5,99 €
Zurück in der Hand des Schattenmagiers Lord Fescol und bis zur Erschöpfung gefoltert findet sich Juna in der nördlichen Hauptstadt Gravik wieder. Einzig der Wille, ihr ungeborenes Kind zu schützen, hält sie noch am Leben. Erst als ein Mann namens Thear plötzlich an der Tür zu ihrem Gefängnis auftaucht, schöpft sie wieder Hoffnung. Unterdessen ist König Kjell außer sich. Die Nachricht, dass die Schattenmagier erneut in sein Land und in die Akademie eingedrungen sind, um Juna zu entführen, nötigt ihn zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: Er entsendet Aiden auf die gefährliche Rettungsmission in das Herz des Nordens. Dort muss sich dieser in den Dienst von Fescol begeben, um nahe genug an die Gefangene heranzukommen. Doch die Pläne von Lord Fescol durchkreuzt man nicht ohne Weiteres und so müssen alle Beteiligten abwägen, welches Risiko sie einzugehen bereit sind, um ihren Zielen ein Stück näherzukommen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
WELTENBAUM VERLAG
Vollständige Taschenbuchausgabe
06/2024 1. Auflage
Ära der Dunkelheit – Entfesselt – Band 2
© by Luna McMullen
© by Weltenbaum Verlag
Egerten Straße 42
79400 Kandern
Umschlaggestaltung: © 2023 by Magicalcover
Lektorat: Julia Schoch-Daub/Feder und Flamme Lektorat
Korrektorat: Michael Kothe
Buchsatz: Giusy Amé
Autorenfoto: Privat
ISBN 978-3-949640-77-3
www.weltenbaumverlag.com
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
Luna McMullen
ÄRA DER DUNKELHEIT
Entfesselt
Dark Fantasy
Content Notes
Liebe Leser/rinnen,
Das Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Liste von Content Notes.
ACHTUNG! Es folgen SPOILER für das gesamte Buch!
Diese sind: Vergewaltigung, Physische und psychische Gewalt, Folter, Tod und Gefangenschaft.
Die Liste wurde nach bestem Wissen und Gewissen erstellt, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für Rückfragen stehen wir euch jederzeit unter der Mailadresse [email protected] zur Verfügung.
Für alle, die niemals aufgeben.
Kapitel 1
König Kjell – Schlechte Nachrichten
»Das ist ungeheuerlich!« Er schlug mit der Faust hart auf den großen Tisch. »Wie kann es sein, dass unsere Spione in mehr als zehn Tagen keinerlei Informationen zusammentragen konnten, und ein dahergelaufener Junge es schafft, uns Orte und Namen zu nennen?«
Die Ratsmitglieder sahen einander unschlüssig an. Langsam verstand Kjell, warum sein Vater vor allem ungeplante Ratssitzungen nie gemocht hatte. Sie bedeuteten immer schlechte Nachrichten.
Dabei war er äußerst gut gelaunt in den Tag gestartet. Lenya und er genossen ein entspanntes Frühstück in der Morgensonne, während Borge, sein Diener, die wichtigsten Punkte für den Tag vorlas. Als Lord Birkon gegen Mittag unerwartet mit einer dringlichen Nachricht die Hauptstadt erreicht hatte, wurden alle Pläne für den Nachmittag über den Haufen geworfen. Nun schien das letzte Sonnenlicht durch die hohen Fenster und warf lange Schatten in den Ratssaal.
»Immerhin war dieser dahergelaufene Junge umsichtig genug, Euch, mein König, zu informieren«, erwiderte Hedda und sah ihn nüchtern an. »Vielleicht sollten wir ihn als Spion einsetzen. Wobei ich nicht weiß, wie vertrauenswürdig der Bursche tatsächlich ist.«
»Er scheint jedenfalls ein Freund von Juna zu sein«, murmelte Lenya nachdenklich. Sie nahm den Brief zur Hand, den Birkon mitgebracht hatte. »Aiden.« Die Königin tippte sich ans Kinn. »War er es nicht, der Juna und den anderen Mädchen bei der Flucht aus dem Norden geholfen hat?«, fragte sie an Lady Lya gerichtet.
»Ganz recht, meine Königin. Zumindest Juna traut seinem Wort und das sollte uns wohl befähigen, wenigstens der Spur nachzugehen.«
Lord Mans betrachtete die Karte auf dem Tisch und deutete auf einen Punkt westlich von Punheim.
»Dort liegt Veversand. Seiner Beschreibung nach ist er mehr als einen ganzen Tag bis zu einer kleinen Bucht südwestlich gelaufen. Es könnte diese hier sein.« An der Stelle, auf die er deutete, war kein Ort verzeichnet. »Die meisten Stellen in der Mondbucht sind durch die steilen Klippen unzugänglich oder zu zerklüftet, um ein Segelschiff tief ins Innere vorzulassen. Es sollte nicht schwer sein, das Dorf wiederzufinden.«
»Das Regiment, das wir in der Nähe haben, kann innerhalb eines Tages in Veversand sein und diesen Mann sowie seine Frau befragen. Wie hieß er noch gleich?« Hauptmann Gunvald sah Lenya fragend an, die noch immer den Brief hielt.
»Dag.«
»Genau. Mir kann keiner erzählen, dass seine Frau nichts von den Machenschaften ihres Mannes wusste, zumal sie ihre eigene Nichte in die Sklaverei verkauft haben.«
»Lasst die beiden herbringen, Gunvald!«, verlangte Kjell mit unverhohlener Wut in der Stimme. »Ich will sie persönlich befragen und auch alle anderen, die etwas davon gewusst haben, wie diese Wache am Tor.«
»Natürlich, mein König«, bestätigte der Hauptmann.
»Birkon, wenn ich es recht verstehe, ist der Junge jetzt in Weißhavn. Vielleicht könntest du ihn erneut befragen, wenn du zurück bist. Einzelheiten ergründen, zu denen er nichts geschrieben hat.«
»Das kann ich gern tun, Mans.«
»Wie geht es Juna überhaupt?«, warf Lenya ein und sah den Lordmagist besorgt an. Der Angriff auf sie durch vier Rekruten lag noch nicht lange zurück.
»Den Umständen entsprechend gut, meine Königin. Sie wirkte gefasst, aber der Schmerz war ihr deutlich anzusehen, als sie den vieren die Wahrheit erzählt hat«, berichtete er.
»Ich muss mich noch einmal ausdrücklich für das schändliche Verhalten meiner Nichte entschuldigen.« Lord Mans‘ Stimme war ernst und in seinem Gesicht spiegelte sich Scham.
»Keine Sorge, Mans«, murmelte Kjell. »Kinder können ebenso grausam wie dumm sein, wenn sie ihre Gefühle verletzt denken. Zum Glück ist nichts Ernsthaftes passiert.« Er sah seinen Lordkanzler an, der dankbar den Kopf neigte.
Kjell atmete tief durch und sortierte seine Gedanken.
»Wenn wir schon alle hier sind, gibt es etwas Neues vom Roten See? Von diesen Banditen?«
»Ihr meint ›Die Verlassenen?‹«, fragte Gunvald und schüttelte den Kopf. »Das erste Regiment, das wir hinbeordert haben, ist erst gestern angekommen und nimmt nun die Spur auf. In einigen Tagen wissen wir hoffentlich mehr.«
Kjell seufzte und stützte die Hände auf den Tisch. Das ging ihm alles entschieden zu langsam. »Wenn das alles ist?« Fragend blicke er in die Runde. Da niemand etwas sagte, wechselte er das Thema. »Birkon, willst du mit uns essen?«
»Es wäre mir eine Ehre, mein König.«
Das Abendessen mit dem Lordmagisten war eine wohltuende Abwechslung zu den sonst anwesenden Höflingen, dich sich in einem haarsträubenden System miteinander abwechselten, um ihn und Lenya zu unterhalten. Er war diese Hinterlassenschaft seines Vaters allmählich leid und beschloss, sie zu beenden. Heute noch.
Während des Abendessens sprachen sie über die neuen Rekruten aus Lenyas Heimat, von denen die ersten bereits die Akademie erreicht hatten. Auch über Juna und ihre Fortschritte sprach Birkon, der mit jenen recht zufrieden schien. Er berichtete noch von einigen neuen Entdeckungen, die sein zweiter Assistent und eine Alchemistin gemacht hatten, was Kjell interessiert zur Kenntnis nahm.
Spät zogen sich alle in ihre Gemächer zurück und Kjell sank in einen unruhigen, aber traumlosen Schlaf.
»Mein König! Mein König!« Jemand rüttelte an seiner Schulter. »Wacht auf, bitte!« Er erkannte die Stimme von Borge.
»Was willst du?«, knurrte er, ohne die Augen zu öffnen.
»Mein König, Lord Birkon bittet, Euch sofort zu sehen.« Genervt stöhnend drehte Kjell sich zu dem Diener um und öffnete die Augen.
Noch lag Dunkelheit über den Gemächern, nur die einzelne Kerze, die Borge in der Hand hielt, erhellte sanft den Raum.
»Was will er denn? Wie spät ist es überhaupt?«
»Die Sonne ist gerade aufgegangen, mein König. Einzelheiten kenne ich leider nicht, aber ein junger Mann aus der Akademie ist gerade im Palast eingetroffen.«
»Ein Bote?«
»Soweit ich es gesehen habe, war es ein Magist, mein König.«
Langsam erhob sich Kjell und verließ mit Borge das Schlafgemach. Sein dünner Mantel flatterte hinter ihm, als er den kleinen Saal betrat. Birkon und ein junger Mann in einer dunkelblauen, mit Staub bedeckten Robe standen dort. Ihre Gesichter waren ernst.
»Mein König, bitte verzeiht die frühe Störung. Das ist Eldur, mein erster Assistent.« Birkon deutete auf den jungen Mann, der sich vor ihm verneigte.
»Ich erinnere mich an deinen Namen. Was gibt es so Wichtiges?«, murrte er.
»Mein König«, begann Eldur, »gestern Abend wurde Weißhavn von einer Handvoll Schattenmagier angegriffen« Der junge Magier rang um Fassung. »Sie haben Juna entführt!«
Kjell starrte die beiden Männer an.
»Was! Wie ist das möglich? Es gibt keinen sichereren Ort als die Akademie und dort hat sie sich doch hoffentlich auch aufgehalten?«
»Natürlich, mein König, sie hat die Mauern in der ganzen Zeit nie verlassen.« Beschwichtigend hob Birkon die Hände. »Eldur, bitte berichte dem König ausführlich, was sich zugetragen hat.«
Stumm lauschte Kjell den Ausführungen über den Fund der Leiche bis hin zu dem hitzigen Kampf inmitten der Stadt. Auch ein ihm bekannter Name fiel abermals - Aiden. Dutzende Fragen formten sich in seinem Kopf, aber Antworten gab es keine.
»Ist es absolut ausgeschlossen, dass das Mädchen die Akademie auf eigene Faust verlassen hat?«
»Ja, mein König. Die Wachen beteuern, dass niemand das Gelände verlassen hat.«
»Dann wurde sie also direkt aus der Akademie entführt?«, rief Kjell empört. Seine Hand umklammerte die Lehne des Stuhles so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. »Wie sind die Schattenmagier dort hineingekommen?« Sein Blick flog zwischen den beiden Magiern hin und her.
Eldur senkte beschämt die Augen. »Das kann ich Euch leider nicht beantworten, mein König. Aiden sagte etwas von einem Geheimgang, aber den ...«
»Du hast diesen Geheimgang noch immer nicht verschließen lassen, Birkon?«, schrie Kjell. Blut pulsierte unangenehm in seinen Schläfen.
»Nein, mein König, er ist der einzige Fluchtweg aus den Gemäuern und daher von strategischer Bedeutung. Leider wissen wohl mehr Rekruten darüber Bescheid als gedacht.«
»Es weiß vermutlich fast jeder davon.« Er verwarf frustriert die Arme. »Selbst ich habe diesen Gang zu meiner Zeit schon benutzt. Was auch der Grund war, warum er verschlossen werden sollte!«
Die fahrlässige Handhabung des nicht so geheimen Geheimganges ärgerte ihn über alle Maßen. Doch jetzt war es zu spät für Schuldzuweisungen.
Er schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln und seiner Empörung Herr zu werden.
»Gab es weitere Tote?«, fragte Kjell betont ruhig an Eldur gewandt.
»Leider ja. Magist Runa und ein junger Magier namens Per, mein König. Dazu mit Sicherheit einige Stadtwachen und Bewohner. Verletzte gibt es vermutlich noch viel mehr. Allerdings bin ich unverzüglich hierher aufgebrochen, sodass meine Informationen dazu unter Umständen lückenhaft sind.« Der Magist verneigte sich leicht, während er sprach.
Kjell trat ans Fenster und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Wolken verdeckten die morgendliche Sonne, deren Licht sich langsam über das Land legte.
»Borge!«
»Mein König«, erklang sofort die Antwort, während sein Diener durch die offene Tür trat.
»Wecke Hedda und Lord Mans. Außerdem sollen die Pferde gesattelt werden, wir fünf werden unverzüglich nach Weißhavn reiten.«
»Sehr wohl, mein König.« Borge verschwand mit einer Verbeugung.
Kjell wandte sich den Magiern zu. »Esst etwas und haltet euch zum Aufbruch bereit. Ich werde jetzt die Königin unterrichten.« Mit langen Schritten verließ er den Raum.
Gedankenversunken schlug er den Weg zu seinen Gemächern ein. Lenya würden diese Nachrichten sicherlich nicht gefallen, denn sie hegte große Zuneigung für das Mädchen mit den außergewöhnlichen Fähigkeiten.
Kapitel 2
Aiden – Ehrlichkeit
Im Schlaf klammerte sich Isak an seinen Arm. Regungslos lag Aiden auf dem schmalen Bett neben dem kleinen Jungen und starrte auf die Holzbalken über ihm. Geschlafen hatte er nicht. Er konnte nicht. Zu sehr war er mit den Ereignissen der letzten Nacht beschäftigt.
Glücklicherweise konnten alle Brände schnell gelöscht und somit ein Inferno verhindert werden. Nachdem das Schiff mit den Schattenmagiern die Stadt verlassen hatte, legte sich der Aufruhr in der Stadt nur langsam. Verletzte wurden versorgt, zerstörte Gebäude geräumt und den Obdachlosen durch die Stadtwache eine Unterkunft zugewiesen.
Nun kroch gerade das erste Tageslicht über die Hausdächer und durch das klaffende Loch in der Wand bis zu Aiden. Svea und Isak waren leicht verletzt worden, aber es ging allen den Umständen entsprechend gut. Noch lang hatte Junas Freundin in Owes Armen geweint, bis die Erschöpfung sie verstummen ließ. Aiden wusste genau, wie sie sich fühlte. Hilflos hatte sie mit ansehen müssen, wie ihre Freundin erneut entführt worden war, ebenso wie seine Schwestern.
Immer wieder blitzten Bilder aus dem Kampf vor seinen Augen auf. Wie er die beiden Schattenmagier beim Kampf beobachtet hatte. Mit welcher Leichtigkeit sie gegen die Akademiemagier gewannen.
Dieser Eindruck jagte ihm auch jetzt noch Gänsehaut über den Rücken. Einzig Eldur schien ihnen zeitweise die Stirn bieten zu können.
Dann war da noch dieser Mann mit den ungewöhnlichen hellblonden Haaren – Thear. Aiden könnte sich noch immer ohrfeigen, weil er dem Kerl unbedacht Junas Namen verraten hatte. Nur Owe war es zu verdanken, dass er nicht noch mehr ausgeplaudert hatte, bevor der rätselhafte Mann mit seinen höflichen Worten spurlos verschwunden war.
Grübelnd blieb Aiden noch eine Weile liegen, bevor er sich vorsichtig aus dem Bett schälte, um Isak nicht zu wecken. Gedankenverloren lief er hinunter zum Hafen. Überall lagen Trümmer und dunkle Rauchschwaden hingen noch immer über der Bucht, wie eine letzte Mahnung an die Überlebenden. Die ersten Aufräumarbeiten waren trotz der frühen Tageszeit bereits in vollem Gange. Überall sah und hörte man geschäftiges Treiben. Doch Aiden hatte kein Auge dafür.
Lange saß er wortlos am Kai und blickte auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche. Suchte am Horizont nach dem Schiff, das schon lange nicht mehr zu sehen war.
Regenwolken zogen vom Meer heran. Er genoss den kühlen Kuss der Tropfen auf seiner Haut und bemerkte kaum, wie seine Kleider schwer an ihm klebten und Rinnsale aus seinen Haaren flossen.
»Aiden?« Isaks Stimme ließ ihn aus seinen Gedanken erwachen. »Aiden! Da ist jemand, der dich sprechen will.«
Wie in Trance sah er den Knaben an und nickte nur. Mit steifen Gliedern erhob er sich und kehrte gemeinsam mit Isak zu ihrer Unterkunft zurück.
Vor dem Haus erblickte er Eldur. Urplötzlich überkam ihn kalte Wut. Er ballte die Fäuste und rannte die letzten Schritte auf den Magier zu. Dieser Kerl hatte versprochen, auf Juna zu achten, doch nun war sie fort, ebenso wie Liv, Alva und Jördis.
»Ihr wolltet auf Juna aufpassen! Aber Ihr habt nichts dergleichen getan!«, schrie er den Magier an und wollte sich auf ihn stürzen, stieß aber mit einem Ruck gegen eine unsichtbare Wand. Eldur blickte ihn mit müden Augen an, unbeeindruckt von seinem Ausbruch. Schmutz und Schweiß klebten in seinem Gesicht. Verdutzt zögerte Aiden.
»Warum seid Ihr hier, Magier?«, brachte er schließlich hervor.
»Ich bitte dich, mir zu folgen. König Kjell wünscht dich zu sprechen.«
Die Worte kamen so unerwartet, dass er den blonden Mann nur mit offenem Mund anstarrte. Ohne auf seine Reaktion einzugehen, machte der Magier eine einladende Geste.
Der König wollte ihn sprechen? Es dauerte einen Moment, bis Aiden seine Worte wiederfand. Er schickte Isak ins Haus und folgte dann Eldur hinauf zur Akademie. Nervös strich er sich die nassen Haare aus der Stirn und rückte den schmutzigen Umhang zurecht. Tausende Fragen hämmerten in seinem Schädel und nur mühsam brachte er seine innere Stimme zum Schweigen. Was immer der König von ihm wollte, mit Mutmaßungen würde er sich nur noch nervöser machen.
Dank seines Begleiters, gaben die Wachen sofort den Weg frei und zum ersten Mal betrat Aiden die Akademie. Unter anderen Umständen wäre er vor Entzücken in die Luft gesprungen, doch sein Herz fühlte keine Freude. Zu viel war passiert. Zu viel Schreckliches.
Sie durchquerten Korridore, passierten ein unscheinbares kleines Haus und liefen dann über einen großen Platz auf ein Gebäude zu. Aidens Blick huschte unablässig umher. Er sog die fremde Umgebung in sich auf, wie sein Hemd den Regen. Schließlich erreichten sie eine große Tür, vor der zwei Wachen der Bärengarde standen. Eldur öffnete das Portal ohne zu klopfen und winkte Aiden herein.
Sofort glitten seine Augen zum König. Ehrfürchtig sank er auf ein Knie und ballte seine zitternden Hände.
»Mein König. Ich bringe Euch wie gewünscht Aiden«, erklang Eldurs Stimme neben ihm.
»Mein König«, murmelte er leise.
»Steh auf«, befahl ihm die tiefe Stimme des Herrschers. Langsam erhob er sich und sah nacheinander die Anwesenden an. Neben dem König stand eine durchtrainierte Frau mit glänzenden schwarzen Haaren, die ihn durchdringend musterte. Weiter links ein älterer Mann in der gleichen Robe wie Eldur. Dieser musste also ein wichtiger Magier sein, schlussfolgerte er. Der spitzbärtige Mann daneben, in einen eleganten Reisemantel gehüllt, war Lord Mans, soweit Aiden sich an seinen Besuch im Palast erinnerte.
»Danke, Eldur.« Auf einen beiläufigen Wink des Königs trat der junge Magier einige Schritte zurück. Nun stand Aiden allein in der Mitte des Raumes, als König Kjell sich ihm zu wandte. »Erzähle mir, was gestern passiert ist, und zwar alles!« Seine Stimme klang verärgert.
Aidens Herz schlug mit einem Mal noch schneller und lauter in seiner Brust. Mit trockenem Mund suchte er nach den richtigen Worten. Wo sollte er beginnen?
Die Augen des Königs blitzten auf, als er Aiden musterte.
Endlich fing er an zu erzählen, wie er am gestrigen Morgen zwei Rekruten bis zu dem geheimen Zugang gefolgt war, und alles, was danach passierte.
»Ihr habt also versucht, die Stadtwache und die Akademie zu warnen?«, fragte die Frau, als er geendet hatte.
»Ja, Mylady. Aber weder der Hauptmann noch Eldur haben unsere Warnungen ernst genommen«, gab er bissig zurück. Mit einem vorwurfsvollen Blick sah er den Magier neben sich an, der ohne eine Regung zurückschaute.
»Ich habe, wie versprochen, ein Auge auf sie gehabt«, erwiderte er stattdessen ruhig.
»Aber wohl nicht gut genug, wenn sie ...«
»Das reicht!«, donnerte König Kjell.
Sofort verstummte Aiden und schluckte seinen Ärger hinunter.
»Warum bist du so besorgt um das Mädchen?« Lord Mans fuhr über seinen Bart.
Aiden ballte die Fäuste. Sollten diese Menschen nicht besser etwas unternehmen, statt hierzustehen und zu reden? Mit aufeinander gepressten Lippen blickte er in die Runde. »Wenn Ihr sie so gesehen hättet wie ich ...« Mit einem Mal stiegen ihm Tränen in die Augen. Er sah Junas blasses Gesicht im Licht der einzelnen Kerze so deutlich vor sich wie den König. Mühsam schluckte er. »Wie damals nach ihrer Flucht, dann wärt Ihr auch besorgt, wenn sich dieser Schattenmagier in der Stadt herumtreibt. Meine Schwestern haben mir erzählt, unter welchen Bedingungen sie im Norden leben mussten.« Verlegen wandte er sich ab und kämpfte seine Tränen nieder. Den forschen Blick des Königs fühlte er noch immer auf sich und ließ den Kloß in seinem Magen mit jedem Augenblick wachsen.
»Innerhalb von nicht einmal einem Tag höre ich gleich zweimal unabhängig voneinander deinen Namen in zwei Angelegenheiten, die mein Land betreffen. Was soll ich davon halten?«
Mit großen Augen starrte Aiden den König an, bis ihm klar wurde, dass er über den Brief von Juna sprach. Dieser hatte ihn also bereits erreicht.
»Das kann ich Euch nicht sagen, mein König«, stammelte er verunsichert. Sein Herz schlug immer wilder.
Lord Mans trat einen Schritt auf Aiden zu. »Was ist in dem kleinen Küstenort passiert? Davon stand nichts in deinem Brief. Hast du den Oheim des Mädchens gefunden?«
Aidens klamme Hände wanderten haltsuchend an seinem Gürtel entlang. Er hatte es absichtlich vermieden, von seinen Entdeckungen und Taten in der stinkenden Spelunke zu berichten. Niemals hätte er gedacht, vor dem König persönlich Rechenschaft ablegen zu müssen.
»Ich habe ihn gefunden, Mylord.« Er schluckte. »... und getötet.«
Der König blickte ihn streng an und Aiden musste sich zwingen, dem Blick standzuhalten.
»Wie?«
»Ich habe ihn in einer Hafenkneipe gefunden. Er lag in seinen eigenen Ausscheidungen und hat sich darüber lustig gemacht, dass er die Mädchen in den Norden verkauft hat.« Aidens Finger begannen zu zittern bei dem Gedanken an den widerwärtigen Kerl. Eine Träne stahl sich in seine Augen. Er holte tief Luft, straffte den Rücken und sah den König an, bevor er fortfuhr. »Ich habe ihm die Kehle durchgeschnitten.« Diese Tat bereute er nicht. Dag verdiente den Tod. Doch der durchdringende Blick des Königs jagte ihm Angst ein.
Mit einem leisen Schnauben verschränkte König Kjell die Arme vor der Brust. »Wir haben in diesem Land Gesetze, Junge. Gesetze, gegen die du mit einem Mord verstoßen hast, egal, was für ein Mistkerl der Tote gewesen ist.« Der König musterte ihn eingehend. »Weißt du, welche Strafe auf Mord steht?«
Aiden senkte den Kopf. Er wusste es.
»Der Strick, mein König«, murmelte er.
»Ein Leben für ein Leben, so wollen es die Götter.« Während der König sprach, trat er näher heran.
Aidens Knie wurden weich. Würde der König jetzt das Todesurteil über ihn sprechen? Dann wären seine Schwestern und Jördis für immer verloren. Niemand würde sie vermissen. Niemand würde versuchen, sie zu retten. Nur eine Handbreit vor ihm blieb König Kjell stehen.
»Mich schert es nicht, was die Götter wollen«, brummte er. »Ich hätte den Bastard Stück für Stück von seinen Gliedmaßen befreit, wenn er meine Schwestern entführt und verkauft hätte.« Seine Worte wurden von einem kurzen Lächeln begleitet.
Mit offenem Mund glotzte Aiden den Mann an.
»Das sollten wir die Priester besser nicht hören lassen«, scherzte der Lordkanzler aus dem hinteren Teil des Raumes. Ansonsten schien sich niemand der Anwesenden an den frevlerischen Worten des Königs zu stören und da Aiden selbst nicht immer recht an die Vier glauben konnte und wollte, keimte leise Hoffnung in ihm auf.
»Danke, mein König«, wisperte er und schluckte den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte.
»Danke mir noch nicht«, raunte er leise. Der König wandte sich von ihm ab und sah zu Lord Mans und den anderen beiden hinüber. »Gibt es Einwände der anwesenden Ratsmitglieder, dass wir Aiden von seinem Vergehen freisprechen? Wegen ... besonderer emotionaler Umstände.«
Unsicher beobachtete Aiden, wie alle Anwesenden Blicke tauschten und die Frau schließlich sprach.
»Keine Einwände, mein König.«
Der König nickte ihr zu.
»Gut. Warte bitte draußen, Aiden, wir müssen noch etwas besprechen.«
Eilig verbeugte er sich vor dem König und den anderen, bevor er den Raum verließ.
War er gerade wirklich vom König begnadigt worden? Sein Herz pochte noch immer heftig, als er den Korridor betrat und dankbar die kühle Luft in seine Lungen sog.
Kapitel 3
König Kjell – Junge Liebe
Die Tür fiel ins Schloss und Hedda blickte ihn fragend an. »Wolltet Ihr dem Jungen absichtlich Angst einjagen, mein König?«
»Ich wollte sehen, wie er auf die Androhung der Strafe reagiert. Außerdem hat er trotz seines Wissens darum wahrheitsgemäß geantwortet. Das muss ich ihm anrechnen.« Tatsächlich war er über die ehrlichen Worte mehr als erstaunt gewesen.
»Und welchem Zweck diente das alles?«, fragte Lord Mans mit hochgezogenen Brauen.
»Eine einfache Prüfung. Ehrgefühl kann man nicht kaufen oder erzwingen. Man hat es oder eben nicht. Du hast es gestern selbst vorgeschlagen, Hedda, wir sollten den Jungen als Spion einsetzen und genau das gedenke ich zu tun.«
Mans verzog skeptisch den Mund. »Haltet Ihr das wirklich für eine gute Idee?«, entgegnete er.
Kjell schmunzelte. »Nein, für eine ausgezeichnete Idee! Der Bursche ist offensichtlich in Juna verliebt, auch wenn er es vermutlich nicht so frei zugeben würde wie den Mord. Wenn er es nicht schafft, das Mädchen zu finden, wer dann?«
»Die Liebe lässt vor allem junge Männer auch unüberlegte Dinge tun«, hielt Mans dagegen.
»Außerdem liegt ihm das Schicksal seiner Schwestern vermutlich noch mehr am Herzen als Junas«, schaltete sich Lord Birkon in die Unterhaltung ein.
»Das trifft wohl zu, weshalb ich den Jungen auch nicht allein losschicken werde. Irgendwelche Vorschläge, wer ihn begleiten sollte?«, fragte Kjell in die Runde und sah zu Hedda, die als seine Leibwächterin die Spione des Landes befehligte. Doch die Antwort kam aus einer anderen Richtung.
»Ich möchte mich freiwillig melden, mein König.«
Kjell drehte sich langsam zu dem jungen Magier herum und bedeutete ihm fortzufahren.
»Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass Lord Fescol das Mädchen in seiner Gewalt hat. Ich habe gegen ihn gekämpft. Ich habe Junas Schmerz gespürt. Er spielt mit ihrem Leben und ihrem Verstand. Er erfreut sich am Leid und der Angst des Mädchens und schreckt dabei vor nichts zurück. Bitte erlaubt mir, dabei zu helfen, sie zu retten.«
Die Worte des jungen Mannes ließen Kjells Mundwinkel amüsiert zucken. Dann blickte er zu Birkon herüber, der alles andere als glücklich aussah. Geradezu vernichtend starrte dieser seinen Assistenten an.
Lord Mans wandte sich stumm an Kjell
Denkt Ihr, die beiden haben eine Chance?, sandte er ihm.
Ich habe keine Ahnung, Mans, aber Liebe ist wohl eines der ehrlichsten und stärksten Gefühle, die wir uns leisten können.
Sein Lordkanzler nickte nur und auch Hedda stimmte kurz darauf zu, nur Lord Birkon schwieg weiter beharrlich.
»Vielleicht willst du kurz mit deinem Assistenten alleine sprechen?«, schlug Kjell vor und winkte die beiden in das angrenzende Arbeitszimmer, wo sie wortlos verschwanden.
Kjell lief unruhig in dem Raum auf und ab. Es war eigentlich keine besonders gute Idee, Aiden und den beinahe gleichalten Eldur zu schicken, um die vielleicht wichtigste Magierin des Kontinents zurückzuholen. Andererseits hatten diese beiden die beste Motivation aller in Frage kommenden Menschen.
»Hedda, welchen Spion wolltest du mir vorgeschlagen, wenn Eldur sich nicht eingemischt hätte?«
»Vermutlich Halvar. Er ist schon seit dem Überfall auf Morward im Norden und hält sich zurzeit in Gravik auf. Bisher leistet er hervorragende Arbeit.«
Kjell fuhr sich mit der Hand langsam durch den Bart.
»Gib ihm Bescheid. Er soll unsere beiden Neuspione beobachten und ihnen unter die Arme greifen, wenn es nötig wird. Dabei soll er ruhig unerkannt bleiben.« Der König blickte vom Fenster zu der Anführerin der Bärengarde herüber. »Ich möchte, dass du den beiden noch ein paar Tricks beibringst und ihnen deutlich machst, auf was sie sich einlassen. Kannst du das machen?«
Hedda lächelte breit und ihre Augen funkelten.
»Natürlich, mein König. Es wird mir eine Freude sein.«
Dankend nickte er Hedda zu. Auf sie konnte er sich verlassen und die beiden Burschen würden jede Unterstützung brauchen.
In diesem Moment kehrten Birkon und Eldur zurück. An ihren Gesichtsausdrücken hatte sich nicht viel verändert, dennoch gab Birkon ihm mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass er seinen Assistenten gehen lassen würde.
»Ihr seid also übereingekommen. Wunderbar!«, rief Kjell und klatschte in die Hände. »Eldur, hole bitte Aiden wieder herein.«
Der Magier tat wie befohlen und der junge Mann betrat erneut den Raum.
»Aiden. Wie würde es dir gefallen, in meinem Auftrag nach Norden zu reisen und dort deine Schwestern, vor allem aber auch Juna zu finden?«
Der Junge zog die Augenbrauen zusammen und sah ihn irritiert an. »Es wäre mir eine Ehre, mein König«, nuschelte er schließlich.
»Gut, Eldur wird dich begleiten. Außerdem wird Hedda euch beiden in den nächsten Tagen noch einiges beibringen. Es wird gefährlich werden, deshalb solltet ihr die Tage zur Vorbereitung gut nutzen.«
»Natürlich, mein König.« Der Bursche verneigte sich tief und auch Eldur verbeugte sich.
Kapitel 4
Thear – Weit hinaus
Er lehnte an der Reling und beobachtete das gleichmäßige Klatschen der Wellen gegen den Bug des Schiffes. Der Wind wehte nur mäßig und so kam das kleine einmastige Schiff nicht besonders schnell voran.
Bei Sonnenaufgang hatte er die Kogge betreten und hoffte nun, diese würde ihn möglichst schnell nach Grauhavn bringen.
Sein Weg führte nach Norden. Er war sich sicher, dass er Juna bald finden konnte, doch es bestand ein großer Unterschied zwischen Finden und Befreien. Dazu benötigte er mehr Einblicke in die Welt nördlich des Mor. Soweit er bisher erfahren hatte, waren Sklaverei und Unterdrückung dort wohl so alltäglich wie das Trinken von Tee in seiner Heimat. Ein bedrückendes Gefühl von Wehmut breitete sich in seiner Brust aus. Er vermisste den warmen, vollen und süßen Geschmack des Tees.
Beiläufig schritt er die kurze Reling bis zum Heck der Kogge entlang und sah zu dem flatternden Segel hoch, das sich im Wind hin und her bewegte wie eine Schlange im Kampf mit ihrer Beute. Unauffällig hob er eine Hand und sofort blähte sich das Segel sichtlich unter seiner Luftmagie.
Gleichmäßig glitt das Schiff über die Wellen hinweg und nach einer Weile tauchte aus dem Dunst die kleine Hafenstadt am Ende der Landzunge auf. Thear reduzierte seine Magie und schließlich lief sein Transportmittel in Grauhavn ein. Sein eigentliches Ziel hatte er schon ausgemacht. Der große Zweimaster, die Windjungfer, schaukelte sanft im Wasser.
Er dankte dem Kapitän, ging von Bord und lief zielstrebig auf die Windjungfer zu.
»Wo willst du hin, Bursche?« Die strenge Stimme ließ ihn in der Bewegung innehalten. Die Frau, die ihn angesprochen hatte, trat hinter einigen Kisten hervor und durchbohrte ihn beinahe mit ihrem Blick. Sie war etwa so groß wie er und ihr kurzes rotbraunes Haar fiel ihr in die Stirn. Abschätzig musterte sie ihn von oben bis unten, während er sich elegant vor ihr verneigte.
»Werte Dame, Ihr seid sicherlich die Kapitänin dieses wundervollen Schiffes.«
Ihr Blick und ihre Ausstrahlung ließen keinen Zweifel daran. Außerdem hatte Thear schon beim Einlaufen mit dem kleinen Schiff gehört, wie eine Frau Befehle gerufen hatte.
»Darauf kannst du deine blonden Haare verwetten. Was willst du?« Dabei bedachte sie ihn mit einem abfälligen Blick.
»Ich würde gern auf Eurem Schiff nach Gravik segeln und mit Eurer Erlaubnis auch für die Reise als Teil der Mannschaft anheuern.«
Sie zog eine Augenbraue nach oben und sah ihn skeptisch an.
»Du willst in meine Mannschaft kommen? Kannst du überhaupt segeln, Bursche? Besonders stark siehst du ja nicht gerade aus.«
»Was die Augen sehen, ist nicht immer das, was der Körper auch zu leisten vermag. Ich bin schon unzählige Male unbeschadet an der Witwenküste gesegelt«, log er ohne eine Spur des Zögerns.
Die Kapitänin lachte auf und schüttelte den Kopf. »An der Witwenküste? Soll mich das jetzt beeindrucken? Das kann schließlich jeder behaupten.«
»Dann erlaubt mir, Euch vom Gegenteil zu überzeugen oder mich unterwegs über Bord zu werfen, falls ich Euren Ansprüchen nicht genüge«, schlug er vor und deutete dabei eine leichte Verbeugung an.
Sie schnalzte mit der Zunge. »Also schön. Ich bin Kapitänin Dana. Wir legen morgen bei Tagesanbruch ab. Bis dahin kannst du dich nützlich machen und helfen, die Kisten zu verladen.«
Nachdem die Sonne hinter der Felszunge verschwunden und die Arbeit getan war, zog Thear sich in ein kleines Zimmer über der Taverne am Hafen zurück. Aus seiner Tasche holte er ein winziges ledernes Säckchen und schüttete den erdigen Inhalt zusammen mit etwas Wasser in eine Schüssel. Vorsichtig verteilte er die entstandene Masse auf seinen hellblonden Haaren. Die Paste würde ihm für eine Weile eine rötlich-braune Haarpracht verleihen, was unter den hiesigen Bewohnern weit weniger auffällig war. Nachdem er sich dem schwarzhaarigen Magier auf dem Schiff aus einem Impuls heraus gezeigt hatte, war Tarnung das Wichtigste, um seine Mission erfolgreich zu vollenden.
Noch vor der Dämmerung stieg Thear die Planke des Schiffes hoch und döste in einer Ecke vor sich hin, bis die anderen Matrosen und seine Kapitänin erwachten.
»Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«, fragte die Kapitänin stirnrunzelnd, als sie ihn erkannte.
»Wir fahren an einen gefährlichen Ort, das wisst ihr vermutlich besser als die meisten.« Er konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen.
Die Kapitänin verzog keine Miene. Mit einer zügigen Bewegung trat sie ans Steuer.
»Klar zum Ablegen!«, brüllte Dana über Deck. Sofort setzten sich die Matrosen und auch Thear in Bewegung.
Einige Mannschaftsmitglieder kletterten bereits die Takelage hoch und auch Thear zog sich bis zur Fock nach oben, hangelte sich an der Fockrah entlang zur Seite und begann, die Halteseile zu entknoten. Unter den Händen von vier Matrosen lösten sich schließlich alle Verschnürungen, die große weiße Fock fing den aufkeimenden Wind ein und flatterte.
»Hol dicht die Fock!«, schrie Dana von unten. Die Fockleinen wurden gespannt und die große Stoffbahn blähte sich auf. Das Großsegel spannte sich und langsam schob sich die Windjungfer durch das dunkle Wasser in Richtung Norden davon.
Kapitel 5
Juna – Familie
Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, während Steen sie am Arm von Bord des Schiffes schleifte und in der einsetzenden Dunkelheit in eine Kutsche bugsierte.
Die Geschehnisse der letzten Tage auf See hatten sie gebrochen. Ihr Körper hatte die Schmerzen ertragen, ihr Verstand zu Beginn noch gekämpft, doch mit jedem weiteren Augenblick war ihre Verteidigung kleiner geworden und schließlich zusammengebrochen. Jetzt war sie nichts mehr als eine leere Hülle.
Fescol verstand sich meisterhaft darauf, größtmögliche Schmerzen zu verteilen, ohne ihren Körper dauerhaft zu schädigen. Lediglich die tiefe Schnittwunde auf ihrem Oberarm würde ihr für immer bleiben. Dort hatte er ihr am Morgen ein großes ›F‹ in die Haut geschnitten. Die Narbe würde sie ihr restliches Leben begleiten, gezeichnet als sein Eigentum. Stumm liefen die Tränen über ihr Gesicht wie auch das Blut ihren Arm herab. Jede Faser ihres Leibes schmerzte und es gab nichts, dass sie davon erlösen würde.
Die gesamte Reise über hatte er immer wieder seine Hand auf ihren Bauch gelegt und Juna vermutete, dass er sich des Lebens in ihrem Inneren versicherte. Allein der Gedanke daran ließ sie schaudern.
Der Schattenmagier stieg hinter ihr in die Kutsche, die sogleich ruckelnd losfuhr. Sie sah nicht, wohin sie fuhren, da sie am Boden hockte, den Blick auf die polierten Dielen gerichtet. Doch es war ihr ohnehin gleich, wohin das Gespann sie brachte. Solange Fescol bei ihr war, war alles andere bedeutungslos.
Ihre Hände bluteten von dem rauen Strick, der sich um ihre Gelenke schlang und selbst ihre Fingerspitzen aufeinander presste. Das lose Ende ruhte in Steens Hand. Seit ihrer kurzen Unterhaltung zu Beginn der Reise hatte er kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Sie spürte, dass er immer noch wütend auf sie war. Der einst so nette junge Soldat kam ihr mittlerweile ebenso brutal und gnadenlos vor wie sein Vater. Auf Fescols Befehl hin hatte er sie so lange mit einem Lederriemen geschlagen, bis sie bewusstlos zusammengesackt war. Seit diesem Moment fühlte sie keinerlei Sympathien mehr für den jungen Mann.
Gefühle waren ohnehin etwas, das Juna sich nur sparsam zugestand, denn alles was sie momentan fühlte, waren Schmerz, Trauer und noch mehr Schmerz.
Die Kutsche kam schaukelnd zum Stehen. Fescol verließ sie zuerst, gefolgt von Steen, der sie – stolpernd und humpelnd – eine Treppe hinaufstieß. Der böige kalte Wind schickte ihr augenblicklich Gänsehaut über den Leib, die auch dann nicht verebbte, als sie vom Schein dutzender Kerzen im Inneren eines Hauses eingehüllt wurde.
»Guten Abend, Lord Fescol«, begrüßte ein Mann ihn unterwürfig.
»Bring mich zum König!«, befahl der Schattenmagier ohne Umschweife.
Zum König hallte es in Junas Ohren. Zum König? Wollte er sie nicht gerade noch vor dem König verstecken? Es ergab keinen Sinn, aber das Denken fiel ihr zunehmend schwer.
Ihre Kehle war ausgetrocknet und ihr Magen verkrampfte sich. Lange würde sie nicht mehr durchhalten. Mehrmals während der Fahrt hatte sie ihn auf Knien um einen Schluck Wasser angefleht, den er ihr sogar gewährt hatte. Nur, um sie dann dafür zu bestrafen. Sie durfte nicht einmal daran denken, was er ihr für etwas zu Essen angetan hätte.
Mühsam hielt sie sich auf den Beinen und wankte hinter den Männern her. Sie wagte nicht, sich umzusehen, und hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Vor einer Tür blieben sie stehen. Jemand klopfte an. Steen übergab Fescol den Strick und schließlich zog dieser sie in den Saal hinter der Tür. Der kalte, steinerne Fußboden war glänzend poliert und ihre Schritte hallten in dem großen Raum wider.
Plötzlich blieb Fescol stehen. Sie sah, dass er mit dem Finger auf den Boden neben sich zeigte. Mit letzter Kraft schob sie sich vor und kniete demütig nieder.
Stimmen lenkten sie von den pochenden Schmerzen in ihren Gliedern ab.
»Guten Abend, mein König, Königin Jonna.«
»Lord Fescol, wie schön Euch zu sehen«, grüßte ihn eine Frau, vermutlich Jonna, freundlich.
»Fescol! Ich bin erstaunt, dass du so schnell wieder zurück bist«, ergänzte eine männliche Stimme, die wohl König Kunin gehörte.
»Verzeiht mein spätes Erscheinen, aber ich bin eben erst mit dem Schiff in der Stadt eingetroffen.«
»Aber nicht doch. Wir freuen uns immer, wenn Ihr uns besucht«, rief Jonna begeistert.
Offenbar hatte diese Frau keine Ahnung, wer Fescol wirklich war, dachte Juna.
»Sagt, wer ist das Mädchen, das ihr mitgebracht habt? Es sieht Euch gar nicht ähnlich, Sklaven hierher mitzubringen.«
»Ihr seid scharfsinnig wie immer, meine Königin, doch dies ist keine gewöhnliche Sklavin. Darf ich vorstellen: Das ist Juna. Eure Schwester!«
Für einen Herzschlag meinte Juna, sich verhört zu haben. Ihr Blick rauschte zwischen Fescol und der Königin hin und her. Diese schien ebenso entsetzt wie sie selbst und blickte mit aufgerissenen Augen zu ihr herunter.
»Schwester?«, sprachen beide Frauen gleichzeitig, doch Fescols mahnender Blick ließ Juna augenblicklich verstummen.
»Du hast sie also wirklich gefunden? Großartig!« Der König hingegen schien keineswegs erstaunt und kam zielstrebig auf sie zu. Junas Herz schlug heftig, als er direkt vor ihr stehen blieb.
»Hoch mit dir!« Unwirsch winkte er mit seiner Hand. Quälend langsam erhob sich Juna, die von einer weiteren Schmerzenswelle geschüttelt wurde.
Ruckartig packte er ihr Kinn und betrachtete erst ihr Gesicht und anschließend ihren Körper von allen Seiten, wie eine zum Verkauf stehende Ware.
»Was ist mit ihr passiert, mein Freund?«, fragte er mit bedrohlichem Unterton in der Stimme.
»Sie hat mir einige Schwierigkeiten bereitet und das kann ich nicht dulden«, erklärte er ohne jede Regung. »Außerdem hat eine wohlverdiente Abreibung noch keiner Sklavin geschadet.«
»Kunin! Was geht hier vor sich?«, schaltete sich nun Jonna ein. »Warum behauptet Lord Fescol, dass dies meine Schwester sei? Ihr habt immer ...«
»Schweig, Weib!«, bellte Kunin zu seiner Gemahlin, die schlagartig verstummte. »Das sollten wir feiern, die Nacht ist noch jung. Leif!« Das letzte Wort schrie Kunin hinaus und Juna zuckte heftig zusammen.
Sofort erschien der Gerufene und nahm die Anweisungen des Königs entgegen.
»Bring Lord Fescol und mir etwas Wein. Außerdem werden wir morgen Abend ein kleines Fest veranstalten. Sind Osmond und Thorben noch in der Stadt? Finde sie und überbringe ihnen meine Einladung.«
»Sofort, mein König.«
»Wenn ihr erlaubt«, säuselte Fescol, »die Lords Didrik, Felton, Niklas und Magnus haben mich bei der Ergreifung des Mädchens unterstützt und sind ebenfalls in der Stadt. Ihnen gebührt ebenso ein Platz an der Tafel.«
Juna erschauderte bei dem süßlichen Ton, den seine Stimme annahm.
»Du hast Lord Fescol gehört. Informiere die anderen Lords ebenfalls. Und beeil dich mit dem Wein!«
Nachdem Kunin sich endlich von ihr abgewandt hatte und mit Fescol weitere Details besprach, sah sie unauffällig zu der jungen Königin hinüber. Konnte sie wirklich ihre Schwester sein, oder war es ein makabrer Scherz? Die Königin und sie musterten einander. Der Blick der Frau war begierig, aber auch verunsichert. Juna durchforstete ihr Gedächtnis. Hatte ihre Mutter jemals eine Schwester erwähnt? Sie erinnerte sich nicht. Überhaupt hatte sie wenig von der Zeit vor Junas Geburt gesprochen.
Schweigend suchte Juna nach etwas Vertrautem in den Zügen der Königin. Jonna besaß schulterlanges rotblondes Haar, das etwas heller als das ihrer Mutter war. Ihre Gesichtszüge waren fein und Juna meinte, die gleiche gerade Nase wie bei sich selbst zu sehen. Ihre Augen waren sanft und doch voller Verwirrung und Schrecken.
Wenn das tatsächlich ihre Schwester war, dann wäre sie auch eine Magierin, rief sich Juna ins Gedächtnis.
Bist du wirklich meine Schwester?, sandte sie in Richtung der Königin. Es war ihre einzige Möglichkeit, sie etwas zu fragen.
Ihre Stirn legte sich in Falten, doch sie nickte langsam und Tränen füllte ihre Augen.
Eine heiße Welle der Aufregung floss durch Juna. Sie hatte tatsächlich eine Schwester!
Du kannst mich also hören. Kannst du auch antworten?
Zögerlich bewegte die Königin ihren Kopf von links nach rechts. So wenig wie möglich, damit die beiden Männer nichts mitbekamen.
Tausend Fragen schwirrten plötzlich durch Junas Kopf. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.
Erinnerst du dich an mich oder an unsere Mutter?
Die Träne löste sich aus Jonnas Augen, als sie mit der Hand eine zaghafte Bewegung über ihren Bauch machte. War ihre Mutter also schwanger gewesen, als was auch immer sie getrennt hatte?
Plötzlich fuhr ein beißender Schmerz durch ihren Körper. Juna keuchte auf, während sie fast den Boden unter den Füßen verlor. Fescol bohrte seinen Daumen in die Schnittwunde auf ihren Oberarm.
»Halt deinen Blick am Boden, sonst werde ich persönlich dafür sorgen, dass du es tust«, flüsterte er in ihr Ohr. Die wenigen Worte reichten aus, um ihren geschundenen Körper in Panik zu versetzen. Eilig schlug sie die Augen nieder und wagte keinen neuerlichen Versuch, mit Jonna Kontakt aufzunehmen. Zu groß war ihre Angst. Zu unberechenbar der Magier.
Einige Zeit später folgte sie Fescol durch mehrere Gänge der Burg und schließlich eine steile Treppe hinab. Hier war es finster und eiskalt. Nur einige wenige Fackeln spendeten flackerndes Licht.
Er dirigierte sie einen Korridor entlang. Auf sein Zeichen schloss die Wache eine Gittertür auf und der Magier stieß Juna hinein. Unfähig, sich länger auf den Beinen zu halten, sackte sie zu Boden. Das Klicken des Schlosses und Schritte, die sich entfernten, waren alles, was sie noch vernahm. Dann gewann die Erschöpfung überhand und Juna gab sich ihr mit allem hin, was ihr noch blieb. Für eine Weile würde ihr die kleine, stinkende Zelle Schutz vor diesem Mann bieten.
Kapitel 6
Aiden – Lektionen
Langsam ging er die Gasse entlang und spähte möglichst unauffällig um eine Ecke. Zwei Männer saßen auf einer großen Kiste und flickten ein Fischernetz. In der anderen Richtung konnte Aiden niemanden ausmachen, also bog er in die leere Gasse und duckte sich gerade noch hinter ein Fass, als zwei Stadtwachen den Durchlass kreuzten.
Zwei Herzschläge später kam er vorsichtig wieder hervor und schlich weiter. Er war noch etwa vier Querstraßen von seinem Ziel entfernt, dem Hafen. Hedda hatte Eldur und ihm die Aufgabe erteilt, sich unbemerkt von der Stadtwache von der Akademie bis zu einem bestimmten Punkt am Hafen zu bewegen und dort eine Nachricht zu hinterlassen. Den Rückweg sollten sie ebenfalls unbemerkt zurücklegen. Aiden hatte schon ein gutes Stück geschafft. Wo sich Eldur befand, wusste er nicht. Er wollte nur seinen Auftrag erfüllen und anschließend schnellstmöglich zurückkehren.
In der nächsten Gasse standen einige Frauen und hängten Wäsche zwischen den Häusern auf. Die Stadt erholte sich erstaunlich schnell von dem Angriff und die Schäden an den Gebäuden wurden zügig repariert. Vorsichtig schob er sich an den Frauen vorbei und spähte in die nächste Straße. Dort standen drei Wachen und unterhielten sich. Leise seufzend drehte er um und versuchte einen anderen Weg.
Er war fast da. Die Hafenpromenade lag offen vor ihm. Sie wimmelte nur so von Menschen. Ein Schiff legte eben an und die ersten Matrosen sprangen von Bord. Weiter vorn wurde gerade die Ladung einer kleineren Kogge gelöscht und neben Aiden pries ein Fischhändler brüllend seinen Fang an. Die beiden Wachen, die sich eben hinter ihm vorbeischoben, bemerkten ihn zum Glück nicht. Einen Moment später wandte er sich ab und zog seine Mütze tiefer ins Gesicht, dann zwängte er sich zwischen den Menschen hindurch.
Fast war er an der Markierung angekommen. Unvermittelt tauchte eine Soldatin vor ihm auf. Hastig tat Aiden so, als würde er gerade eine Kiste abstellen und wartete, bis die Frau ihn passierte. Unauffällig folgte er ihr mit wenigen Schritten Abstand, bis er endlich den Mast am zweiten Anleger erreichte. Er schob den kleinen Zettel zwischen die Planken und wollte gerade wieder verschwinden, als er heftig mit einem Mann zusammenstieß. Fluchend rappelte er sich auf und sah den Kerl verärgert an. Es war Eldur. Natürlich trug er nicht seine Robe, dafür aber zerschlissene Hosen und ein viel zu großes Hemd, Dreck klebte in seinem Gesicht und an seinen Händen.
»'tschuldigung«, murmelte er und verschwand nach wenigen Schritten zwischen den Menschen am Kai.
Eilig machte Aiden sich auf den Rückweg. Er sah sich immer wieder nach Eldur um und übersah dabei zwei Wachen, die ihm direkt entgegenliefen. Einer deutete bereits auf ihn. Es war zu spät, sich zu verbergen. Mit pochendem Herzen trat er die Flucht nach vorn an und raste an ihnen vorbei. Sofort nahmen die Wachen die Verfolgung auf. Ihre Stimmen brüllten ihm hinterher.
Hedda hatte die Stadtwache also tatsächlich alarmiert, um den Übungslauf so echt wie möglich zu machen. Aiden jagte um eine Kurve, sprang über einige Eimer und wich behände den Passanten aus. Hinter der nächsten Ecke schlüpfte er in einen dunkeln Hauseingang und auf der anderen Seite des Hauses wieder nach draußen. Keuchend hastete er zwei Straßen weiter eine Leiter hoch und sprang aufs Dach. Aiden rannte über einige der flachen Dächer hinweg, bevor er wieder herab kletterte. Er war fast an der Akademie. Die kalte Luft brannte in seinen Lungen. Schnaufend lehnte er sich gegen eine Wand. Waren die Wachen noch hinter ihm her? Alles war ruhig. Nachdem sich sein Puls etwas beruhigt hatte, setzte er seinen Weg fort.
Es war bereits weit nach Mittag, als er das Tor der Akademie erreichte. Hedda stand davor und lächelte ihn an.
»Glückwunsch, du hast versagt.«
»Aber ich habe die Botschaft hinterlegt und bin wieder hier«, protestierte Aiden ungläubig.
»Das bist du. Aber du warst zu langsam.« Hedda verschränkte die Arme vor der Brust. »Der Bote war lange vor dir am Kai und hat keine Nachricht gefunden. Nicht nur, dass du also zu lange gebraucht hast, du wurdest außerdem von den Wachen entdeckt.«
»Aber ich habe sie abgehängt.«
»Richtig, dennoch sucht jetzt die ganze Stadt nach dir.«
Missmutig ließ er die Schultern hängen. War er wirklich so ein schlechter Spion?
»Schau nicht so betreten, Aiden. Für den ersten Versuch war es schon nicht schlecht. Nur hast du nicht mehr viel Gelegenheit zum Üben.« Sie seufzte. »Euer Zusammentreffen am Hafen war jedenfalls nicht besonders schlau.«
Skeptisch blickte Aiden sie an. »Woher weißt du das alles?«
»Dass du mich nicht bemerkt hast, spricht auch nicht gerade für deine Fähigkeiten.« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich bin dir gefolgt.«
»Wie hast du das gemacht? Ich habe mich so oft umgesehen, aber nie jemanden gesehen«, rief er zunehmend irritiert.
»Das kommt davon«, begann sie und trat einen Schritt näher, »dass du deine Umgebung zwar siehst, aber nur das bemerkst, was du sehen willst. Ich war zum Beispiel unter den Frauen, die Wäsche aufgehängt haben. Da du nur nach den Wachen gesucht hast, bist du an mir vorbeigelaufen, ohne mich zu sehen.«
Röte stieg Aiden ins Gesicht und seine Ohren glühten.
»Komm.« Sie nickte zum Tor. »Es gibt noch etwas, das wir üben sollten. Das liegt dir vielleicht mehr.«
Widerstrebend folgte er der Leibwächterin in die Akademie zu einem weiten Platz direkt hinter dem großen Turm. Eldur lehnte mit verschränkten Armen an einer Säule und plauderte mit zwei Rekrutinnen. Kaum, dass Hedda erschien, eilten die jungen Mädchen davon.
»Aiden!«, grüßte er und schob sich von der Säule weg. Der Magier trug noch immer die schäbige Kleidung, doch seine Haltung war unvermindert stolz, als würde er eine Paradeuniform tragen.
Hedda stellte sich vor die beiden und grinste.
»Wenn ihr als Spione unterwegs seid, dann könnt ihr nicht mit großen Schwertern kämpfen. Nur Soldaten tragen solche Waffen. Deshalb solltet ihr immer einen oder besser zwei Dolche bei euch tragen.« Sie hielt ihre Arme zur Seite ausgestreckt und drehte sich langsam. »Wo sind meine Dolche versteckt?«
Aiden mustert Hedda eingehend von oben bis unten. Ihre Kleidung saß eng an ihrem Körper, sodass er nichts sah, was einen Dolch hätte verbergen können.
»An deinem linken Unterarm«, konstatierte Eldur mit einem triumphierenden Grinsen. Tatsächlich zog Hedda dort einen Dolch hervor. Erneut betrachtete Aiden die Leibwächterin.
»In deinem Stiefel«, bluffte er. Er sah zwar keine Waffe, aber das war ein offensichtliches Versteck.
»In welchem?«, fragte Hedda und lächelte ihn herausfordernd an.
»Links«, gab er ohne zu zögern zurück.
Hedda zog aus dem linken Lederstiefel einen Dolch und trat nahe an ihn heran. Krampfhaft unterdrückte er ein Lächeln. Sie hielt die beiden Dolche auf Augenhöhe. Plötzlich spürte Aiden, etwas Scharfkantiges gegen die Innenseite seines Beins stechen.
»Die richtige Antwort wäre ›in beiden‹ gewesen.«
Sie nahm den dritten Dolch von seinem Bein und hielt ihn zusammen mit den anderen in einer Hand.
Dann reichte die Anführerin der Bärengarde beiden Männern ein Messer.
»Wenn ihr mit einem Dolch kämpft, habt ihr nur eine geringe Reichweite. Allerdings will man in der Regel auch keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Also versucht, einen offenen Kampf zu umgehen. Tötet nur, wenn es unbedingt nötig ist.«
»Was ist die beste Stelle, um zuzustechen, sollte es doch mal nötig sein?« Aiden wusste nicht viel über die Kampftechniken mit einem Dolch. Mit Schwert und Bogen war er vertrauter.
»Eldur, willst du Aiden die Stellen zeigen?«
»Sehr gern.« Der Magier trat näher zu ihm. »Wichtig ist, dass du eines der großen Blutgefäße erwischst, dann ist es schneller vorbei. Das wären hier, die Innenseiten der Oberschenkel, die Innenseiten der Oberarme, der Hals oder direkt hier unter den Rippen«, erklärte er geduldig und zeigte auf die Stellen.
»Genau.« Hedda nickte zufrieden. »Aber wie schon erwähnt, kommt es besser gar nicht erst dazu. Ihr könnt die Dolche behalten.«
Ein Akademiediener näherte sich und reichte Hedda einen kleinen Zettel. Aiden sah, wie sie die Zeilen überflog.
»Ah, sehr gut. In drei Tagen legt ein Schiff Richtung Norden ab. Ihr werdet an Bord sein. Bis dahin sollten wir das Verschmelzen mit der Umgebung wohl noch etwas ausgiebiger üben.«
Kapitel 7
Juna – Eine Drohung
Das Pochen des Blutes in ihren gefesselten Händen ließ sie in der Dunkelheit der Zelle erwachen. Juna fror entsetzlich, ihr ganzer Körper zitterte. Der harte, feuchte Steinboden hatte jegliche Wärme aus ihrem Leib gesogen und nun konnte sie nicht einmal mehr der ohnmachstähnliche Schlaf vor der Kälte retten.
»Juna?« Leise drang die Stimme bis in ihren Kopf. Sie kannte diese Stimme.
»Ja?«, flüsterte sie kraftlos.
»Ich bin es, Liv!«, murmelte die Stimme undeutlich zurück.
Schwere Schritte auf dem Gang unterbrachen Junas träge Gedanken und beschleunigten ihren Herzschlag. Sie hörte zwei Männer reden und durch die Gitterstäbe drang zaghaftes Licht von einem Feuer. Alarmiert kroch Juna schlotternd in die hinterste Ecke ihrer Zelle und beobachtete die tanzenden Schatten. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Eine Feuerkugel erschien und Juna kniff geblendet die Augen zusammen. Mit einem hallenden Klappern öffnete sich die Gittertür.
Der Mann, der die Feuerkugel lenkte, betrat die Zelle.
»Das ist sie also?«, raunte er düster. »Auf dem Schiff hast du ja keinen an sie herangelassen. Steh auf, Kind!«
Sie kannte ihn nicht, aber ihr Verstand riet ihr zu gehorchen. Langsam schob sie sich an der Wand nach oben, den Blick auf seine Schuhe geheftet. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Plötzlich drohten ihre Knie nachzugeben. Eine starke Hand packten sie, bevor sie zu Boden fallen konnte.
»Sie sieht nicht gut aus. Wann hast du ihr zuletzt etwas zu essen oder trinken gegeben? Sie kann kaum stehen.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern«, antwortete der zweite Besucher gleichgültig.
Junas Innerstes krampfte sich schmerzhaft zusammen. Die zweite Stimme gehörte Fescol.
»Wann hast du zuletzt etwas getrunken, Kind? Und sieh mich an, wenn ich mit dir spreche.«
Ihr war noch immer schwindlig und bunte Lichter tanzten vor ihren Augen. Langsam hob sie den Kopf und versuchte, den Mann anzusehen. Braune Augen blickten sie forschend an. Eine Haarsträhne hing ihm in die Stirn, die leichte Falten zeigte. Sein Bart war ordentlich geschnitten und er überragte Juna um einen Kopf. Das Licht der Feuerkugel funkelte in der Verzierung seiner schwarzen Robe.
»Ich weiß nicht, Herr«, brachte sie mühsam hervor.
»Oh, Fescol! Hast du nicht gesagt, sie ist schwanger? Wenn sie das Kind behalten soll, musst du dich etwas mehr um sie kümmern.«
»Fürsorglichkeit war noch nie meine Stärke«, knurrte Fescol zurück.
Der Mann legte seine freie Hand auf ihre Stirn und untersuchte dann die blutverschmierte Wunde an ihrem Arm. Widerstandslos ließ Juna die Musterung über sich ergehen. Sie brauchte all ihre Kraft, um stehenzubleiben.
»Sie hat Fieber«, murmelte er schließlich. »Du solltest ihr oben eine Kammer suchen. Wenn sie hier bleibt, stirbt sie wahrscheinlich und dann wäre der ganze Aufwand umsonst gewesen.«
Fescol gab ein missbilligendes Geräusch von sich.
»Vielleicht hast du recht, Niklas«, gab er dennoch zu. Er rief nach einer Wache. »Gibst du ihr den Trank trotzdem?«
»Es spricht nichts dagegen. Ich kann dir aber nicht sagen, wie lange die Wirkung genau anhalten wird. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab.«
»Wir werden es schon herausfinden.«
Juna hörte das Rascheln von Stoff. Dann schimmerte eine kleine Phiole in seiner Hand und im nächsten Moment hielt er ihr diese auch schon an die Lippen. Eine bittere Flüssigkeit verteilte sich in ihrem Mund. Sie musste würgen, doch Niklas hielt ihr eisern den Mund zu.
»Wage nicht, es auszuspucken«, drohte er.
Sowie sie geschluckt hatte, ließ er sie los und Juna sank hustend zu Boden. Mit einem Ruck zerschnitt der Magier den Strick um ihre Hände.
Tränen schossen ihr in die Augen. Wimmernd presste sie die Finger an ihre Brust, während das Blut heftig hindurch pulsierte.
Dann hob jemand sie grob hoch und trug sie fort von der Zelle. Der schaukelnde Schritt der Wache ließ den Schwindel erneut zurückkehren. Nur schemenhaft nahm sie ihre Umgebung wahr.
Sonnenlicht blendete sie.
Schließlich fühlte sie etwas Weiches unter sich.
»Ich werde Greta mit etwas zu Essen vorbeischicken«, hörte sie noch jemanden sagen, dann klackte das Türschloss.
Juna erwachte hustend, als eine warme Flüssigkeit ihre Kehle hinabrann.
»Du bist schwer wach zu bekommen«, wisperte jemand.
Die Ansprache ließ Junas Herz wie wild schlagen. Panisch schlug sie die Augen auf und blickte einer Frau ins Gesicht, die neben ihr auf dem Bett saß. Juna wich erschrocken vor ihr zurück.
»Hab keine Angst. Ich werde dir nichts tun«, flüsterte die Frau sanft und schenkte ihr ein Lächeln. Sie hielt Juna erneut einen Becher entgegen. Der süßliche Geruch nach Kräutern ging von dessen Inhalt aus. Zögerlich ließ Juna zu, dass die Frau ihr beim Trinken half. Die warme Flüssigkeit tat gut und allmählich beruhigte sich ihr Puls.
»Ich bin Greta«, sagte sie und rückte Junas Decke zurecht.
Erst jetzt bemerkte Juna, dass jemand ihren Körper gewaschen und die Schnittwunde sauber verbunden hatte. Unsicher sah sie Greta an, die den Becher erneut füllte. Sie war älter als Juna, trug ein schlichtes, aber sauberes Kleid, ihr Zopf fiel ihr bis zur Taille und auf ihrer Schulter lugte eine alte Narbe unter dem Stoff hervor.
»Hat Lord Fescol dich so zugerichtet?«, fragte Greta plötzlich und deutete auf den Verband. Allein bei der Erwähnung seines Namens traten Juna Tränen in die Augen.
Sie wich Gretas Blick aus und nickte stumm.
Sie hörte die Frau leise seufzen. »Du musst trinken«, riet sie ihr und hob erneut den Becher an Junas Lippen. »Ich habe auch etwas zu essen dabei. Hier.« Greta schob ihr einen Löffel mit Haferbrei in den Mund und mit jedem Bissen kehrte ein wenig Leben in ihren geschundenen Körper zurück. Ihr war heiß und immer wieder fielen ihr die Augen zu. Schweiß perlte von ihrer Stirn.
Greta half ihr zurück unter die Decke und erhob sich dann.
»Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns bestimmt wieder«, versprach sie und lächelte aufmunternd.
»Danke«, krächzte Juna schwach.
»Gern. Aber du solltest Lord Niklas danken, nicht mir.«
Unsicher sah Juna sie an. »Ist er auch so grausam?«
»Nein, ganz im Gegenteil.« Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. »Es gibt Dinge, die er nicht mag, aber sonst ist er ein recht großzügiger Mann.« Damit verließ die Frau das kleine Zimmer.
Erschöpft blickte Juna sich um. Es gab das Bett, in dem sie hockte, eine Truhe mit einer Waschschüssel darauf und ein schmales Fenster, durch das Tageslicht hereinfiel. Eine Kerze stecke in einer Halterung an der Wand und auf einem kleinen Hocker neben dem Bett stand ein Krug mit Wasser. Vorsichtig betrachtete sie ihre Hände. Die tiefen Schnitte, die der Stick in ihrer Haut hinterlassen hatte, waren sorgsam gereinigt und verbunden worden.
Sie versuchte sich zu konzentrieren und rief nach ihrer Macht. Nichts geschah. Vielleicht war sie noch zu schwach, um Magie zu benutzen. Entkräftet ließ Juna sich zurückfallen und schloss die Augen.
Sie schreckte aus einem traumlosen Schlaf hoch, als die Tür ruckartig entriegelt wurde. Es war finster und doch erkannte Juna die schwarze Silhouette von Fescol im Türrahmen. Sofort schlug ihr das Herz bis zum Hals. Reflexartig zog sie sich auf dem schmalen Bett zusammen und kniff die Augen zu.
»Steh auf!«, befahl er mit schneidender Stimme.
Hektisch rutschte sie vom Bett und klammerte sich haltsuchend an der Wand fest. Sterne glitzerten vor ihren Augen, doch sie schaffte es, die Schwärze zurückzudrängen.
»Dir geht es also schon besser. Gut. Wir haben heute Abend noch etwas vor, das du keinesfalls verpassen solltest«, verkündete er selbstgefällig und kam auf sie zu.
Juna drückte sich noch weiter in die Ecke des Raumes und hob schützend die Hände. Erneut rief sie nach ihren Kräften, doch noch immer geschah nichts.
»Hast du wirklich geglaubt, ich würde zulassen, dass du deine Magie benutzen kannst?«, blaffte er sie an. Seine Hand umfasste ihren Hals und er brachte seinen Mund nahe an ihr Ohr. »Der Trank von Niklas wird deine Kräfte für einige Zeit blockieren. Aber lass dir gesagt sein, solltest du es wagen, Magie gegen mich einzusetzen, werden wir deine Freundinnen im Kerker besuchen und dann kannst du dir eine der drei aussuchen, die dafür sterben wird. Hast du mich verstanden?«
Schlagartig wurde ihr übel.
Kannte dieses Ungeheuer denn gar keine Grenzen? War es also wirklich Liv gewesen, die sie im Kerker gehört hatte? Dann mussten Alva und Jördis auch bei ihr sein.
»Antworte, Sklavin!«, bellte er.
Ihre Stimme zitterte. »Ich habe verstanden, Mylord.«
Dann legte er seine Hand auf ihren Bauch und ein Lächeln flog über seine Lippen. Juna schloss angewidert die Augen und schluckte trocken. Bisher hatte er sie nicht erneut vergewaltigt, doch er konnte es jederzeit tun.
»Ich freue mich schon zu sehen, wie unser Kind in dir heranwächst«, brummte Fescol leise.
Seine Worte schnitten bis in ihre Seele. Trotz der ungeheuren Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte, regte sich tief in ihrem Inneren etwas, das sie bereits verloren geglaubt hatte: Der Wille frei zu sein. Es ging nicht länger nur um ihr Leben, sondern auch um das des Kindes.
Nein, dachte Juna. Dies war ihr Kind und er würde ihr Kind nicht bekommen. Sie würde nicht zulassen, dass er es als Druckmittel gegen sie einsetzte. Sie schwor sich, sobald sie wieder bei Kräften war, würde sie sich einen Weg aus dieser Burg suchen und ihm ein weiteres Mal entwischen.
Kapitel 8
Lord Fescol – Das Bankett
Der Saal war festlich hergerichtet und die meisten der Schattenmagier befanden sich bereits an der langen Tafel, als Fescol mit Juna den Raum betrat. Das Mädchen lief hinter ihm her, zu verängstigt, um etwas Dummes zu tun. Genau so wollte er es.
Niklas trat neben ihn, als er die Tafel erreicht hatte.
»Der Trank hat also wie beabsichtigt gewirkt?«, fragte er und musterte seine Sklavin.
»Das hat er.«
Niklas wandte sich Juna zu. »Sieh mich an, Kind.« Er betrachtete eingehend ihr Gesicht. »Sie sieht noch blasser aus, als ich heute Morgen dachte. Greta, bring mir einen Becher Wein.« Bei den letzten Worten lief die Sklavin neben ihm sofort los und holte das Getränk.
»Trink das! Er wird dir etwas Farbe geben«, befahl er Juna.
Sie trank den Becher in einem Zug leer und verzog angewidert das Gesicht.
In diesem Moment betrat Kunin den Raum. Jonna folgte ihm schweigend und Fescol unterdrückte ein Lächeln, während er den Kopf vor Kunin neigte.
Alle nahmen ihre Plätze ein und jeder erhielt einen Becher Wein. Kunin hob den seinen.
»Meine Freunde, ich freue mich, dass wir jetzt endlich das Ende dieses Unterfangens feiern können. Wir sind im Besitz der Dioma-Blutlinie und werden dadurch für die Midlinner uneinnehmbar! Darauf wollen wir trinken.«
Alle Schattenmagier erhoben ihre Becher.
Sie tranken auf sein Wort und schließlich begann das Essen. Es gab gedämpften Fisch auf einem Bett aus salzigen Algen, gebratenes Rebhuhn mit einer scharfen Soße und verschiedene Gemüse, die im Norden ausreichend wuchsen.
»Ist Weißhavn immer noch das beschissene Drecksloch, das es damals schon war?«, fragte Thorben gerade. Er war einige Sommer vor Fescol auf der Akademie gewesen.