Apocalypse Now Now. Schatten über Cape Town - Charlie Human - E-Book
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Apocalypse Now Now. Schatten über Cape Town E-Book

Charlie Human

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Beschreibung

Neil Gaiman meets Tarantino Mit ›Apocalypse Now Now‹ hat Charlie Human »ein verrücktes, finsteres, respektloses und wunderbar abgedrehtes Debüt« (Lauren Beukes) geschrieben, das in seiner Heimatstadt Cape Town spielt. Südafrikanische Mythologie + magiebegabte Kopfgeldjäger + Rock'n'Roll-Highschool = punkige Urban Fantasy vom Allerfeinsten. Eigentlich läuft für den 16-jährigen Baxter gerade alles rund. Sein kleines Pornobusiness an der Highschool boomt, die Eltern lassen ihn in Frieden, und er ist über beide Ohren in die zauberhafte Kleptomanin Esmé verliebt. Doch als diese von einem wahnsinnigen Serienmörder entführt wird, laufen die Dinge aus dem Ruder. Zusammen mit dem Kopfgeldjäger Jackie Ronin macht Baxter sich auf die Suche nach ihr und entdeckt hinter dem gewöhnlichen Alltag von Kapstadt eine Schattenwelt der Ungeheuer und Magie. Ein anarchisches, übersteuertes und verdammt witziges Fantasy-Debüt mit Kultbuchpotenzial. Mit ›Apocalypse Now Now‹ und der Fortsetzung ›Kill Baxter‹ macht Charlie Human den ganz Großen der Urban Fantasy – Neil Gaiman, Jim Butcher und Ben Aaronovitch – ernsthaft Konkurrenz.

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Seitenzahl: 446

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Charlie Human

Apocalypse Now Now

Schatten über Cape TownRoman

Roman

Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Definition NOW NOW]Prolog1 Regenmäntel und HirnfickereiPatientenakte: BAXTER IVAN ZEVCENKO2 Hirnsausen3 FamilientraditionAus dem IndieFilm Magazine4 Von der unerträglichen Zumutung, ein Herz zu haben5 Du bist ein Blender, und ich fange an, dich zu mögenAus der Zeitschrift »Kampfkünste aktuell«6 Elementar, lieber Baxter7 Einmal Hirnshake, bitteAus dem Journal für Militärgeschichte8 Die Zombie Horror Ninja Show9 ObambonationAus dem Newsletter der Skeptikerliga10 Fressfeinde11 Reiß mir das Gesicht weg und sag, dass du mich liebstFallakte: BAXTER IVAN ZEVCENKO12 Wir plädieren auf Unzurechnungsfähigkeit13 Die Ahnen14 Knarren, Pornos und Stahl15 Vorsätzliche schwere Körperverletzung16 Apocalypse Now Now17 Let it BurnDanksagungLESEPROBE aus Charlie Human, KILL BAXTER – Showdown in Cape TownPrologAufnahmeverfahren: für Hexpoort Dokument XN03Sicherheitsstufe: ImpiBrowserchronik

Für Georgia und Chloé

NOW NOW (adv.) – südafrikanischer Slang für »später«, »so bald wie möglich«. Oder vielleicht auch gar nicht.

Wenn du herausfindest, dass du ein Serienmörder bist, machst du dir deine Gedanken. »Bin ich so schlimm wie Ted Bundy?«, zum Beispiel. Oder: »Komme ich jetzt ins Fernsehen?« Aber dann belegt doch eher das Wer, Was, Wann und Warum die mentalen Frequenzen. Also, zur Sache:

»Ich heiße Baxter Zevcenko. Ich bin sechzehn Jahre alt. Ich bin auf der Westridge High School in Kapstadt und habe keine Freunde. Ich habe Menschen getötet. Viele Menschen. Und zwar brutal. Zumindest höre ich, es seien Menschen gewesen. Für mich sahen sie mehr wie Monster aus. Aber ich will nicht mit Einzelheiten langweilen. Wer möchte, findet alles darüber im Internet.

Man sagt von mir, ich sei satanisch, aber das stimmt nicht. Ich habe Dinge gesehen. Ich sah den großen Mantisgott Afrikas im Kampf gegen ein Geschöpf aus den Urtiefen der Zeit, ein Jahrmilliarden währender Krieg, bis die Mantis die sich windende Kreatur vom himmlischen Firmament in den bodenlosen Schlund hinabstieß. Ich habe die Vergangenheit durch die Linse des Auges gesehen, und zwar nicht in geschmackvollen Sepiatönen, sondern gestochen scharf in Blut und Tod, nur durch einen feinen Tränenschleier abgemildert. Ich habe den schwitzenden, knurrenden, krächzenden, kratzenden, blutigen, kläffenden, gefiederten, geschuppten und krallenbewehrten Abgrund unter der Stadt gesehen, und ihr könnt mir glauben, es gibt Schöneres …«

»Baxter«, unterbricht mein Psychiater, »waren wir uns nicht einig, dass es kontraproduktiv ist, sich diesen Wahnvorstellungen zu überlassen?«

Ich hole Atem und verdränge diese Bilder. »Sie haben recht«, sage ich. »Die Mantis und das finstere Urwesen gibt es nicht. Ebenso wenig den Waffenalchemisten, den Kopfgeldjäger und die Freundin, die ich retten muss. Es gibt nur mich, und ich bin krank. Letztendlich sind wir alle nur Opfer unserer Wahrnehmung. Ich hoffe, das ist dir jetzt endlich klargeworden, Sparky.«

»Gut«, sagt mein Psychiater, »ich glaube, du machst Fortschritte«, und stellt die Kamera ab.

1Regenmäntel und Hirnfickerei

»Charlie, Delta, Niner, ein fetter Zehn-vier«, grollt Rafe in sein CB-Funkgerät. Ich hab zehn Minuten Zeit, bevor ich losmuss zur Schule. Meine Eltern zwingen mich, zu Fuß zu gehen, auch wenn es regnet. Und gerade regnet es. Das Funkgerät zischt, knistert und gluckst wie der Soundtrack eines Horrorfilms über einen dämonischen Computer, für den Menschen eine niedere Lebensform sind, die eliminiert gehört.

Ich liege in unserem Wohnzimmer auf dem rostorangen Langflorteppich, der so alt ist, dass er schon zweimal wieder retrochic war. Rafe, mein zwei Jahre älterer Bruder, hat sein CB-Funkgerät strategisch auf dem runden Glastischchen neben dem Fernseher postiert. Ich sage strategisch, weil er der Sunzi der Quälgeisterei ist und das auf dem Glas rappelnde CD-Funkgerät die perfekte Hirntod-Frequenz erzeugt. Ich schiebe die langen Ponyfransen von meiner Brille und starre wütend auf seinen Hinterkopf.

»Mach das leiser«, sage ich. Er dreht seinen Bollerkopf mit der roten Zottelfrisur und fixiert mich mit dem Wissenden Auge. Die Wut baut sich in mir auf wie eine dunkle Welle.

Das Wissende Auge ist eine Waffe, die in meiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben wird. Mein Großvater väterlicherseits hat es, und ich vermute stark, das war es auch, was meine Großmutter in Alkoholismus und Sexsucht getrieben hat, ehe sie ihn verließ, um in einer Rassistenkommune im Nordkap neu anzufangen. Das, und die Tatsache, dass mein Großvater sich von riesigen gestaltwandelnden Krähen verfolgt fühlt.

Das Auge hat eine Generation übersprungen, und jetzt hat es Rafe, der älteste Sohn. Er kann dich mit einem einzigen Blick durchleuchten wie ein Röntgenapparat und deine neuralgischsten Punkte, deine sensibelsten Geheimnisse bloßlegen.

Rafe ignoriert mich und schlägt eins seiner dämlichen Bücher über südafrikanische Geschichte auf. Offensichtlich sind Obsessionen ganz typisch für alle, die es sich am unteren Ende des Autismusspektrums gemütlich gemacht haben. Rafes war südafrikanische Geschichte. Er hat eine ganze Bibliothek von Büchern, in die er dauernd die Nase steckt, als versuche er im wildwuchernden Dickicht unseres kolonialen Erbes irgendwelche sinnvollen Muster zu erkennen. Er ist wirklich schräg drauf. Nicht genug, dass sein verdrehter Denkapparat mich belästigt, wenn ich wach bin. In letzter Zeit infiltriert er mit seinen bizarren Vorstellungen von Ochsenwagen und Buren auch noch meine Träume.

Er dreht sich zu mir, schlägt das Buch auf einer Doppelseite über irgendeine längst vergessene Schlacht zwischen Buren und Engländern auf und pikt insistierend mit dem Finger darauf, als wollte er einem Affen das Lesen beibringen. Das ist, als würde man ein Baby vor der Nase eines Pitbulls schwenken. Ich kann nicht anders. Die dunkle Welle überrollt mich. Fauchend vor Wut stoße ich mich vom Boden ab und springe auf Rafes Rücken, nehme ihn in den Schwitzkasten und reiße ihn zu Boden.

Ich weiß aus Erfahrung, dass mir nur wenige Sekunden bleiben, ihm so viele Schmerzen wie möglich zuzufügen, ehe meine Mutter kommt und dazwischengeht. Also traktiere ich seine Nieren mit Faustschlägen, während er wild strampelt. Es ist nicht genug, aber besser als nichts. Die Schritte meiner Mutter poltern die Treppe hinunter. Wir gehen auseinander, und ich gebe Rafe einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.

»Wir haben nur ein bisschen gerangelt, Mum«, sage ich, als sie ins Wohnzimmer kommt.

»Baxter, was ist bloß los mit dir?«, fragt sie und schält mit ihrem rasiermesserscharfen Blick die Unschuldsmiene von meinem Gesicht. Auf die alte »Nur gerangelt«-Nummer fällt sie eindeutig nicht mehr rein.

»Das Auge …«, fange ich an.

»Du bist sechzehn, in Gottes Namen«, sagt sie. »Meinst du, Rafe zu quälen macht dich zu einem guten Bruder?«

Die Frage war rhetorisch, aber ich kann es mir nicht verkneifen, ihre Fehlannahme zu korrigieren, mir läge etwas daran, ein guter Bruder zu sein. Das kommt so gut an wie Iron Maidens »Number of the Beast« in der Bibelstunde.

Der springende Punkt ist, dass mein Bruder eine Lernbehinderung hat und eine Sonderschule besucht, was ihn von der schnöden Pflicht entbindet, Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen.

»Ich hab nicht ge…«, fange ich an.

»Er kann nichts dafür«, flüstert sie scharf.

Ich weiß, wann ich verloren habe, und streiche die Segel. Meine Mutter und ich werden über Rafes kognitive Fähigkeiten wohl immer geteilter Meinung sein. Während sie ihn für einen Vollpatienten hält, der das Gagagenerve, das er auf mich abschießt wie einen Laserstrahl, gar nicht bemerkt, sehe ich das ganz anders. Er kann es sehr wohl kontrollieren. Es ist einfach sein einziger Lebenszweck, mich in die klinische Psychose zu treiben.

»Vertragt euch wieder«, sagt meine Mutter und zieht eine dünne Augenbraue hoch.

»Sorry«, murmeln wir beide unisono und schütteln uns widerwillig die Hand. Ich drehe mich um, nehme meine Tasche und trete durch die Vordertür raus in den Regen, ohne den Schirm, den meine Mutter mir hinhält.

Ich quäle mich durch den Wolkenbruch. Es ist so unfair. Rafe ist der Dorn in meinem Fleisch. Er spricht kaum, und wenn, dann ausschließlich über Buren-Generäle, Konzentrationslager der Engländer und San-Mythologie. (Wobei Letztere, wie alle anderen Religionen auch, komplett plemplem ist. Der gestaltwandelnde Mantis-Gott verliebte sich in eine Antilope und schuf daraufhin den Mond und eine ganze Reihe schriller Monster, denn he, ich bin ein vielgestaltiger Gott, warum nicht?) Ich wünschte, meine Eltern würden Rafe einfach mit Medikamenten ruhigstellen. Aber das Leben ist unfair – wie ein Kindergeburtstag, auf dem die Mutter das Päckchen-Karussell manipuliert, damit ein besonders liebes Kind das Beste bekommt.

Und genau so ist es doch: Immer gewinnen die kleinen blonden Engelchen mit den Uralt-Modem-Gehirnen (rrrr-klckklck-iiiii-rckklckcklck) beim Päckchen-Karussell. Als Kind war ich auf Hunderten von Kindergeburtstagen und habe nie das Päckchen gewonnen. Das ist statistisch äußerst unwahrscheinlich und kann nur eins bedeuten, nämlich, dass keine der Mütter mich mochte.

Ich war nämlich eins dieser Kinder, die andere Kinder zum Weinen bringen, ein angeborenes Talent, das ich ganz unwillkürlich einsetzte. Es gibt zwei Dinge, die fast alle Mütter mögen, nämlich Josh Groban und wenn ihre Kinder mal nicht heulen, und da Josh Groban nur alle paar Jahre ein neues Album rausbringt, legen sie doppelt so großen Wert auf die nichtheulenden Kinder.

Der Himmel trifft fast genau den Grauton der Lunge eines Zwei-Päckchen-am-Tag-Rauchers und macht mir damit Lust auf eine Zigarette. Ich biege von der belebten Hauptstraße ab und begebe mich in die Unterführung am Bahnhof, jenes versiffte Höhlenheiligtum, in dem meine Freundin Esmé und ich uns treffen, um vor Beginn des Unterrichts Spucke und Zigarettenrauch auszutauschen.

Die Unterführung schlängelt sich unter der Bahnlinie her wie eine dreckige Katakombe. Chaotische Graffiti bedecken die Wände – vielfarbige Gebeine von prähistorischen Drachen in der Bausubstanz. In der hohlen Hand zünde ich mir die Zigarette an, dann lehne ich mich an die Wand und sehe dem Rauch zu, der sich wie zwei kämpfende Riesenkreaturen in die Höhe schraubt. Ich lasse meinen Blick über die gegenüberliegende Wand schweifen und betrachte die Kritzeleien und Tags, die vom schulpflichtigen Teil der Bevölkerung, der jeden Tag durch diesen Tunnel strömt, hinterlassen wurden.

Ich erkenne den Tag von Schnüffelkid, eine stilisierte Spraydose und daneben S.K. in leuchtendem Blau. Einige seiner Sachen entlang der Schienen sind auf ihre verquere, halluzinatorische Art ganz schön. Er hängt nur deshalb mit den Sprayern zusammen, weil sie den ständigen Nachschub an Aerosol gewährleisten, aber er ist gar nicht mal schlecht darin.

»Tammy Laubscher bläst beschissen« steht in dickem schwarzem Marker neben der Zeichnung von einem durchgekreuzten Schwanz. Diese Aussage entspricht komplett den Tatsachen; ihr scharfkantiger Schiefzahn hemmt irgendwie ihre Karriere als Fellatrix. Direkt daneben steht in roter Schrift »Für wilden Spaß Ms Jones Tel 0769248724«. Unsere Geographielehrerin hat es sich offenbar mit einem der Sprayerkids verdorben. Für die Echtheit der Nummer kann ich bürgen.

Ein kleines, grelles Element sticht mir ins Auge. Es ist ein zugeschwollenes rotes Auge, aus dem gelbe Farbe zu eitern scheint. Darunter stehen fünf abschreckende Wörter. »Baxter Zevcenko ist ein Mörder.« Es überläuft mich eiskalt vom Scheitel bis zur Sohle. Fuck. Kyle muss irgendwem von meinen Träumen erzählt haben. Selbst auf die Verschwiegenheit des besten Freundes ist offenbar kein Verlass mehr.

Meine chaotische, ungereimte Traumwelt von letzter Nacht ist mir auch jetzt noch noch deutlich präsent. Der Geruch der dunklen, dumpfigen Mooskissen im Wald und die Pinien, die sich im Wind wiegen wie die Priester einer uralten, vergessenen Religion. Der Mond steht als boshafte silberhelle Sichel am Himmel, und alles ist still.

Ich sitze auf meinem BMX-Rad und horche auf das leise Knacken der Kiefernnadeln unter den vorsichtig voranrollenden Gummireifen. Dann sehe ich sie vor mir, die Riesenmantis mit dem smaragdgrünen Rücken, deren elegantes, trunkenes Wiegen mich an Tai-Chi-Übungen denken lässt. Sie senkt ihren gewaltigen Kopf – eine auf die Spitze gestellte Pyramide –, spreizt die durchscheinenden Flügel und beginnt zu tanzen, ein bisschen komisch und schreckerregend zugleich. Sie wendet ihren Kopf und richtet das Wissende Auge auf mich. Es ist schrecklich, wie Sauron mit Augentripper, und Blut und Feuer schießen mir ins Gehirn. Ich versuche wegzukrabbeln, aber der Blick bohrt sich durch meine Stirn.

Alles, was ich dann noch sehe, sind brennende Ochsenkarren in der Nacht und Menschen, die abgeschlachtet werden. Diese Träume enden immer mit dem Tod unzähliger Menschen. Als liefe in meinen Träumen ununterbrochen der History Channel – nur dass Quentin Tarantino sämtliche Spielszenen gedreht hat.

»Hey.« Die vertraute, rauchige Jazzclubstimme reißt mich aus den Gedanken. Esmé kommt durch die Unterführung geschlendert und lehnt sich neben mir an die Wand. Ihr kurzes dunkles Haar ist verwuschelt, und eine lange Strähne hängt bis auf einen der messerscharfen Wangenknochen ihres Koboldgesichts. Ihre grünen Augen sind mit dunklem Kajal umrahmt, was ihr in der Schule einen Anschiss einbringen wird. Sie riecht nach Rauch und Jasmin.

Sie zieht eine Zigarette aus der Packung in meiner Hand und beugt sich zu mir, um sich Feuer geben zu lassen. Das Haar fällt ihr ins Gesicht, und ich widerstehe der Versuchung, es zurückzustreichen. Irgendwie löst das Licht in der Unterführung in Kombination mit ihrem Geruch und ihrer Nähe etwas in mir aus. Die Zeit verdichtet sich auf diesen einen Punkt. Ich habe ein komisches Gefühl in der Brust und kann nicht denken.

»Jody Fuller ist ermordet worden«, sagt sie nüchtern. »Auf dem Berg.«

»Fuck«, sage ich. Die Kälte kehrt zurück, gleitet mir die Kehle hinunter wie eine verdorbene Auster. Jody Fuller war ein Jahr über mir, aber ich hatte sie einmal geküsst. Ich erinnere mich, dass sie schwach nach Milch und Minze schmeckte.

»Es ist komisch«, sagt Esmé. »Ich hab die Schlampe gehasst, und jetzt vermisse ich sie irgendwie.«

»Ja«, stimme ich zu.

Wir rauchen schweigend, dann schnippt sie ihre Kippe in den Dreck, stößt sich von der Wand ab und beugt sich rüber, um mir einen feuchten Kuss zu geben.

»Meld dich später online«, sagt sie und schlendert davon, und für einen Moment erscheint ihre Gestalt im Gegenlicht der Tunnelöffnung wie ein Heiligenbild mit Glorienschein. Ich bleibe noch einen Moment in der leeren Unterführung. Dieser Kuss hat den beschissenen Tagesanfang aus dem Zwischenspeicher gelöscht. Ich dampfe den Rest meiner Zigarette weg, stoße mich von der Wand ab und gehe wieder raus in den Regen. Der Rest des Fußmarschs ist elend. Als ich die Eisentore am Eingang der Schule erreiche, sind sogar meine Strümpfe pitschnass.

Zum Glück hatte ich in weiser Voraussicht den Inhalt meines Rucksacks in eine Plastiktüte gesteckt. Neben meinem Lunch und meinen Schulbüchern habe ich ein Manifest dabei, das alles ändern könnte. Wenn nicht vorher schon die Hölle losbricht. Ich nehme die Tore der Westridge High ins Visier und wische den Regen von meinen Brillengläsern.

Westridge ist ein imposanter Granitbau, dessen eiserne Kiefer Generationen von Kapstädtern ausgespien haben. Wie alle angesehenen Highschools in den lauschigen Vororten im Süden haben wir einen ansprechenden Schulhof, sündhaft teure Computerarbeitsplätze, die direkt nach dem Einrichten veraltet waren, einen Debattierklub, ein konkurrenzfähiges Rugbyteam sowie Gangs, Drogen, Bulimie, Depressionen und Mobbing.

Es ist ein Ökosystem, ein Mikrokosmos der politischen, ökonomischen und militärischen Kräfte, die die Welt gestalten. Einige Highschool-Kids machen sich Sorgen um ihre Beliebtheit oder ihre Noten. Meine einzige Sorge ist die Aufrechterhaltung des brüchigen Stillhalteabkommens zwischen den Gangs, das Westridge zusammenhält. Jedem das Seine, wie mein Vater sagt.

Ich gehe zügig durchs Tor, drossele aber sofort das Tempo, als ich vor mir Mikey Markowitz sehe, in seiner grellgelben Regenjacke eine leuchtende Warnboje vor den Gefahren der Uncoolness.

Mikey war in der Junior School mein bester Freund. Er war aufmerksam, lieb und treu. In der Highschool musste ich unsere Freundschaft überdenken, schon weil nicht zu übersehen war, dass die älteren Kids, besonders solche, die aussehen, als hätten ihre Eltern ihnen Wachstumshormone gespritzt und dann mit dem Ledergürtel die Freude aus dem Leib geprügelt, die Schwäche riechen konnten, die Mikey aus allen Poren ausströmte. Seine pummelige, rosig-blonde Hilflosigkeit übt auf die brutalen legasthenischen Schmeißfliegen, die auf dem Schulgelände umherschwirren, denselben unwiderstehlichen Sog aus wie ein Scheißhaufen. Also traf ich eine rationale Entscheidung.

Was machst du, wenn beim Bergsteigen der Kerl unter dir abrutscht und dich mit in einen klaffenden, eisigen Abgrund zu ziehen droht? Du kappst das Seil. Tja, die Highschool ist ein klaffender, eisiger Abgrund, und ich musste das Seil kappen, das mich mit Mikey verband. Trotzdem zwickt mich jedes Mal ein leises Schuldgefühl, wenn ich ihn in der großen Pause allein dasitzen und sein Sandwich anstarren sehe. Ich gehe langsamer, um Mikey noch etwas Vorsprung zu geben. Lassen wir die Vergangenheit ruhen.

Als Mikey im Regen verschwindet, verschaffe ich mir einen schnellen Überblick über die Jugendlichen in blauen Blazern, die in kleinen Grüppchen in den Ecken herumstehen. Kalte, misstrauische Augen betrachten mich von jenseits des Sprawl – unser Name für den asphaltierten Streifen Schulhof, der sich am Rand des vorderen Sportplatzes von der roten Backsteinaula bis zum Hausmeisterhäuschen erstreckt. Der Sprawl ist der Ort, an dem sich alles Wichtige im politischen Leben der Westridge abspielt. Und an diesem Montagmorgen gehen wichtige Dinge vor. Ein Wunder, dass die Eltern nicht spüren, wie die Kraftlinien, die hier kreuz und quer über den Schulhof laufen, vor Energie knistern. Es ist beinahe rührend anzusehen, wie die lächelnden Elternbots ihre Kinder in diesem wütenden Ozean von Chaos und Tobsucht aussetzen, mit seliger Blindheit geschlagen und leicht euphorisiert von teurem italienischem Espresso.

Ich gehe quer über den Platz zu den anderen Mitgliedern der Spinne, die sich in unserer angestammten Ecke gesammelt haben, und verschwinde in meiner Clique, meiner schützenden Blase in der Wüste des Highschool-Lebens.

»Was läuft, Bax?«, brummt Zikhona und gibt mir einen liebevollen Schubs mit der Schulter, der mich beinahe umschmeißt.

»Unser Produkt hoffentlich, und zwar gut«, sage ich mit einem Grinsen.

»Amen, Bruder«, keucht Schnüffelkid.

»Irgendwas Neues?«, frage ich.

»Die Gangs gehen sich immer noch an die Gurgel«, sagt Kyle.

»Die kennen meinen Plan noch nicht!«, sage ich mit einem selbstgefälligen Lächeln. Das ist nämlich das A und O. Mein Plan. Meine ausgeklügelte Roadmap für die Westridge der Zukunft.

Die Spinne ist anders als die anderen Schulhofgangs. In der Schule ist es wie im Gefängnis, wenn du keine Verbündeten findest, bist du Freiwild. Obwohl das Risiko einer Arschvergewaltigung gering ist (solange du nicht am Rugby-Camp teilnimmst), ist es nicht ratsam, ohne eine Crew rumzulaufen, die dir den Rücken freihält. Die Spinne ist aus der Ursuppe des Sprawl hervorgegangen. Wir sind eine neue Lebensform, die nicht durch Stärke, sondern durch Beweglichkeit überlebt.

Wir sind eine kleine, aber erfolgreiche Operation. Wir haben uns über den Freak-Radar gefunden, der die Kids zusammenführt, die sonst nirgendwo richtig reinpassen. Da wäre ich mit meiner angeborenen Augenschwäche und bizarren Brille. Dann Kyle, der abartig Schlaue. Ty, oder Kid, der seinen Lebenszweck in einer Farbdose gefunden hat, und Zikhona, die die Statur eines Sumoringers mitbringt. Wir passen zusammen wie die Teile eines Puzzles.

»Glaubst du, er funktioniert?«, fragt Kid nervös.

»Wehe, wenn nicht«, sagt Kyle. »Dann sind wir schwer gefickt.«

»Wir können immer noch Anwar abmurksen«, sagt Zikhona mit finsterem Gesicht. »Und es dem Mountain Killer in die Schuhe schieben.« Ich sage ihr nichts von meinen Träumen, in denen Anwar nur eine von vielen unglücklichen Seelen ist, die schreiend sterben.

»Wenn du einer Hydra den Kopf abschlägst, wächst sofort ein neuer nach«, sagt Kyle.

»Wir sind keine Gang«, sage ich. »Wir sind ein Unternehmen.«

In Wahrheit hängt unser Erfolg an der Tatsache, dass wir neutral zu den Achsen der Macht stehen – den beiden Gangs, die die Westridge High kontrollieren. Der Moloch, der die Schule regiert, ist die Gang unter Führung des selbsternannten Warlords Anwar Davids – die Nice Time Kids. Sie sind gefährlich, gut organisiert und die wichtigsten Drogenlieferanten. Ihr Managementstil erinnert ans Dritte Reich – übermächtig, grausam, und auf Kadavergehorsam gebaut.

Der andere Kampfhund im Ring ist die AKTE unter der Führung von Denton de Jaager. Sie treiben schwunghaften Handel mit gefälschten Attesten, elterlichen Entschuldigungsschreiben und geleakten Prüfungsfragen. Sie sind mehr wie al-Qaida – eine eng vernetzte Guerillamiliz, die sich unter die allgemeine Schulpopulation mischt.

Das Problem besteht darin, dass der Sprawl zu klein für beide ist. Während des letzten Jahrs haben die Spannungen ständig zugenommen, bis sie einander nun fast an die Gurgel springen, und das Einzige, was zwischen ihnen steht, ist die Spinne. Weil Messer billig und überall zu kriegen sind, laufen beide Gangs damit rum. Von Anvar weiß ich, dass er auch an Knarren rankommen kann, und ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis die Westridge ihr erstes Drive-by-Shooting erlebt. Kyle bezeichnet die Highschool als Nullsummenspiel. Wie bei Highlander kann es nur einen geben (eine Gang meine ich, nicht einen schwertschwingenden Unsterblichen mit Nackenspoiler).

Allerdings ist das Abschlachten von Schülern die geringste meiner Sorgen. Unser Wettbewerbsvorteil besteht darin, dass wir ein großes, demokratisches Produkt verkaufen und damit den weltweit beliebtesten Zuschauersport (außer Fußball) kontrollieren. Ja, ich spreche von Pornos.

Man sollte denken, im digitalen Zeitalter wäre ein Pornoverkäufer genauso obsolet wie ein ungewaschener alter Typ im Batikhemd, der auf dem Flohmarkt LPs verkauft. Doch wie bei dem alten Hippie hat unser Wahnsinn Methode. Wir verkaufen kein Produkt. Wir verkaufen eine Erfahrung.

Du suchst den ersten Pornostreifen von Ron »Hedgehog« Jeremy? Oder Debbie Does Dallas im Original? Dann bist du bei uns richtig, die besorgen wir dir noch am selben Tag. Wir sind das Cinema Nouveau der Pornowelt. Wir führen den Altman des Analen, die Coen-Brüder der Cumshots. In einer besseren Welt säßen wir im Kulturausschuss der Westridge High.

Ein abgestochener Schüler wäre eine Unannehmlichkeit – und ein Gang-Krieg eine Katastrophe. Man würde Spinde durchsuchen, Schüler ins Verhör nehmen, Eltern einbestellen, und zahllose Spuren würden zu uns führen. Mir bleibt also keine Wahl, ich muss einschreiten.

Es klingelt, und wir schlurfen zur Morgenversammlung in die Aula.

»Hast du irgendwem was gesagt?«, flüstere ich Kyle beim Marsch in die Aula zu, während um uns herum Kids rangeln und kläffen wie Hunde, die sich wieder mit dem Rudel vertraut machen.

»Von deiner Nekrophilie?«, antwortet er. »Niemals, das Geheimnis werde ich mit ins Grab nehmen. Da kannst du dann mit mir machen, was du willst.«

»Meine Träume, du Sack. Hast du irgendwem von meinen Träumen erzählt?«

»O Captain, mein Captain. Stellst du meine Loyalität in Frage?«

»Lass den Scheiß. Hast du irgendwem davon erzählt oder nicht?«

»Ich bin dein treu ergebener Vertrauter. Ich würde nie deine verschwitzten, intimen Geheimnisse ausplaudern. Und wenn sie mit Daumenschrauben kämen. Oder dem härenen Gewand. Oder …«

»Okay, Arschloch, ich hab’s kapiert«, schnappe ich.

»Sind sie immer noch … du weißt schon?« Er tippt sich an die Schläfe.

Ich nicke. »Ich glaub, sie werden schlimmer. Und kommen jetzt praktisch jede Nacht.«

»Was sagt dein Psychoheini?«

Dr. Basson ist der Psychiater, zu dem mich meine Eltern schicken, damit er mit mir »meine Probleme aufarbeitet«. Ein verschrobener alter Kerl, der mich auf alles Erdenkliche getestet hat – Intelligenz, Empathie, Psychopathie, einige der hirnrissigeren Tests schienen sogar auf PSI-Kräfte abzuzielen. Soweit ich bis jetzt sagen kann, ist der gesellschaftlich sanktionierte Hokuspokus des psychologischen Berufsstands das Geld meiner Eltern nicht wert.

»Er meint, auf die Weise geht meine Psyche mit Stress um.«

»Vielleicht solltest du mal einen Gang runterschalten«, sagt Kyle.

»Runterschalten, na klar. Wie klingt für dich ein Rausschmiss aus der Schule, verbunden mit dem Verlust jeglicher Einkommensquelle mit Ausnahme des Taschengeldes?«

»Grauenhaft«, sagt er und verzieht das Gesicht.

»Dann sag mir nicht, ich soll runterschalten«, antworte ich.

Wir lassen uns auf unsere Sitze in der Aula fallen und sehen zu, wie die AKTE einmarschiert und ihre Plätze hinten links einnimmt. Die AKTE ist sozusagen der Inbegriff ererbter Privilegien. Sie führen sich auf wie reiche Bond-Bösewichte und denken in ähnlichen Bahnen. Im Gegensatz zu den Nice Time Kids geht es ihnen weniger ums Geld als den Spaß daran, alle, die es wagen, sie herauszufordern, Scheiße fressen zu lassen.

Die Nice Time Kids, auch bekannt als NTK, nehmen ihre Plätze hinten rechts ein. Würde man die geballte Unmenschlichkeit und den hormonellen Überdruck, die Gesamtheit an schlechten Ideen und ungerechtfertigter Arroganz der Jugend zu einem einzigen obszönen Organismus destillieren, kämen die NTK dabei heraus. Ihr abgerissenes Erscheinungsbild übersteigt die harmlose Ungepflegtheit von uns anderen bei weitem. Sie tragen ihre Verwahrlosung wie ein Rangabzeichen; fehlende Knöpfe, zerschlissene Kragen und Manschetten, abgelaufene, durchlöcherte Schuhe sind ihre etwas plumpen Mitgliedsausweise.

Dazwischen wir anderen, die abzuschätzen versuchen, wie es zwischen den Gangs steht. Ist ein Waffenstillstand ausgehandelt? Wird die Vernunft obsiegen? Werden Frieden, guter Wille und gigantische Pornoprofite winken?

Anwar Davids, dessen Kopfhaut im künstlichen Licht durch den stümperhaften Crew Cut schimmert, dreht sich um und lächelt. Die Schule hält den Atem an. Er hebt langsam die Hand, lächelt noch breiter, dann fährt er sich mit dem Daumen einmal über die Kehle und deutet direkt auf die wuchtige Gestalt von Denton de Jaager.

Denton streckt seine fleischige Pratze aus und mustert gelangweilt seine Fingernägel, dann lehnt er sich mit einem Gähnen zurück. Ein Zittern durchläuft das Publikum. Zumindest wissen jetzt alle, was Sache ist.

Der Bann wird gebrochen, als unser Direktor, der große Bartmann, ans Rednerpult tritt. Er hebt Schweigen gebietend die Hand, obwohl niemand spricht. Er reibt sich den mausgrauen Bart und hebt an.

»Ich freue mich, euch nach dem Wochenende in äeeeehm alter Frische begrüßen zu können.« Hier und da wird gekichert. Wenn ich die glasigen Blicke meiner Mitschüler richtig deute, haben die Nice Time Kids mit ihren Produkten ganz wesentlich zu dieser Frische beigetragen.

»Es ist ein etwas äh unglücklicher Einstieg, aber wie mir die öhm Polizei mitteilt, wurde am Berg eine weitere Leiche gefunden.« Allgemeines Luftholen. »Wir haben arhem ein Mitglied der hiesigen Polizei gebeten, öhm, heute Morgen einige Worte an euch zu richten.«

Ein kleiner Mann mit schütterem Haar, der einen beachtlichen Lenkstangenschnäuzer und einen hässlichen burgunderroten Anzug trägt, kommt mit forschem Schritt auf die Bühne und schiebt sich die John-Lennon-Brille in die Stirn.

»Guten Morgen, ich bin Mr Beeld und als Kriminologe mit dem Mountain-Killer-Fall befasst. Ich weiß, wie traumatisierend es für alle sein muss, aber man darf nicht vergessen, dass weltweit gesehen mehr Menschen durch fallende Kokosnüsse oder kaputte Toaster zu Tode kommen als durch messerstechende Serienmörder.« Sein Lächeln soll uns beruhigen. »Aber natürlich müssen wir ein paar Vorsichtsmaßnahmen treffen – und Aufklärung ist die Waffe Nummer eins im Kampf gegen das Verbrechen.

Eines ist sicher: Entweder kannte das Opfer seinen Mörder, oder der Mörder ist sehr gut in dem, was er tut. Er hat ein Messer mit Wellenschliff benutzt, um ihr die Kehle durchzuschneiden und dann das blutige Konterfei eines Auges in die Stirn zu ritzen. Wie Sie vielleicht schon wissen, ist das Auge die Visitenkarte des sogenannten Mountain Killers, eines Serienmörders, auf dessen Konto bereits zwölf Tote im Einzugsgebiet von Kapstadt gehen.

Das Wissende Auge ist von besonderer okkulter Bedeutung«, fährt Beeld fort. »Es repräsentiert spirituelles Sehen und die Gabe der Prophetie. Die Tatsache, dass es hier als Markenzeichen des Mörders dient, sagt uns, dass es sich um das Werk einer Sekte oder eines Einzelnen mit Interesse an okkulten Überlieferungen handelt. Typisch für Serienmörder ist ein Mangel an Empathie und ein oft bis zum Größenwahn übersteigertes Selbstwertgefühl. Außerdem ein pathologisches Kontrollbedürfnis. Und Mord ist natürlich die höchste Form der Kontrolle. Wenn Sie irgendetwas Verdächtiges beobachtet haben, melden Sie es bitte unverzüglich der nächsten Polizeidienststelle.«

»Ich hab gehört, es war Jody Fuller«, flüstert Kyle.

»Ja, hat Esmé mir gesagt«, antworte ich mit gesenkter Stimme.

»Ein Glück, dass du nie was Ernstes mit ihr angefangen hast.«

»Sieht so aus.« Wenn ich mir die tote Jody vorstelle, wird mir wieder eiskalt. Hinter meiner Stirn beginnt es zu pochen, und ich muss mich zwingen, nicht schon wieder an die gottverdammten Träume zu denken. Außerdem nehme ich mir vor, den Scheißer zu finden, der gemeint hat, er müsste meinen Namen unter sein Stückchen Mauerkunst setzen, und ihn dafür bezahlen zu lassen.

»Sie war eingebildet«, flüstere ich.

Kyle sieht mich komisch an. »Ja, aber sie hat es nicht verdient zu sterben.«

Ich zucke mit den Schultern. Das Leben ist ungerecht.

Die Versammlung wird aufgehoben, und alles drängelt aus der Aula in den quadratischen Granitbau, das Herzstück von 150 Jahren rassistischer Kolonialgeschichte an unserer Schule. Die Schule ist mit etlichen Schichten Beton und Fiberglas umbaut und erweitert worden, aber dieses granitene Zentrum enthält ihr eigentliches Erbgut.

»Hey, Baxter«, sagt Courtney Adams mit einem koketten Lächeln.

Ich ignoriere sie. Sie ist ein NSC, ein Nicht-Spieler-Charakter. Sie ist eine vollauf mit ihrer sozialen Programmierung beschäftige Marionette und fern der Machtspiele des Sprawl. Menschen wie sie sind ganz brauchbar als Notnagel, man kann sie benutzen und manipulieren, sollte ihnen jedoch niemals trauen und sie schon gar nicht ernsthaft in strategische Planungen einbeziehen.

Ich drücke Ricket Hendries im Vorbeigehen einen Stick mit asiatischer Lesbenaction in die Hand. Er grinst und gibt mir ein Okay-Zeichen. Ich grinse zurück und atme tief den süßen Duft von Schweiß, Whiteboard-Marker und Furcht ein. Der Geruch der Highschool.

Es ist im Grunde wie bei einer Schachpartie. Die Sportasse wie Ricket und seine Gang von Drogeriemarktdeo-Cro-Magnons sind Springer. Du kannst sie nicht direkt einspannen, weil sie glauben, dir aufgrund ihrer Muskelmasse überlegen zu sein. Aber sie lassen sich übereck bewegen, solange sie glauben, dass sie von sich aus springen.

Große, gewaltbereite Einzelgänger wie Josh Southfield sind die Türme. Er hat einen Vater, der wegen eines Wirtschaftsverbrechens im Gefängnis sitzt, schlimme Akne, Probleme im Unterricht, und ergo wenig zu verlieren. Ihn zu bewegen war so einfach wie Telekinese.

Und ich? Ich habe nicht den Ehrgeiz, ein König zu sein (zumal der, wie jeder weiß, nur ein überbezahlter Bauer ist). Ich bin ein Läufer, ein Kurier. Ich kontrolliere das Spiel aus dem Hintergrund, ziehe die Fäden. Wenn ich mein volles Potential entfalte, bin ich die mächtigste Figur auf dem Brett.

Wir lassen die NSCs stehen und machen uns auf den Weg zur Werkerziehung. Mr Olly, unser schnurrbärtiger Lehrer für Metallarbeiten, sieht aus wie einer der Sicherheitspolizisten, die von der Wahrheitskommission für ihre Gräueltaten unter dem Apartheidregime amnestiert wurden. Die meisten aus der Klassenherde kommen den Instruktionen nach, die Olly auf die Tafel schreibt, mit heraushängenden Zungen, als hätten sie gerade im Schlachthaus einen Bolzen in den Schädel geschossen bekommen, aber der Groschen wär noch nicht gefallen. Ich warte, bis Olly abgelenkt ist, und schlendere dann unauffällig zu einer Bank am hinteren Ende des Klassenzimmers.

»General«, spreche ich den Jungen an, dessen überdimensionierter Kopf einem Fall von Elephantiasis in der Kindheit geschuldet ist. Er hebt den Blick und sieht mich aus kühlen, grauen Augen an. Toby September; von Geburt an gnadenlos gehänselt, hat er seine aufgestaute Wut in einen beachtlichen sozialen Aufstiegswillen kanalisiert und ist nun General der Nice Time Kids, die Nummer zwei direkt nach Anwar.

»Zevcenko«, lässt er sich meinen Namen auf der Zunge zergehen.

»Ich brauche eine Audienz beim Warlord«, sage ich. Der übergroße Kopf nickt besonnen, aber als er spricht, klingt seine Stimme ätzend.

»Große Pause, Treffpunkt Central«, sagt er. »Aber wenn ich dir was raten darf: Verärgere ihn nicht.«

Ich lächle. Das ist natürlich eine verschleierte Drohung, aber solche Manöver liegen mir im Blut. Ich nicke und kehre an meinen Platz zurück. Das erste Operationsziel ist erreicht.

Patientenakte:BAXTER IVAN ZEVCENKO

Dr. Kobus Basson

Baxter Zevcenko ist ein sechzehnjähriger männlicher Weißer mit Wohnsitz in Kapstadt, Südafrika. Bei unserer ersten Konsultation erschien Baxter in einem Kapuzensweatshirt und Jeans und machte einen etwas ungepflegten Eindruck.

Er trat zunächst konfrontativ auf, hat sich aber nach unseren anschließenden Sitzungen, in denen er Gelegenheit hatte, über sein Leben zu sprechen, etwas entspannen können.

Ich kann an ihm zwei deutlich unterschiedene Persönlichkeitstypen feststellen. Eine der Persönlichkeiten zeigt alle Anzeichen von Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie, der »dunklen Triade«. Dieser Baxter gefällt sich in Schilderungen seines eigenen manipulatorischen Verhaltens, bildet sich auf seine gewieften Lügen etwas ein, reagiert nicht auf normale emotionale Stimuli und neigt dazu, seinen eigenen sozialen Status zu überhöhen.

In einigen seiner Erzählungen stellt er sich als Führer einer speziellen Gruppe dar, die er »die Spinne« nennt. Ein interessant gewählter Name, wenn man die Implikationen eines von Baxter selbst gewebten »Netzes« berücksichtigt. Seine Freunde wirken wie bloße Staffage in seiner eigenen Lebensgeschichte, ein weiterer Beleg für seinen Drang zur Selbstüberhöhung. Es sollte mich nicht wundern, wenn diese »Freunde« entweder nicht existieren oder sich in ihren Rollen sehr von denen unterscheiden, die Baxter ihnen zuweist.

Der andere, weniger dominante Persönlichkeitsanteil zeigt durchaus Anlagen zur Empathie. In den Beschreibungen seines Großvaters zum Beispiel scheinen eine Liebe und ein Respekt durch, die in seinen anderen Beziehungen zu fehlen scheinen.

Beide Persönlichkeitsteile ringen offenbar um die Kontrolle über seine Persönlichkeit, was sich in schlechten Träumen, maladaptiven Denkprozessen und manipulativem Verhalten ausdrückt, die sich, wie ich glaube, negativ auf Baxters Gesundheit ebenso wie auf seine Beziehungen auswirken.

Er empfindet eine unterschwellige Wut, die er als »schwarze Welle« beschreibt, und die Feindseligkeit gegenüber seinem Bruder gibt Anlass zur Sorge. Von dieser abgesehen, zeigt er keine gewalttätigen Tendenzen, aber seine Fähigkeit zu täuschen und seine wahre Persönlichkeit zu maskieren, ist nicht zu unterschätzen.

2Hirnsausen

»Spring, spring, spring.« Der leise Sprechchor der Klasse schwillt an. Miss Hunter, unsere Mathelehrerin, steht bebend am Fenster, ihr wirres Haar flattert im Wind. Es ist einfach falsch, eine herzensgute, hochsensible Lehrerin – verstört von dem Gedanken, dass uns ihr Unterrichtsfach kaltlässt, zur Hysterie getrieben durch die beständige, grausame Unterhöhlung ihrer Autorität – zu ermutigen, sich aus dem zweiten Stock zu stürzen. Aber auch lustig. Miss Hunter wird es als Lehrerin nicht lange machen. Sie glaubt an das Gute in uns. Das ist ihr Kardinalfehler.

Kontrolle. Lehrer wissen, dass sie ihnen heute mehr und mehr entgleitet. Sie wissen, dass es heute komplizierter und gefährlicher zugeht, dass die Schülerschaft mittlerweile vernetzt ist, ein Schwarmbewusstsein, eine multizellulare Existenz, die ihre Vernichtung plant. Lehrer würden sich unter den vielen zu gern Einzelne herauspicken, denen sie die Schuld für das schlechte Benehmen anlasten können, doch wir sind eine gesichtslose Masse, wir absorbieren die Bestrafung und verteilen sie auf viele Rücken.

Zwei Lehrer hatten dieses Jahr schon einen Nervenzusammenbruch. Bei Mr Henri kam der finale Breakdown, nachdem er Kommentare über seine Frau in sein Pult geritzt fand – er rannte schreiend aus der Klasse. Miss Franks war einfach nie wieder aufgetaucht, nachdem dieses eine Foto von ihr im Internet gelandet war. Es war wirklich abartig – selbst an den Kriterien der Spinne gemessen. Hätte sie mir bessere Noten gegeben, hätte sie das eventuell vermeiden können.

Miss Hunter spricht zur Klasse. »Ich tue das für euch«, sagt sie, und mir scheint, sie schaut mir direkt ins Gesicht. Na klar, Miss Hunter. Sie tun das für uns, und nicht etwa deshalb, weil Sie einmal zu oft Club der toten Dichter und Dangerous Minds gesehen haben. Ich brauche nur schnelles Internet und YouTube, dann hab ich den kompletten Mathe-Lehrplan in einer Woche drauf. In Wahrheit, Miss Hunter, sind Sie obsolet, und ihre Unfähigkeit, das einzusehen, ist einfach nur erbärmlich.

Immerhin ist Mathe die erste Unterrichtsstunde des Tages, in der sämtliche Mitglieder der Spinne zusammen sind, und es wird langsam Zeit, dass wir uns ernsthaft an die Arbeit machen. Miss Hunter wirft mir einen sprechenden Blick zu und läuft dann unter Tränen aus dem Klassenraum.

»Sie hat definitiv was für dich übrig, Bax«, sagt Kyle auf seine übliche vernuschelte Art.

Ich ignoriere ihn. »Okay, Leute, erst die Analyse, dann die Strategie«, sage ich.

»Statistisch gesehen, geht der Trend zum Monsterporno«, sagt Kyle und legt sein Handy mitten aufs Pult. Wir beugen uns über den Bildschirm mit dem Diagramm der Verkaufszahlen des letzten Monats. »Wie müssen unbedingt mehr Kopien von Tokoloshe-Spermabad ziehen.«

Monsterpornos sind ein sonderbarer Neuzugang im Pornokanon. In den letzten Monaten haben Jungs und Mädchen, die in Fantasyplörren rammeln, die kranke Phantasie der Schülerschaft gefesselt, und aus diesem Trend planen wir das größtmögliche Kapital zu schlagen. Was die Verkäufe zusätzlich in die Höhe treibt, sind in gewissen Internetforen kursierende Theorien, die Werwölfe, Zombies und anderen Mischwesen, die es mit Menschen treiben, seien echt. Was wieder mal beweist, dass Menschen alles glauben, solange ihnen davon einer abgeht.

»Macht mehr Kopien, aber übertreibt es nicht. Ist vielleicht nur eine kurzlebige Mode, wie die schwedischen Saunaorgien«, sage ich.

Kyle nickt Zikhona zu. Sie ist unsere Sicherheitsbeauftragte, unsere Stabschefin und in ihrer goldenen Bomberjacke, die sie über der Schuluniform trägt, ein unverrückbarer Fels in der Brandung.

Genau genommen haben wir uns Zikhona nicht ausgesucht – sie hat uns ausgesucht. Ich erinnere mich, wie eines Tages ein Konvoi schwarzer BMW-SUVs vor der Schule anhielt. Zwei Männer, die aussahen, als würden sie in ihrer Freizeit in Käfigen kämpfen, stiegen aus dem vordersten Wagen aus und steckten die Hände in die Taschen ihrer Jacketts. Ein schwarzes Xhosa-Mädchen von kolossalen Ausmaßen schälte sich aus der Tür des mittleren BMWs und blieb vor dem Tor stehen, während sie versuchte, sich die Strumpfhose aus der Po-Ritze zu pulen.

Ein Lehrer trat auf sie zu, um sie zu begrüßen und diskret daran zu erinnern, dass der Unterricht bereits vor zwanzig Minuten begonnen hatte und sie die goldene Bomberjacke auf dem Schulgelände ausziehen musste. Einer der Bodyguards trat vor und schüttelte gravitätisch den Kopf. Der Lehrer zog sich zurück. Das Mädchen gab den Kampf mit dem Arschkneifer auf, ging gelassen durchs Schultor und musterte die verschiedenen Gruppen der versammelten Schüler, ehe sie auf uns zusteuerte, ein Kind, das ihr im Weg stand, beiseiteschubsend.

»Wie sieht’s aus, ihr Säcke?«, sagte sie, anstatt sich vorzustellen. So wurden wir Freunde.

»Vermehrte niedrigschwellige Attacken auf die AKTE von Seiten der NTK«, sagt sie in ihrem schnurrenden Bariton, der ihre großen Gold-Kreolen klingeln lässt. »Wie es heißt, rüstet Denton zum Gegenschlag.«

»Scheiße, wir müssen dazwischengehen, bevor das zu einem richtigen Krieg eskaliert«, sagt Kyle.

»Ich treffe mich in der großen Pause mit Anwar«, sage ich. »Wenn ich ihn dazu bringe, einer einstweiligen Waffenruhe zuzustimmen, kann ich vielleicht auch die AKTE zur Vernunft bringen.«

»Ich weiß nicht, Bax«, sagt Zikhona und zieht eine penibel in Form gezupfte Augenbraue hoch. »Denton spielt den starken Mann, und Anwar findet das gar nicht lustig.«

»Idioten«, sage ich, und meine Stirn beginnt wieder zu pochen. »Begreifen Sie nicht, dass wir bei einem Krieg alle dran glauben müssen?« Mir wird schummerig, und Schweißperlen prickeln auf meiner Haut. »Diese Egoisten! Haben sie denn überhaupt keinen Blick für das große Ganze?« Meine Stirn puckert jetzt, und ich kann an nichts anderes denken als an die dunklen Mächte, die sich um uns zusammenziehen.

Plötzlich habe ich eine Art Vision. Geisterhafte Gestalten bewegen sich durch mein Sichtfeld, Frauen und Kinder, die in Marschkolonnen ins Internierungslager getrieben werden. »Sie stehlen unser Land, sie schänden unsere Frauen, sie ermorden unsere Kinder. Fokken Engelse duiwels! Ek is ’n Siener.« Ich knalle die flache Hand aufs Pult. Nach einem Moment lässt das Pumpern in meiner Stirn nach, und ich bemerke, wie mich die übrigen Mitglieder der Spinne komisch ansehen.

»Äh, geht’s dir gut, Bax?«, fragt Kyle. »Du kriegst keinen Schlaganfall, oder? Riechst du verbranntes Gummi? Hast du in einer Gesichtshälfte kein Gefühl mehr?«

»Nein«, sage ich schnell. »Hört auf, war ein Witz. Ich hab nur Spaß gemacht. Diese ganze Geschichtsscheiße hängt mir einfach zum Hals raus, mehr nicht.«

»M-hmm«, sagt Zikhona und wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht. »Versprich mir bloß, dass du nie vom Pornogeschäft zur Stand-up-Comedy wechselst.«

»Okay, versprochen«, sage ich mit einem halbherzigen Lachen. Jesus, Zevcenko, reiß dich zusammen. Was gerade in deinem Kopf los ist, muss warten, bis die Sache mit den Gangs geregelt ist.

»Kid, wie sehen die neuen Märkte aus?«, wechsle ich schnell das Thema.

Schnüffelkid formt die Hände zu einem Trichter und hält sich ein Fläschchen Tipp-Ex unter die Nase. Es gehört nicht viel dazu, ihn nervös zu machen, und es ist klar, dass mein kleiner Freakout an seinen Nerven gezerrt hat. Kid ist unser Verkaufs- und PR-Profi. Er ist klein für sein Alter, wirklich kein Wunder bei seinem Hobby, hat einen Mopp brauner Locken und große Elfenohren, die immer auf etwas in der Ferne zu horchen scheinen.

Man könnte ihn als Connaisseur der chemischen Keule, oder vielleicht als Spraydosen-Sommelier bezeichnen. Trotz der Lücken in seinem Kurzzeitgedächtnis und des lösungsmittelinduzierten Stotterns ist er ein Verkaufsgenie. Es gelingt ihm, in den Leuten gleichzeitig Mitleid und Geringschätzung zu wecken, was sie in perfekte Kaufstimmung bringt. »Die Partnerschaft mit Dirkie Venter steht«, murmelt er. »Wenn alles nach Plan läuft, verdoppeln wir ab August unseren Absatz.«

Ich nicke anerkennend. Dirkie Venter ist ein potentieller neuer Vertriebspartner für die Milderberg Technical High School in den nördlichen Außenbezirken. Bis dato haben wir unsere Operationen auf Westbridge beschränkt, aber wir sind große Fische in einem zu kleinen Teich und müssen expandieren. Dirkie ist unsere Verbindung zu den hauptsächlich Afrikaans sprechenden Northern Suburbs. Sein Hass auf alles Englischsprechende hat die früheren Anläufe in diese Richtung vereitelt, aber so langsam haben wir ihn weichgeklopft. Er hängt schon am Haken der Geldgeilheit, und ich brauche ihn nur noch an Land zu ziehen.

Alle sehen mich an. Sie erwarten ein paar aufmunternde Worte von ihrem Anführer, gerade jetzt muss ich ihnen mehr denn je beweisen, dass ich alles im Griff hab.

»Es wird kein einfaches Jahr«, beginne ich. »Ich muss euch nicht sagen, wie gefährlich die Lage für uns werden kann. Wenn es zum Krieg kommt und uns der Fallout erwischt, heißt das so gut wie sicher Schulverweis.«

Kid steigt auf Holzleim um und schnieft wie wild, um seine Nerven zu beruhigen.

»Ich zwinge niemanden mitzumachen. Wenn einer von euch rauswill, soll er es sagen.« Meine Stimme wird jetzt klangvoller. »Aber, auch das sollte klar sein, wir haben hier die Gelegenheit, Großes zu leisten.« Ich schaue in die Gesichter meines Teams. Keiner von ihnen weicht meinem bebrillten Blick aus. Nie war ich stolzer auf sie. Als die große Pause kommt, gehe ich zusammen mit der Spinne zu unserer Ecke des Sprawl.

»Ich sollte dich begleiten«, knurrt Zikhona. »Ich traue diesen Wichsern nicht.«

Ich schüttle den Kopf. »Die sollen gar nicht erst auf den Gedanken kommen, ich könnte Schiss vor ihnen haben.«

»Also, da bist du mutiger als ich«, sagt Kid, während er sich mit dem Ärmel die Nase abwischt. »Mir macht Anwar eine Scheißangst.«

Es gibt größere, stärkere und brutalere Kids an der Westbridge, aber Anwar ist der bei weitem Furchterregendste. Seine Unberechenbarkeit und seine Freude an der Grausamkeit machten einfach allen Angst, sogar mir, wenn ich ehrlich bin. Aber das bin ich nie.

»Halb so wild«, sage ich. »Und außerdem, sind nicht alle Schläger im tiefsten Innersten Feiglinge?«

»Bloß im Fernsehen«, sagt Zikhona und klatscht mit der Faust in ihre Handfläche.

Ich überlasse Zikhona und Kid ihrer Diskussion über Anwar und gehe mit Kyle langsam zum Rand des Sprawl.

»Was zum Teufel sollte das gerade?«, flüstert er, während wir die asphaltierte Fläche überqueren. »Englische Teufel? Siener? Übst du schon mal, Dirkie zu beeindrucken?« Er zieht sein Handy aus der Tasche, tippt blitzschnell etwas ein und liest dann vom Bildschirm ab: »Hier steht: ›Siener – Afrikaaner-Prophet oder religiöse Autorität, auch Seher.‹ Was soll die Scheiße, Baxter?«

»Ich weiß nicht«, sage ich, mir müde die Stirn reibend. »Ist heut nicht mein Tag.«

»Also, wenn du, du weißt schon, über irgendwas reden willst, bin ich für dich da«.

»Danke«, sage ich mit einem angedeuteten Lächeln.

»Viel Glück mit Anwar«, sagt er, als wir das Ende des Sprawl erreichen. »Wir sind hier die Underdogs, Bax, also sei vorsichtig.«

»Ich brauche kein Glück«, sage ich, drehe mich zu ihm um und zwinge mir ein Lächeln aufs Gesicht. »Ich habe einen Plan.«

Ich habe schon früh die Lektion gelernt, dass es sich oft auszahlt, der Underdog zu sein, vielleicht das erste Mal bei den Schulmeisterschaften im Judo, als ich noch klein war. Dort gab es einen Jungen, der nicht nur groß und kräftig für sein Alter war, sondern auch richtig gut – eine Art tanzender Todes-Derwisch.

Durch irgendeinen Systemfehler hatten sie ihm in der Eröffnungsrunde einen viel kleineren Jungen zugelost, ein junges, schmächtiges, käsiges Exemplar. Als träte ein Fadenwurm gegen einen Nashornkäfer an.

Der größere Junge grinste, aber ich wusste sofort, dass er den Kampf eigentlich nur verlieren konnte. Wenn er gewann, hätte er einen kleinen Jungen zusammengeschlagen. Und wenn er verlor, war er der Typ, der von einem Fadenwurm besiegt worden ist.

Der Kampf begann, und der Fadenwurm erwies sich als sehr viel fähiger, als man angenommen hätte. Er schlang seine Beine um den Hals des Nashornkäfers und drückte zu mit allem, was er hatte. Der Nashornkäfer machte genau das, was er für solche Fälle trainiert hatte. Er hob den Kleinen hoch und klatschte ihn auf die Matte.

Prompt buhte und pfiff das ganze Publikum. Wer kennt das nicht? Ein großer Brutalo terrorisiert den niedlichen, hilflosen Nerd. Keine Higschool-Serie und -Miniserie, kein Highschool-Movie ohne exakt diese Konstellation, und das Publikum reagierte mit den erwarteten Schmähungen.

Der Nashornkäfer musste also defensiv kämpfen, um das Publikum nicht gegen sich aufzubringen. Der Fadenwurm war in seinem Element und erhöhte stetig den Druck, bis der Nashornkäfer es schließlich nicht mehr aushielt und sich einigermaßen kläglich geschlagen gab. Es war ein reines Psychoduell, und ich bin dem Fadenwurm heute noch dankbar für diese Einführung in Sachen Machtpolitik.

Auf dem Weg über den Sprawl schaue ich hoch und sehe, dass der lungenkranke Himmel sich zu erholen scheint und einige Albinofleckchen durch das Grau blitzen. Das wäre ein gutes Omen. Wenn ich an Omen glauben würde. Aberglaube ist schwachsinnig. Genauso schwachsinnig wie Gedanken an Brudermord, aber als ich Rafe über den schmiedeeisernen Zaun um das Schulgelände schauen sehe, bin ich schwer in Versuchung.

»Was machst du hier?«, zische ich und sehe mich schnell um, ob uns irgendjemand beobachtet. Das kann ich jetzt gerade gar nicht brauchen.

Rafe geht auf die Förderschule zwei Blocks weiter, aber ich hatte ihm strengstens verboten, mich in der großen Pause besuchen zu kommen. Mein Spast von Bruder ist nicht direkt ein Geheimnis, aber ich würde es vorziehen, nicht mit ihm gesehen zu werden.

»Was machst du hier?«, wiederhole ich.

Er hebt ein dickes Buch hoch und zeigt mir ein Bild, auf dem ein hochgewachsener Mann mit einem Rauschebart Burensoldaten über eine brennende Steppenlandschaft führt. Eine Art Gandalf in Khaki.

»Herrlich. Für den heutigen Geschichts-Clip bedanken wir uns bei meinem kognitiv eingeschränkten Bruder. Im Ernst, Rafe, was soll das? Du bist schuld, dass ich diese Träume habe. Du hältst mir dauernd diesen Kram unter die Nase und willst, dass ich diesen dämlichen historischen Scheiß lese. Na, herzlichen Glückwunsch, du hast mein Unterbewusstsein infiltriert. Du bist schuld, dass mir im Unterricht irgendein Quatsch in Afrikaans rausrutscht.«

Er glotzt mich an, als wäre ich komplett vernagelt, dann dreht er sich um und geht langsam davon.

»Na klar«, brumme ich, als ich wegstakse. »Ich bin hier der Idiot.«

Ich erreiche den Rand des unteren Sportplatzes. In der Ecke ist der Eisenzaun an einer Stelle so auseinandergebogen, dass er einen Durchgang zur Außenwelt bildet. Ich schaue mich schnell um und schlüpfe geduckt hindurch. Ich meide den Weg neben der Brücke, der das Wohngebiet mit dem Highway verbindet, und gehe schnellen Schritts zu einer Reihe baufälliger Räumlichkeiten, in denen früher eine Freimaurerloge residierte. Das ist Central, die Operationsbasis der NTK. Ich klopfe und grimassiere beim Anblick des unheimlichen, über der Tür eingeschnitzten Freimaurer-Auges, das mich beim Warten beobachtet. Die Tür öffnet sich einen Spalt weit.

»Wie isses, Russ?«, sage ich im Plauderton, hauptsächlich, weil ich weiß, dass es ihn anpissen wird. Er ist zu den NTK gegangen, weil er sich Respekt verschaffen wollte, aber Anwar respektiert ihn kein Stück, da werd ich es erst recht nicht tun.

»Zevcenko«, sagt er. Ich nicke, lächle und warte. Ich soll ihn fragen, ob ich reinkommen darf, und ihn damit in seiner Rolle als Torwächter bestätigen. Ich weiß nicht, ob er weiß, warum ich hier bin, und er wird es nicht wagen, Anwar warten zu lassen. Ich beginne zu pfeifen und tappe mit dem Fuß. Er verliert die Nerven und öffnet die Tür wie der Lakai, der er ist. Bauern wie er sind so berechenbar.

Das Fußvolk lümmelt auf diversen Sofas herum, stopft Junkfood in sich hinein und raucht Tik aus Kolben, die aus den Lehrerautos geklaut sind. Sie schauen hoch, als ich durchgehe, und ihre blutunterlaufenen, gefährlichen Augen folgen mir. Stockfleckige Freimaurerbanner zieren die abblätternden Wände, und wo noch Platz war, haben die NTK ihre eigenen Designideen verwirklicht – Tausende von Krakel-Tags, Centerfolds aus minderwertigen Pornoheften und zwei billige Katanas aus dem Chinaladen, die über Kreuz an der Wand hängen. Gediegen.

Russell führt mich durch eine Türöffnung ins hintere Zimmer. Es ist ein großer, beinahe kreisrunder Raum, dessen Mitte von einem verfallenden Altar in Schwarz und Purpur beherrscht wird, auf dem die Freimaurer vermutlich mal Babys geopfert haben oder so was. Kein Wunder, dass Anwar sich hier wohl fühlt. Ich kann nicht umhin, das kleine Keypad an der Wand zu bemerken, wahrscheinlich ein Safe, in dem die Nice Time Kids ihr Vermögen bunkern.

Anwar und Toby sitzen auf einer niedrigen, staubigen Couch mitten im Raum und sehen zu, wie ein Junge sich die Schulter tätowieren lässt. Die Hundetattoos sind eine Art Gangabzeichen und besagen, dass ihr Träger die brutalen Rituale für neue Mitglieder, die unbewaffneten Faustkämpfe gegen Gangs anderer Schulen, die Einbrüche und die schaurigen sexuellen Übergangsriten erfolgreich durchgestanden hat.

Anwar ist groß und hager. Er hat eine Zahnlücke und ein Schielauge, und beides unterstreicht seine fanatische Ausstrahlung. Sein Oberkörper ist nackt, und aus dem Bund seiner vorschriftsmäßigen grauen Schuluniformhose ragt der Griff einer Knarre. Ich weiß, dass Anwars älterer Bruder Verbindungen zu einer berüchtigten Gang aus den Cape Flats hat und die NTK für sie Drogen in die Vororte schleusen. Was ich nicht wusste, war, dass die NTK in Central tatsächlich Waffen haben.

Ich schlucke schwer, reiße meinen Blick von der Knarre los und fixiere den Tattookünstler, einen alten Kerl, dessen Knasttattoos fast seinen ganzen Körper bedecken. Er arbeitet methodisch mit einem Schulzirkel und blauer Füllertinte daran, die krude Zeichnung eines Hunds auf das Schulterblatt des neuesten NTK-Initiierten zu übertragen. Der Junge zuckt nicht mit der Wimper, und Anwar nickt anerkennend. Ich warte, während der alte Tätowierer seine Arbeit tut. Als die Tattoos schließlich fertig sind, grunzt der Künstler abschließend und schlurft zur Tür hinaus. Anwar sagt ein paar Worte zu seinem neuen Lakaien, dann macht er eine Handbewegung, und der Junge verschwindet ebenfalls.

Anwar und Toby starren mich an wie Aasgeier ein totgefahrenes Tier. »Baxter«, sagt Anwar und winkt mich auf einen der wackligen Stühle, die dem Sofa der Macht gegenüberstehen. Ich setze mich und zwinge meinen Körper zu einer lässigen Haltung. »Du hast zwei Minuten.«

Ich nehme eine Mappe aus meiner Tasche und gebe sie ihm. Auf das Abkommen darin habe ich hingearbeitet, seit ich die Spinne ins Leben gerufen habe – ein ausgeklügelter, differenzierter Plan für die zukünftige politische Landschaft an unserer Schule. »Warum arbeiten wir gegeneinander?«, ist die Frage, die darin gestellt wird. Und: »Was wäre, wenn wir stattdessen unsere unterschiedlichen Kompetenzen zum gemeinsamen Wohl einsetzen würden?« Die Allianz mit Dirkie Venter ist nur der Anfang. Mit seinen Kontakten könnte die Geschäftswelt der Westridge auch in andere Schulen expandieren. Wir könnten die Vereinigten Staaten des Schulhof-Schleichhandels werden – wir müssten nur zusammenhalten und Verantwortung für das große Ganze übernehmen. Im Grunde bin ich wie Oprah Winfrey. Wie eine Oprah, die eine komische Brille trägt und Pornos verkauft.

Anwar greift nach dem Abkommen und winkt Toby zu sich, der langsam aufsteht und mich angrinst, während er zum Tisch geht. Anwar schlägt die Mappe auf und breitet die Papiere vor sich auf dem Tisch aus. Ich kaue verstohlen an einem Fingernagel, während sie sich alles ansehen und leise konferieren. Schließlich richtet sich Anwar auf und lächelt mich an.

»Baxter«, sagt Anwar. Ich erlaube mir einen Moment der Selbstgefälligkeit. Offensichtlich leuchtete sogar Anwars kriegslüsternem Gehirn die zwingende Logik meines Plans ein. »Du weißt, dass ich die Spinne immer mit Respekt behandelt habe«, fährt er mit leiser Stimme fort. Das ist eine grobe Unwahrheit. In unseren Anfangstagen hatten uns die NTK bedroht und schikaniert, bis wir ihre Mitglieder mit Porno-Sanktionen belegt hatten. »Aber dieser Plan ist eine Beleidigung.« Er sagt es mit einer solchen Gehässigkeit, dass meine Selbstgefälligkeit sich zerstreut wie aufgeschrecktes Ungeziefer.

Ich bewahre mühsam Haltung. »Nimm dir ein bisschen Zeit, darüber nachzudenken«, sage ich. »Ihr mögt stark genug sein, um die AKTE plattzumachen, aber der Fallout wird keinem von uns guttun.«

»Die NTK sind keine erbärmlichen, taktierenden Hyänen«, brüllt er und reißt seine Knarre aus dem Hosenbund. Ich hätte vor Schreck beinahe die Beine in die Hand genommen, aber diese Freude will ich Anwar nicht machen. Stattdessen stehe ich langsam auf. Ich werfe meine Tasche über die Schultern und sehe ihm direkt in die Augen. »Dann wünsche ich dir viel Glück für die Zukunft, Warlord«, sage ich, so kühl ich kann. Irgendwie meine ich es sogar ernst. Glück ist alles, was uns jetzt noch retten kann.

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Ich zünde mir eine Zigarette an und lehne mich gegen die alte Eiche in der nordwestlichen Ecke des Sprawl. Sie ist das geheiligte, spirituelle Symbol der Westridge, das Symbol auf unseren Schulblazern und die Verkörperung unseres Schulmottos: »Von den Wurzeln in den Himmel«. Ich schaue dem Wölkchen nach und atme in langen Kringeln Rauch aus. Mit Anwar ist es nicht gut gelaufen, bleibt also noch Dirkie. Wenn ich ihn ins Boot holen kann, habe ich ein Druckmittel gegen die anderen Gangs. Und wenn Denton einsteigt, kommt Anwar vielleicht auch zur Vernunft.

Ein zerbeulter weißer Lieferwagen nähert sich in gemächlichem Tempo der Schule und parkt direkt am Tor. Dirkie steigt aus, klettert über das Eisengeländer und kommt auf mich zu.

»Meine Brüder sitzen mit Brechstangen im Auto«, sagt Dirkie in seinem breiten Afrikaans, das klingt, als hätte er Kakteen im Mund. »Beim kleinsten Anzeichen von Ärger leisten sie uns Gesellschaft.«

»Ich bin allein«, sage ich und hebe abwiegelnd die Hände. »Außerdem bin ich Geschäftsmann, kein Schläger.«

»Manchmal geht das eine nicht ohne das andere«, sagt Dirkie mit mürrischem Gesicht.

Ich zünde mir noch eine Zigarette an und halte ihm ebenfalls eine hin. Er nimmt sie und steckt sie hinters Ohr. Mit seinem blonden, durch einen zerrupften Pottschnitt in Form gebrachten Haar, engen schwarzen WWE