Antillengeschichten - Hilde Domin - E-Book

Antillengeschichten E-Book

Hilde Domin

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Erstveröffentlichung des Erzählbands mit atmosphärischen und ausdrucksstarken Illustrationen von Ulrike Möltgen und einem Nachwort von Margarete von Schwarzkopf. In frühen Erzählungen schildert Hilde Domin (1906-2006) ihre Erfahrungen im karibischen Exil in den 1940er Jahren. Die acht Geschichten berichten von heiteren und skurrilen Situationen ebenso wie von den Vorurteilen gegenüber dem Unbekannten, die die Begegnung zwischen den Kulturen begleiten. Ein besonderer Fund aus Hilde Domins Nachlass: In den 1940er Jahren, noch bevor Hilde Palm (geb. Löwenstein) in Deutschland als "Dichterin der Rückkehr" unter ihrem Autorennamen Domin bekannt wurde, hatte sie einen Zyklus aus acht Erzählungen verfasst, in dem sie ihre Exilerfahrungen in der Dominikanischen Republik schilderte. Trotz ihrer Bemühungen - ja sogar einer eigenständigen Übertragung der Erzählungen ins Englische, konnte die damals noch unbekannte Autorin während der Kriegsjahre keinen Verlag für die Antillengeschichten finden. Nachdem sie sich, zurück in Deutschland, als Lyrikerin etabliert hatte, erschienen nur einzelne Geschichten in Zeitungen oder Sammelbänden. Hilde Domins erstmals veröffentlichte Erzählungen zeigen, dass die Begegnung zwischen den Kulturen heitere und skurrile Situationen hervorbringt, aber auch von Vorurteilen gegenüber dem Unbekannten begleitet wird. Umso deutlicher wird, dass wir uns trauen müssen, uns einander anzunähern, uns zu verständigen und aneinander zu wachsen - damals wie heute. Der Band ist hochwertig ausgestattet, jede Erzählung wird von großformatigen Illustrationen begleitet. Herausgegeben werden Hilde Domins Antillengeschichten von Denise Reimann und Carla Swiderski, künstlerisch illustriert von Ulrike Möltgen. Das Nachwort verfasst Margarete von Schwarzkopf.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 133

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hilde Domin

Antillengeschichten

Illustriert von Ulrike Möltgen

Die Autorin

Hilde Domin wurde 1909 in Köln geboren. Sie studierte Jura, Philosophie und Nationalökonomie. Ein Auslandsstudium führte sie und ihren späteren Mann 1932 nach Italien. Die Rückkehr nach Deutschland war ihr aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verstellt. 1939 floh das Paar zunächst nach England, dann weiter in die Dominikanische Republik. Hier arbeitete Domin als Übersetzerin und Architekturfotografin. Nach zweiundzwanzig Jahren im Exil kehrte sie 1954 nach Deutschland zurück. Bekannt unter ihrem dem Exilland entlehnten Autorennamen Domin, wurde sie zu einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und erhielt zahlreiche Literaturpreise und Auszeichnungen für ihr Lebenswerk. Sie verstarb 2006 in Heidelberg. Ihre selbstgewählte Grabinschrift lautet: »Wir setzten den Fuß in die Luft / und sie trug«.

Das Buch

In acht frühen Erzählungen schildert Hilde Domin ihre Erfahrungen im karibischen Exil, in das sie vor den Nationalsozialisten floh. Sie handeln von alltäglichen, oft unerhörten Begebenheiten in den Bergen und in Santo Domingo. Noch bevor Domin als Lyrikerin bekannt wurde, zeigt sie sich hier als aufmerksame und scharfsinnige Erzählerin.

Die Antillengeschichten, die von der Begegnung europäischer und lateinamerikanischer Kultur berichten, werden in diesem Band erstmals und in ihrer ursprünglichen Zusammenstellung präsentiert.

Die künstlerischen Illustrationen von Ulrike Möltgen verleihen den Erzählungen über das Leben in der Dominikanischen Republik eine besondere Präsenz. Ein Nachwort der renommierten Literaturkritikerin Margarete von Schwarzkopf vervollständigt die Erstausgabe.

Vorwort

Bei einem Besuch im Deutschen Literaturarchiv Marbach stießen wir in Hilde Domins Nachlass auf die Antillengeschichten. Wir hatten uns beide intensiv mit Domins Schreiben auseinandergesetzt. Auch mit den Prosaschriften der berühmten Lyrikerin, ihrem Roman Das zweite Paradies sowie ihren Essays. Doch diese Geschichten waren uns nicht bekannt. Schnell fanden wir heraus, dass sie bisher nicht veröffentlicht wurden.

Ihre Entstehungszeit fiel in weltgeschichtlich und persönlich turbulente Jahre. Zwischen 1945 und 1948 war der Zweite Weltkrieg erst seit Kurzem vorüber. Hilde Domin (damals noch Hilde Palm, geb. Löwenstein) und ihr Mann Erwin Walter Palm lebten noch immer im dominikanischen Exil, wobei ihre Ehe zu der Zeit gerade eine erste Krise erlebte. Während Palm sich überwiegend in Ciudad Trujillo, dem heutigen Santo Domingo aufhielt, wo er seit 1941 eine Professur für Archäologie und Kunstgeschichte innehatte, verbrachte Domin viel Zeit im bergigen Norden der Insel. In Jarabacoa oder dem noch höher gelegenen Bergdorf Constanza wollte sie nicht nur dem Trubel der Großstadt entfliehen, sondern auch – so legen ihre Briefe nahe – ihrer Rolle »einer großartigen Sekretärin«, als die sie ihr Mann einmal bezeichnet hat.

Palm und Domin hatten sich 1931 in Heidelberg kennengelernt und ein Jahr später beschlossen, gemeinsam nach Italien zu ziehen. Hier wollte Palm seine archäologischen und kunsthistorischen Studien in unmittelbarer Umgebung eines reichen Anschauungsmaterials fortsetzen. Domin, die ihr Studium der Philosophie und Nationalökonomie ebenfalls in Rom und Florenz weiterführte und 1935 mit Auszeichnung abschloss, unterstützte Palm in seinen Forschungen, indem sie für ihn zeichnete und die gemeinsame Haushaltskasse mit ihren Einnahmen als Deutschlehrerin aufbesserte.

Nachdem Italien nach der Machtergreifung Hitlers zum Exil wurde, nur um durch die zunehmend faschistische Politik Benito Mussolinis bald selbst zur Bedrohung zu werden, gelang dem Paar die Reise nach England. Schließlich erreichten sie Santo Domingo in der Dominikanischen Republik, für die sie dank der Rassepolitik des Diktators Rafael Trujillo Molina, der sich vom Flüchtlingszustrom aus Europa die »Aufhellung« seines Landes erhoffte, im Sommer 1940 ein Visum bekommen hatten. Die zwiespältige Erfahrung des Exils, das zugleich die erzwungene Flucht und die Möglichkeit eines Neuanfangs bedeutet, ist in Domins letzten Strophen des Gedichts »Herbstzeitlosen« eingefangen:

Für uns, die stets unterwegs sind

– lebenslängliche Reise,

wie zwischen Planeten –

nach einem neuen Beginn.

Für uns

stehen die Herbstzeitlosen auf

in den braunen Wiesen des Sommers,

und der Wald füllt sich

mit Brombeeren und Hagebutten –

 

Damit wir in den Spiegel sehen

und es lernen

unser Gesicht zu lesen,

in dem die Ankunft

sich langsam entblößt.

Nicht nur die Exilerfahrung war ambivalent, sondern auch Domins Haltung gegenüber dem Exilland. Domin äußerte mehrfach ihre Liebe für die karibische Insel und ihre Bewohner*innen, genauso wie ihren Schrecken angesichts der Überwachung und Willkürherrschaft Trujillos. Ein politischer und kultureller Austausch in den Kreisen europäischer Einwanderer*innen wurde von der Regierung weitestgehend unterbunden.

Hatte Domin schon in Italien und London alle praktischen Angelegenheiten übernommen, um Palm sein berufliches Fortkommen zu ermöglichen, verfestigte sich diese Rollenaufteilung in Santo Domingo: Während ihr Mann sich schnell einen Ruf als Spezialist für Kolonialarchitektur erarbeitet und gleichzeitig seinen schriftstellerischen Ambitionen nachgeht, unterstützt Domin ihn so gut sie kann: Abgesehen von der Haushaltung und aufopferungsvollen Fürsorge recherchiert sie für ihn in Archiven und Bibliotheken, transkribiert und übersetzt seine wissenschaftlichen Arbeiten ins Spanische, besorgt die Entwicklung der Fotografien, die Palm ihr von seinen Forschungsreisen zuschickt, gibt Deutsch- und Lateinkurse, um zur Sicherung des gemeinsamen Lebensunterhalts beizutragen, und bemüht sich fortwährend um die öffentliche Anerkennung ihres Mannes, etwa indem sie den Überblick über Publikationsmöglichkeiten und hilfreiche Kontakte behält.

In den Bergdörfern Jarabacoa und Constanza hingegen weht ein etwas anderer Wind. Wenn Domin regelmäßig im August oder September eines Jahres in den Norden der Insel zieht, setzt sie ihre Arbeiten für Palm dort zwar geflissentlich fort; in der Abgeschiedenheit und Distanz zum Großstadt- und Eheleben – denn Palm ist nur unregelmäßig mit von der Partie – findet sie jedoch selbst zum Schreiben. »Liebster, liebster Affenkopf! Endlich hab ich begonnen zu schreiben. Ich weiß noch nicht, ob es sehr gut wird, aber ich bin zufrieden, dass wenigstens ein Anfang da ist.« Zurückhaltend, aber unverkennbar euphorisch klingt Domin, als sie Palm im Herbst 1946 von ihren ersten eigenständigen literarischen Versuchen berichtet. Wenig später hat sie einen Zyklus aus acht Erzählungen zusammen, die sie unter dem Pseudonym Denise Brühl zu veröffentlichen sucht.

Trotz ihrer Bemühungen – ja sogar einer Übertragung der Erzählungen ins Englische unter dem Titel Guanabana-Stories – konnte die damals noch unbekannte Autorin während der Kriegsjahre keinen Verlag für die Antillengeschichten finden. Diese Erfahrung machten viele der ins Exil geflohenen Schriftsteller*innen, da ihnen der Zugang zu einer deutschsprachigen Öffentlichkeit und Leserschaft fehlte. Ein Debüt erhöhte die Chance auf eine Veröffentlichung sicherlich nicht.

In diesen frühen Geschichten berichtet Hilde Domin autofiktional von ihren Erfahrungen im karibischen Exil. Sie erzählt von den alltäglichen, oft unerhörten Begebenheiten ihres Lebens in den Bergen und in Santo Domingo. Der Krieg, die Verfolgung und die erzwungene Flucht aus Europa sind als Themen weniger präsent. Sie rücken in der Konzentration auf die karibische Lebensrealität in den Hintergrund. Zentrales Motiv ist die Begegnung europäischer und lateinamerikanischer Kultur.

Es treten menschliche und tierliche Charaktere auf, mit denen das Paar auch im realen Leben Umgang pflegt: ein freundlicher, zugleich rücksichtsloser Nachbar, neu gewonnene Freundinnen, eine findige Köchin, wechselnde Haushälterinnen und deren Familien, ein skandinavischer Forscher, Hühner, singende Puter, zugelaufene Kater und einige mehr.

Wenn Domin in ihren Briefen an Palm auf die »neusten kleinen Comödien« zu sprechen kommt, von denen sie ihrem Mann noch berichten müsse, dann geben jene anekdotischen Mitteilungen nicht selten den Stoff für spätere Ausarbeitungen zu Geschichten ab. So etwa, wenn sie im eingangs erwähnten Brief von ihrer »alte[n] Freundin Da. Isabel« erzählt, die bestens damit fuhr, die regelmäßigen Erdstöße, die Jarabacoa 1946 besonders heftig heimsuchten, mit stoischem Gottvertrauen zu ignorieren. Oder wenn sie über ihre eigensinnige Köchin Vitalia klagt.

Es sind Geschichten, die ein anderes Licht auf die »Dichterin der Rückkehr« werfen. Zum einen, weil das Schreiben offenbar weitaus früher und tastender eingesetzt hat, als lange angenommen, und zum anderen, weil hier von ganz alltäglichen Exilerfahrungen die Rede ist, die nicht in der Rückschau, sondern während des Lebens vor Ort niedergeschrieben wurden.

Interkulturelle Begegnungen und Konflikte, auch Vorurteile werden durch die Erzählerfigur selbst veranschaulicht und gleichzeitig ins Absurde überführt. So wird etwa in Vitalias Huhn zunächst das Selbstbild westlicher Rationalität durch die Abgrenzung vom Magieglauben der karibischen Inselbevölkerung stabilisiert. Nur um anschließend durch die irrationale Furcht der Europäer*innen vor dem vermeintlichen Zauber die eigene Anfälligkeit für Aberglauben und die Angst vor dem Unbekannten humorvoll auf die Schippe zu nehmen.

Wie prägend die Exiljahre für Domin waren, lässt die spätere Wahl ihres Autorennamen erahnen, der an das amtliche Kürzel von Santo Domingo angelehnt ist. So heißt es in ihrem Gedicht »Landen dürfen«

Ich nannte mich

ich selber rief mich

mit dem Namen einer Insel.

Auch verließen Domin und Palm die Dominikanische Republik nicht sofort nach Kriegsende, wie die letzte Erzählung des Bands vielleicht vermuten lassen könnte. Erst nach zweiundzwanzig Jahren im Exil wagten sie 1954 die Rückkehr nach Deutschland.

Nachdem Domin sich als Lyrikerin etabliert hatte, veröffentlichte sie nur einzelne der frühen Geschichten in Zeitungen oder Sammelbänden. So erschien eine Fassung von »Die Hexe Vitalia und das bedauernswerte Huhn« unter dem Pseudonym Denise Brühl 1959 in der Welt. Die Erzählung »Und keine Kochbananen mehr« fand ihren Weg in Von der Natur nicht vorgesehen. Autobiografisches (Piper 1981). Und der Kater Gogh, der in »Nichts gegen Gogh« eingeführt wird, begegnet einem in anderen Schriftstücken Domins wieder.

In seiner ursprünglichen Konzeption wurde der Erzählband bis heute nicht verlegt. Viele Erzählungen sind gänzlich unbekannt. Dies mag unter anderem daran liegen, dass das Thema Exil in der mit sich selbst beschäftigten Nachkriegsgesellschaft keine große Resonanz hatte. Und wenn es gestreift wurde, war der Blick auf die Exilierten nicht unbedingt ein freundlicher.

Mehr Anklang fand Domins Auseinandersetzung mit einem möglichen Neuanfang. Sie zeigte sich versöhnungsbereit unter der Voraussetzung, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht vergessen werden. Sie diskutierte die demokratischen Grundrechte sowie Pflichten und setzte sich aktiv gegen den neu aufkeimenden Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik ein.

Für ihre Lyrik und ihr großes gesellschaftspolitisches Engagement ist Domin vielfach ausgezeichnet worden. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Domin lange Zeit vorwiegend als »Dichterin der Rückkehr« betrachtet wurde, wie Hans-Georg Gadamer es bei der Verleihung des Meersburger Droste-Preises 1971 prägnant fasste. Erst nach und nach wurde sie daneben auch vermehrt als Dichterin des Exils, oder wie Ruth Klüger es formulierte, »Dichterin vieler Exile« wahrgenommen.

Dieser Band erscheint nun neunzig Jahre nach der Emigration von Domin und über siebzig Jahre nach Entstehen der Antillengeschichten. Diese ersten literarischen Schritte zeigen eine noch unbekannte Facette von Domin als Erzählerin des Exils. Sie liegen noch vor der viel zitierten zweiten Geburt Domins – wie sie selbst ihre Entwicklung zur Autorin nennt –, die sie in ihren autobiografischen Notizen auf das Jahr 1951 datiert.

Domins frühe Prosatexte sind Zeugnisse einer jungen, aufstrebenden Schriftstellerin, die sich bereits hier auf eine kurze Form konzentriert, sich jedoch noch nicht der verdichteten Sprache und komprimierten Form der Lyrik verschrieben hat. Zugleich zeigen sie, dass die Begegnung zwischen den Kulturen sowohl heitere und skurrile Situationen hervorbringt als auch von Vorurteilen gegenüber dem Unbekannten begleitet wird. Diese Ambivalenz macht die Geschichten zu einem besonderen Dokument der Exilerfahrungen.

Genaue und scharfsinnige Beschreibungen des Erlebten gehen mit einer erzählerischen Unbekümmertheit einher, die einen manchmal fast kindlichen Blick auf die Welt zulässt. Dahinter scheint eine große Neugier und Offenheit gegenüber dem Unbekannten und Andersartigen auf, ohne von einer interessierten, zugeneigten Grundhaltung abzuweichen. Die Erzählungen zeichnen sich durch eine präzise Beobachtung und ein humorvolles Staunen aus. Sie lassen sich als lebensdurstige Annäherungen an die vielstimmige Wirklichkeit lesen.

Denise Reimann und Carla Swiderski

Vitalias Huhn

Alle waren dagegen, dass ich Vitalia immer wieder anstellte. Zumal ich für gewöhnlich über die Sommerferien ein abgelegenes Bauernhaus hoch in der Sierra mietete, wo sie dann monatelang meine einzige Gesellschaft war. Unsere Freunde unten in der Stadt, die Vitalia nur aus meinen Erzählungen kannten, schüttelten ungläubig den Kopf und sagten: »Doña Hilde, wie können Sie nur eine solche Person zur Köchin nehmen?« Unsere Freunde im Dorf, die sie ja aus der Nähe kannten, führten schwerwiegendere Gründe gegen sie an. Dass sie neuerlich in die Calle de los Sentados gezogen war, »Die Straße der Sitzenden«, eine Hüttenzeile am oberen Dorfrand, in der – wie schon der Name sagt – nicht gerade der agilste Teil der Bevölkerung wohnte, war noch das Wenigste.

Kaum war ich im Dorf angekommen, da nahm mich meine dicke Freundin Mercedes, die Wirtin des kleinen Hotels, in dem ich für gewöhnlich die erste Nacht verbrachte, beiseite und machte mir Vorwürfe, weil »meine« Vitalia, die sie im Vertrauen auf mich gleich nach unserer Abreise im vorigen Herbst angestellt hatte, ihre Gäste gründlich bestohlen habe.

»Hätte ich sie nicht hinausgeworfen, sie hätte mir das ganze Haus ausgeräumt«, beschwerte sie sich.

Ich konnte nur sagen, dass ich mich nicht über etwas Derartiges zu beklagen hatte. Zwar war mir bewusst, dass Vitalia von einer nicht alltäglichen Findigkeit war, und ich stellte dies in Rechnung, genauso wie wenn einer weiß, dass er eine sehr lebhafte Katze im Hause hat. Aber im Großen und Ganzen ist mir diese Eigenschaft meiner Köchin eher zugutegekommen. Wir pflegten zu sagen: Im schlimmsten der Fälle kocht Vitalia ein Essen auf der bloßen Hand. Ein paar alte Konservenbüchsen genügten ihr, um wahre Kochwunder zu vollbringen. In die »Straße der Sitzenden« gehörte sie temperamentmäßig jedenfalls nicht. Ganz im Gegenteil, ihrer Regsamkeit war es zu verdanken, wenn wir stets gut versorgt waren in einem Dorf, in dem es weder einen Markt noch Geschäfte gab und die Versorgung dem Zufall überlassen blieb. Vitalia fand immer noch bei irgendeinem Bauern einen Salatkopf oder ein Huhn, wenn andere Köchinnen mit leeren Händen nach Hause kamen. Sie hat eben eine natürliche Gabe, die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Und ein Leben in äußerster Armut hat ihr den Blick geschärft für alles, was eine gegebene Lage zu verbessern vermag.

In diesem Sinne war allerdings jeder Gegenstand in dem Haus, in dem sie arbeitete, eine mögliche Verbesserung ihres eigenen, sehr fragmentarischen Haushalts. Trotzdem hatten Vitalia und ich nie Schwierigkeiten miteinander. Unser Ferienhaushalt bestand nur aus dem Unentbehrlichsten und bot somit ein klar übersehbares Panorama. Allabendlich versammelte ich meine Messer, Gabeln und so fort in einer Art militärischem Appell, und alle kamen immer pünktlich. Nie habe ich einen so peinlich geordneten Haushalt geführt, wie als ich Vitalias Talenten Front machen musste.

In diesem Sommer sollte allerdings meine Freundschaft mit Vitalia auf eine starke Probe gestellt werden. Der Anlass dazu war ein Huhn, das sie sich angeschafft hatte und das darauf bestand, morgens um fünf sein Ei unter meinem Bett zu legen. Ich hatte Vitalia ausdrücklich verboten, das Huhn im Haus zu halten. Schließlich musste sie verstehen, dass ich nicht so weit vom Dorf weggezogen war, damit ihr Huhn morgens um fünf unter meinem Bett ein Ei legte.

Denn die Hühner in den Tropen haben nun einmal die fatale Neigung, es sich unter dem Fußboden bequem zu machen, in dem windgeschützten Dunkel, das dadurch entsteht, dass das Haus auf kleinen Stelzen ruht (täte es das nicht, die Dielen würden gleich vermodern). So aber hat man ungeladene Gäste unter sich, Schlangen, Ratten, oder eben Vitalias Huhn. Ganz abgesehen davon, dass auch Vitalia selbst sich gelegentlich des schummerigen Raums bediente, um dort kleinere Haushaltsgegenstände unterzubringen – in einer Art Quarantänestation zwischen Mein und Dein, von wo sie auf beinahe natürliche Weise wieder hervorkommen konnten, falls der Eigentümer rechtzeitig nach ihnen verlangte. Ich habe ja schon erwähnt, dass Haushalten mit Vitalia für mich eine strenge Erziehung zur Ordnung war und dass ich mir angewöhnt hatte, meine Dinge laut und deutlich bei ihrem Namen zu rufen. Sonst wären sie gewiss mehr als einmal schweigsam dort liegen geblieben. Das Eierlegen dagegen ist, in den Tropen wie anderwärts, ein Geschäft laut geäußerter Selbstzufriedenheit – nur dass nicht jedes Huhn über einen so guten Resonanzboden verfügt.

Im Übrigen hätte ein Einheimischer kaum etwas dagegen einzuwenden gehabt. Das Hühnervolk ist auf den Antillen Gegenstand besonderer Zärtlichkeit, wenn es auch nachts, statt in einem ordentlichen Stall, auf den Rizinusbäumen schlafen muss, die meist gleich hinter der Latrine wachsen. Niemanden stört es, dass der große Tropenmond die Hähne weckt, die sich die ganze Nacht lang, oft über Kilometer hinweg, etwas zurufen, bis das Dorf unter einer klingenden Glocke aus Mondlicht und Hahnenschreien liegt.