Makro- versus Mikro-, Objekt- versus Subjektperspektive oder quantitative versus qualitative Methoden in die Irre führt, hat Giddens einen Ansatz entwickelt, der die Untrennbarkeit von Handeln und Struktur behauptet und beiden Seiten in der soziologischen Analyse gleichermaßen gerecht werden will. Die Vermeidung von Einseitigkeiten und Dualismen ist für ihn ein theoretisches Leitmotiv.

Die Problemstellung seiner Theorie der Strukturierung ist äußerst anspruchsvoll und zeigt Parallelen zur Gesellschaftstheorie |17|von Jürgen Habermas (1981). Beide fragen etwa nach dem Verhältnis von Sozial- und Systemintegration. Doch anders als Habermas sieht Giddens hier nicht zwei getrennte Handlungslogiken am Werk, die verschiedene gesellschaftliche Sphären konstituieren, deren Analyse unterschiedliche soziologische Zugangsweisen erfordert (vgl. Joas 1986). Um den inneren Zusammenhang nicht vorschnell aufzulösen, betrachtet er vielmehr Handeln und Struktur als Dualität, also als zwei Seiten einer Medaille, die in jeder sozialen Praxis zusammenwirken. Der historische Kronzeuge dafür ist Karl Marx (Marx/ Engels 1972, S. 308) mit seinem Bonmot: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« In dieser Figur der aktiven Produktion und gleichzeitigen Reproduktion gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge, der ständigen Neuschöpfung des Sozialen aus Altbewährtem, findet Giddens seinen Ausgangspunkt, um über Struktur und Handeln sowie den Zusammenhang von Sozial- und Systemintegration nachzudenken: Als Moment einer Dualität existieren soziale Strukturen nur, soweit sie in der alltäglichen Praxis von Handelnden zum Tragen gebracht werden, und umgekehrt kommen die Individuen nicht umhin, dabei auf Strukturen – etwa Regeln der Sprache, normative Erwartungen oder asymmetrische Macht- und Ressourcenverteilungen – zurückzugreifen.

Im Zuge der Ausarbeitung seines Ansatzes hat Giddens souverän das riesige Feld der Sozialphilosophie und -theorie durchschritten, immer bemüht, den Argumenten seiner Widersacher gerecht zu werden, aber auch immer bereit, unkonventionelle Wege zu gehen. So führte der Praxisbegriff von Marx zu Heidegger, weil er an die Ontologie von Raum und Zeit gebunden werden musste, und von diesen philosophischen Höhen zurück in die Niederungen der Zeitgeografie von Hägerstrand, |18|die in der Sozialtheorie bis dahin völlig unbekannt war. Um den zwei Seiten der Strukturierung sozialer Praxis Rechnung zu tragen, musste sodann ein adäquates Modell des handelnden Subjekts gefunden werden, wofür Giddens nicht nur interpretative Schulen von Max Weber über Schütz, Garfinkel, Goffman bis hin zu Winch und Wittgenstein heranzog, sondern ebenso die psychoanalytischen Ansätze von Freud bis Erikson aufgriff und kritisch mit der französischen Tradition des Strukturalismus und Post-Strukturalismus von Ferdinand de Saussure über Claude Lévi-Strauss bis hin zu Michel Foucault oder Jacques Derrida verknüpfte, um die Grenzen bewusster Kontrolle sowie die Einbruchstellen sozialer Strukturen in das subjektive Handeln auszuloten.

Damit aber nicht genug musste Giddens zeigen, wie seine Theorie die Systemintegration komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge zu erklären vermag. Hier sah er sich mit einem »orthodoxen Konsensus« der Gesellschaftstheorie konfrontiert, die durch Parsons’ Interpretation der soziologischen Klassiker dominiert war, ein positivistisches Wissenschaftsverständnis vertrat und vorwiegend funktionalistisch oder evolutionistisch argumentierte. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Selbstmordstudie von Emile Durkheim ([1897] 1983), der Selbstmorde nach dem Vorbild der Naturwissenschaften aus Gesetzmäßigkeiten des Sozialen zu erklären versuchte. Zu beobachtende Regelmäßigkeiten in den Selbstmordraten nahm er als Beleg für überindividuelle, hinter dem Rücken der Akteure wirkende soziale Kräfte – etwa in der Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung oder im moralischen Zusammenhalt sozialer Gruppen. Giddens wollte hingegen Ordnungskonzepte wie Institution, gesellschaftliches System oder Klassenstruktur verteidigen, ohne die aktive Rolle des Subjekts damit aus der Theorie zu verbannen. Dazu musste er einen Strukturbegriff (er-)finden, der im lokalen Handeln individueller Akteure wurzelnd die Regelmäßigkeiten erklärt, die Praktiken über Raum |19|und Zeit hinweg aufweisen. Das erforderte einen Bruch mit der etablierten Sicht auf die gesellschaftliche Ordnung, den ähnlich radikal auch die Figurationstheorie von Norbert Elias vollzogen hat. Dessen Einfluss auf Giddens ist nicht zuletzt biografisch bedeutsam.

Giddens beschreibt seine wissenschaftliche und intellektuelle Karriere als Verkettung von Zufällen und keineswegs als Resultat eines gezielten Lebensentwurfes. In der Schule eher mittelmäßig und wenig interessiert, aus einem Elternhaus im Norden Londons (Edmonton) kommend, in dem kaum Bücher vorhanden waren, hatte der 1938 geborene Giddens aus einer rebellischen Laune heraus zu ersten Philosophiebüchern gegriffen. Um einen Studienplatz in Philosophie bewarb er sich in Hall, weil er in London, Cambridge oder Oxford keine Chance sah, genommen zu werden. Nur weil dann die Philosophie in Hall völlig unterbesetzt war und die Zulassung zu Psychologieveranstaltungen einen Schein in Soziologie erforderte, hat er die Leidenschaft für sein späteres Fach entdeckt. Nach seinem Abschluss 1959 ging er auf Empfehlung seines Lehrers Peter Worsley für zwei Jahre an die LSE, wo er sich auf eine berufliche Zukunft im Staatsdienst vorbereiten wollte. Welche sozialwissenschaftlichen Größen dort ein- und ausgingen, hat Giddens erst viel später registriert. Für seine Abschlussarbeit wählte er ein Spaßthema und schrieb über »Sport and Society in Contemporary England«, was vielleicht seine (bis heute ungebrochene) Fußballliebe zu den »Spurs« aus Tottenham, kaum aber akademische Ambitionen zu erkennen gibt. Seine Londoner Lehrer David Lockwood und Asher Tropp unterstützen ihn wohl, ohne aber ernstes Interesse zu zeigen. Anerkennung für seine Überlegungen erfuhr er erst 1961, nachdem er sich auf Hinweis von Tropp und ohne viel nachzudenken an der Universität Leicester um eine Stelle in der Soziologie beworben hatte. In Leicester angekommen, sah sich Giddens beim Bewerbungsgespräch zwei Gentlemen gegenüber, von denen er zuvor nie |20|gehört hatte, die sogleich in eine interessante Diskussion über die Soziologie des Sports verfielen und dabei das Thema wichtiger als Giddens selbst zu nehmen schienen. Der eine war Ilya Neustadt, der andere Norbert Elias. Elias war in England noch gänzlich unbekannt. Seine Bände Über den Prozess der Zivilisation (Elias [1939] 1976) waren nicht übersetzt. Dennoch inszenierte er sich schon damals als weltberühmter Wissenschaftler und verkörperte die Tugenden der sachlichen Hingabe und Ausdauer dabei so authentisch, dass er einen nachhaltigen Eindruck bei Giddens hinterließ und nicht nur dessen Bild von Gesellschaft und sozialem Wandel maßgeblich beeinflusste (vgl. Giddens/Pierson 1998, S. 38f.).

Bis 1969 blieb Giddens in Leicester, allerdings mehrfach unterbrochen durch Aufenthalte in den USA und Kanada, zunächst in Vancouver, dann (und später mehrfach wiederholt) an der University of California in Los Angeles, wo er auch 1968/69 – in der sozialen Experimentierphase der Hippie- und Studentenbewegung – lehrte und in Seminaren die soziologischen Klassiker diskutierte. Aus diesen Studien ging sein erstes Buch (Giddens 1971) hervor, das eine viel beachtete Analyse der Schriften von Marx, Weber und Durkheim liefert und bereits das Anliegen zu erkennen gibt, die Verdrängung von Marx aus dem Kanon der soziologischen Klassik rückgängig zu machen. Zurück in England ging Giddens 1970 nach Cambridge, wo er John Goldthorpe als Fellow am King’s College nachfolgte. Dort hat er früh zu seinem Schlüsselprojekt gefunden, die Sozialtheorie im Strukturierungsansatz neu zu fundieren und eine Soziologie der Institutionen unserer Gegenwartsmoderne darauf aufzubauen. Mehr als 25 Jahre hat er dort (durch zahlreiche Gastaufenthalte unterbrochen) an dessen Realisierung gearbeitet.

Die nachfolgende Darstellung behandelt sowohl sozialtheoretische Aspekte des Strukturierungsansatzes als auch Bausteine der soziologischen Analysen und Diagnosen zur Gegenwartsmoderne |21|und versucht, beides im Zusammenhang zu entwickeln. Die Hoffnung ist, auf diesem Wege ein vollständigeres Bild dieses bedeutsamen Soziologen und Intellektuellen zu zeichnen, als es gewöhnlich geschieht. Ziel ist es auch, Richtungen aufzuzeigen, in die das ambitionierte wissenschaftliche Programm systematisch aufgenommen und mit Giddens über Giddens hinaus geführt werden kann. Dies ist schon deshalb notwendig, weil Giddens ausschließlich die ganz großen Fragen – sei es der Sozialtheorie, sei es unserer politischen Zukunft – gestellt hat, die sich kaum von einer einzelnen Person, auch nicht bei über 30 Büchern, zu voller Zufriedenheit beantworten lassen. Bei aller Kritik aber, die seine oftmals kursorisch abgefassten Thesen und zu wenig explizierten Begrifflichkeiten verdienen, sollte man doch die theoretische Leistung, Kreativität und den analytischen Scharfsinn seiner Arbeiten nicht übersehen: Giddens ist ein mit profundem Wissen und sozialtheoretischer Übersicht ausgestatteter Generalist, der sich spezialisiert hat, im großen Labyrinth der soziologischen Gedanken die Sackgassen und Irrwege für uns aufzuspüren und dabei beeindruckend erfolgreich agiert – auch wenn wir ihm deshalb noch nicht abnehmen müssen, dass er tatsächlich auch den Ausgang findet.

Eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen haben größere Teile des Manuskriptes gelesen und kritisch kommentiert. Ich möchte hier vor allem Thorsten Bonacker, Melanie Fabel, Sighard Neckel, Hartmut Rosa und Wolfgang Ludwig Schneider meinen Dank aussprechen, die mir viele Anregungen gegeben haben. Auch die Diskussionen in Seminaren und Kolloquien in Jena und Gießen waren sehr hilfreich. Ich danke insbesondere Sven Jacob, Andreas Langenohl, Carmen Ludwig, Georgia Rakelmann, Jens Warburg, Claudia Wiesner und Olaf Wolf. Seitens des Verlages bin ich mit viel Toleranz von Tanja Hommen und Judith Wilke-Primavesi betreut worden. Auch dafür vielen Dank.

|22|1 Die Strukturierung sozialer  Ungleichheit

Wo sich soziale Ungleichheiten zwischen Individuen oder Gruppen dauerhaft reproduzieren, spricht die Soziologie von der Verfestigung einer sozialen Struktur. An diesem exemplarischen Gegenstand lässt sich die Theorie der Strukturierung von Giddens gut veranschaulichen: Deren Grundgedanke, soziale Strukturen auf die laufende Strukturierung und Re-Strukturierung individuellen Handelns zurückzuführen und nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse oder Funktionen zu reduzieren, taucht schon in Giddens’ früher Analyse zur Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften auf und wird später an Paul Willis’ berühmter Fallstudie zur Bildungsbenachteiligung von Arbeiterkindern von ihm vertieft.

Nachdem Anthony Giddens Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre seine intensiven Auseinandersetzungen mit den Werken soziologischer Klassiker – insbesondere von Karl Marx, Max Weber und Emile Durkheim – zu ersten Buchveröffentlichungen und zahlreichen Aufsätzen verarbeitet hatte, realisierte er sein erstes theoretisch und zeitdiagnostisch ausgerichtetes Projekt: Seine 1973 veröffentlichte Studie Klassenstruktur |23|fortgeschrittener Gesellschaften (KStr) zielt auf eine Revision der älteren Klassentheorien und versucht, die Frage nach der Relevanz sozialer Klassen in den kapitalistischen und staatssozialistischen Gesellschaften zu beantworten. Diese Frage wirkt aus heutiger Sicht etwas anachronistisch, doch ist die dahinter stehende »Frage der sozialen Ungleichheit« (vgl. TWC) brandaktuell. Hier ist vor allem die Tatsache von Interesse, dass Giddens bereits in diesem Buch eine Analyseperspektive einführt, die wichtige Einsichten seiner Sozialtheorie vorwegnimmt: Die »wichtigeren Probleme in der Klassentheorie«, so heißt es an zentraler Stelle, betreffen das, »was ich in Ermangelung eines besseren Wortes die Strukturierung von Klassenbeziehungen nennen werde« (KStr 127).

In soziologischen Analysen sozialer Ungleichheiten und speziell sozialer Klassen hat der Begriff der Struktur einen festen Platz. Während empirische Sozialstrukturanalysen Individuen oder Haushalte mit Schichtmerkmalen wie Einkommen etc. oftmals nur beschreibend klassifizieren, wird in Klassentheorien dem Strukturbegriff auch Erklärungskraft zugesprochen. So zeichnet sich eine Klassengesellschaft »nicht nur dadurch aus, dass es in ihr Klassen gibt, sondern dadurch, dass die Klassenverhältnisse von primärer Bedeutung für die Erklärung und Einschätzung weiter Bereiche menschlichen Verhaltens sind« (KStr 162). Wo die soziale Mobilität innerhalb und zwischen den Generationen so weit eingeschränkt ist, dass die Lebenswege der Individuen maßgeblich durch ihre Klassenzugehörigkeit vorgezeichnet sind, werden Klassen zum bestimmenden »Wesenszug der sozialen Struktur als Ganzer« (ebd.). Mit Klassen sind dann Faktoren verbunden, die eine Schließung von Gruppengrenzen bewirken und Ausbeutungsverhältnisse installieren und die von einer Seite verteidigt, von der anderen abzuschaffen versucht werden. Die These aus dem 1848 erstmals veröffentlichten »Kommunistischen Manifest«, wonach die Geschichte eine »Geschichte von Klassenkämpfen« sei, gibt hierfür |24|eine strukturelle Erklärung: Für Marx und Engels (1972, S. 416) folgt aus den ungleichen ökonomischen Eigentumsverhältnissen einer Gesellschaft, dass sich zwei Klassen mit antagonistischen Interessen bekämpfen.

In der Marxschen Unterscheidung von »Klasse an sich« und »Klasse für sich« steckt allerdings das offene Problem, inwiefern die handelnden Akteure auch ein historisches Bewusstsein von den Klassenverhältnissen ausbilden müssen, damit diese tatsächlich strukturentscheidend für die gesellschaftliche Entwicklung werden. Einerseits hatte Marx mit Blick auf die Produktionsweise und den Stand der Produktivkraftentwicklung eine allgemeine ökonomische Gesetzmäßigkeit postuliert. Andererseits lief seine konkrete historische Erklärung über den politischen Machtkampf. Vorausgesetzt war also, dass ökonomische Verhältnisse zu politischen Kämpfen führen, in denen sich die Klassen zu schlagkräftigen Kollektiven zusammenfinden und politisch organisieren. Marx’ Theorie schien hier eine objektive Klassenkampfmechanik zu unterstellen.

Dies hat Max Weber (vgl. [1922] 1980, S. 177ff., 531ff.) kritisiert und vorgeschlagen, die Dichotomie von Klassenverhältnissen zugunsten eines differenzierteren Modells von Klassenlagen, das auch Mittelklassen kennt, fallen zu lassen. Das Konzept der »sozialen Klasse« bezeichnet bei Weber ([1922] 1980, S. 177, 180; KStr 54f.) ein empirisch abgrenzbares »Bündel von Klassenlagen«, innerhalb dessen Mobilität – sei es innerhalb einer Biografie oder zwischen den Generationen – relativ normal ist, über dessen Grenzen hinaus Auf- oder Abstieg aber unwahrscheinlich wird. Über diese formale Bestimmung hinaus bleibt sein Konzept jedoch unscharf. Hier setzt Giddens (vgl. KStr 94f.) an und fordert, genauer die verschiedenen Mechanismen zu analysieren, die bei der Herausbildung sozialer Klassen zusammenkommen müssen. Im Gegensatz zur theoretischen Fundierung der Klassen in politischen Herrschaftsverhältnissen |25|bei Ralf Dahrendorf (1959)1 sieht Giddens mit Marx und Weber weiterhin ökonomische Markt- und Machtverhältnisse als zentrale Größe der Klassenstruktur im Kapitalismus an. Aber diese Faktoren allein liefern keine Erklärung, solange nicht geklärt ist, wie »›ökonomische‹ Beziehungen in ›nicht-ökonomische‹ soziale Strukturen übersetzt werden« (KStr 127), das heißt, inwiefern etwa der unterschiedliche Besitz von Geld oder Produktionsmitteln den Alltag und das Selbstverständnis der Individuen prägen.