Anton der Taubenzüchter - Bernard Gotfryd - E-Book

Anton der Taubenzüchter E-Book

Bernard Gotfryd

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Beschreibung

Abwechselnd haarsträubend und hoffnungsvoll, beginnt diese Sammlung von achtzehn wahren Geschichten über das Leben während des Holocausts in der Beschaulichkeit von Ferien auf dem Lande in Polen. Der Krieg zeichnet sich drohend am Horizont ab, aber Bernard Gotfryds Großmutter muss sich mit den Enkeln um einen gestohlenen Tisch kümmern. Gleichzeitig zutiefst persönlich und verankert in der Weltgeschichte, zeichnen die Erzählungen Gotfryds ein Bild des Alltags der jüdischen Menschen in Polen während des zweiten Weltkriegs und der Nachwirkungen des Holocausts. Er beschreibt seine Arbeit als Fotograf im Ghetto, seine ersten Liebesbeziehungen und die schwierige Zeit in verschiedenen Konzentrationslagern. Dabei vereinen seine Erzählungen häufig die Beschreibung der Ereignisse während der Kriegszeit und ihre Auswirkungen auf das Leben Gotfryds etliche Jahre später. Durch diese Zeitsprünge gelingt es Gotfryd, den Holocaust mit der Gegenwart in Verbindung zu setzen und so einerseits die heutige Relevanz einer Auseinandersetzung mit dem Krieg zu verdeutlichen und sich andererseits der Frage zu stellen, was es bedeutet, den Holocaust zu überleben. Das Buch enthält ein Nachwort seines Sohnes Howard Gotfryd.

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Inhaltsverzeichnis
Diebstahl eines Tisches
Das Hochzeitsbild
Die Violine
Der Füllfederhalter
Herr G.
Alexandra
Kurt
Der letzte Morgen
Anton der Taubenzüchter
Über Schuld
Drei Eier
Die Hinrichtung
Hans Bürger, Nr. 15252
Begegnung in Linz
Wieder vereint
Inge
An einem regnerischen Abend
Über Erinnerung
Nachwort
Nachbemerkung des Übersetzers

Bernard Gotfryd

Anton der Taubenzüchter

und andere Geschichten vom Holocaust

aus dem amerikanischen Englisch von

Michael Lehmann

 © 1990/2000 Bernard Gotfryd / The Johns Hopkins University Press

CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek

© 2021 by Sujet Verlag

Anton der Taubenzüchter

und andere Geschichten vom Holocaust

Autor: Bernard Gotfryd

Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von

Michael Lehmann

Originalausgabe Anton the Dove Fancier and Other Tales 

from the Holocaust bei Simon and Schuster, New York 1990, 

und André Deutsch, London 1991; erweiterte Neuausgabe bei Johns Hopkins UP, Baltimore und London 2000.

Die deutsche Übertragung enthält eine Auswahl aus beiden Ausgaben, zum Teil mit leichten Kürzungen.

Das Autorenpoträt wurde uns freundlicherweise aus dem Privatarchiv von Howard Gotfryd zur Verfügung gestellt.

Der Druck des Buches wurde dankenswerterweise durch Dominik Schuster aus Gauting gefördert, den langjährigen Freund von Bernard und Gina Gotfryd.

ISBN: 978-3-96202-618-9

Umschlaggestaltung: Jasmin Tank

Layout: Stella Dietrich

Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen

Printed in Europe

1. Auflage: 2021

www.sujet-verlag.de

 Zur Erinnerung an meine Eltern, meine Angehörigen und

an Millionen unschuldige Opfer eines beispiellosen Genozids, 1939-1945

Quo vadis Domine?

Henryk Sienkiewicz

Vorwort des Autors

Ich wollte meine Geschichte schon vor sehr langer  Zeit  erzählen  –  tatsächlich  schon vor mehr als vierzig Jahren. Ich hatte immer die Sorge, wenn ich all diese Momente nicht zu Papier brächte, würde ich sie vergessen. Doch als ich sie schließlich aufzuschreiben anfing, stellte ich fest, dass man solche Ereignisse nicht vergisst, auch nicht nach vierzig Jahren.

Ich kann immer noch meine Mutter hören, wie sie mich wenige Stunden vor ihrem Abtransport anflehte, mir ein Versteck zu suchen und so zu überleben, um der Welt zu berichten, was die Nazis uns angetan haben. Ihre Worte haben sich mir tief eingebrannt, ich lebte mit ihnen, und ich teilte sie immer wieder mit meinen Kindern, meinen Freunden und mit allen, die gewillt waren, mir zuzuhören.

Sehr häufig ziehen in meinen Träumen Gesichter lang schon Verstorbener an mir vorbei, und der Widerhall aus den Ghettos und Lagern erschallt in meinen Ohren.

Weil ich den besseren Teil meines Lebens als Fotograf gearbeitet habe, bekam ich zahllose Gelegenheiten, Persönlichkeiten aus der Welt der Künste und der Literatur zu begegnen. Als sie von den Erfahrungen hörten, die ich unter den Nazis machen musste, drängten sie mich, über mein Leben zu schreiben. Es sei geradezu meine Pflicht, meine Geschichte zu erzählen. Ich schuldete sie meinem Volk.

Die Episoden, die ich ausgewählt habe, handeln von menschlichen Wesen, einige davon nicht ohne Fehl und Tadel, einige waren gut, andere richtig böse. Wichtiger scheint mir: In allen Geschichten geht es um das Leid des menschlichen Geistes und seine Fähigkeit, es zu erdulden.

Diebstahl eines Tisches

Ich muss sieben gewesen sein, stand kurz vor meinem achten Geburtstag. Unweit der Stadt Radom in Polen, wo wir lebten, mieteten meine Eltern in jenem Sommer ein Häuschen, das zu einem Bauernhof gehörte; wir teilten es mit der Bauernfamilie. Unsere Hälfte besaß eine Veranda, die unser Vermieter eigens für uns gebaut hatte. Seiner  Familie  blieb  eine  große  Küche,  die auch als Wohnbereich diente; darüber war eine Dachkammer, wo seine Kinder schliefen.

Herr Joseph, unser Vermieter, war ein schwer arbeitender, ruhiger Mann, dessen Schnurrbart an den von Marschall Pilsudski erinnerte, damals Oberhaupt des polnischen Staates. Herr Joseph war mittlerer Größe und gutgebaut und hatte ein rotbackiges Gesicht. Er trug nie Schuhe, auch nicht, wenn es regnete, und seine Füße waren von einer Kruste aus getrocknetem Matsch überzogen. Er machte wenig Worte, tatsächlich hörte ich ihn nie sprechen, außer wenn er um etwas bat oder mit seinen Kindern schimpfte. Seine Frau war eine große und magere freundliche Frau, immer auf den Beinen, ewig geschäftig. Sie kleidete sich einfach; gewöhnlich trug sie einen langen Rock mit Blumenmuster und eine weiße Leinenbluse sowie um ihren Kopf ein rotes Tuch. Ihre ebenfalls bloßen Füße waren voller Schnittwunden und Beulen. Sie hatten drei Töchter und einen Sohn, der in meinem Alter war und mein Spielkamerad sein sollte. Die Woche über arbeiteten sie alle vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung auf dem Hof. Jeden Sonntag sah man die ganze Familie im Sonntagsstaat zur Kirche in einem benachbarten Dorf gehen. An diesem Tag trugen sie Schuhe in der Hand, als wollten sie sie nicht vorzeitig abnutzen.

Unser Häuschen stand am Rand einer Wiese neben einer tiefen Rinne, durch die ein Bach floss. Der Bach diente uns als Kühlschrank, in dem wir verderbliche Lebensmittel in großen Tontöpfen aufbewahrten, fest zugedeckt und gesichert durch schwere Steinbrocken. Rechts von unserer Veranda befanden sich ein Blumen-und ein Gemüsegarten, jenseits des Gartens ein Graben und eine schmale Kopfsteinpflasterstraße ohne jede Randbefestigung. Nicht weit hinter dem Häuschen überquerte man eine kleine Behelfsbrücke aus lose miteinander verbundenen Holzstämmen. Auf der anderen Seite stand eine Scheune mit Doppeltor und Strohdach; daneben der Stall, ein massives Gebäude, dessen tragendes System aus schweren Balken bestand. Überall nisteten Starenschwärme. Felder mit Weizen, Gerste und Kartoffeln reichten bis zu einem seichten Fluss, der langsam zwischen grünen Viehweiden dahinfloss; jenseits lag der Wald, reich an wilden Beeren aller Art, seltensten Pilzen, Haselnüssen und Wildblumen. An einer Stelle um eine Biegung herum verbreiterte sich der Fluss zu einem Teich, der tief genug zum Schwimmen war. Es roch nach frisch geschnittenem Heu und Kiefern. Hoch oben in den Baumkronen bauten Störche ihre Nester; sie krächzten und klapperten laut, wenn sie über unsern Köpfen kreisten.

Meine Eltern kamen zu dem Schluss, dies sei ein idealer Ort für Kinder; mein Bruder, meine Schwester und ich würden den ganzen Sommer auf dem Bauernhof verbringen, zusammen mit unserer Großmutter, die für uns sorgen sollte, während unsere Eltern nach Radom ins Geschäft zurückkehrten. Großmutter war eine kleingewachsene Dame. Unter der Woche bedeckte sie ihren Kopf mit einem Kopftuch; an Feiertagen machte das Kopftuch einer Perücke Platz. Dann konnte man sie am Küchenfenster finden, wo das Licht gut war und sie auf Hebräisch das Alte Testament las. Dabei bewegten sich ihre Lippen langsam und methodisch, ihre Augen funkelten. Sie erzählte mir oft Geschichten, die meine Phantasie erregten und mich von fliegenden Tieren träumen ließen. Mein Favorit war eine fliegende Kuh, die ein Ei im Weltraum legt; daraus schlüpft ein Adler, der die Kuh rettet und wieder hinunter zur Erde bringt. Über die Moral von der Geschichte habe ich mir nie Gedanken gemacht.

Großmutter war eine fromme, gottesfürchtige Frau, die sorgfältig auf uns drei achtgab. Ich erinnere mich, wie sie die kranken Kinder eines Nachbarn pflegte, während deren Mutter auf den Markt ging. Großmutter war wohltätig, geduldig und selbstlos.

Als wir das Häuschen bezogen, brachten wir neben anderen Gegenständen auch einen Tisch aus massivem Hartholz mit, der in die Mitte der Veranda gestellt wurde. Dieser Tisch diente als Versammlungsplatz für die ganze Familie. An ihm aßen wir und verrichteten unsere täglichen Arbeiten. Er diente auch als Abladeplatz für die meisten unserer gerade nicht gebrauchten Siebensachen. In seiner Schublade bewahrte ich meine hölzernen Soldaten, das Malpapier und Buntstifte auf. Zwischen den Mahlzeiten nutzte Großmutter den Tisch, um Wäsche zu falten, zu nähen und auch allgemein als Ablage. Wenn jemand nach irgendetwas suchte, konnte er es je nach der Natur des Gegenstands wahrscheinlich auf oder unter dem Tisch finden. Wenn niemand zugegen war, nutzten ihn Tauben und andere Vögel als Treffpunkt. Dies waren die einzigen Male, an denen meine Großmutter sich über das Vorhandensein des Tischs ärgerte.

Eines Morgens, kurz nachdem wir uns im Häuschen eingerichtet hatten, hörte ich Großmutters Stimme in höchsten Tönen fragen: „Wo ist der Tisch? Hat jemand den Tisch gesehen? Er war gestern Abend doch noch da...“ Wir krochen alle aus unseren Betten, schauten umher und sahen, dass die Veranda leer war. Der Tisch war weg. Wer würde sich damit abmühen, solch einen schweren Tisch zu stehlen, fragten wir uns. Genau wie wir stand auch Herr Joseph vor einem Rätsel und ritt hoch zu Pferde davon, um die Polizei zu benachrichtigen. Es war noch früh, und der Morgentau lag auf dem Gras; die Sonne ging langsam auf, und der Nebel fing an zu steigen. Man konnte die feuchte Luft sehen, wie sie in Wellen über die Felder und die Straße zog und allmählich den blauen Himmel enthüllte. Es gelang uns zwar, ohne den Tisch zu frühstücken, aber nur, indem wir einander die Not klagten, die seine Abwesenheit uns bereitete.

Gefolgt von Herrn Joseph auf seiner schnaubenden, schwitzenden Stute, traf auf einem Fahrrad bald ein Polizeibeamter ein. Er sprach kurz mit meiner Großmutter und machte sich sofort an die Arbeit. Unweit des Häuschens fand er ein paar Fußspuren, die auf dem noch feuchten Boden gut erhalten waren. Vom verstreut umher liegenden Stroh schnitt er sich einen Halm ab, maß damit den Fußabdruck und untersuchte jeden Zentimeter der eingedrückten Stelle peinlich genau. Jedes Mal wenn er sich hinunterbückte, rutschte seine Ledertasche von seiner Schulter und war ihm im Weg. Langsam rückte er sie dann zurück an ihren Platz und fluchte leise.

Der Polizist war ein großgewachsener Mann. Er hatte schon grau werdende Haare und trug hohe, glänzend schwarze Stiefel sowie eine marineblaue Uniform mit einem Cape darüber. Um das Cape herum sah man einen breiten Ledergürtel; damit verbunden war quer über seinen Brustkorb ein schmalerer Gurt. Auf dem Rücken trug er an einem Riemen ein Gewehr mit massiver Kammer und glänzend poliertem Schaft. Ein großer metallener Adler, das Wappen der Republik Polen, war mitten auf seine runde marineblaue Mütze geheftet.

An diesem Morgen war Tzytzek, der Freund meines Bruders, zu Besuch gekommen, und ehe ich mich’s versah, lief ich schon mit Schwester, Bruder und Freund dem Uniformierten hinterher. Der hatte nichts dagegen, gebot uns aber, absolut still zu sein. Sein Fahrrad zerrte er über schmale Pfade durch die Gerste- und Kartoffelfelder mit sich. Ab und zu schnellte ein Fasan oder ein Hase hinter einem Busch hervor und erschreckte uns. Immer wenn der Beamte stoppte, um eine Fußspur zu untersuchen, setzte er seine Drahtgestell-Brille auf, die er regelmäßig mit einem gepunkteten Taschentuch putzte. Ich fragte mich, warum er jeden Fußabdruck nachmessen musste. Konnte er sie nicht durch bloßen Augenschein identifizieren? Tzytzek sagte auf Jiddisch – damit nur meine Schwester und ich ihn verstanden –, der wolle sich nur wichtigmachen, weil er nichts Besseres zu tun habe.

Der Polizist wiederum war es bald leid, das staubige Fahrrad mitzuschleppen, und er bat Tzytzek, es zu übernehmen. Sowie Tzytzek das Fahrrad schob, probierte er erst einmal die Klingel aus, was ein paar Vögel aufstörte, die nahebei nisteten. Der Ordnungshüter schrie Tzytzek an. Ich hatte Angst, er würde ihn erschießen, wenn Tzytzek sich unterstünde, die Klingel noch einmal zu benutzen.

Es wurde heiß, und unser Befehlshaber fing an zu schwitzen. Er nahm das Cape ab, schnallte die Gurte an die Uniform und fragte mich, ob ich das Cape für ihn tragen würde. Eifrig bejahte ich und nahm das zusammengerollte Cape unter den rechten Arm. Es war schwer und hinderlich, und es roch nach Desinfektionsmittel, jedenfalls nach Chemie, so dass ich niesen musste. Jedes Mal wenn der von seinem Cape Befreite anhielt, um wieder einen Fußabdruck zu prüfen, war ich versucht, das schwere Stück dort liegenzulassen, doch ich fürchtete, ihm würde das nicht gefallen. Tzytzek schlug vor, ich könne das Cape gern über den Fahrradlenker legen, aber ich lehnte sein Angebot stolz ab und schleppte es selber weiter.

Binnen kurzem gelangten wir an Eisenbahngleise, die von den Fußspuren gekreuzt wurden. Unsere Suche setzten wir auf der anderen Seite in derselben Weise fort: Der Polizist ging voraus, und wir folgten ihm auf Schritt und Tritt, unsere Augen die ganze Zeit auf ihn geheftet. Es war fast Mittag, und der Himmel war tiefblau. Hinter einer Baumgruppe bemerkten wir eine ausgebrannte Hütte ohne Dach; daneben stand eine strohgedeckte Scheune. Auf diese Stelle steuerte unser Anführer zu. Keine Menschenseele war zu sehen. Ein streunender Hund trottete herbei, schnüffelte am Fahrrad und an Tzytzeks Fuß und verschwand wieder. Tzytzek versuchte noch, nach ihm zu treten, doch er verpasste ihn.

Der Polizeibeamte marschierte zur Scheune, stieß die Tür auf und ging hinein. Ich hörte eine Frau weinen und um Vergebung flehen. Kurz darauf erschien der Beamte wieder und führte einen Mann und eine Frau mittleren Alters mit sich. Sie waren barfuß. Die Frau bekreuzigte sich und weinte immerfort; der Mann blieb still. Er trug eine schwere, grob gewebte Hose und ein kragenloses Hemd mit vielen Löchern. Sein Haar war zerzaust, sein Gesicht voller Bartstoppeln, und seine Stirn wurde von einer Warze beherrscht, die die Größe eines Manschettenknopfs besaß. Die Frau war genauso schäbig angezogen; kleine Strohhalme steckten in Haar und Kleidung. Nicht einen Moment hörte sie auf, sich zu bekreuzigen.

Der Wachtmeister befahl dem Paar, den Tisch aus der Scheune zu holen. Sie brachten erst die Tischplatte, dann die Beine; sie hatten ihn wohl auseinandergenommen, damit er leichter zu verstecken war. Es wurde der Beschluss verkündet, der Mann habe die Platte auf dem Rücken zum Bauernhof zurückzutragen, festgezurrt mit einem schweren Seil, und wir würden die Beine tragen helfen. Der Verkünder selbst übernahm wieder das Fahrrad und gab Tzytzek im Austausch dafür ein Tischbein. Tzytzek gefiel das gar nicht, er sagte zu uns Kleineren, wenn das Paar in der Lage gewesen sei, den Tisch mitgehen zu lassen, könne es ihn auch genausogut wieder zurücktragen. Zu meinem Bruder hörte ich ihn auch noch sagen, dass man in einigen Ländern Diebe bestrafe, indem man ihnen die Hände abschneide. Er hielt das für eine gute Idee und sagte: „Wie sonst kann man Leute davon abhalten zu stehlen?“

Wir begannen den Rückmarsch; der Polizist führte die Prozession an, den Mann mit der Tischplatte direkt hinter sich. Die Frau folgte, immer noch weinend; wir Kinder bildeten die Nachhut. Unser Anführer nahm wieder sein Cape an sich, so dass ich viel schneller gehen konnte. Ungefähr auf halbem Weg zurück rief er zur Pause und verschwand mitten in einem Feld hinter einem großen Baum. Wir konnten ihn Wasser lassen hören; mit lauter Stimme befahl er uns, selber auch eine Rast zu machen. Der Dieb setzte die Tischplatte ab. Er sah müde aus und ängstlich und sagte kein Wort. Er starrte auf seine nackten Füße und atmete schwer. Nach mehreren Minuten des Ausruhens nahmen wir unseren Marsch wieder auf. Als wir an unserm Häuschen eintrafen, kamen alle zu unserer Begrüßung heraus; Großmutter sagte, sie habe sich schon Sorgen um uns gemacht, obwohl Herr Joseph sich alle Mühe gegeben hatte, ihr zu versichern, dass er uns zusammen mit dem Schutzmann über die Felder weggehen sah.

Die amtliche Befragung des Diebespaars begann: ihre Namen, die Namen ihrer Eltern, ihre Geburtsdaten, die Geburtsdaten ihrer Eltern. Ein Protokoll des Falles war zu schreiben. Das ertappte Paar wusste von nichts oder konnte sich einfach nicht erinnern. Unter Tränen fing die Frau an zu erzählen, dass sie noch nie in ihrem Leben einen anständigen Tisch besessen hätten. Unumwunden gab sie den Diebstahl zu. Ein paar Wochen zuvor, fügte sie an, habe ein Feuer fast ihre ganze Hütte und die meisten Sachen zerstört, die sie besaßen, auch das bisschen Kleidung.

Nachdem meine Großmutter die Geschichte der Frau gehört hatte, ging sie ins Haus und brachte einen Korb frisches Brot, Bauernkäse und einen Krug Milch heraus. Sie bot dem Paar das Essen an und drängte es zuzulangen. Sie mussten halb verhungert sein, so verschlangen sie es. Der Hüter des Gesetzes war überrascht, dass meine Großmutter die Gauner auch noch „fütterte“, aber er schritt nicht ein. Inzwischen war auch der Tisch wieder zusammengebaut und an seinen Platz gestellt. Ungeduldig wandte sich der Beamte an Großmutter und fragte sie, ob sie Schadensersatz fordere oder ob sie die ganze Episode vergessen wolle. Großmutter antwortete, sie finde, dass Gott das Paar mit dem Feuer und ihrer Armut genug gestraft habe. Wozu sie noch mehr bestrafen? Als die Frau dies hörte, ergriff sie Großmutters Hand, küsste diese und segnete Großmutter mehrfach. Unser „Freund und Helfer“ entschied, die Sache fallen zu lassen, ergänzte aber, er werde die Diebe zur Abnahme von Fingerabdrücken noch auf die Wache mitnehmen. Bevor sie abzogen, versprach meine Großmutter der Frau, dass sie Ende des Sommers den Tisch als Geschenk bekämen. Es war unglaublich. Wir dachten, sie mache Witze, aber sie meinte es wirklich so.

Das ganze Dorf sprach von dem Vorfall mit dem Tisch, bis wir es nicht mehr hören konnten. Der Sommer ging dem Ende entgegen, wir begannen zu packen, und am selben Tag, an dem wir abfahren sollten, tauchte das Paar mit einem Handwagen auf. Sie waren wegen des Tischs gekommen. In dem Wagen lag ein großer Strauß frisch gepflückter Blumen; der Mann trug ein lebendes Huhn unter dem Arm. Großmutter war sichtlich bewegt, und wir alle halfen, den Tisch auf den Wagen zu laden. Der Mann übergab Großmutter das Huhn; ich konnte ihn auf Polnisch im Dialekt dieser Gegend sagen hören: „Gott segne Sie, Frau Sarah, Sie sind ein Engel.“ Als der Mann und die Frau sich entfernten, rief ihnen meine Großmutter hinterher: „Mein Name ist gar nicht Sarah, ich heiße Elka, aber es macht nichts! Es ist nur ein Name, und ich vergebe euch auch dafür.“ Dann wandte sie sich zurück zur Hütte und sagte zu sich selbst, „die armen Leute.“ Ich war wirklich sauer, den Tisch und meine Schublade für immer los zu sein, doch jetzt hatten wir ein lebendiges Huhn, das wir nach Radom für zu Hause mitnahmen. Auf dem Weg in die Stadt mit Herrn Josephs Wagen saß Großmutter neben mir und streichelte dem Huhn den Kopf. Plötzlich schaute sie auf und fragte. „Wie soll ich das alles nur euren Eltern erklären, könnt ihr mir das mal sagen?“ Und sie brach in Gelächter aus.

Das Hochzeitsbild

Lebhaft erinnere ich mich an das Bild von Onkel Herschel und seiner Braut Annette.

Es war so groß wie eine Postkarte oder vielleicht ein bisschen größer, und es war sepiagetönt. Meine Mutter stellte es mit anderen Familienerbstücken und -artefakten in einer bleiverglasten Vitrine aus, die Teil einer massiven Walnuss-Schrankwand in unserm Esszimmer war. Es gab da auch eine „Spieluhr“, die nicht die Zeit anzeigte, aber Musik spielte. Ich kann heute noch die Melodie hören. Die Uhr und das Bild waren die zentralen Mysterien unseres Haushalts. Immer wenn ich das Hochzeitsbild studierte, hörte ich auch gern der Spieluhr zu. Ihre Melodie erinnerte mich an einen Hochzeitsmarsch, flott und fröhlich. Onkel Herschel sah aus, als wäre er noch in seinen Dreißigern – sanft, ernst, imposant. Seine Braut, Annette, eine Brünette mit einer schicken Frisur und einem süßen, weichen Lächeln, blickte freundlich; ich hatte das Gefühl, sie blicke direkt mich an, während Onkel Herschel seine Augen auf etwas weit Entferntes richtete. Ich hatte die Vorstellung, dass Annette Kinder mochte.

Mir wurde gesagt, dass sie in Paris lebten, in Frankreich, was für mich mit meinen neun Jahren am anderen Ende der Welt schien. Meine Mutter, die Onkel Herschels ältere Schwester war, versicherte mir immer, dass wir alle eines Tages auch nach Paris fahren würden, vielleicht für immer. Ich hielt das für eine gute Idee, und heimlich hoffte ich, wir würden es bald tun. Die meisten Verwandten meiner Mutter lebten im Ausland, außer ihrer jüngeren Schwester Dora, die aber kurz vor der Abreise nach Palästina stand. Tante Dora war jung und hübsch und vergaß nie, mir Süßigkeiten mitzubringen, wenn sie zu Besuch kam. Als Tante Dora abgereist war, tat mir meine Mutter leid. Bald folgte meine Großmutter, und damit waren all ihre nahen Verwandten weg. Die Angehörigen meines Vaters waren zwar noch da, einschließlich seiner Eltern, doch aus irgendeinem Grund – den mir niemand erklärt hatte – sprach er nicht mehr mit ihnen.´

Das Hochzeitsbild wurde mein Verbindungsglied zur Außenwelt. Ich konnte mir nach den Postkarten, die wir von Onkel Herschel regelmäßig erhielten, Paris ausmalen. Zwei davon wurden zu beiden Seiten des Hochzeitsbilds ausgestellt: Eine zeigte den Eiffelturm und die andere den Arc de Triomphe. Für mich waren jene zwei Wahrzeichen Weltwunder. Wenn meine Freunde zu Besuch kamen, zog ich immer die Uhr auf und gab mit den Postkarten und dem Hochzeitsbild an. Dann hielt ich ihnen einen kurzen Vortrag über meinen Onkel Herschel und seine Braut und über die Wahrzeichen von Paris, als wäre ich ein Experte.

In Wirklichkeit wusste ich nicht viel von meinem Onkel, doch das Bild legte nahe, dass er sehr bedeutend, wenn nicht sogar sehr reich war. Seine Briefe las ich nie, weil sie auf Jiddisch geschrieben waren und ich seine Handschrift nicht entziffern konnte. Dies gab meinen Phantasien Nahrung. Ich führte mit dem Bild imaginäre Gespräche, stellte ihm Fragen; manchmal sprachen Herschel und Annette mit mir. Das Hochzeitsbild wurde meine heilige Ikone.

Irgendwann in den dreißiger Jahren legte Tante Dora, kurz nach ihrer Palästina-Abreise, einem ihrer Briefe ein Bild bei. Sie war darauf mit dem Mann fotografiert, den sie heiraten wollte. Das Bild war kleiner als das von Onkel Herschel. In der Vitrine wurde es von den bleiernen Sprossen der Verglasung verdeckt. Auf dem Bild lächelte Tante Dora nicht; sie erschien sehr drall, und ihr Verlobter war zum Teil schon kahl. Wenn ich als Kind bei ihr zu Besuch gewesen war, hatte ich gelegentlich in ihrem Bett schlafen müssen. Sie hatte dann die Arme um mich gelegt und mich in die Fülle ihres Busens eingehüllt. Wie ich es hasste, am Morgen aufzustehen und meine Füße auf den kalten Fußboden zu setzen! Der bloße Gedanke, sie würde bei ihrem neuen Mann schlafen, bewirkte, dass ich ihn nicht leiden konnte.

Ein paar Jahre vergingen. Der Krieg brach aus, wir waren Besatzungsgebiet der Nazis, und es kam keine Post mehr. Eines Tages mussten wir unsere Wohnung räumen und in ein neu angelegtes Ghetto in einem anderen Teil der Stadt ziehen. Wir hatten die meisten unserer Möbel zurückzulassen, darunter die massive Schrankwand. In der Eile des Packens und der Suche nach einem neuen Platz zum Wohnen ließen wir auch die Bilder und die Spieluhr zurück. Dennoch gelang es mir, die Erinnerung an das Hochzeitsbild wachzuhalten. Als das Ghetto schließlich liquidiert und ich in die Lager geschickt wurde, musste ich in den traurigsten Momenten meiner Gefangenschaft immer an Onkel Herschels Bild und Annettes warmes Lächeln denken.

Kurz nach Kriegsende gelang es mir, nach Paris zu fahren. Onkel Herschel wusste nicht, dass ich kam, aber ich hatte mir seine Adresse zusammen mit den Adressen meiner übrigen Verwandten gemerkt. Sobald ich in Paris eintraf, ging ich zu ihm und klopfte an seine Tür. Ein stämmiger Mann mittleren Alters begrüßte mich, unrasiert, in einer schmutzigen Hose und einem zerrissenen Trainingshemd. Bevor ich Gelegenheit hatte, mich vorzustellen, sprach er.

„Wir müssen verwandt sein. Du siehst ja aus wie meine Schwester. Bist du etwa mein Neffe?“

„Ja, Onkel Herschel, ich bin dein Neffe,“ antwortete ich.

Er war sichtlich erschüttert. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und wir umarmten uns; ich war sicher, dass er vom Tod meiner Eltern wusste. Obwohl er zu lächeln versuchte, ging von ihm eine seltsame Traurigkeit aus. Das kleine Appartement war nicht sehr sauber. Es sah aus, als wäre es monatelang nicht mehr geputzt worden, und die Luft roch ziemlich muffig. Es gab nicht die Spur der Anwesenheit einer Frau.

Ich erinnerte mich an die Geschichten, die meine Mutter immer ihren Freundinnen erzählte, über Onkel Herschels schöne Wohnung und das schicke Arrondissement, in dem er lebte. Das kleine Appartement jedoch befand sich im dritten Stock, ohne Aufzug, in einem alten, vernachlässigten Gebäude, das große Stellen aufwies, an denen der Putz fehlte. Die Nachbarschaft war überhaupt nicht schön. Das Haus stand mitten in einem Arbeiterviertel, das von Bettlern, Straßenhändlern und Prostituierten nur so wimmelte. Hier hallte es von ständigem Lärm wider, und man hörte die verschiedensten Sprachen.

Ich war versucht, Onkel Herschel nach Annette zu fragen, doch ich hatte nicht den Mut. Was, wenn ihr während des Kriegs etwas Furchtbares passiert war? Ich hoffte, er würde es mir selber sagen. Er saß mir gegenüber und berichtete ausgiebig, wie schrecklich er den Krieg gefunden habe, wie betroffen er unseretwegen und wie schwer es auch für ihn gewesen sei. Seiner Erzählung nach hatte er im französischen Untergrund gegen die Nazis gekämpft. Eines Tages aber sei er sehr krank geworden und habe sich auf einem Bauernhof verstecken müssen, bis der Krieg vorüber war. Es sei ein großes Risiko gewesen, medizinische Hilfe zu suchen, doch irgendwie habe er alles überstanden. Er betrachte es als ein Wunder, am Leben geblieben zu sein.

Plötzlich wurde mir klar, dass dieser Fremde und ich sehr wenig gemein hatten, außer der Tatsache, dass er der Bruder meiner Mutter war. Er glich nicht einmal dem Onkel, den ich von dem Bild her kannte. Das beleidigte meine Erinnerung. Wie konnte ich diesen Fremden ohne das schöne lächelnde Gesicht der Frau neben ihm bloß akzeptieren? Als in unserer Unterhaltung eine lange Pause entstand, fragte ich ihn spontan: „Wie geht es Tante Annette, und wo ist sie?“ Zuerst sah er mich entgeistert an; dann sagte er zu mir, indem er seine Augen – wie auf dem Hochzeitsbild – auf etwas weit Entferntes richtete: „Annette und ich wurden vor ein paar Jahren geschieden. Wir konnten miteinander nicht auskommen. Deiner Mutter wollte ich davon nicht schreiben – ich wollte ihr die Peinlichkeit und den Kummer ersparen.“

Ich war schockiert und bestürzt zugleich. „Heißt das, dass ich sie nie mehr wiedersehen werde?“ fragte ich ihn.

„Nein, überhaupt nicht,“ antwortete er. „Ich glaube, das lässt sich arrangieren. Wir sind gute Freunde, und wir treffen uns von Zeit zu Zeit. Aber warum willst du sie denn sehen?“ fragte er. Weil ich keinen besseren Grund hatte, berichtete ich ihm von meiner langen Schwärmerei für ihr Hochzeitsbild, wie sehr ich Annettes Lächeln mochte und wie glücklich ich war, sie zur Tante zu haben.

Onkel Herschel blickte mich ungläubig an. In seinem erstaunten Gesicht sah ich, dass er sich fühlte, als würde er Zeuge einer Auferstehung. Ich muss noch anfügen, dass auch er auf jenem Bild stattlich und elegant aussah, obschon er nicht lächelte. Doch sein Ausdruck war jetzt kaum anders – nur ein leichtes Anheben eines Mundwinkels zeigte sich.

Zwei Tage später rief mich Onkel Herschel im Haus meines anderen Onkels an, bei dem ich wohnte, und bat mich, ihn am Abend bei sich zu Hause aufzusuchen; wir drei würden zum Abendessen ausgehen. Ich war sehr aufgeregt und dachte den ganzen Tag an das Treffen. Da er und Annette geschieden waren, bat er mich, sie nicht „Tante“ zu nennen.

An dem erwähnten Abend ging ich zu Onkel Herschel, und wir nahmen zusammen die Metro, um zu Annette zu fahren. Er lobte meine Pünktlichkeit. Mein Onkel war immer noch ein stattlicher Mann: groß, aufrecht, mit leicht grauen Schläfen. Er trug einen zweireihigen dunklen Anzug mit einer sehr farbenfrohen Seidenkrawatte. Als wir ankamen, erwartete uns Annette schon. Ich wurde ihr vorgestellt; wir schüttelten uns die Hände, und sie gab nur ein Wort von sich: „Enchantée.“ Wir beschlossen, zum Restaurant zu Fuß zu gehen. In der ganzen Zeit, die wir bis dort brauchten, stellte sie mir nur eine Frage: „Wie gefällt dir Paris?“ Ich erwiderte: „Ich mag es sehr.“

Annette war kaum derselbe Mensch, an den ich mich von dem Hochzeitsbild erinnerte. Ihr Haar war anders, sie wurde schon grau, und ihr Gesicht bekam erste Falten. Sie war ein bisschen füllig, aber ihre Hände waren überraschend schmal, mit langen Fingern. Sie trug ein graues Sommerkostüm mit einem Seidenschal um den Hals, der ihr etwas Farbe gab. Sie hatte keinerlei Make-up aufgelegt, aber ich entdeckte den Duft eines angenehmen Parfums. Ich zog den Schluss, dass sich beide geschmackvoll kleideten, und irgendwie gefiel mir das.

Onkel Herschel führte uns in ein Restaurant mit jüdischer Küche. Als wir ankamen, war es recht voll, doch bald darauf fanden wir Platz in einer ruhigen Ecke. Ich saß Annette gegenüber, Onkel Herschel saß links von mir. Es sei sein Lieblingstisch, sagte er zu mir. Annette sah mich mit einem leichten Lächeln an und fragte mich frei heraus: „Warum wolltest du mich eigentlich wiedersehen – wenn es dir nichts ausmacht, mir das zu sagen?“

Ich wusste nicht, wo beginnen; ich hatte kaum erwartet, dass sie mich so etwas fragen würde. Tausend verschiedene Gedanken gingen mir durch den Sinn. Ich muss rot geworden sein; Annette bemerkte es, lächelte und wandte sich Onkel Herschel zu: „Dein Onkel erzählt mir, dass du dich immer noch von dem Hochzeitsbild her an uns erinnerst. Stimmt das? Erkennst du uns noch wieder? Sind wir noch dieselben Leute? Findest du, dass ich derselbe Mensch bin? Sag es mir, und sei ehrlich.“

„Ja“, sagte ich, „wenn du lächelst, bist du dieselbe.“ Meine Stimme zitterte, und ich war verlegen. Ich wollte sie nicht beleidigen, und ich war nicht sicher, es nicht doch getan zu haben. Mir wurde klar, dass ich nichts zu antworten wusste. Ich war nur ein Kind, das vom Lächeln einer Frau betört worden war und jetzt, elf Jahre später – mit der Realität konfrontiert –, zu kneifen versuchte. Ich fühlte mich schlecht. Die Realität wurde meiner Erinnerung nicht gerecht.

Sie begannen mir leid zu tun. Warum hatten sie sich scheiden lassen? Ohne darüber noch einmal nachzudenken, fragte ich: „Was hat es für einen Sinn, sich scheiden zu lassen? Ist es nicht einsam, ohne Gefährten – all diese Jahre?“ Sie waren verblüfft. Naturgemäß hatten sie von diesem jungen Mann nicht erwartet, dass er ihnen eine Predigt über Moral oder Unmoral einer Scheidung hielt, ganz zu schweigen davon, dass er ein Urteil über ihr Privatleben abgab. „Verzeiht mir“, sagte ich, „ich weiß, es ist nicht meine Angelegenheit, aber als ich euch so zusammen sah, da konnte ich nicht anders, weil ihr meine Verwandten seid und ich das Gefühl habe, euch fast mein ganzes Leben lang gekannt zu haben.“

Annette lachte. Ich konnte daraus erkennen, dass sie mein Reden nicht recht ernst nahm. „Du redest, als hättest du entsprechende Erfahrung als Mann, dabei kennst du doch das Verheiratet-Sein gar nicht. Ich nehme an, du weißt nicht, was es heißt, eine schlechte Ehe zu führen. Glücklich waren dein Onkel und ich nur am Anfang. Da hatten wir eine gute gemeinsame Zeit, abgesehen davon, dass wir es gar nicht richtig zu schätzen wussten. Ich muss zugeben, dass es zu viel Einmischung seitens einiger meiner Angehörigen gab. In dieser Hinsicht hatte dein Onkel triftige Gründe.“ Onkel Herschel saß da und nippte an seinem Getränk, ruhig, nachdenklich, seine Augen auf irgendetwas in weiter Ferne gerichtet.

Es war schon spät am Abend, und das Restaurant war fast leer; es wurde Zeit für uns zu gehen. Wir gingen also zurück, begleiteten Annette zu ihrem Haus. Sie wohnte bei ihrem alten, kranken Vater. Sie war in sehr guter Stimmung, und ich hatte das Gefühl, sie mochte mich. Unterwegs zeigten sie mir verschiedene Pariser Wahrzeichen; als wir die Champs Elysées überquerten, erblickte ich den Arc de Triomphe und weiter in der Ferne den Eiffelturm.

Es herrschte eine festliche Stimmung in der Stadt. Paris bereitete sich darauf vor, den Tag der Erstürmung der Bastille zu feiern, erklärte mir Annette. Ich hatte nur noch zwei weitere Tage, bevor ich wieder nach Deutschland fahren würde, in meine zeitweilige Heimat, wo ich für die US-Army arbeitete. So gingen wir lange nebeneinander her, und ich lauschte ihren Erinnerungen an die gute alte Zeit, die Zeit vor dem Krieg.

Als der Abend zu Ende ging, waren wir alle erschöpft. Als ich Annette den Abschiedskuss gab, dämmerte es mir, dass sie sich nicht so dramatisch verändert hatte, wie ich es zuerst glaubte. Ich sagte ihr, wie sehr es mir gefallen habe, sie wiederzusehen; und fragte sie, ob ich sie, falls sie keine Einwände habe, „Tante“ nennen dürfe? „Das fände ich sehr schön,“ antwortete sie. Ihr weiches, warmes Lächeln gab es tatsächlich immer noch.