Ära der Dunkelheit - Luna McMullen - E-Book

Ära der Dunkelheit E-Book

Luna McMullen

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Beschreibung

In der friedlichen Stadt Morward werden die Leben von Juna und Aiden erschüttert, als ein verheerender Überfall ihre Welt ins Chaos stürzt. Juna ist gezwungen zu fliehen, doch ihre verzweifelte Flucht wird von einer Tragödie überschattet, als ihre Mutter den Angreifern zum Opfer fällt. Sie selbst und Aidens Schwestern werden von dem sadistischen Schattenmagier Lord Fescol in den Norden verschleppt. Aiden, der die belagerte Hafenstadt tapfer verteidigt, verliert dabei fast sein Leben und seine Familie. Ihre Rettung wird zu seiner einzigen Aufgabe, doch das wahre Motiv hinter dem Angriff bleibt ein Geheimnis, ein finsterer Plan, der sich langsam entfaltet. Juna weiß nicht, dass eine außergewöhnliche Magie in ihr schlummert, eine Macht, die ihr Schicksal neu gestalten und das Land an den Rand des Abgrunds bringen wird.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Epilog
Die Autorin
Danksagung

 

 

WELTENBAUM VERLAG

Vollständige Taschenbuchausgabe

12/2023 1. Auflage

 

Ära der Dunkelheit – Gefangen – Band 1

 

© by Luna McMullen

© by Weltenbaum Verlag

Egerten Straße 42

79400 Kandern

 

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Magicalcover

Lektorat: Julia Schoch-Daub/Feder und Flamme Lektorat

Korrektorat: Daniel Greifer/Giusy Lo Coco

Buchsatz: Giusy Amé

Autorenfoto: Privat

 

 

ISBN 978-3-949640-63-6

 

www.weltenbaumverlag.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

Luna McMullen

 

 

 

 

 

 

ÄRA DER DUNKELHEIT

Gefangen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dark Fantasy

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Content Notes

 

Liebe Leser/rinnen,

 

Das Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Liste von Content Notes.

 

ACHTUNG! Es folgen SPOILER für das gesamte Buch!

 

Diese sind: Vergewaltigung, Physische und psychische Gewalt, Folter, Tod und Gefangenschaft.

 

Die Liste wurde nach bestem Wissen und Gewissen erstellt, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für Rückfragen stehen wir euch jederzeit unter der Mailadresse [email protected] zur Verfügung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für den Mann in Uniform

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Aiden – Eine Nacht wie keine andere

 

Das letzte Licht der Abendsonne färbte die Wolken tiefrot, als Aiden seinen Mantel richtete und das Quartier der Stadtwache verließ. Wie jede Nacht, versprach auch die bevorstehende ruhig zu werden, denn Morward war eine beschauliche Stadt. Hier passierte selten etwas. Zwei Betrunkene, die auf dem Marktplatz laut um die Wette schnarchten, waren schon eine echte Sensation.

Die weiß verputzen Hauswände am Marktplatz leuchteten im Schein der untergehenden Sonne, während die dunklen Giebel und Dachbalken wie düstere Schatten über den Fassaden ruhten. Die meisten Fensterläden waren geschlossen und gelegentlich funkelte das Licht einer Kerze zwischen den Holzverkleidungen hindurch. Einige Möwen kreischten am abendlichen Himmel und der Geruch von Seetang hing in den Gassen. Der Hafen im Osten der Stadt war verlassen, nur eine große Kogge schaukelte sanft auf den Wellen und eine Handvoll Fischerboote wartete auf ihre Besitzer.

Aidens Schritte hallten von der gepflasterten Straße wider, die ansonsten fast menschenleer war. Er trug seine Fackel vor sich, während er in den Gassen des Westviertels nach dem Rechten sah. Sein Weg war nicht weit. Die dicken Stadtmauern und unzähligen Verteidigungsnischen im Vordertor stammten noch aus einer Zeit, in der verfeindete Stämme dieses Land bevölkert hatten. Seit fast zwölf Generationen, nach dem Ende des großen Krieges und der Gründung von Midlinn, war es hier in Morward jedoch zu keinen nennenswerten Gefechten mehr gekommen, und langsam zerbröselte das Bollwerk in seine Einzelteile.

Ein kühler Wind pfiff durch die Gassen und zerzauste Aidens mattbraunes Haar. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und würde bald starken Herbststürmen weichen. Fröstelnd zog der junge Wachmann seinen Umhang fester um die Schultern, als die Kälte unangenehm unter sein Hemd fuhr.

Das Dunkel der Nacht schob sich unaufhaltsam durch die Straßen. Nur noch vereinzelt flackerten Laternen. Am Westtor angekommen, erklomm Aiden mit flinken Schritten die steile Treppe zum Wehrgang.

Fast rannte ihn Yor auf den Stufen um.

»Keine besonderen Vorkommnisse bis jetzt. Aber ich habe gehört, es soll heute noch ein Schiff mit einer Ladung Ale aus Schwarzhafen eintreffen.« Yor grinste gierig und boxte Aiden gegen den Arm. »Vielleicht lass ich dir auch was übrig.« Dann setzte der vorwitzige Wachmann seinen Weg fort und verschwand an der nächsten Hausecke.

Aiden blickte ihm kopfschüttelnd hinterher.

»Aiden! Schön, dich zu sehen.« Owe war neben ihn getreten und lächelte ihn freundlich an.

»Guten Abend, Owe.«

Er ließ den Blick über die Stadtmauer hinaus zu den Feldern wandern. Es war Neumond und nichts als Dunkelheit blickte ihm entgegen.

Die beiden Wachen unterhielten sich leise. Nach einer Weile hatte Aiden genug davon, ins undurchdringliche Dunkel der Nacht zu starren und wandte sich um. Dabei glitt sein Blick über die Häuserzeilen, die sich vor ihm an der Straße entlang aufreihten. Leise quietschte das Schild am Haus des Schusters und eine Fackel malte tanzende Schatten an eine Fassade. Zwei Frauen liefen schwatzend durch eine Gasse, die Aiden nicht einsehen konnte, doch ihr Lachen hallte laut durch die sonst so stille Nacht und verstummte erst, als beide den Geräuschen nach in einem Haus verschwunden waren.

Langsam sog er die kühle Nachtluft ein und sah zu den Sternen empor. Er kannte viele der Sternbilder und Geschichten, die sein Vater ihm früher erzählt hatte. Doch seit dieser vor sechs Sommern krank geworden war, sprach er nur noch selten.

Plötzlich erhellte der glühend rote Schein eines Feuerballs die Dunkelheit und riss Aiden aus seinen Gedanken. Für einen kurzen Augenblick starrten er und Owe ungläubig zum Hafen hinüber. Die Hausdächer reflektierten das zerstörerische Flackern und die Hitze drang, bis zu ihren Gesichtern. Leise Schreie waren zu hören.

»Heiliger Tenet!« Owe sah besorgt über die Hausdächer.

»Wohl eher sein feuriger Atem«, wisperte Aiden. Er suchte nach weiteren Worten, da brüllte der Torwächter bereits seine Befehle.

Owe stand direkt neben der Alarmglocke, die schon lange nicht mehr im Einsatz gewesen war. Zuletzt bei einem Brand am Bäckereck, im vorletzten Sommer. Aiden hastete die wenigen Schritte bis zum Seil. Gemeinsam zogen sie mit aller Kraft daran. Nichts. Der Strick bewegte sich keinen Fingerbreit. Weitere Wachen kamen dazu, doch auch unter der Zugkraft von vier Männern gab das Seil nur ein leises Knirschen von sich und riss schließlich. Unsanft landeten die Wächter aufeinander. Aiden durchfuhr ein heftiger Schmerz, als sein Knie gegen die steinerne Mauer schlug. Mit einem Stöhnen zog er sich wieder hoch. Der Wachhabende rief weitere Befehle und die versammelten Soldaten stürmten die steile Treppe auf die Gasse hinunter.

Sie eilten durch die Straßen, während weitere Wachen ihren Weg kreuzten und sich dem Trupp anschlossen. Einige Bewohner des Westviertels rannten im verzweifelten Versuch, dem Feuer zu entkommen, panisch aus ihren Häusern. Der Hafen war nicht mehr weit.

Hinter der nächsten Ecke verstopften betrunkene und völlig desorientierte Besucher einer Taverne die enge Straße, weil alle gleichzeitig nach draußen drängten und in ihrem angeheiterten Zustand keiner wusste, wohin er gehen sollte. Laut brüllend bahnte sich der breite Owe, dicht gefolgt von Aiden, einen Weg durch die Menge und schließlich rannten die beiden Männer weiter. Kurz bevor die Gruppe Soldaten auf dem Platz vor dem Hafen ankam, wurde die Nacht von einer gewaltigen Explosion erschüttert. Aiden und die anderen duckten sich, während Steine und Staub auf sie herabregneten.

Der Knall hinterließ ein unangenehmes Klingeln in Aidens Ohren und herumwirbelnde Asche füllte seine Lunge. Von einem Hustenanfall geschüttelt, taumelte er gegen eine Hauswand. Die Straße unter seinen Füßen schwankte gefährlich. Hilfesuchend sah er sich nach Owe und den anderen um, aber Blut aus einer Stirnwunde trübte seinen Blick. Schemenhaft erkannte er zwei Gestalten am Boden, die sich stöhnend vom Schutt befreiten.

Nur wenige Schritte vor ihnen war ein Haus explodiert und brannte nun wie eine riesige Fackel. Wären sie nicht von den Menschen aus der Taverne aufgehalten worden, hätte die Detonation sie vermutlich direkt getötet.

Nun war die ganze Stadt auf den Beinen und Panik erfüllte die Nacht. Menschen rannten blindlings auf die Straßen. Die meisten von ihnen trugen kaum mehr als ein Nachtgewand am Leib. Aiden und die anderen hatten Schwierigkeiten, sich ihren Weg durch die Fliehenden zu bahnen, da diese in die entgegengesetzte Richtung unterwegs waren.

Weitere Explosionen donnerten durch die Gassen und immer wieder erhellte ein grellroter Schein die Nacht. Aiden strauchelte, als er mit einem dickbäuchigen Mann zusammenstieß. Kaum hatte er sein Gleichgewicht zurück, sah er zwei Gestalten auf sich zukommen. Sie wirkten fehl am Platz. Ihre Bewegungen waren ruhig und konzentriert, während die Menschen um sie herum hektisch flohen. Was Aiden dann erblickte, als die beiden ins Licht traten, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Schattenmagier!

Ihre schwarzen Roben waren unverkennbar. Das Wappen des Nordens, ein Bär auf einer Brücke, prangte auf ihrer Brust und beide hoben gerade ihre Hände.

Owe, der eben noch neben Aiden gestanden hatte, wurde von einer unsichtbaren Kraft zur Seite geworfen und krachte etliche Schritte entfernt in einen Stapel Kisten. Aiden drehte sich gerade noch rechtzeitig weg. Der Feuerstoß verfehlte ihn nur knapp und einige Herzschläge später stieg ihm der unangenehme Geruch von verbranntem Fleisch in die Nase.

 

 

Kapitel 2

 

Juna – Wir müssen weg

 

Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte das kleine Haus im Südviertel. Juna war sofort hellwach und auch ihre Mutter riss erschrocken die Augen auf. Schreie und ein gleißend roter Lichtschein drangen durch die Fensterläden in ihre kleine Kammer. Geschockt tauschten die beiden einen Blick, während der Lärm von draußen immer lauter wurde. Juna sprang aus dem Bett und öffnete die Holzverkleidung, da hämmerte es bereits energisch an die Haustür.

»Juna! Juna, schnell!« Es war Sveas angsterfüllte Stimme. Sofort eilte Juna nach unten und öffnete die Tür, um ihre Freundin einzulassen, doch die wehrte energisch ab.

»Nein, wir müssen fort. Schnell!« Evin, Sveas Bruder, atmete schwer. Schweiß glänzte auf seiner Stirn.

»Aber was ist denn los? Und wo sollen wir hin?«

Irritiert sprang Junas Blick zwischen ihrer Freundin, Evin und den panisch fliehenden Menschen hin und her.

»Raus aus der Stadt! Feuer sind unberechenbar«, rief Svea hektisch und sah über ihre Schulter.

Von hinten wurde Juna ein Umhang über die Schultern gelegt. Ihre Mutter drängte sie hinaus und die vier reihten sich in die hektische Menschenmasse ein. Panische Schreie und Hilferufe mischten sich mit dem Geruch von brennendem Holz. Noch nie, seit ihrer Geburt vor achtzehn Sommern, hatte Juna etwas Derartiges erlebt. Ihr Herz schlug heftig in ihrer Brust und ihre Hände zitterten.

Vom Haus war es nicht weit bis zum südlichen Stadttor, doch der Weg führte durch einige Gassen und eine schmale Treppe hinauf. Es würde mit all den anderen Menschen nicht leicht werden dorthin zu gelangen. Immer wieder versuchte Juna über ihre Schulter zu sehen, um die Ursache für all das Chaos zu finden. Dröhnend jagte eine Erschütterung die nächste, während Flammen den nächtlichen Himmel erhellten.

Eine nahe Explosion ließ den Boden unter ihren Füßen beben und ein Feuerball erhob sich direkt über ihre Köpfe. Die Hitze brannte auf ihrer Haut. Zwischen zwei Häusern erhaschte die junge Frau einen Blick auf den Ort, der vor kurzem noch der Marktplatz gewesen war. Sie erkannte eine menschliche Gestalt, doch gezogen von ihrer Mutter, blieb nicht genug Zeit, sie näher zu betrachten.

Juna keuchte, als ihr nackter Fuß gegen eine Stufe stieß und sie beinahe fiel. Humpelnd eilte sie weiter hinter den anderen her. Sie waren inzwischen fast am Stadttor angelangt, als plötzlich scharfe Rufe ertönten und die Menschen vor ihnen kehrtmachten, um in die entgegengesetzte Richtung zu flüchten. Svea wurde brutal zur Seite gedrängt und stieß dabei heftig gegen eine Frau, die zu Boden fiel und augenblicklich unter dutzenden Füßen begraben wurde. Bevor ihnen ein ähnliches Schicksal drohte, drängte Junas Mutter die beiden Mädchen in ein offenstehendes Gebäude, dicht gefolgt von Evin.

Das Innere des Hauses strahlte eine seltsame Ruhe aus, als ob ihm die angsterfüllten Menschen auf der Straße nichts anhaben könnten. Junas Blick glitt durch den Raum. Tisch und Stühle standen ordentlich an der Wand, Töpfe warteten neben dem Ofen auf ihre Benutzung und duftende Kräuter hingen zum Trocknen an der Decke.

»Das darf nicht wahr sein!« Die Stimme ihrer Mutter war vor Angst verzerrt.

»Was ist, Mutter?« Juna wirbelte herum. Nessa stand am Fenster und spähte vorsichtig nach draußen.

»Schattenmagier sind in der Stadt!« Die Angst wurde von blanker Panik verdrängt, und Juna sah, wie ihre Mutter gegen die Tränen ankämpfte.

»Was hat das zu bedeuten? Was wollen die Schattenmagier hier?«, rief sie aufgelöst. Ihre Mutter war sonst nie ängstlich, umso verstörender war ihre Reaktion auf die Eindringlinge. Doch bevor sie eine Antwort erhielt, ließ Evins Stimme alle drei zusammenzucken.

»Helft mir mal hier drüben!« Er zerrte an einem Holzbrett in der Wand. Schnell waren sie bei ihm und mit vereinten Kräften rissen sie die Leiste schließlich heraus. Ein schmaler Spalt tat sich auf und führte in die Gasse hinter dem Haus.

»Woher wusstest du das?« Svea blickte ihren Bruder mit aufgerissenen Augen an.

»Hier wohnt die Großmutter von Aik. Ich habe ihm letzten Sommer bei der Reparatur geholfen.« Evin grinste verschmitzt. Dann half er Juna sich als Erste hindurchzuzwängen.

Die vielen Feuer warfen ein gespenstisches Licht auf die Häuser und doch verbarg der Schatten in den Gassen den Schrecken der Menschen. Svea schob sich direkt nach ihrer Freundin durch die Öffnung.

»Was geht hier nur vor sich?« Voller Sorge sah Juna zu den Feuern hinüber, während ihre Mutter gerade neben ihr auf die Beine kam.

»Juna, wir müssen auf dem schnellsten Weg die Stadt verlassen und Schutz suchen.« Mit diesen Worten setzten sie gemeinsam die Flucht fort.

Ein weiterer Schlag ließ den Boden erzittern. Scharfkantige Geschosse und Staub erfüllten die Luft. Svea heulte schmerzvoll auf, als ein Stein sie an der Stirn traf. Juna duckte sich gerade noch rechtzeitig und hustete heftig, weil Staub in ihre Lunge drang. Benommen taumelte sie zurück. Binnen eines Herzschlags wurde ein Haus, nur wenige Schritte entfernt, durch die Explosion in einen Trümmerhaufen verwandelt.

Entschlossen rappelte sich Junas Mutter auf, fasste ihre Tochter an der Hand und rannte zu dem eingestürzten Haus hinüber. Nessa war bereits zwischen den Trümmern verschwunden und Evin folgte den drei Frauen, als er plötzlich von den Füßen gerissen wurde und mit einem hässlichen Knacken gegen eine Hauswand krachte. Sein Körper fiel zu Boden und blieb reglos liegen.

Svea schrie und auch Juna konnte ihren Schrecken kaum unterdrücken.

»Wen haben wir denn hier?« Eine raue Stimme ließ die beiden Mädchen herumwirbeln.

Juna erkannte einen bleichgesichtigen Mann in einer schwarzen Robe. Seine eisigen Augen blitzten zwischen dem zerzausten blonden Haar hindurch und musterten sie voller Gier. Langsam wichen die Freundinnen vor ihm zurück. Der Kerl folgte ihnen, bis ihn das Spiel schließlich langweilte und er seine Hand hob.

Die beiden prallte mit dem Rücken gegen eine unsichtbare Wand.

»Seid zwei brave Mädchen und kommt mit mir, sonst kann ich sehr ungemüt...« Mitten im Satz brach der Mann plötzlich ab. Dann sackte er bewusstlos in sich zusammen. Schwer atmend kam Junas Mutter hinter ihm zum Vorschein. Einen großen Stein in der Hand. Blut klebte daran, und Juna erkannte eine tiefe Platzwunde am Hinterkopf des Magiers.

»Uns bekommst du nicht!« Hasserfüllt blickte Nessa auf die leblose Gestalt zu ihren Füßen.

Svea löste sich aus der Schockstarre und rannte zu ihrem Bruder.

»Evin! Evin!«, schrie sie und rüttelte energisch an seiner Schulter. Mit Entsetzen betrachtete Juna den Verletzten. Er blutete und eine große Lache hatte sich bereits um ihn herum gebildet. Quälende Beklemmung machte sich in der jungen Frau breit und sie horchte konzentriert an seiner Brust. Sein Herz schlug kaum noch.

»Er lebt!« Junas Stimme zitterte. Sie war nicht sicher, wie lange er angesichts seiner schweren Verletzungen noch durchhalten würde.

Der junge Mann gab ein leichtes Krächzen von sich. Seine Augäpfel verdrehten sich nach hinten und zischend holte er Luft. Eine weitere Explosion fegte über die Stadt hinweg.

»Wach auf, wir müssen hier weg!« Svea zerrte noch immer am Hemd ihres Bruders. Seine Augen flackerten und blickten für einen kurzen Moment Richtung Himmel.

»Geht!« Seine Stimme war so schwach, dass die Mädchen ihn kaum hören konnten.

»Rett...« Er rang nach Luft. »Rettet eu...« Heftiger Husten unterbrach ihn. Blut quoll aus Mund und Nase und sein letzter Blick galt Svea. Dann wich das Leben aus ihm und der Glanz in seinen Augen erlosch.

Schluchzend vergrub Svea ihr Gesicht in der Brust ihres Bruders und auch Juna konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Ihre Mutter war hinter sie getreten und half den weinenden Mädchen wieder auf die Füße.

»Juna! Svea! Wir müssen sofort weg. Die Schattenmagier dürfen uns nicht finden«, erklärte sie eindringlich.

Juna zog die wimmernde Svea hinter sich her, während Nessa sich einen Weg durch das zertrümmerte Haus in Richtung Stadtmauer bahnte. Die Explosion hatte einen kleinen Teil der Mauer zerstört, genug, um daran hinaufzuklettern. Schnell erreichten die drei den Wehrgang, in dem normalerweise Wachen unterwegs waren, doch jetzt war niemand zu sehen. Erschrocken blickte Juna auf die Stadt hinab. Flammen leckten inzwischen an fast allen Häusern, dicker Rauch stieg in den Himmel und verdeckte die Sterne. Noch immer rannten Menschen ziellos durch die Straßen und suchten nach einem Ausweg. Blut, Feuer und Tod erfüllten die Nacht.

Unvermittelt packte Nessa ihre Tochter an den Schultern und sah sie eindringlich an. Das Licht der Flammen ließ ihre Augen glühen und jagte dem Mädchen Angst ein.

»Juna, mein Kind«, begann sie mit ernster Stimme, »was immer auch passiert, lass nicht zu, dass die Schattenmagier dich finden! Hast du verstanden?«

Juna war verwirrt. Natürlich wollte sie sich nicht von diesen schrecklichen Menschen fangen lassen. Auf den Straßen wurden immer wieder schauderhafte Geschichten über die Magier im Norden erzählt. Grausame Schilderungen, die meist kein gutes Ende nahmen. Aber warum bestand ihre Mutter so sehr darauf?

Der Griff um ihre Schultern verstärkte sich.

»Hast du verstanden, Juna?«

Langsam nickte sie.

»Ja, Mutter. Aber warum sagst du das? Warum sollten sie mich fangen wollen?« Panik und Sorge wanden sich eng um Junas Brust und schnürten ihr beinahe die Luft ab.

»Diese Magier sind nicht ohne Grund hier. Sie wollen ...«

Eine Schockwelle erfasste sie und schleuderte alle drei über die Außenseite der Mauer. Dumpf erklang Sveas Schrei. Ein dröhnendes Klingeln erfüllte Junas Kopf und die Schwärze der Nacht umfing sie.

 

Kapitel 3

 

Aiden – Einer weniger

 

Ein geschicktes Ausweichmanöver hatte ihn vor dem Schlimmsten bewahrt. Die Hitze des Feuerstrahls brannte noch auf seiner Haut, auch wenn er den direkten Flammen entkommen war. Rig hatte nicht so viel Glück gehabt und schrie vor Schmerzen. Sein ganzer Oberkörper stand in Flammen und er schlug wild um sich. Schließlich brach der Wachmann zusammen und seine Schreie verstummten. Aiden starrte auf Rigs leblosen Körper, dessen Gesicht schwarz verbrannt und kaum noch als solches zu erkennen war.

Er hatte schon viel gesehen, doch der grausame Anblick und der Geruch nach verkohltem Fleisch drehten ihm fast den Magen um. Nur Momente später verlor er den Kampf gegen die aufkeimende Übelkeit.

Ein weiterer Feuerstoß holte ihn in die Realität zurück. Mit pochendem Herzen sah er an sich hinab und auf das Schwert in seiner Hand. Damit würde er nur wenig gegen die Magier ausrichten können. Aidens Blick blieb an Rigs Bogen hängen, der neben dessen Leiche lag. Aber die Pfeile im Köcher waren allesamt verbrannt worden. Hastig ergriff er die Waffe. Zumindest diese konnte er noch verwenden. Wenn die Götter mit ihm waren, fanden sich an einem anderen Ort noch ein paar brauchbare Pfeile, dann hatte er vielleicht eine kleine Chance, die Nacht zu überleben.

Owe erschien neben ihm. Sein Ärmel war zerrissen und Blut rann seinen Arm hinab, doch ein Grinsen in seinem Gesicht verriet, dass es keine ernsthafte Wunde war.

»Wie sollen wir diese Scheißkerle aufhalten?« Aiden sah vorsichtig zurück in die Straße. Die beiden Magier rückten langsam näher. Sein Freund half ihm auf die Beine und die beiden folgten der Gasse bis zur nächsten Biegung. Dort entdeckten sie zwei weitere Wachen. Einer von ihnen hielt sich den Kopf und blutete stark. Als der andere sich umdrehte, erkannten sie Yor. Mit ernstem Gesicht nickte er den beiden zu.

»Alles klar?«, fragte ihr Kamerad. »Wohin haben sich eigentlich unsere scheiß Magier verpisst?«

Die Frage war nicht ganz unberechtigt. Der Hauptmann hatte vor einer Weile behauptet, dass etwa ein Dutzend Magier in der Stadt leben würden. Nicht gerade viele, und die meisten von ihnen gingen ganz normalen Berufen nach. Hatte sich vielleicht auch einer von ihnen in die Stadtwache verirrt? Aiden kannte keine Namen. Magier zu sein machte in Midlinn nur dann einen Unterschied, wenn man besonders stark oder besonders reich war. Obendrein konnten sich nur noch wenige die Ausbildung in der Akademie leisten, und der mehrere sommerlange Dienst in den königlichen Truppen, als Ersatz für die Zahlungen, war auch nicht gerade verlockend.

Die Wache neben Yor fiel nach vorn über und rührte sich nicht mehr. Mit schmerzvollem Blick sah Yor auf den Toten herab. »Schade, ich konnte ihn gut leiden«, flüsterte er.

»Möge Awyn seiner Seele gnädig sein«, murmelte Owe und berührte seine Brust.

»Ich hoffe, die Göttin des Windes wird mit uns gnädig sein», fügte Aiden hinzu und wandte sich dann zu Yor. »Keine Ahnung, wo sich unsere Magier herumdrücken. Aber wir können nicht warten, bis uns jemand rettet.«

Der junge Soldat versuchte, klar zu denken. Sie mussten etwas tun! Magier waren genauso sterblich wie alle anderen auch, doch dank ihrer Magie konnten sie sich gegen herkömmliche Angriffe in der Regel mühelos verteidigen. Es war schwierig, einen Magier gewaltsam zu töten, doch nicht unmöglich. Ihre einzige Chance bestand darin, den Magier dazu zu bringen, seinen Schild zu senken.

Eine Explosion in der nächsten Querstraße ließ die drei Männer zusammenzucken.

»Ich habe vielleicht eine Idee! Kommt!« Owe führte Yor und Aiden noch ein Stück weiter die Gasse entlang. »Passt auf! Ich stelle mir folgendes vor ...«

 

Kurze Zeit später hatten sich die drei Wachen aufgeteilt. Aiden hatte unterwegs zwei Pfeile aufgesammelt, die ein toter Bogenschütze noch bei sich getragen hatte, und stand nun am offenen Fenster eines Hauses. Durch die Gasse vor ihm hatte er freie Sicht auf einen kleinen Ausschnitt des Hauptweges. Owe hielt sich in einem finsteren Kellereingang versteckt und wartete. Yor war nicht zu sehen, doch dann konnte er über den Lärm der Kämpfe hinweg deutlich seine Stimme hören.

»Hey, Arschling, hier bin ich, komm doch ...« Ein Feuerstoß unterbrach ihn abrupt und Yor hechtete um die Hausecke in Aidens Sichtfeld. Er rollte sich ab und rannte um die nächste Ecke davon. Seine Aufgabe bestand darin, den Magier weg vom Trubel und in die Gasse zu locken. Yor war noch nicht ganz verschwunden, als auch schon ein junger Mann in einer schwarzen Robe die Gasse betrat. Er war kaum älter als Aiden und fixierte die Richtung, in die Yor floh. Dabei bemerkte der Eindringling nicht, wie Owe ihm im Kellereingang auflauerte. Aiden spannte den Bogen und schoss, nachdem der Magier Owes Versteck passiert hatte. Wie erwartet, prallte der Pfeil an dessen Schutzschild ab. Wütend blickte sich der schwarzgekleidete Mann nach dem Schützen um, und für die Dauer von zwei Herzschlägen trafen sich ihre Blicke. Aiden sprang in den nächsten Raum des Hauses, als die Luft zu flirren begann. Steine und Staub verfingen sich in seinen Haaren, als die Fassade mit einem ohrenbetäubenden Krachen vernichtet wurde. Ein beträchtliches Loch klaffte in der Hauswand. Während der Magier seinen Angriff gegen Aiden fortsetzte, war es an Owe, das Manöver zu Ende zu bringen.

Als Aiden kurz darauf vorsichtig durch das zerstörte Fenster blickte, ragte das Schwert bereits aus der Brust des Schattenmagiers. Ein Gurgeln entwich seiner Kehle, bevor er schlaff zusammensank. Owe zog das Schwert mit einem Ruck zurück, als ein Kampfschrei ihn herumfahren ließ. Zwei Soldaten rannten mit gezogenen Waffen auf ihn zu. Sein Freund wich dem ersten Angreifer aus, und sogleich war das Klirren von Stahl zu hören, als der zweite sich auf ihn stürzte. Aus der Ferne erkannte Aiden das Wappen des Nordens auf dem Schuppenhemd des einen Soldaten. Es folgte ein schneller Schlagabtausch zwischen den Kämpfenden, der darin endete, dass Owe den Mann entwaffnete und ihm das eigene Schwert tief in den Hals rammte.

Ein Grinsen zog sich über Aidens Lippen, während der Mann zu Boden sank. Der Soldat hatte sich mit dem Falschen angelegt, denn sein Freund war ein ausgezeichneter Schwertkämpfer. Yor näherte sich flink dem Kampf und noch bevor der zweite Kerl Owe attackieren konnte, rammte sein Kamerad dem Angreifer das Schwert so kraftvoll von hinten in den Leib, dass es zum offenen Mund wieder heraustrat. Owe wirbelte herum und hielt jäh inne, als er in das vertraute Gesicht blickte.

»Danke.«

»Es war mir eine Freude«, hörte Aiden ihn antworten. Yor wischte sich den Schweiß von der Stirn und spuckte auf die Leiche. »Dreckskerl! Aber immerhin ein Schattenmagier und zwei Handlanger weniger.«

Aiden wusste nicht, wie viele Magier sich noch in der Stadt befanden, aber das hier war zumindest ein Anfang.

 

Keuchend kamen Owe und Yor am vereinbarten Treffpunkt an. Sie hatten weiteren Kämpfen ausweichen müssen, aber der Innenhof der Schmiede bot für den Augenblick etwas Schutz.

»Hat ja wunderbar funktioniert«, rief Yor triumphierend und seine Augen leuchteten vor Erregung. »Wir sollten das noch einmal versuchen, und ich weiß auch schon wo.«

Er beschrieb den beiden seinen Plan und sie waren einverstanden. Nachdenklich strich Aiden über die Befiederung seines letzten Pfeils.

Die Straßenkreuzung, die Yor vorgeschlagen hatte, eignete sich gut für das Manöver. Sie lag etwas abseits der Hauptstraße und konnte von einem hohen Fachwerkhaus aus sehr gut eingesehen werden. Aiden verschaffte sich dort Zugang zum obersten Stockwerk und bezog erneut Posten an einem Fenster. Yor wartete direkt in seiner Schussrichtung hinter einigen Fässern, denn dieses mal wollte Owe den Magier anlocken.

Während er wartete, flackerten die Gesichter seiner Liebsten vor Aidens innerem Auge auf. Seine Eltern und die beiden Schwestern hatten mit Sicherheit auch geschlafen, als der Angriff begonnen hatte. Ob es ihnen gut ging? Aiden schluckte schwer und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gasse. Wenn er jetzt starb, würde er nie erfahren, was mit seiner Familie passiert war. Er musste sich noch ein kleinwenig gedulden.

Plötzlich kam Owe angerannt. Panik und Anstrengung verzerrten sein Gesicht. Geistesgegenwärtig spannte Aiden den Bogen. Gerade noch rechtzeitig brachte sich Owe hinter einer Abzweigung in Sicherheit, als ein großgewachsener Magier mit schnellen Schritten um die Ecke eilte. Er blickte zielstrebig in Owes Richtung, obwohl er ihn unmöglich sehen konnte. Aiden runzelte die Stirn. Dann blieb der schwarzgekleidete Mann plötzlich stehen und sah zu ihm hinauf. Ein Schauer fuhr durch Aidens Körper, als er den Blick der dunklen Augen auf sich spürte. Die Narbe auf der Wange des Mannes verbog sich unter einem Grinsen. Aidens Finger entließen den Pfeil in die Nacht. Dieser prallte vom Schild des Magiers ab und noch ehe er Zeit hatte in Deckung zu gehen, hob der Magier die andere Hand. Augenblicklich flog Aiden quer durch den Raum und das Dach des Hauses begrub ihn mit einem lauten Krachen unter sich.

 

Kapitel 4

 

Juna – Gefangen!

 

Als sie erwachte, kroch bereits die Dämmerung über den Himmel. Sie lag auf dem Rücken in einem Heidestrauch. Schmerzen beherrschten ihren Kopf und an ihrer Schläfe klebte getrocknetes Blut. Vorsichtig versuchte sie, sich aufzurichten, doch plötzlicher Schwindel ließ sie innehalten. Sie schloss erneut die Augen, bis sie es nach einer Weile schließlich schaffte, sich auf die Arme zu stützen. Verzweifelt blickte sie sich um. Wo waren Svea und ihre Mutter?

Noch immer brannten Feuer in der Stadt und tauchten die Landschaft in ein gespenstisches Licht. Juna atmete tief durch und befreite sich langsam aus dem Strauch. Jede Bewegung schmerzte und in ihrem verdrehten Knöchel pochte es unangenehm. Unablässig suchte sie die Umgebung nach einem Lebenszeichen von den beiden anderen ab.

Dann entdeckte sie etwas. Einige Schritte von ihr entfernt ragte ein Bein aus einem Gebüsch. Sofort schossen ihr Tränen in die Augen und ihr Herz schlug so heftig, als wollte es aus ihrer Brust springen. Am ganzen Körper zitternd kroch sie zu dem Busch. Ihr Nachthemd blieb an einigen Dornen hängen und zerriss. Sie war noch nicht ganz angekommen, als sie ein leises Stöhnen vernahm und das Bein anfing, sich zu bewegen. Eine Welle der Erleichterung durchströmte Junas Körper und für einen kurzen Augenblick vergaß sie die eigenen schmerzenden Wunden.

»Svea!«, krächzte sie heiser.

»Ahhh ...«, erklang es aus dem Strauch, »... mein Kopf.«

Der Moment der Erleichterung wich erneuter Sorge. Junas Augen suchten im dämmrigen Licht weiter nach einem Hinweis auf ihre Mutter. Sie hatten gemeinsam auf der Mauer gestanden, weit konnte sie also nicht sein. Und tatsächlich, hinter einem Haselstrauch erkannte sie eine vertraute rotblonde Haarsträhne.

»Mutter!«, rief Juna halblaut und schleppte sich mühsam zu ihr. »Mutter?«

Als Juna das Gesicht ihrer Mutter erblickte, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Nessas Augen blickten leblos in den rosafarbenen Himmel. Blut hatte sich unter ihrem Kopf gesammelt und floss in dünnen Rinnsalen aus Mund und Nase. Einige Herzschläge lang stand die Welt still. Kein Laut war zu hören, außer Junas eigenem unregelmäßigem Atem. Dann brachen Schmerz und Verzweiflung aus dem Mädchen heraus. Ihre Hände erfassten verkrampft den Umhang ihrer Mutter, sie rüttelte an ihrem Arm, doch nichts geschah. Es konnte nicht wahr sein! Ihre Mutter war immer bei ihr gewesen. Nichts konnte sie je trennen. Gemeinsam hatten sie immer eine Lösung für die Probleme des Lebens gefunden. Juna vergrub ihr Gesicht im Nachtgewand der Mutter und weinte. Svea hatte sich inzwischen aus dem Busch befreit und kniete neben ihrer Freundin, unfähig zu sprechen. Dann fielen sich die beiden Freundinnen in die Arme. Von Trauer übermannt, gab es kein Halten mehr für ihre Tränen. Tränen um Junas Mutter. Tränen um Sveas Bruder. Tränen des Schmerzes, der ihre Herzen erfasste. Nur die Gegenwart der jeweils anderen gab ihnen in diesem Moment Halt.

Als die Tränen schließlich versiegt waren, saßen die beiden Mädchen stumm auf der kalten Erde. Ihr Leben, wie sie es kannten, existierte von einem Moment auf den anderen nicht mehr. Nichts als Kummer und Leere füllten Junas Innerstes. Ihre Mutter war ihre ganze Welt gewesen. Sie war ihre Wegbegleiterin, Freundin, Lehrerin, Vertraute, Kritikerin und Beschützerin gewesen. Ohne ihre Mutter war sie vollkommen allein. Einen Vater hatte sie nie gehabt, geschweige denn gekannt. Sie sah zu Svea, die mit wässrigen Augen zurück zur Stadt blickte. Auch sie hatte ihre einzige Familie verloren. Ihr Bruder Evin kümmerte sich um sie, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Er beschützte sie vor den Launen und Schlägen des Vaters und sorgte nach dessen Tod für sie.

Nun war alles, was ihnen blieb, zusammenzuhalten. Zitternd fasste Juna Sveas Hand.

Wieso nur mussten die Magier die Stadt angreifen und grundlos unschuldige Menschen töten? Was versprachen sie sich davon? Hatte ihre Mutter gewusst, warum die Magier hier waren?

Für Juna fühlte es sich an wie eine Ewigkeit, doch die Sonne hatte es noch nicht über den Horizont geschafft, als plötzlich Stimmen und Rufe zu hören waren. Die beiden duckten sich unter den Strauch und blickten ängstlich durch die Zweige. Eine kleine Gruppe Menschen lief eilig in Richtung des Waldes an den Mädchen vorüber. Offenbar waren es Bewohner der Stadt. Sie waren blutüberströmt, einige humpelten oder drückten blutige Tücher auf Wunden. Keiner kam ihr bekannt vor. Juna sah ihre Freundin fragend an, aber diese schüttelte nur den Kopf. Nach kurzer Zeit war die kleine Gruppe im finsteren Dickicht des Blauwaldes verschwunden.

Abermals füllten Tränen Junas Augen, als sie sich ein letztes Mal zu ihrer toten Mutter herumdrehte.

»Juna, wir müssen fort von hier. Es ist hier nicht sicher«, flüsterte ihre Freundin. Svea hatte recht, doch wie sollte sie es übers Herz bringen, ihre Mutter einfach hier liegenzulassen? Sanft streichelte Juna über Nessas Wange. Die kühle Haut unter ihren Fingern fühlte sich so falsch an.

Lass nicht zu, dass die Schattenmagier dich finden! Das waren ihre letzten Worte gewesen und Juna hatte vor, sich daranzuhalten.

»Wohin sollen wir? Auch in den Blauwald?« Die Stimme ihrer Freundin holte Juna aus ihren Gedanken. Zurück zu ihrem Verlust. Zurück in die Angst vor dem Unbekannten.

Sie zog den Mantel enger um sich und kam zitternd auf die Beine. »Wir sollten uns irgendwo verstecken. Gibt es nicht einige Höhlen in den Bergen?« Juna deutete in Richtung der Berge, die sich weit hinter dem Wald versteckten. Sie hatte Morward noch nie verlassen. Es hatte keinen Grund gegeben und nun musste sie blindlings fliehen. Furcht kroch ihren Rücken hoch und umklammerte ihre Eingeweide mit einem eisigen Griff. Doch eine bessere Option als Flucht gab es nicht. Ihre Mutter hätte es so gewollt.

»Also los!«

Mit letzter Kraft rannten die beiden Mädchen über die Felder. Juna spürte einen heftigen Stich in ihrem Herzen, als sie die Leiche ihrer Mutter zurücklassen musste. Erst nachdem sie den Waldrand erreicht hatten, blieben sie keuchend stehen und blickten sich um. Vereinzelt waren Bewegungen zwischen den dunklen Bäumen zu erkennen.

Hufgetrappel drang leise an ihre Ohren und wurde stetig lauter. Svea zog Juna hinter einen Strauch. Beide blickten ängstlich durch das Geäst zurück zu den Feldern. Die Hufschläge wurden lauter und die ersten Reiter waren zu erkennen. Sie kamen aus Richtung des südlichen Stadttors und hielten zielstrebig auf den Wald zu.

»Verdammt!«, flüsterte Juna.

Die schwarzen Roben waren selbst aus der Ferne deutlich zu sehen. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie sich sicher war, Svea könne es hören. Die beiden Magier steuerten geradewegs auf ihre Position zu. Die Soldaten hinter ihnen, gehüllt in Rüstungen und mit Schwertern oder Äxten bewaffnet, hielten gebührenden Abstand.

Kurz vor den ersten Bäumen wurde die Gruppe langsamer und suchte den Waldrand ab. Inzwischen waren sie den Mädchen so nahe, dass ihre Gesichtszüge deutlich erkennbar waren. Im Zwielicht des anbrechenden Tages glänzte Schweiß auf den Gesichtern und Staub lag auf ihren Roben, doch ihr Blick war wachsam. Der größere von beiden hatte dunkles, leicht zerzaustes Haar und unter seinem Auge war eine Narbe zu sehen, die sich über die Wange bis zum Mund zog und in einem kurz geschnittenen Bart verschwand. Der andere trug sein langes, rötliches Haar im Nacken zusammengebunden. Eine Strähne hatte sich gelöst und wehte sanft im Takt des Pferdes auf und ab. Seine Augen leuchteten hell und eisig.

Die ersten Sonnenstrahlen zogen über die Landschaft und fluteten die Schatten zwischen den Bäumen.

Der Mann mit der Narbe wandte sich den Soldaten zu. »Durchkämmt den Wald! Fangt so viele wie möglich lebend!« Bei diesen Worten wanderte sein Blick langsam über die Baumstämme hinweg und blieb an der Stelle hängen, wo sich die beiden Mädchen zitternd verbargen. Juna wurde erst heiß und dann eiskalt. Unfähig, sich zu bewegen, verharrten die Freundinnen. Blut rauschte in Junas Ohren, während ihr der harzige Geruch der Bäume in die Nase stieg.

Stimmen und das Knacken von Ästen hallten durch den Wald. Eine Krähe erhob sich schimpfend aus ihrem Nest. Sofort lenkten die Soldaten ihre Pferde in Richtung des Lärms und preschten los. Der rothaarige Magier folgte dichtauf. Das Narbengesicht hatte es zunächst nicht eilig, wandte sich dann aber von ihrem Versteck ab und führte sein Pferd nach rechts davon.

Kurz darauf waren Schreie zu hören. Das Klirren von Stahl und unverständliche Befehle drangen durch den Wald. Juna und Svea sahen sich furchterfüllt an. Ein kurzes Nicken genügte und beide machten sich so schnell wie möglich auf, um dem Kampfgeschehen zu entkommen.

Sie schlichen nahe am Waldrand durch die Sträucher, denn im Inneren des Waldes bot der spärliche Bewuchs keinen Schutz mehr. Junas Knöchel schmerzte noch immer bei jedem Schritt, doch alles woran sie denken konnte, war Flucht.

Sie hatten sich bereits ein Stück vom Kampf entfernt, als vor ihnen plötzlich ein Baumstamm explodierte. Holzstücke rasten durch die Luft. Juna schrie und duckte sich so tief wie möglich. Svea war nur wenige Schritte vor ihr gewesen und wurde ohne Vorwarnung zur Seite geschleudert. Mit einem Stöhnen landete ihre Freundin am Boden, während der Stamm krachend umstürzte.

Mit einem kräftigen Ruck wurde Juna brutal an den Haaren gepackte und nach oben gerissen. Ein schmerzhaftes Keuchen entfuhr ihr und unbändiges Zittern erfasste ihren Körper.

»Sieh mal einer an!«, raunte eine düstere Stimme. »Ich wusste doch, dass sich jemand zwischen den Sträuchern versteckt hat.« Der Mann stand hinter ihr und sie spürte seinen Atem an ihrem Hals. Der Geruch von Rauch und Schweiß umgab den Unbekannten. Mit jedem panischen Atemzug verfestigte sich der Knoten in ihrem Magen weiter. Alle Versuche, sich zu befreien, wurden von seinen starken Händen zunichtegemacht.

»Zwei kleine Vögelchen wollten also davonfliegen.« Er klang belustigt und verstärkte seinen Griff um Junas rotes Haar.

»Lass mich los!«, flehte Juna verzweifelt und versuchte vergeblich, sich aus seinen Fängen zu befreien. Svea war inzwischen wieder auf den Beinen und blickte wütend zwischen Juna und dem Mann hin und her.

»Hast du sie nicht gehört, Mistkerl? Nimm deine Finger von ihr!«, schrie sie und stürzte sich auf den Magier. Doch er streckte ihr nur die erhobene Handfläche entgegen und katapultierte Svea in den nächsten Strauch. Nur knapp verfehlte ihr Kopf dabei einen weiteren Baumstamm.

»Das war aber nicht sehr höflich.« Seine Stimme klang weiterhin amüsiert, doch dann fügte er in finsterem Ton hinzu: »Versuche so etwas nicht noch einmal! Und du ...«, er schüttelte Juna leicht und berührte mit seinem Mund beinahe ihr Ohr, »... wirst keine Dummheiten machen, sonst töte ich deine kleine Freundin hier und jetzt.« Ein zögerliches Nicken war alles, was Juna mit Tränen in den Augen erwidern konnte.

Als er sie endlich losließ, stolperte Juna geradewegs in Sveas Arme. Nun konnte sie den Magier sehen. Es war der große mit der Narbe, der ein leichtes Lächeln auf den Lippen trug. Seine dunklen Augen funkelten gefährlich. Blutflecken bedeckten seine eine Gesichtshälfte.

Die beiden Mädchen standen aneinander geklammert vor dem Mann, unfähig sich zu rühren. Sie zitterten vor Angst und Kälte. Was wollte er nur von ihnen? Dann verschwand das Lächeln urplötzlich aus seinem Gesicht und eine umfassende Kälte nahm dessen Platz ein.

»Ihr werdet jetzt mit mir kommen! Wenn ihr irgendetwas Dummes anstellt, wird es euch leidtun. Habt ihr verstanden?«

»Was wollt ihr von uns?« Svea schrie es förmlich heraus, doch Juna wusste nicht, ob sie die Antwort wirklich hören wollte.

»Das wirst du noch früh genug erfahren, mein Täubchen. Und jetzt halt den Mund, bevor ich dir die Zunge herausschneide«, blaffte er sie an.

»Nein! Ihr kommt hier her, zerstört unsere Stadt, tötet Menschen ...« Sveas Stimme überschlug sich, als die Trauer sie übermannte. Der Magier fixierte das blonde Mädchen mit seinem Blick. Auf den Wink seiner Hand wurde Juna nach hinten gegen einen Baum gedrückt. Zeitgleich überwand das Narbengesicht die wenigen Schritte zu ihnen. Ein Dolch glänzte in seiner Hand. Er packte Svea am Arm und zog sie dicht zu sich heran. Dann legte er die Spitze des Dolches direkt unter ihr linkes Auge. Ein kleiner Tropfen Blut quoll an der Stelle hervor, wo die Klinge ihre Haut berührte, und das Mädchen keuchte vor Schmerz.

»Ich sagte, du sollst deinen Mund halten.« Der Magier sprach betont langsam und Svea schluckte schwer. Juna betete zu den Göttern, dass ihre Freundin dieses eine Mal schweigen würde. Der Moment der Stille, der ihrem Flehen folgte, war Antwort genug. Furcht und Schmerz hatten Svea tatsächlich verstummen lassen.

»Sehr gut! Jetzt bewegt euch, bevor ich wirklich böse werde.« Er sah zu Juna und bedeutete ihr, sich in Bewegung zu setzen. Also lief sie.

Eine Flucht wäre zu diesem Zeitpunkt sinnlos. Er würde sie sofort zurückholen, und was dieser Kerl ihnen dann antun würde, wollte sie besser nicht herausfinden.

Lass nicht zu, dass die Schattenmagier dich finden!

 

Wenig später fanden sich beide in einem Lager auf der anderen Seite des Flusses Mor wieder. Sie waren im Norden.

Die Zeltsiedlung befand sich, soweit Juna einschätzen konnte, am Waldrand. Hier war der kalte Boden ein matschiges Gemisch aus Gras und Erde, von dem ein modriger Geruch ausging. Zwischen den vielen verschieden großen Bauten tummelten sich Soldaten und Gefangene, soweit ihr Blick reichte. Viele der Verschleppten waren gefesselt, einige andere, wie Svea und Juna, befanden sich in Käfigen, eingesperrt wie Tiere. Ihre neue Welt war ein eisernes Gefängnis von fünf mal fünf Schritten, bewacht von einem grimmig dreinschauenden Soldaten, der dessen Insassen nicht aus den Augen ließ. Den unheimlichen Magier sah Juna glücklicherweise nicht mehr, seit er sie am Waldrand einer Gruppe Wachen übergeben hatte.

Ihre Panik nach der Ergreifung hatte sich inzwischen gelegt, doch die Gedanken der jungen Frau waren weit weg von der Normalität. Vorsichtig sah sie sich in ihrem kleinen Reich um: Vier andere Mädchen befanden sich mit ihnen in der Zelle, zwei davon kannte sie vom Markt, aber die Namen wollten ihr nicht einfallen. Außerdem noch eine Frau, sie mochte etwa fünfundzwanzig Sommer zählen und ein kleiner Junge. Der Knabe hatte ein blaues Auge, saß in der Ecke und weinte leise, den Blick leer und starr auf einen Punkt vor sich gerichtet. Die Frau murmelte unablässig Gebete und wippte leicht vor und zurück. Ihr Gewand, obwohl schmutzig und zerrissen, wies sie jedoch eindeutig als eine Dienerin aus dem Tempel der Vier aus. Die anderen Mädchen, alle etwa im gleichen Alter wie Juna und Svea, blickten ebenso hoffnungslos wie verzweifelt drein.

Bedächtig setzte Juna sich neben ihre Freundin an das hintere Ende des Käfigs.

»Siehst du eine Fluchtmöglichkeit?«, murmelte Svea so leise sie konnte. Viel Hoffnung lag nicht in ihrer Stimme. Das blonde Mädchen nestelte auffällig lange an ihrem Umhang herum, während sie sprach.

Erneut blickte Juna vorsichtig umher. Es war schwierig zu schätzen, wie groß das Lager tatsächlich sein mochte. Die Zelte blockierten ihre Sicht. Nur in eine Richtung waren die Wipfel der Bäume zu erkennen. Ein spitzer Schrei und das gehässige Lachen von Männern ließen Juna zusammenzucken. Sie konnte nicht sehen, was passierte, aber die verzweifelten Hilferufe der Frau jagten ihr einen eisigen Schauer über den Rücken.

Sie lehnte sich zu Svea hinüber und wisperte leise: »Nicht, solange es hell ist. Im Dunkeln hätten wir vielleicht eine Chance, es in den Wald zu schaffen.« Juna zupfte an einem Grasbüschel zwischen ihren Füßen »Vorausgesetzt, wir bekommen die Tür auf!«

 

Die Sonne erreichte gerade ihren Zenit, als Soldaten erschienen und zwei weitere Mädchen in die Zelle schoben. Das jüngere zählte vielleicht vier Sommer, während Juna das ältere Mädchen in etwa so alt, wie sich selbst schätzte. Das kleine Kind klammerte sich angsterfüllt an den Rockzipfel der Älteren. Da beide die gleichen blauen Augen und eine kleine, runde Nase besaßen, vermutete Juna sie mochten Schwestern sein.

Bis zum Abend wechselte die Wache mehrfach, was die Freundinnen ausnutzten, um alle anderen nach ihren Namen zu fragen. Nur der kleine Junge sprach kein Wort. Juna verband der großgewachsenen Jördis den Arm, der aus einer Schnittwunde stark blutete. Da nichts Anderes verfügbar gewesen war, opferte sie den Saum ihres Nachthemdes dafür. Alva und Liv, ebenfalls Schwestern mit hübschen braunen Augen und lockigem Haar, saßen zusammen mit Svea in einer Ecke und flüsterten immer wieder leise, bis der Soldat sie brüllend voneinander trennte.

Als die Sonne fast hinter dem Horizont verschwunden war, erstarrte Juna in ihrer Bewegung. Der narbengesichtige Magier mit seinem kalten Blick tauchte plötzlich zwischen den Zelten auf. Er war gewaschen, trug die Haare makellos zur Seite gekämmt, und seine dunkle Robe war sauber und ordentlich. Juna betrachtete ihn zögerlich und mit klopfendem Herzen. Seine Augen funkelten geheimnisvoll, leichte Falten zogen sich über seine Stirn und die Narbe auf der Wange ließ ihn gefährlich wirken. Der Bart war ordentlich geschnitten und unter dem schwarzen Wams waren seine Muskeln erkennbar. Sein Alter war schwierig zu schätzen.

Schweigend betrachtete er die Mädchen, wie eine gewinnbringende Handelsware. Nilla, die gegenüber der Zellentür stand, funkelte ihn wütend an, doch er erwiderte den Blick und zuckte nicht einmal. Dann wandte er sich der Wache zu und wechselte mit dem Bewaffneten einige Worte, der respektvoll Haltung angenommen hatte. Während Juna die beiden Nordmänner beobachtete, streifte sie plötzlich der Saum eines Umhangs und ließ sie zusammenzucken. Der bleiche Magier, den ihre Mutter niedergeschlagen hatte, schritt sehr nahe an dem Käfig vorbei und trat neben den Mann und den Soldaten. Panisch drehte sie ihnen den Rücken zu und lauschte. Ob er sie wohl wiedererkennen würde?

»Wie geht es voran?«, fragte der Magier mit der Narbe.

»Sehr gut. Die anderen durchkämmen noch den Wald.« Eine kurze Pause folgte. »Ist das deine Ausbeute?«

»Recht ansehnlich, nicht? Ich hoffe, du hast auch ein paar gute erwischt?« Das Lachen der Magier ließ Juna frösteln.

»Das habe ich, danke. Weißt du ...« Die Stimmen der beiden wurden leiser und aus dem Augenwinkel sah Juna noch, wie sie zwischen den Zelten verschwanden.

Langsam löste sich ihre Anspannung wieder und auch ihre Mitgefangenen erholten sich von dem unerwarteten Besuch. Jördis hatte die Luft angehalten und starrte zitternd zu Boden. Mina, das kleine Mädchen, weinte leise, während ihre Schwester Maia, sie tröstete. Juna ging zur schwer atmenden Nilla hinüber und legte ihr eine Hand auf den Arm. Diese zuckte heftig zusammen und riss ihren Arm weg. Der Zorn in ihren Augen hatte Tränen beschworen, die sie verzweifelt zurückhielt. Dann sackte sie rückwärts gegen das Gitter, rutschte zu Boden und vergrub das Gesicht in ihren Händen.

Es musste etwas Schreckliches mit ihr passiert sein und Juna ahnte, was es gewesen sein mochte. Die Furcht kroch über ihren Rücken, fraß sich in ihrem Kopf fest und ließ ihre Hände zittern.

Stumm und umgeben von Blut und Schmutz kauerten sie in dem Käfig, bis sich die Nacht über das Lager legte. Sie bekamen weder Wasser noch Essen, oder Decken gegen den eisigen Wind. Immer wieder stiegen Juna Tränen in die Augen, wenn sie an den vergangenen Tag, ihre Mutter, Evin und ihre aussichtslose Lage dachte.

Gedankenverloren beobachtete sie eine Gruppe Soldaten, die am Lagerfeuer saß. Ihre Wache hockte ebenfalls dort und betrank sich mit seinen Kumpanen. Sie grölten gerade ein Lied, dessen Text sogar dem freimütigsten Waschweib die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte.

Svea saß zusammen mit Liv an der Tür des Käfigs und beide versuchten abwechselnd das Schloss mit einer von Livs Haarnadeln zu bearbeiten. Vergeblich. Ihre Freundin hantierte an den Scharnieren herum und versuchte den Stift herauszudrücken, doch ohne Hammer hatten sie auch hier keine Chance.

Plötzlich tauchte hinter den Soldaten eine Gestalt auf. Junas Finger um die Gitterstäbe verkrampften sich.

»Bist du wahnsinnig?«, fuhr der noch recht junge Soldat seinen Kameraden an. »Seine Lordschaft reißt dir eigenhändig den Kopf ab, wenn er dich hier sieht. Scher dich zurück auf deinen Posten!«

Murrend erhob sich die Wache und schlurfte zum Käfig. Mehr schlafend als wach und leicht schwankend stand er dort, bis die Nachtwache erschien und die Mädchen finster musterte.

Bibbernd und eng in ihren Umhang gewickelt verbrachte Juna neben den anderen eine unruhige Nacht.

 

Als am Morgen das Leben ins Lager zurückkehrte, kehrte auch die Angst zurück. Doch das war nicht das Einzige, das wiederkam. Der große Magier mit der Narbe erschien ein weiteres Mal vor der Zelle und blickte höchst zufrieden auf die kleine Truppe. Dabei blieb sein Blick lange auf Nilla hängen. Fröstelnd sah Juna zwischen den beiden hin und her. Augenblicke später schloss der Soldat die Tür auf, der Magier zerrte die schreiende Nilla an den Haaren aus dem Käfig und verschwand mit ihr. Starr vor Entsetzen klammerte sich Juna neben ihrer Freundin an die Eisenstäbe.

Der Tag verging. Die kleine Mina weinte unablässig vor Hunger und war nicht die einzige.

Erst als sich die Dämmerung über das Lager legte, erschien eine Frau mit einigen Krügen. Gierig hoben die Mädchen die Gefäße durch das Gitter und teilten das Wasser darin, so gut es ging.

 

Am Morgen des dritten Tages brachte ein Soldat die wankende Nilla zurück. Blut rann ihren Mundwinkel herunter und blaue Flecken zeigten sich auf Armen und Beinen. Ihr Kleid hing zerrissen an ihrem geschundenen Körper. Ausdruckslos und zitternd starrte sie zu dem wolkenverhangenen Himmel empor. Bei diesem Anblick schwand der letzte Rest Hoffnung in Junas Herzen.

 

Kapitel 5

 

Großmeister – Nachrichten

 

Seine Schritte hallten laut durch die Höhle. Er durchquerte den Bogengang und erreichte schließlich den Tempel. Eine handvoll Öllampen spendeten Licht, das von den feuchten Felswänden und dem kleinen See reflektiert wurde. Ein paar Kisten standen neben dem Durchgang und ein dünner Vorhang wehte in einem Windhauch. In der Mitte der großen Höhle standen einige Bänke, gesäumt von Stalagnaten, die sich über unzählige Sommer hinweg gebildet hatten. Einige davon waren dicker als ein Baumstamm, während andere lediglich den Umfang eines Fingers aufwiesen. In der kalten Luft bildeten sich bei jedem Atemzug kleine Dunstschwaden und das stete Tropfen von Wasser gab einen gleichmäßigen Takt vor. Einige seiner Brüder saßen auf den Bänken vor dem Schrein und huldigten den vier Göttern.

Der Großmeister blieb hinter ihnen stehen und betrachtete im Licht der Flammen die Abbildungen der Vier – Die Göttin der Luft, Awyn, deren langes braunes Haar stets im Wind tanzte. Daneben ihr Mann Talas, Gott der Erde. Sein Bein war von einer Ranke umschlungen und ein Spross wuchs auf seiner Hand. Weiter rechts saß Tenet, der Gott des Feuers, auf einem Thron aus Flammen und sein Weib Veta, die Göttin des Wassers, ritt eine Welle mit hocherhobenem Speer.

Der Blick des Meisters glitt über die Bilder. Der Priester in seinem Heimatdorf hatte ihm als Knaben Geschichten über die Macht der Götter erzählt. Legenden, nach denen die Kinder der Vier einst unter den Menschen wandelten. Wie sie die Magie der Elemente auf die Erde gebracht hatten. Ein dünnes Lächeln zog sich über seine Lippen, bei dem Gedanken daran. Was der Priester damals geglaubt hatte und was er heute wusste waren wie ihr Versteck – Offen für alle zu sehen, doch unter der Oberfläche lag die eigentliche Wahrheit.

Im Stillen beendete er sein Gebet und verließ den Tempel wieder durch den Bogengang. Der Weg führte ihn durch einen tief in den Felsen gehauenen Tunnel und hinauf in ein Kellergewölbe. Die Höhle und die darüberliegenden Keller gehörten zu einer alten Burganlage, die schon vor langer Zeit verlassen worden war. Was nach außen verlassen aussah, war es nicht. Unter den Ruinen lag das Reich des Ordens.

Das Kellergewölbe erstreckte sich über die ganze Länge der Burg und beherbergte in verschiedenen Abteilen Vorräte, wertvolle Dokumente, Truhen mit Münzen, einige alte Rüstungen und Schwerter, ein Alchemielabor sowie ein Lager.

Er ging an der Rüstung des ersten Großmeisters vorbei. Es war ein eindrucksvolles Stück, reich verziert mit Gold und Kupfer. Der Kopf eines Löwen mit aufgerissenem Maul prangte auf der Vorderseite des Brustpanzers. Die Schuppenglieder der Armschienen glitzerten im Schein der Feuerkugel, die über seiner Handfläche schwebte. Die Rüstung sah aus, wie frisch geschmiedet, dabei war sie älter als die Burg, in der sie sich befand.

»Ein wundervolles Stück, nicht wahr?« Jess näherte sich und blickte ehrfürchtig die Rüstung an.

»In der Tat. Du hast sie gut poliert«, antwortete er.

»Danke, Meister. Kann ich Euch bei etwas behilflich sein?« Der junge Mann war erst seit vier Sommern Mitglied des Ordens, doch sein Eifer war seit dem ersten Tag ungebrochen.

»Danke dir, Jess. Ich wollte nur etwas nachlesen. Wie geht es mit deinem Training voran?« Er lief langsam weiter und Jess folgte ihm.

»Sehr gut, denke ich. Harald meint, es würde langsam gehen, aber ein Fortschritt sei erkennbar.«

Der Meister nickte zufrieden. »Hast du Roald gesehen? Ich muss noch etwas mit ihm besprechen.«

»Roald ist im Garten. Er wollte irgendein Kraut ernten. Wenn er fertig ist, wird es sich bestimmt wieder ins Labor begeben.«

»Ich danke dir.«

Jess verneigte sich, während der Meister seinen Weg fortsetzte und endlich seinen bevorzugten Rückzugsort erreichte. Als Großmeister des Löwenkriegerordens besaß nur er den Schlüssel zum Archiv und zu all den Geheimnissen, die darin verborgen lagen.

Mit einem leisen Klicken sprang das Schloss auf und er betrat den langgezogenen Raum, an dessen Wänden sich Regale mit Büchern und Schriftrollen befanden. Mit einem Wink seiner Hand und einem kleinen Funken seiner magischen Kräfte entzündete er die Kerzen auf dem Leuchter. Er setzte sich an den langen Tisch, wo einige Rollen Pergament, die er zuletzt durchgesehen hatte, noch lagen. Darunter eine Liste der aktuellen Mitglieder des Ordens. Sie war kurz und das bereitete ihm zunehmend Sorgen. Seit der Rebellion war sein Orden dem Zerfall geweiht und nur mühsam hielt er die Fäden zusammen.

Es klopfte an der Tür.

»Meister, seid ihr hier?« Es war Hamars Stimme.

»Was gibt es, Hamar?«, rief er, ohne aufzustehen.

»Ein Bote, mit einer wichtigen Nachricht, ist eingetroffen. Er wartet oben in der Halle auf Euch«, erklang die gedämpfte Antwort durch die Tür.

»Ich bin gleich bei ihm.«

Der Meister hörte, wie sich sein Bruder entfernte und schob die Liste der Mitglieder zur Seite. Darunter kam ein farbig bemalter Bogen Pergament zum Vorschein, den er vorsichtig glatt strich. Voll Ehrfurcht sah er darauf die Bildnisse der vier Götter und ihrer Kinder an. Ein erfahrener Künstler hatte diese vor vielen Sommern gemalt und noch immer leuchteten die Farben wie am ersten Tag. Die Bilder glichen stark jenen am Altar, waren es doch die üblichen Darstellungen der Vier. Ihre göttlichen Kinder waren zwar überall bekannt, aber ihre Abbildungen fanden sich nie in den Tempeln. Einzig in der Akademie von Weißhavn gab es einen Schrein für sie.

Sein Blick glitt über die Darstellungen der fünf Kinder, die unter ihren göttlichen Eltern aufgereiht waren. Fünf Kinder für vier Elemente. Sein Daumen strich über die Abbildung des fünften Kindes. Dorcha. Die Herrin der Dunkelheit. Ihre Augen erstrahlten in einem sanften Grünton. Trotz der Tatsache, dass die Ähnlichkeit reiner Zufall war, erstaunte es ihm jedes Mal von neuem.

Ein drückendes Gefühl der Trauer eroberte sein Herz. Er holte tief Luft und schob das Pergament zurück in seine Ablage.

Sorgsam schloss er die Tür zum Archiv ab und begab sich in die Halle. Früher einmal war es eine richtige Halle gewesen, heute wuchsen Efeuranken an den Wänden empor und das Sonnenlicht fiel nicht nur durch die offenen Fenster, sondern auch durch das fehlende Dach.

Sein Umhang raschelte, als er die Halle betrat und seine grauen Augen fixierten den jungen Burschen, der zwischen den Säulen stand. Hamar hielt sich in seiner Nähe auf und beobachtete den Boten genau.

»Meister! Ich bringe schlechte Nachrichten!« Der Junge verbeugte sich tief.

»Sprich!« Ein ungutes Gefühl kroch seinen Rücken hoch.

»Morward wurde von den Schattenmagiern angegriffen. Die Stadt liegt in Trümmern und viele Bewohner sind geflohen oder getötet worden«, stammelte der Bote und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

»Kommt diese Nachricht von unserem Spion?«, fragte er.

»Ja, Meister.«

»Ist über den Verbleib des Mädchens etwas bekannt?« Er wandte sich ab, damit niemand den Schmerz in seinem Gesicht sehen konnte.

»Nein, Meister. Aber man hört, dass viele Mädchen verschleppt wurden.«

Langsam sog er die Luft in seine Lungen und rang mit seiner Beherrschung.

Er gab dem Boten ein Zeichen, der daraufhin verschwand und Hamar trat aus dem Schatten der Säule.

»Soll ich jemanden nach Morward schicken?«, fragte dieser leise.

Der Meister schritt in der Halle auf und ab und strich sich abwesend durch die braunen, von grauen Strähnen durchgezogenen Haare.

---ENDE DER LESEPROBE---