Red Raven Castle - Luna McMullen - E-Book

Red Raven Castle E-Book

Luna McMullen

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Beschreibung

Ein geheimnisvoller Orden. Eine dunkle Verschwörung. Der Beginn einer zarten Liebe.   Ihr Leben lang hat Evelin davon geträumt, ein roter Rabe zu werden – Mitglied des legendären Heilerordens, dessen Ruf weit über die Landesgrenzen hinausreicht. Doch ihr Traum beginnt zu zerbrechen, als sie erkennen muss, dass ausgerechnet Lord Edvane, der Herr des Ordens, kälter und ungerechter ist, als sie es je für möglich gehalten hätte.   Als er eines Tages von ihr verlangt, einen Mord zu vertuschen, macht sich Evelin heimlich zusammen mit ihrem Freund Airril auf die Suche nach der Wahrheit hinter dem Verbrechen. Doch welches Geheimnis die beiden schließlich aufdecken, übersteigt ihre schlimmsten Befürchtungen: eine Verschwörung, die nicht nur den Orden der roten Raben zu verschlingen droht, sondern auch die gesamte Stadt ins Chaos stürzen könnte.   Ein mitreißendes Abenteuer voller Geheimnisse und einer Liebe, die den dunkelsten Schatten trotzt. 

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Seitenzahl: 473

Veröffentlichungsjahr: 2025

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RED RAVEN CASTLE

LUNA MCMULLEN

Copyright © 2025 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan Bellem

Korrektorat: Lillith Korn

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlag- und Farbschnittdesign: Giessel Design

Karte: Luna McMullen

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-706-3

Alle Rechte vorbehalten

INHALT

Ohne Titel

1. Evelin

2. Evelin

3. Airril

4. Evelin

5. Airril

6. Airril

7. Evelin

8. Evelin

9. Evelin

10. Airril

11. Evelin

12. Evelin

13. Airril

14. Evelin

15. Airril

16. Evelin

17. Airril

18. Evelin

19. Evelin

20. Airril

21. Evelin

22. Airril

23. Airril

24. Evelin

25. Airril

26. Evelin

27. Evelin

28. Airril

29. Evelin

30. Airril

31. Evelin

32. Airril

33. Evelin

34. Evelin

35. Airril

36. Evelin

37. Evelin

38. Evelin

39. Airril

40. Evelin

41. Airril

42. Evelin

43. Evelin

44. Airril

45. Evelin

46. Evelin

Auszug aus der Chronik von Edunach

Die Kunst der fantastischen Heilung

Danksagung

Drachenpost

Für alle,

die sich jeden Tag

für andere einsetzen

1

EVELIN

AM FALSCHEN ORT

So nahe am Hafen überlagerte der salzige Geruch von Seetang den Gestank der Exkremente aus dem Mhorloch, der an Herbstabenden wie dem heutigen besonders hartnäckig über der Südstadt lag. Evelin bog von der Frynroad in eine schmale Gasse ein und wich behände den Abfallhaufen aus, die hier alle naselang lagen. Keine zehn Schritte vor ihr entleerte eine Frau mit einem kühnen Schwung einen Eimer trüber Brühe auf die Straße und verschwand dann wieder hinter der klapprigen Holztür. Mit gerümpfter Nase sprang Evelin über die Lache hinweg. Nur noch ein kleines Stück, dann hatte sie ihr Ziel erreicht.

Ein heiseres Krächzen erklang durch die Gasse und ließ sie innehalten. In einer schwungvollen Bewegung drehte sich Evelin herum und streckte den Arm aus. Sogleich spürte sie den Lufthauch der Flügel und Doraz landete auf dem dargebotenen Platz.

Seine dunklen, perlenartigen Augen musterten sie abschätzig und hoben sich stark von dem roten Gefieder des Raben ab.

Wo wolltest du schon wieder ohne mich hin?, erklang Doraz Stimme in ihrem Kopf.

»Das habe ich dir doch gesagt«, flüsterte sie. »Ich will mich mit ihm treffen und das kann ich nicht mit dir auf meiner Schulter.«

Du bringst dich nur wieder in Schwierigkeiten. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, zupfte der rote Rabe mit seinen Krallen an Evelins Ärmel.

»Jetzt fang nicht an, wie mein Vater zu reden. Ich bin rechtzeitig zurück und niemand wird etwas bemerken, wenn du nur deinen Schnabel hältst.«

Als ob ich dich verraten könnte, konterte Doraz und schlug mit den Flügeln. Seine Federn streiften Evelins Gesicht und gleich darauf erhob sich ihr ständiger Begleiter in den Abendhimmel. Sofort blickte sie sich um, ob jemand den Raben bemerkt hatte. Niemand war zu sehen. Erleichtert seufzend ging sie weiter.

An der nächsten Biegung hielt sie sich links und zählte die Türen ab. An der sechsten, einem nur brusthohen Durchgang, blieb Evelin stehen und klopfte an. Nichts tat sich. Sie wollte gerade die Hand heben und erneut klopfen, da öffnete ein gedrungener Mann die Tür und sah sie an. Wortlos winkte er sie herein und Evelin duckte sich geschwind unter dem Eingang hindurch. Abgestandene Luft schlug ihr entgegen und Stimmen schwangen aus einem Raum hinter der nächsten Tür bis auf die enge Diele. Der Mann schob sich an Evelin vorbei und öffnete die zweite Tür.

Im Schein einer Feuerschale, die in den Boden eingelassen war, erkannte Evelin ein Dutzend Gestalten. Sie saßen auf grob gezimmerten Stühlen und Bänken, spielten Würfelspiele und tranken. Das schummrige Licht ließ nicht zu, dass Evelin viele Details ausmachen konnte, aber niemand schien sich an ihrer Anwesenheit zu stören.

Rauch und der süßliche Geruch von heißem Met erfüllten die Luft. Vorsichtig schob sie sich an dem Feuerbecken vorbei in die hintere Ecke des Schankraumes. Vor zwei Fässern, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, entdeckte sie Tamen. Er saß an einem kleinen Tisch, lächelte ihr entgegen und kaum, dass sie vor ihm stand, drückte er sie kurz an sich.

»Endlich! Ich dachte schon, du schaffst es nicht.«

»Hätte ich auch beinahe nicht«, flunkerte sie und kniff ihrem kleinen Bruder in die Seite. Der zuckte zusammen und grinste. Neuerdings trug er seine Haare an den Seiten nach hinten geflochten, wie es die meisten Männer taten. Nur der komplementäre Bart fehlte ihm gänzlich. Es verlieh seinem Gesicht etwas mehr Kontur, doch über sein junges Alter konnte diese Veränderung nicht hinwegtäuschen.

»Da hast du dir aber ein schickes Eckchen gesucht.« Evelin sah auffällig durch die nicht besonders einladende Schankstube, als der Mann von der Tür vor ihr auftauchte und einen Hornbecher auf den Tisch stellte. Aus einer übergroßen Karaffe goss er ihren und Tamens Becher randvoll. Unterdessen kramte Evelin in ihrer Manteltasche nach einer Münze. Sie schob dem düster dreinblickenden Wirt einen Eisenzacken entgegen, der diesen mit einem Grunzen nahm und verschwand.

»Ich weiß.« Tamen hob abwehrend die Hände. »Aber der Met hier ist wirklich gut.« Er hob seinen Becher und wartete, dass Evelin ihren ebenfalls nahm. Seufzend sah sie ihren Bruder an.

Sie war es leid, sich immer wieder klammheimlich aus der Rabenburg zu schleichen, nur um einmal ungestört mit ihrem Bruder etwas trinken zu können. Doch seit sie dem Orden der roten Raben hatte beitreten dürfen, musste sie sich an die strengen Regeln halten oder, wie heute Abend, das Risiko eingehen, entdeckt zu werden. Glücklicherweise war sie in Canburgh, der größten Stadt von Edunach, aufgewachsen und kannte sich hier bestens aus. Doch dank dessen, war sie auch keine Unbekannte für die meisten Bewohner der Südstadt und lief daher immer Gefahr entdeckt zu werden. Vor allem, wenn Doraz mal wieder aus dem Nichts auftauchte und auf ihr landete.

Evelin schob die Bedenken beiseite und griff nach ihrem Becher. Die beiden stießen an und als sich der süße, leicht fruchtige Geschmack in ihrem Mund ausbreitete, vergaß sie ihre Sorgen.

»Der ist wirklich ausgezeichnet«, murmelte sie mit anerkennendem Nicken.

»Sagte ich doch.« Tamen rutschte näher heran. »Wie läuft es so bei dir?«

»Wie soll es schon laufen? So wie immer. Mistress Dawn geht mir ständig auf die Nerven und behauptet, ich würde alles falsch machen, und das nur, um sie zu ärgern.« Evelin verdrehte die Augen und nahm noch einen großzügigen Schluck Met. »Als hätte ich nichts Besseres zu tun. Airril ist seit zwei Tagen spurlos verschwunden; wahrscheinlich hat er sich wieder mit seinem Vater gestritten und schmollt nun in irgendeiner Ecke vor sich hin. Nebenher muss ich mich jeden Tag um neue Kranke kümmern und meine Berichte schreiben. Wenn Dawn darin einen Fehler entdeckt, dann kann ich mir vielleicht was anhören. Das sag’ ich dir.«

Tamen grinste breit. »Ich sehe schon, du hast alle Hände voll zu tun. Aber vielleicht solltest du dieser Mistress mal eine kleine Überraschung mitbringen.« Noch immer verschmitzt lächelnd kramte er in seiner Manteltasche und beförderte aus einem Beutel eine kleine Phiole auf den Tisch.

»Mische ihr etwas davon ins Essen und du bist zwei oder drei Tage deine Sorgen los.«

Skeptisch betrachtete Evelin das Fläschlein in seiner Hand. »Was ist das?« Zögerlich, aber neugierig nahm sie es und hielt es ins Licht. Ein unscheinbares, hellgelbes Pulver befand sich darin.

»Die geriebene Wurzel einer Firola. Das wird den Verdauungstrakt der guten Mistress Dawn so richtig in Schwung bringen«, wisperte Tamen und schob Evelin eine zweite Phiole zu. »Behalte den Rest. Man kann ja nie wissen.«

»Du meinst, du möchtest das Zeug loswerden und da komme ich dir gerade recht.«

»So könnte man es auch sagen.« Lachend hob er seinen Becher an die Lippen und trank diesen in einem Zug leer. Dann wischte er sich mit dem Ärmel über den Mund. »Aber ich habe dir noch das mitgebracht, was du haben wolltest. Abgesehen davon, dass ich nicht begreife, was du damit willst.«

Tamen beugte sich zur Seite und hob ein Bündel vom Boden auf. Er legte es auf den kleinen Tisch und entknotete die Schnüre. Darin lag ein Dutzend sauber gefaltete Verbände aus Leinenstoff.

»Ihr müsst doch Unmengen davon in der Rabenburg haben. Warum brauchst du noch welche?«

»Weil ich die nicht einfach stehlen kann«, entgegnete Evelin leise und schnürte das Päckchen wieder zu. Aus ihrer Tasche fischte sie drei Eisenzacken heraus und legte sie vor Tamen auf den Tisch.

Die Belustigung in seinem Gesicht wich einem ernsteren Ausdruck. »Liebes Schwesterchen, ich könnte diese spielend für das doppelte verkaufen.« Dabei tippte er auf das Verbandsbündel. »Sieben Eisen.«

»Aber ich bekomme doch sicherlich Familienrabatt?«, trällerte Evelin süßlich und wusste bereits, dass es diesen nie gab.

»Na gut, weil du es bist, bleibe ich bei sieben, statt zu erhöhen.«

»Ich gebe dir vier.« Wieder fischte Evelin eines der länglichen Geldstücke aus ihrer Tasche.

»Sechs und keinen weniger. Außerdem hast du gerade die Firolawurzel von mir bekommen.«

»Die hast du mir geschenkt, schon vergessen? Ich kann nichts dafür, dass du ein noch schlechterer Händler als Fischer bist.« Grinsend legte Evelin noch einen Eisenzacken dazu und lehnte sich zurück. Sie sah, wie er mit sich rang. Dann stieß Tamen geräuschvoll die Luft aus und sammelte die Eisenzacken ein.

»War schön, mit dir Geschäfte zu machen, Bruderherz.« Mit einem Zwinkern trank sie ihren Becher leer, erhob sich und gab Tamen einen Kuss auf die Wange. Dann nahm sie das Bündel Verbände an sich, stopfte es in die Tasche, die sie unter ihrem Umhang trug, und verließ die düstere Kaschemme.

Draußen auf der Gasse sog sie gierig die frische Luft in ihre Lunge und sah zum Himmel hinauf. Der Mond stand bereits über dem Dach des Lagerhauses. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.

Im Laufschritt eilte sie durch die Gassen, bog um eine Ecke und konnte gerade noch einem Wächter ausweichen, der überrascht zurückstolperte.

»Pass doch auf!«, schrie er ihr hinterher, doch Evelin preschte weiter. Hoffend, dass der Kerl sie nicht für eine Diebin halten würde, so eilig, wie sie davonrannte. Das Letzte, was sie brauchen könnte, war ein Wächter, der sie ausfragen und ihre Tarnung auffliegen lassen würde.

Sicherheitshalber bog sie in eine schmale Gasse ein und bahnte sich einen Weg durch den Düsterpfuhl — ein Wirrwarr von kleinen Wegen, die kaum breiter waren als ihr ausgestreckter Arm.

In diesen, wenn auch sehr kleinen, Teil von Canburgh wagten sich die Wächter selten. Sie hatten Angst, sich zu verlaufen und von den Bewohnern gegessen zu werden. Eine unbegründete Sorge, zumal der letzte Überfall dieser Art schon sehr lange zurücklag und mehr auf einer Legende als auf Tatsachen beruhte.

Das Gerede war Evelin egal, sie fürchtete sich nicht. Sie schob sich durch einen engen Mauerspalt und erreichte eine breitere Gasse. Mit einem säuerlichen Ausdruck sah sie an ihren Kleidern herunter. Dreck und Schlamm klebten überall, da half auch kein Rubbeln mehr. Sie würde sich eine gute Ausrede einfallen lassen müssen, um so an den Krallen vorbeizukommen. Doch bis dahin hatte sie noch ein Stück Weg vor sich. Hastig lief Evelin weiter. Das westliche Ende des Düsterpfuhls lag direkt vor ihr. Sie erreichte die Gabelung zur Blackstreet und hielt kurz inne. Ihr Herz hämmerte wild gegen ihre Brust und ihr keuchender Atem hallte von den Hauswänden wider.

Langsamer lief sie weiter. Der Southwalk, eine breite Straße, die direkt zum Kingsway und damit zur Burg führte, lag vor ihr. Aber sie konnte sich unmöglich in diesem Aufzug blicken lassen. Evelin trat bis an die Hausecke vor und spähte in beide Richtungen. Viele Menschen waren nicht mehr unterwegs.

Von hier aus konnte sie die Königsburg auf dem Hügel thronend sehen. Über die Hausdächer und Schornsteine hinweg zeichnete sich der Umriss deutlich ab. Die Sonne war fast untergegangen und nur noch ein heller Streifen am Horizont erinnerte an den vergangenen Tag.

Sie musste sich beeilen.

Doch bevor sie in die Rabenburg zurückkehren konnte, galt es, die Verbände zu verstecken und ihren Umhang zu wechseln.

Erneut blickte sie links und rechts den Southwalk entlang. Es waren keine Wächter zu sehen, also eilte sie hinüber auf die andere Seite.

Kaum erreichte sie die gegenüberliegende Häuserfront, schlug ihr der Gestank des Mhorloch nur allzu deutlich entgegen. Evelin schluckte ihren Ekel herunter und lief die Straße entlang. Mit jedem Schritt wurde der Geruch nach Exkrementen stärker und verband sich mit dem beißenden Rauch der Kohleöfen.

Ihr kleines Versteck lag zum Greifen nahe.

Plötzlich stieß sie mit einer Gestalt zusammen. Wie aus dem Nichts war diese erschienen. Lediglich eine tief ins Gesicht gezogene Kapuze sah sie, dann stob ihr eine dichte Aschewolke entgegen. Sie umgab den Unbekannten wie eine zweite Haut, hüllte Evelin ein und nahm ihr den Atem. Hustend und keuchend taumelte sie zwei Schritte zurück. Ihre Augen suchten nach dem, der sie fast umgerannt hatte, und sahen noch eine Gestalt um die nächste Ecke jagen.

Sie wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und eine dunkle Aschespur zeichnete sich darauf ab. Mit einer unguten Vorahnung sah Evelin im schummrigen Licht der nächsten Fackel an sich herunter. Sie war über und über mit Asche bedeckt. Hastig klopfte sie die gröbsten Spuren von ihren Kleidern.

Ein greller Schrei aus dem Haus direkt neben ihr ließ Evelin zusammenzucken. Aus der Tür rannte eine wild gestikulierende Frau heraus und brach wenige Schritte vor Evelin zusammen. Panisch deutete sie immer wieder auf die Tür. Menschen sammelten sich um die Frau wie Fliegen auf einem Kadaver.

»Er ist tot!«, schrie sie. »Er ist tot!«

2

EVELIN

UNGLÜCKLICHE BEGEGNUNG

Immer mehr Menschen drängten auf die Straße. Evelin stand wie angewurzelt da und beobachtete die Szene. Sie konnte die schreiende Frau vor lauter Schaulustigen kaum noch sehen, doch eines stand ihr deutlich vor Augen. Die Hände der Frau waren mit Asche bedeckt gewesen … ebenso wie ihre eigenen.

Noch während Evelin begriff, was passiert sein konnte, hallte der Gong der Götterglocke durch die Stadt. Mit dem Dröhnen der acht Schläge, die durch alle Gassen und Straßen erklangen, wurde ihr übel. Sie kam zu spät. Egal, welche Ausrede sie jetzt noch hervorbringen würde, ihre Lehrmeisterin Mistress Dawn würde erfahren, dass sie nicht rechtzeitig zurück in der Burg gewesen war.

»Was ist passiert?«, fragte eine Frau plötzlich Evelin und ließ diese zusammenfahren.

Ohne auf die Frau zu achten, fasste sie sich wieder, schnappte ihre Tasche und rannte los. Ihre Beine fühlten sich schwer wie Felsblöcke an, doch alles in ihr trieb sie vorwärts. Erst als sie endlich den Verschlag hinter dem verfallenen Badehaus erreichte, hielt sie an. Ihre Lunge brannte vor Anstrengung. Sie kniete sich vor die Bodenluke und kramte hastig den Schlüssel hervor. Kaum war die Luke offen, warf sie ihre Tasche durch die Öffnung und tastete nach dem Verschluss des Umhanges. Sie tauschte das abgewetzte und mit Asche bedeckte Kleidungsstück, welches sie um die Schultern trug, gegen den roten Mantel ihres Ordens. Dann schlug Evelin die Luke zu und verschloss ihr kleines Versteck.

Noch immer heftig atmend, kam sie wieder auf die Füße und richtete das Gewand. Die Robe war halbwegs sauber geblieben, aber sie ahnte, dass nicht nur ihre Hände vor Dreck starrten. Zwar war sie nun für jeden auf den ersten Blick als Mitglied der roten Raben erkenntlich, doch den Schmutz würde sie nicht so schnell loswerden. Mehr als hoffen, dass ihr niemand Bekanntes begegnete, konnte sie in diesem Moment nicht.

Versteckt im Schatten trat sie an die nächste Kreuzung und sah sich um. Nur eine Handvoll Arbeiter war unterwegs. Vermutlich die armen Seelen, die in dieser Nacht über die Öfen wachen mussten. Von ihnen hatte sie nichts zu befürchten und Wächter sah sie nirgends.

Evelin atmete ein letztes Mal tief durch und lief dann los. Die Minestreet führte in einer leichten Biegung bergan zum Kingsway. Dort angekommen, erhellten Laternen entlang der Straße das Treiben. Einige Passanten warfen ihr Blicke zu, doch niemand sprach sie an. Dennoch hörte sie das Tuscheln hinter sich. Die Stimmen ignorierend, ging sie weiter, bis sie den Vorplatz erreichte und bog dann auf den Weg zur Rabenburg ein. Auch dieser wurde von Fackeln erhellt und so erkannten die Krallen am Tor bereits, wer sich näherte.

Missmutig sah Evelin den beiden entgegen. Ihre Musketen schimmerten im Feuerschein und die mit dunklen Federn bestickten Gehröcke ließen selbst den schmächtigsten der Krallen halbwegs imposant aussehen. Ausgerechnet heute hatte ihr Liebling Pine Dienst und grinste ihr bereits entgegen. Er ließ sich nie eine Gelegenheit entgehen, ihr Ärger zu bereiten, auch wenn Evelin sich sicher war, dass er ihr nur zu gern an die Wäsche wollte. Doch das würde auch dann nicht passieren, wenn Mutter Beitha persönlich von ihrem göttlichen Thron steigen würde, um den Menschen einen Besuch abzustatten.

»Wen haben wir denn hier? Miss Dunkworth hat wohl den Gong nicht rechtzeitig gehört«, brummte Pine gehässig und stellte sich ihr in den Weg. »Oder hattest du etwa noch eine kleine private Unterhaltung mit einem Kohleschaufler?« Dabei glitt sein Blick vielsagend über ihr verschmiertes Gesicht.

»Sehr witzig, Pine!«, zischte sie. »Natürlich habe ich die Glocke gehört, aber ich war noch nicht fertig.« Sie biss die Zähne aufeinander und starrte die Kralle unerschrocken an.

»Fertig womit? Deine Arbeit sollte hier drinnen, hinter mir sein.« Er stach mit dem Lauf der Muskete in Richtung der hohen Mauer hinter sich. »Nicht da draußen.«

»Was weißt du schon von meiner Arbeit?«

Pine schnalzte mit der Zunge und beugte sich ein Stück zu ihr herunter. Sein nach Bier stinkender Atem blies Evelin ins Gesicht.

»Ich weiß, dass du dafür deinen Raben brauchst, und den sehe ich hier nirgendwo.«

»Bravo.« Evelin schenkte ihm ein zynisches Lächeln. »Du hast ja doch mehr verstanden, als ich immer dachte.« Am liebsten würde sie ihm eine verpassen, aber für einen Abend hatte sie schon genügend Ärger am Hals.

»Pass auf, was du sagst, kleine Feder!«

»Dann geh mir aus dem Weg!«

Da trat auf einmal die zweite Wache neben Pine und zupfte an seinem Ärmel. Der Bursche war höchstens halb so alt wie sein Kamerad und auch nur halb so wuchtig. Aber etwas im Gesichtsausdruck der Kralle ließ Pine innehalten. Evelin sah, wie der Kerl den Rücken durchdrückte und die Hände an die Seiten legte.

Für einen kurzen Augenblick begriff sie nicht, was Pine und sein Kumpan da trieben, dann hörte sie die Stimme hinter sich.

»Guten Abend!«

Erschrocken kniff Evelin die Augen zusammen, holte tief Luft und drehte sich dann ganz langsam um. Schlimmer hätte dieser Abend kaum enden können.

»Guten Abend, Mylord.« Evelin sank auf ein Knie, verharrte einen kurzen Augenblick und kam dann wieder auf die Füße.

Der rote Mantel, den alle Ordensmitglieder trugen, schwang in ruhigen Wellen um seine Beine, während er die letzten Schritte auf die drei zukam. Das braune Haar fiel ihm in Zöpfen geflochten bis über die Schultern und der lange Kinnbart wurde von einem dünnen Goldfaden zusammengehalten. Seine Hände hielt er hinter dem Rücken versteckt und sein Gesicht spiegelte keinerlei Emotionen wider. Dem durchdringenden Blick des Mannes war Evelin sich dennoch sehr bewusst. Der Rabe, der auf Lord Edvanes Schulter saß, musterte sie ebenso eindringlich wie sein Gefährte, sodass Evelin Mühe hatte zu entscheiden, wen von beiden sie ansehen sollte.

Ein Krächzen erklang über ihr und unter hunderten Stimmen hätte sie Doraz erkannt. Er landete gekonnt auf ihrer linken Schulter und aus dem Augenwinkel sah sie, wie er den Kopf nach unten neigte, um den Lord zu grüßen.

»Da wir nun vollzählig sind, könntet ihr uns vielleicht das Tor öffnen«, befahl der Rote Rabe mit ruhiger Stimme und sein Blick wechselte zu den beiden Krallen, die noch immer hinter Evelin standen. Sogleich liefen die beiden los und entriegelten das Tor.

»Bitte begleite mich, Evelin«, sagte Lord Edvane leise im Vorbeigehen. Sein Mantel streifte ihre Seite einem Windhauch gleich.

Sie straffte die Schultern, drehte auf dem Absatz und folgte ihm in die Rabenburg. Evelins Herz schlug ihr bis zum Hals und auch Doraz tänzelte nervös auf ihrer Schulter herum.

Ich habe dir doch gesagt, dass du dich wieder in Schwierigkeiten bringst.

Statt zu antworten, verzog Evelin den Mund und ging hinter Lord Edvane durch das Tor. Dahinter öffnete sich der runde Burghof, auf dem zwei Flügel und eine Handvoll Diener gerade eine Ladung Kräuter und Salben kontrollierten. Sie geboten dem Roten Raben den nötigen Respekt und bedachten Evelin im nächsten Moment mit abschätzigen Blicken, was die Hitze auf ihren Wangen noch verstärkte.

Der Lord steuerte auf die Treppe zu, die sich an der Innenseite der Mauer in die Höhe schraubte, und lief geradewegs in Richtung der langen Halle. Doch statt diese zu betreten, bog er nach links ab und öffnete die Tür zum Rabennest. So jedenfalls nannten die meisten der niederen Mitglieder diesen Ort. Er gehörte allein den voll ausgebildeten Raben und natürlich ihrem Anführer. Evelin hatte die Tür noch nie von der anderen Seite gesehen und dass ihr ausgerechnet heute diese Ehre zuteilwurde, war keinesfalls der Abschluss des Tages, der ihr vorschwebte. Eine Wahl hatte sie allerdings nicht.

Bedacht darauf, nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern, betrat sie das Nest. Ihre Hände zitterten, also umklammerte sie ihren Mantel etwas fester und versuchte, die Nervosität zu unterdrücken. So nahe wie eben war sie dem Roten Raben bisher noch nie gekommen und zum ersten Mal hatte sie die blasse rötliche Zeichnung an seiner Schläfe gesehen. Tätowierungen waren unter den Ordensmitgliedern häufig und sie selbst trug eine auf dem rechten Oberarm. Ein kunstvoller Knoten, der den Umriss der Rabenburg nachahmte.

Nun aber wurde ihre Aufmerksamkeit zurück zum Nest gelenkt. Der Raum sah anders aus, als sie erwartet hatte. Er war kreisrund und besaß eine hohe, reich verzierte Gewölbedecke, deren Balken golden glänzten. Die Wände waren mit verschiedenen Vögeln bemalt und alles wurde von einem gewaltigen Kronleuchter erhellt. In der Mitte befand sich ein Feuerbecken, welches zugleich Wärme wie auch Licht spendete. Gegenüber der Tür stand ein länglicher Tisch, der mit einigen geschnitzten und bemalten Stühlen ausgestattet war. Rund um das Feuer tummelten weitere Sitzgelegenheiten, gepolsterte Bänke und niedrige Tische. Zwei Raben, Ciaran McDarn und Duncan Lorvik, saßen auf einer der Bänke und unterhielten sich leise. Sie nickten dem Lord zu und verfolgten dann Evelins Schritte genauestens.

»Setz dich«, wies der Rote Rabe Evelin an, die inzwischen vor dem Tisch angekommen war. Die Blicke der anderen auf sich spürend, kroch ein kalter Schauer über ihren Rücken. Zögerlich ging sie auf den Platz zu, den der Lord ihr zugewiesen hatte, und setzte sich. Doraz hüpfte auf die Stuhllehne und flatterte aufgeregt mit den Flügeln.

»Wie lange bist du schon bei uns, Evelin?«, begann Edvane und goss sich dabei einen Becher Met ein.

»Etwa ein Jahr, Mylord«, gab Evelin leise zurück. Dennoch kam es ihr vor, als hallte ihre Stimme ungewöhnlich laut von den Wänden wider.

»Ein Jahr«, wiederholte er nachdenklich und trank einen Schluck. »Und wie oft warst du in diesem Jahr in der Südstadt ohne die Erlaubnis deiner Lehrmeisterin?«

Vergebens schluckte sie. Ihre Kehle war staubtrocken. Was sollte sie auf diese Frage antworten?

»Ich …«, stotterte sie und verfluchte sich im gleichen Moment für ihr Stocken.

»Soll ich deinen Raben fragen oder willst du es mir selbst sagen?« Edvanes Blick grub sich in ihren Verstand, bis sie es nicht länger aushielt und stattdessen ihre Hände fixierte.

»Achtmal, Mylord.«

»Was hast du in diesen achtmal getan?«

Meinen Bruder besucht. Menschen geholfen. Zu viel Met getrunken. Diese Dinge schossen ihr durch den Kopf, doch nichts davon konnte sie ihm sagen. Sie kniff die Lippen zusammen und dachte fieberhaft nach.

»Ich war meinen Vater besuchen. Er ist nicht oft in der Stadt.« Es war nicht gänzlich eine Lüge, aber ihren Vater zu besuchen, war selten der Grund, warum sie hinausging.

»Deinen Vater zu besuchen, ist nicht verboten. Allerdings denke ich, du triffst dich eher mit deinem Bruder. Tomin ist sein Name, nicht wahr?«

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Wie konnte er das wissen? Sie achtete immer darauf, dass es niemand sah, wenn sie sich mit ihrem Bruder traf.

»Tamen. Sein Name ist Tamen«, wisperte sie.

»Wie dem auch sei.« Er winkte ab. »Du solltest dir im Klaren darüber sein, dass ich es nicht gutheißen kann, wenn du dich mit einem Dieb triffst. Dich mit ihm sehen zu lassen, schadet dem Ruf des ganzen Ordens. Es gibt Regeln, Evelin. Regeln, die der König bestimmt und an die wir uns alle zu halten haben.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch und brachte die Hornbecher zum Klappern. »Du bist eine Feder der roten Raben und keine kohleschaufelnde Magd in einer Mine. Du kannst nicht nach Lust und Laune durch die Straßen spazieren und uns mit deinem Handeln in Verruf bringen.« Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter.

Beschämt sah Evelin weiter auf ihre Hände. Natürlich hatte er recht damit. Sie hatte bewusst mit ihren Grenzen gespielt … und verloren. Aber auch wenn Tamen für die Diebesgilde arbeitete, war er immer noch ihr Bruder. Sollte sie ihn einfach aus ihrem Leben streichen, nur weil Doraz sie gewählt hatte? Sie wartete, dass Edvane mit seiner Predigt fortfuhr, er sagte jedoch nichts mehr. Verstohlen sah sie zu ihm auf. Er strich gedankenverloren über den Rand seines Hornbechers, während seine Rabendame Larin rhythmisch mit dem Kopf nickte. Dann stahl sich für einen Augenblick ein verbitterter Ausdruck in sein Gesicht. Aber so schnell, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder.

Edvane atmete geräuschvoll aus und nahm den Krug Met erneut zur Hand. Er goss einen großzügigen Schluck in einen zweiten Becher und schob ihn Evelin hin.

»Ich habe deinen letzten Krankenbericht gelesen«, sagte er ruhig, als hätte er gerade nichts anderes getan, als über das Wetter zu plaudern.

Evelin hingegen hielt es kaum noch auf ihrem Stuhl aus. Ihr ganzer Körper vibrierte. Ohne groß darüber nachzudenken, ergriff sie den angebotenen Becher und stürzte den Met hinunter. Die schwere Süße wurde schnell von einer scharfen Note auf ihrer Zunge abgelöst und breitete sich wärmend in ihrer Brust aus.

Wie kam er dazu, ausgerechnet ihren Bericht zu lesen?

»Du arbeitest sehr gewissenhaft und deine Ausführungen sind fast alle zutreffend. Deshalb wundert es mich, dass Mistress Dawn dich in ein so schlechtes Licht rückt, wenn sie über die Fortschritte ihrer Gruppe berichtet.«

Zu gern hätte Evelin noch einen Schluck Met genommen, um den Schock aus ihrem Kopf zu spülen, doch nach der Karaffe zu greifen, traute sie sich nicht. Dass Dawn sie allerdings schlechtredete, weil sie nur die Tochter eines Fischers und keine hochnäsige Schabracke aus einem Haus der reichen Nordstadt war, überraschte sie keineswegs. Wohl aber, dass niemand Geringeres als der Rote Rabe dies mitbekam.

»Wir kommen nicht gut miteinander aus, Mylord.«

»Das habe ich bemerkt. Deshalb wirst du ab morgen in Meister Mograins Gruppe arbeiten.«

Mit aufgerissenen Augen sah sie Lord Edvane an. Sie hatte mit einer Strafe gerechnet, aber von Dawn loszukommen, glich eher einer Belohnung. Zwar stand Mograin unter dem Ruf äußerst mürrisch zu sein, doch besser das, als die zeternde Maise noch länger zu ertragen.

»Danke, Mylord«, antwortete Evelin schließlich, bevor ihre Wangen, diesmal vor Erregung, zu glühen begannen.

»Außerdem«, fügte er in strengerem Ton hinzu, »wirst du …« Weiter kam er nicht.

In diesem Moment flog die Tür zum Nest mit einem Krachen auf. Ein Diener mit strähnigem blondem Haar stolperte herein und eilte um den Tisch herum auf Lord Edvane zu. Er wollte flüstern, sprach aber in seiner Aufregung lauter als nötig.

»Minart Balten ist ermordet worden. Die Magistrate bitten um Eure Anwesenheit, Mylord.«

Das Gesicht des Roten Raben verfinsterte sich.

»Was ist genau passiert?«, wisperte er und schien dabei die Anwesenheit von Evelin vollkommen vergessen zu haben.

»Er …« Der Diener zögerte. »Ihm wurde Asche in den Rachen gestopft, bis er erstickte«, gab er schließlich stockend von sich. »Außerdem wurde bei ihm eine Rabenfeder gefunden.« Sein Gesicht wurde eine Spur blasser und er blickte immer wieder zu Evelin herüber.

Ihr Magen verkrampfte sich.

»Ich komme gleich«, antwortete der Lord und winkte den Diener davon. Kaum war der Mann verschwunden, räusperte sich Edvane und sah Evelin zu hinüber.

»Geh und wasch dich! Morg–«

»Ich denke, ich habe den Mörder gesehen«, fiel Evelin ihm ins Wort.

Der Blick, den er ihr daraufhin schenkte, hätte den Mhorloch mit einem Schlag trockengelegt.

»Hat dich jemand erkannt oder gesehen?«

»Ich … also …« Verzweifelt versuchte sie, ihre Worte so zu wählen, dass sie ihr am Ende nicht doch noch einige Tage im Loch einbrachten. »Niemand hat meinen roten Umhang gesehen«, brachte sie schließlich hervor.

Weil du ihn nicht getragen hast, meinte sie seine stumme Erwiderung zu hören. Jedenfalls sagte die Art, wie sich Edvanes Lippen zu einem Strich verengten, genau dies, und beide wussten, dass es strengstens verboten war, ohne Rabenmantel unterwegs zu sein.

»Darüber werden wir morgen noch einmal sprechen«, flüsterte er stattdessen. »Jetzt geh dich waschen und dann wirst du in deiner Kammer warten, bis ich dich rufen lasse.« Mit diesen Worten erhob er sich und Evelin sprang ebenfalls auf. Sie verneigte sich, während der Rote Rabe mit schnellen Schritten das Nest verließ.

Eine Weile stand sie da und versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen.

»Raus hier!«, blaffte sie eine Stimme von der Seite an. Erschrocken und wütend zugleich fuhr sie herum. Meister McDarn stand hinter ihr und musterte sie von oben herab. Mit einem Kopfnicken Richtung Tür wiederholte er seinen Befehl.

»Guten Abend, Sir«, gab Evelin zurück. Sie reckte das Kinn ein wenig. Dann drehte sie auf der Stelle und marschierte in aller Ruhe aus dem Raum. Dass dabei ihre Knie noch immer zitterten, hoffte sie, würde er nicht sehen.

3

AIRRIL

ZUFLUCHT

Langsam stieg die Sonne hinter der fernen Wolkendecke auf und zeichnete rote und gelbe Schleier an den Himmel. Ein kühler Wind blies Airril um die Ohren. Er stützte sich auf die Balustrade des Turms und beobachtete die idyllisch anmutende Landschaft, die zaghaft im ersten Licht schimmerte.

Die Welt nördlich der Burg hatte nur wenig mit den Häuserschluchten und qualmenden Schornsteinen der Südstadt gemein. Die friedlichen Gärten und der lang gezogene Wald, die Canburgh diesseitig begrenzten, waren sein Anker. Wann immer er konnte, zog es ihn hinaus zwischen die knorrigen Bäume und die duftenden Wiesen.

Aber wie sich jeden Abend der Schatten der Nacht über die Hauptstadt von Edunach ausbreitete, so hing stets der strenge Blick seines Vaters über ihm.

So auch jetzt.

Er konnte die Rabenburg nicht verlassen, ohne dass eine der verdammten Krallen sofort zu seinem Vater rannte und ihm berichtete — mit dem Ergebnis, dass dieser ihn bei seiner Rückkehr bereits erwartete. Genau wie vor zwei Tagen. Airril kniff die Augen zusammen und atmete tief durch.

Ein Krächzen und das Schlagen von Flügeln erklang hinter ihm. Er fühlte, dass Kwill neben ihm gelandet war, und wie immer erfüllte es ihn mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Scham, dass seine Rabin genau zu wissen schien, wann er Beistand benötigte.

Langsam öffnete Airril die Augen und blickte auf das wunderschöne Tier. Ihr Gefieder glänzte im ersten Sonnenlicht und betonte die beiden auffallend hellroten Federn unter den dunkleren besonders intensiv.

»Sag es nicht, ich weiß«, murmelte er zu dem Tier. Sanft strich er über ihre Federn und seufzte. »Wenn ich das doch nur fertigbringen würde.«

Sei nicht so streng mit dir. Wir sind noch nicht so weit, auch wenn dein Vater es gern anders hätte.

»Was, wenn wir es nie schaffen?«

Kwill schnappte mit dem Schnabel nach seinem Finger.

»Au!« Airril zuckte zurück und rieb sich die gerötete Stelle. »Was sollte das?«

Wir werden die Verschmelzung meistern, wenn du mal etwas mehr an dich glauben würdest, krächzte Kwill und flatterte aufgebracht mit den Flügeln. Außerdemhabe ich auch keine Ahnung, wie das gehen soll.

»Oh, danke für nichts«, zischte er, hörte aber im selben Augenblick das Knarren der Tür am unteren Ende der Treppe.

Jemand kam die Stufen hinauf und mit jedem Schritt schlug Airrils Herz etwas schneller. Es gab nur wenige Mitglieder des Ordens, die in den Verschlag der Brutraben kamen, doch jedes Mal erwartete er, seinen Vater zu erblicken.

Der zarte Schein einer Laterne tanzte den Treppenabsatz empor und schließlich kam eine Gestalt in Sichtweite.

»Wie lange willst du dich noch hier verstecken, Airril?« Meister Varns Stimme erklang bereits, noch bevor er die letzte Stufe erklommen hatte.

»So lange wie möglich«, gab er gerade noch rechtzeitig zurück. Denn kaum hatte Varn den Raum betreten, begannen die vielen Raben in ihren Nisthöhlen zu krähen und zu rufen, dass man kaum noch sein eigenes Wort verstand.

Der Grund für die Aufregung war der Eimer, den Meister Varn in einer geübten Bewegung in den Bottich auf dem Boden ausleerte. Getreidekörner, Maden und vereinzelte Fleischbrocken verteilten sich über die Futterstelle. In einem Gewirr aus Flügeln und Federn stürzten sich die Tiere aus ihren Wandnischen auf das Essen. Viele der Raben hier oben waren schwarz, aber auch einige der roten Raben verbrachten die Nächte im Turm.

Fasziniert betrachtete Airril das Schauspiel aus streitenden und hüpfenden Tieren.

»Wann schlüpfen die nächsten Jungtiere?«, rief Airril über den Lärm hinweg.

»Sie sind bereits geschlüpft, sieh nur.« Varn deutete auf die Nester, aus denen unzählige hungrige Schnäbel hervorlugten. »Aber es dauert noch ein wenig, bis ich sagen kann, ob auch rote dabei sind. Vielleicht haben wir dieses Mal mehr Glück und können die Auswahl feiern.«

Mit einem Satz hüpfte Kwill auf Airrils Schulter und zupfte sanft an seinem Ohrläppchen.

»Schon gut«, wisperte er. »Meister Varn«, fügte er lauter hinzu, empfahl sich mit einem Nicken und lief die Wendeltreppe hinunter.

Unten angekommen eilte er auf direktem Weg zu seiner Kammer. Die letzten beiden Tage hatte er freigehabt, doch gleich musste er wieder zum Dienst im Krankenkorridor antreten.

Er war früh dran. Ein Vorteil, wenn man kaum schlief. Aber Meister Gistrell würde heute wieder seine ganze Aufmerksamkeit fordern, egal, wie müde Airril war.

Ungesehen eilte er in seine Kammer, wusch sich das Gesicht und suchte seine Sachen zusammen. Mit seinem Notizbuch unter dem Arm und Kwill auf der Schulter marschierte Airril kurz darauf die breite Rampe vom Hof der Rabenburg hinunter in die Katakomben. Diese führte geradewegs zum Krankenkorridor, der von den Patienten über einen Eingang aus der Nordstadt betreten werden konnte. Die roten Raben des Ordens jedoch verfügten über einen Durchgang direkt aus der Burg.

Der in den Felsen geschlagene Weg wand sich an zahlreichen Lagerräumen vorbei und endete in einem gewaltigen Korridor, der mit Pritschen für die Kranken gespickt war. In drei Reihen nebeneinander und über vierhundert Schritte erstreckte sich der Flur im Inneren des Felsens. Ein sanfter Luftstrom wehte durch spezielle Öffnungen in der Decke und ließ einen schnell vergessen, dass man unter der Erde war.

Die gewölbeartige Deckenkonstruktion war stellenweise mit Tüchern behangen und alle hundert Schritte fiel ein langer halb durchsichtiger Vorhang bis zum Fußboden hinab. Drei dieser Abtrennungen gab es entlang des Korridors und teilten die unterschiedlichen Einheiten voneinander.

»Morgen Airril! Du bist heute aber früh dran.« Rhona Thiskel, eine der Korridorverwalterinnen, saß gähnend an ihrem Tisch direkt neben dem Eingang und blätterte in einem wuchtigen Buch. Darin wurden alle Raben, Flügel und Federn dokumentiert, die den Korridor betraten oder verließen. Zahlreiche andere Dokumente, Kerzen und Siegelwachs verteilten sich über den Schreibtisch. Rhona schrieb Airrils Namen in die Liste und sah zu ihm auf.

»Meister Gistrell wird bestimmt gleich kommen. Ihr seid heute in der zweiten Sektion, Betten zwanzig bis vierzig«, erklärte sie und reichte Airril eine Liste.

»Danke, Mistress Thiskel. Dann werde ich schon mal alles vorbereiten.« Er nahm das Pergament entgegen und betrat den Gang, der ihn zwischen den Pritschen hindurch nach vorn führte. Die wenigen Flügel aus der Nachtwache drückten sich in den Nischen herum und warteten auf ihre Ablösung. Zudem wuselten in jedem Abschnitt eine Handvoll Diener umher, die diverse Ausscheidungen beseitigten und die Kranken mit Essen und Trinken versorgten.

Das Licht war dämmrig gehalten, denn die meisten Anwesenden schliefen noch. Das Fehlen von Tageslicht war für Airril das Schlimmste an seiner Arbeit. Mit allem anderen wurde er irgendwie fertig, doch die Sonne vermisste er hier unten besonders.

Er schob die Stoffbahn zur Seite und betrat seinen heutigen Arbeitsplatz. Eine Dienerin, die direkt hinter dem Vorhang an einem leeren Bett kniete, keuchte erschrocken auf.

Airril lächelte ihr zu, dann wanderte sein Blick durch den Raum. Die erdrückende Menge an Betten, die in den Korridor gepackt worden waren, ließ Airrils Magen verkrampfen. Gefühlt wurden es jeden Tag mehr Pritschen, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Darüber hinaus sah er keinen Raben in der ganzen Sektion und schüttelte verwundert den Kopf.

Er bahnte sich einen Weg zwischen den Lagern hindurch zu jenen, die seinem Lehrmeister für heute anvertraut worden waren. Nur zwei waren leer, in den restlichen lagen Kranke mit unterschiedlichsten Verletzungen. Zahlreiche Brandwunden, einige gebrochene Knochen, ein halb abgetrennter Fuß und zwei Kopfwunden erkannte er auf den ersten Blick.

Auf einmal flatterte Kwill los und setzte sich auf die Stange neben dem Alkoven. Hier wurden Verbände und Tinkturen für den schnelleren Zugriff aufbewahrt und obendrein bot er Platz für zwei oder drei Heiler zur Vorbereitung.

Mit gerunzelter Stirn sah er zu Kwill hinauf.

»Denkst du, was ich denke?«, wisperte er.

Ich bin mir sogar sehr sicher, dass es so ist, hörte er Kwills Stimme in seinem Kopf. Sie lief zwei Schritte zur Seite und zupfte mit dem Schnabel am Vorhang, der den Alkoven vom restlichen Bereich abtrennte.

Airril trat heran und zog den Vorhang vorsichtig auf. Skye und Ulik hingen mit den Köpfen auf der Tischplatte. Ein leerer Metkrug und zwei Becher verrieten Airril auf den ersten Blick, was die beiden in der letzten Nacht getrieben hatten. Selbst ihre Raben saßen schlafend auf einem Regal und bemerkten nichts von seinem Eindringen.

Schritte hallten durch den Korridor und sofort erkannte er an dem leicht schleifenden Gang, wer sich dort näherte.

Blitzschnell huschte Airril hinter den Vorhang, schnappte sich den heruntergefallenen Becher und knallte ihn auf die Tischplatte.

Die beiden Raben flatterten erschrocken mit den Flügeln und krächzten.

»Aahhh!«, stöhnte Skye ein wenig zu hoch, während Ulik nur aufschrak und Airril ungläubig anglotzte.

»Hoch mit euch«, zischte er leise und kramte in der Kiste neben dem Regal nach dem Lampenöl. »Gistrell ist gleich hier und ihr pennt, als gäbe es kein Morgen.«

Mit der Flasche in der Hand verließ er den Alkoven wieder und begann, die Ölbehälter auf den Leuchtern aufzufüllen. Er hatte kaum den ersten voll, da trat Meister Gistrell mit seinen drei Federn im Schlepptau durch den Vorhang. Gistrells Rabe Warris glitt geräuschlos durch die Luft und landete neben Kwill auf der Stange.

Endlich sah Airril aus dem Augenwinkel, wie Skye den Vorhang aufzog und mit einem Stapel Papieren beladen den Meister begrüßte.

»Guten Morgen, Sir«, gab sie in beherrschtem Ton von sich. Dennoch wehte Airril ein deutlicher Geruch nach altem Met in die Nase, der Gistrell kaum entgehen würde.

»Wenigstens einer, der pünktlich da ist«, knurrte der Meister und sah kurz zu Airril herüber, der seine Arbeit mit dem Öl für einen Gruß unterbrochen hatte. Wenn sein Lehrmeister eines nicht leiden konnte, dann war es Unpünktlichkeit. Der hochrote Kopf von Finola, die als letzte in der Gruppe näherkam, verriet ihm unverkennbar, wer mal wieder verschlafen hatte.

Meister Gistrell betrachtete Skye und Ulik mit zusammengekniffenen Augen. Dabei glänzte seine Glatze im Kerzenlicht und ließ die feinen tätowierten Linien auf seinem Schädel besonders deutlich aufleuchten. Keiner der beiden Trunkenbolde regte sich, bis der Meister grummelnd mit den Fingern schnippte. Sofort eilten die zwei davon.

Für Gistrells Federn war es der unausgesprochene Befehl, mit der Arbeit zu beginnen. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Finola holte frisches Wasser, Alastair legte saubere Verbände bereit und Belana weckte die Kranken, sollten sie durch das Krächzen der Raben nicht bereits erwacht sein. Während Airril die letzte Ölschale füllte und den Docht anzündete, gesellten sich weitere Lehrmeister mit ihren Federn in die Sektion. Jede Gruppe funktionierte auf ihre eigene Art und Weise, je nachdem, wer diese anführte. Für Airril war es immer wieder erstaunlich zu sehen, wie unterschiedlich die Raben mit ihren Federn arbeiteten. Einige blafften ihre Lehrlinge ohne Rücksicht auf die Patienten an, während andere, wie Gistrell, nie ein schlechtes Wort vor den Kranken verloren. Aber nach dem Dienst gab es für den Alten kaum noch Zurückhaltung. Dann kam es schon mal vor, dass die gesamte Rabenburg mitbekam, wenn wieder jemand seine Befugnisse überschritten hatte oder nicht schnell genug den Anweisungen nachgekommen war.

Die fünf roten Raben saßen derweil auf der Stange und beobachteten das Treiben ihrer Gefährten. Immer wieder spürte Airril den Blick von Kwill auf sich. Sie ließ ihn kaum aus den Augen, selbst wenn sie sich das Gefieder putzte.

Schließlich waren die Vorbereitungen abgeschlossen und die vier Federn kamen vor Meister Gistrell zusammen.

»Jeder übernimmt fünf der Betten. Ich will den üblichen Bericht und dann beginnen wir mit der Behandlung, angefangen bei den Verbrennungen.«

4

EVELIN

EINE KLARE ANWEISUNG

Unruhig lief Evelin in ihrer Kammer auf und ab. Sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich und wartete nun mit leerem Magen darauf, dass Edvane sie rief. Das Gefühl erinnerte sie allzu deutlich an ihre Kindheit. Ihr Vater hatte sie oft in ihrer Kajüte eingesperrt, wenn sie ungehorsam gewesen war. Allerdings hatte ihr damals die Warterei weit weniger ausgemacht, als ihr Vater sich vermutlich erhofft hatte, da sie die Zeit lesend auf ihrer Koje verbrachte. Heute jedoch hätte sie den Roten Raben lieber um Vergebung gebeten, als im Ungewissen gelassen zu werden. Zu viele Fragen geisterten durch ihren Kopf und bereiteten ihr Unbehagen.

Was war mit dem Fabrikanten genau passiert? Hatte der Kerl, der sie in diese Aschewolke gehüllt hatte, wirklich etwas damit zu tun oder war es reiner Zufall gewesen? Viele der Arbeiter in den Fabriken waren Tag und Nacht rußbedeckt. Ebenso die armen Seelen, die in den Minen um die Stadt herum nach Kohle, Erzen und Edelsteinen schürften. Es gab also keinen Beweis für die Aussage, die sie am Abend so unbedacht geäußert hatte. Nun war ihr das mehr als unangenehm. Warum hatte sie ihren Mund nicht halten können?

Über diese Sache hatte sich ihr Vater immer aufgeregt, auch wenn Mutter sie stets dafür in Schutz genommen hatte. Sie war immer davon überzeugt gewesen, dass ein Mädchen nicht laut genug sagen konnte, was es dachte, denn die meisten Männer hörten ohnehin nur mit halbem Ohr zu.

Evelin blieb stehen und drehte den silbernen Ring an ihrem Finger. Er war alles, was sie noch von ihrer Mutter besaß, zusammen mit den Erinnerungen. Mutter wäre bestimmt stolz auf sie, wenn sie wüsste, dass Evelin von den roten Raben aufgenommen worden war und lernte, den Menschen zu helfen. Dass man ihr, obwohl sie nicht gerade die Größte oder Stärkste war, fast überall mit Respekt begegnete, weil sie den roten Umhang tragen durfte und die meiste Zeit von Doraz begleitet wurde.

Evelin warf dem Raben einen flüchtigen Blick zu, der gerade sein Mittagessen verspeiste. Für ihn hatte sie immer einen kleinen Vorrat in ihrer Kammer, doch sie selbst musste hungern.

Hast du endlich aufgehört, umherzulaufen? Das macht es alles nicht besser, weißt du?, schimpfte er und pickte nach dem nächsten Korn.

Evelin konnte nicht stillhalten.

»Aber was soll ich denn sonst machen?« Sie zuckte mit den Schultern und setzte nach nur wenigen Atemzügen ihre Runde durch die Kammer fort.

Ein Klopfen an der Tür ließ Evelin erneut innehalten.

»Herein«, rief sie und ein Diener öffnete die eisenbeschlagene Tür.

»Miss Dunkworth, wenn Ihr mir bitte folgen würdet.« Mit einer angedeuteten Verbeugung wies er auf den Gang.

Obwohl es der Moment war, auf den Evelin den ganzen Vormittag gewartet hatte, konnte sie sich plötzlich nicht regen. Würde Edvane ihr nun doch eine Strafe aufbrummen oder schlimmer, sie wieder zu Mistress Dawn zurückschicken? Was würde sie erwarten? Eine Tracht Prügel, einige Tage im Loch oder noch länger in dieser trostlosen Kammer eingesperrt sein?

Krächzend flog Doraz auf ihre Schulter. Die Berührung des Tieres holte Evelin aus ihrer Starre und schließlich folgte sie dem Diener nach draußen. Er führte sie in Richtung Innenhof und Evelin vermutete, wieder im Nest zu landen, doch stattdessen bog er in die entgegengesetzte Richtung ab und führte sie eine steile Wendeltreppe hinunter. Die vielen Windungen fühlten sich schier unendlich an und mit jeder Stufe wurden die kleinen Wölkchen, die sich vor ihrem Mund bildeten, immer deutlicher. Endlich blieb der Diener vor einer Tür stehen, öffnete diese für sie und bedeutete ihr einzutreten.

Mit bebenden Gliedern trat sie ein. Sie erwartete Lord Edvane oder sonst einen der Raben vorzufinden, doch der Raum hinter der Tür war leer und trotz der vielen brennenden Kerzen erschien er Evelin düster und kalt. Der Geruch nach etwas Verbranntem hing in der Luft und setzte sich in Evelins Lunge fest. Gänsehaut breitete sich in Wellen auf ihren Armen aus.

Mit einem Krachen schloss sich die Tür hinter ihr. Evelin fuhr herum und Doraz flog schimpfend von ihrer Schulter auf. Er flatterte durch den Raum und landete auf dem aus Holz gezimmerten Gerüst zu ihrer linken Seite, das speziell für die Raben gemacht war und sich in allen Räumen der Burg wiederfand.

Evelins Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Sie atmete tief durch, um ihre Nerven zu beruhigen, und blickte sich in dem Raum um. An der gegenüberliegenden Wand war eine weitere Tür und die Mitte beherrschte ein Tisch, dessen Oberfläche von einem schmuddeligen Tuch bedeckt wurde. Etwas befand sich darunter und die Form des Umrisses kam ihr seltsam vertraut vor. Erneut begann ihr Puls schneller zu schlagen, wenn auch nicht aus Angst. Der Knoten in ihrem Magen verfestigte sich und sie verspürte das dringende Bedürfnis zu prüfen, ob ihre Vermutung richtig war.

Langsam trat Evelin näher an den Tisch heran. Was sollte sie hier bloß? Warum wollte der Rote Rabe sie ausgerechnet hier sprechen? Sie hatte die Abdeckung fast erreicht, als Doraz erneut zu krächzen begann.

Fass das besser nicht an!, empfing sie von ihm, doch Evelin zuckte nur mit den Schultern.

»Warum denn nicht?« Sie streckte bereits die Hand aus, als Schritte auf der Treppe erklangen. Ohne sich davon stören zu lassen, umfasste sie das Laken und hob es ein Stück an. Darunter kam genau das zum Vorschein, was sie vermutet hatte.

Ein Toter.

Der Tote.

Immerhin war sein Gesicht, vor allem der Mund, über und über mit Asche beschmiert.

»Hast du keine Angst?«, fragte plötzlich eine Stimme aus Richtung der Tür. Evelin spähte über ihre Schulter und sah dort Lord Edvane stehen. Sofort ließ sie das Laken los und sank zum Gruß auf ein Knie. Sie hatte gar nicht gehört, wie er die Tür geöffnet und wieder geschlossen hatte. Dennoch stand er dort mit seinem Raben und sah sie an.

»Nein, Mylord«, gab sie zurück, als sie langsam wieder auf die Füße kam. »Er ist tot und ungefährlicher könnte ein Mensch kaum sein.«

Ihre Worte hatten ein heiseres Lachen zur Folge.

»Da hast du ganz recht.« Edvane trat um den Tisch herum auf die andere Seite und schlug mit einem Ruck das Laken zurück. Der nackte Leib des Fabrikanten kam darunter zum Vorschein, doch der Anblick schreckte sie nicht. Sie hatte schon ganz anders zugerichtete Körper gesehen, deren Besitzer noch am Leben gewesen waren.

»Sag mir, woran er gestorben ist«, wies er sie an und ließ Evelin dabei nicht aus den Augen.

Sogleich kam Doraz angeflogen und hockte sich auf ihre Schulter. Sie streckte ihre Hände aus und legte sie dem Toten auf Brust und Bauch. Im nächsten Augenblick spürte sie das vertraute Zwicken in ihrem Nacken. Doraz Krallen umklammerten die Haut unterhalb ihrer rotblonden Haare und stachen tief in ihr Fleisch.

Für einen Herzschlag lang fühlte sie sich benommen. Der Boden schwankte leicht und eine eisige Welle rauschte durch ihren Körper. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich vollkommen auf ihre Sinne. Wo eben noch Eiseskälte sie erfasst hatte, strömte nun eine wohlige Wärme über ihre Haut. Einem warmen Sonnenstrahl gleich wanderte die Macht von Doraz durch sie hindurch, breitete sich von ihrem Nacken über die Schultern bis hin zu ihren Händen aus.

Ihre Fingerspitzen begannen zu pulsieren und dann sah sie das Gewirr aus leblosem Fleisch, Fett, Sehnen und Organen vor sich.

Konzentriere dich, hörte sie Doraz sagen.

Nur die Ruhe, immerhin wird dieser hier stillhalten, konterte sie.

Evelin atmete ruhig und ordnete die Eindrücke vor ihrem inneren Auge. Als das Bild endlich klarer wurde, begann sie mit der Untersuchung. Magen und Darm sahen normal aus, nur die Leber war blass und etwas zu groß für einen Mann dieser Statur. Systematisch suchte Evelin weiter. Seine Lunge zeigte Spuren von Einblutungen und je weiter Evelin hinaufsah, desto dunkler verfärbt zeigten sich Luftröhre und Rachen, bis alles von einer dicken schwarzen Masse verstopft wurde. Die Asche blockierte seine Luftwege vollständig und war höchstwahrscheinlich der Grund für sein Ableben.

Denkst du das wirklich? Doraz klang nicht überzeugt von dieser Theorie.

Nein. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Edvane von mir hören will, was er bereits weiß.

So wird es vermutlich auch nicht sein. Also lass uns nachsehen, was außerdem nicht stimmt.

Angespornt von den Worten ihres Raben, setzte Evelin ihre Untersuchung fort.

Sie fokussierte erneut Doraz’ Magie und sah sich das Herz des Toten näher an. Der Muskel sah größer aus, als er hätte sein sollen. Zudem störte Evelin etwas, doch sie konnte nicht genau sagen, was es war.

Was denkst du?, fragte Doraz.

Der Muskel ist verdickt. Was bedeutet, dass es nicht mehr so gut pumpen konnte, wie es hätte sollen,mutmaßte sie und versuchte, sich an die Dinge zu erinnern, die sie darüber gelesen hatte. Es wäre durchaus denkbar. Ein schwaches Herz konnte nicht mehr so gut mit Stress umgehen.

Mit einem leichten Hochgefühl vervollständigte sie ihre Musterung und suchte Kopf und Knochen nach weiteren Verletzungen ab. Doch außer einer oberflächlichen Wunde am Hinterkopf gab es nichts zu entdecken, das erst vor Kurzem entstanden war.

Schließlich zog sie ihre Hände zurück und Doraz löste die Umklammerung ihres Nackens. Ein scharfes Stechen fuhr durch ihren Rücken, verebbte aber sogleich wieder, als sich die Einstichstellen der Krallen verschlossen und innerhalb eines Atemzuges verheilten.

Mit einem lauten Krächzen flog Doraz zurück auf die Stange und Evelin warf einen letzten Blick auf den Körper vor sich.

»Und?«, fragte Edvane lauernd.

»Ich denke, dass sein Herz versagt hat, Mylord.«

»Am Ende ist es immer das Herz, das aufhört zu schlagen, Evelin. Das reicht mir nicht.« Er zog die Stirn in Falten und wartete auf ihre Antwort.

»Der Herzmuskel ist dicker als normal, er litt also vielleicht an einer Herzschwäche.« Sie war sich nicht absolut sicher damit, aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Außerdem hatte sie bisher nicht viele solcher Veränderungen gesehen.

»Und was könnte das bedeuten?«, bohrte Edvane nach, als spürte er ihre Unsicherheit in Bezug auf die Todesursache.

»Dass sein Herz noch vor dem Ersticken aufgehört haben könnte zu schlagen?« Einerseits kam ihr es logisch vor, aber ob dies wirklich zutraf, konnte sie nicht sagen.

»Warum fragst du mich das? Ich möchte die Antwort von dir hören.« Seine Augen verengten sich leicht und brachten Evelin aus dem Konzept. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er mit ihr spielte, und das gefiel ihr überhaupt nicht.

»Ich bin mir nicht sicher, Mylord. Ich habe bislang nicht viele Untersuchungen dieser Art gemacht.«

»Tatsächlich?«, wisperte er und fuhr mit der Hand über seinen Bart, der heute in zwei Zöpfen von seinem Kinn hing.

»Warum bin ich hier, Mylord, offenbar habt ihr die Ursache seines Ablebens doch bereits selbst bestimmt?«, platzte es plötzlich aus ihr heraus. Kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, biss sie sich auf die Zunge.

»Du bist hier, um meine Frage zu beantworten«, knurrte er. »Woran ist er gestorben, Evelin?« Mit langen Schritten kam er um den Tisch herum auf sie zu.

Überrascht wich sie einen Schritt zurück. Schon packte Lord Edvane den Stoff an ihrem Kragen und hielt sie fest. Dabei flammte der Bereich um seine Augen dunkelrot auf, während diese selbst von einem undurchdringlichen Schwarz erfasst wurden. Edvanes Rabe schrie und zeterte im Hintergrund.

Evelin zog scharf die Luft ein.

»Woran starb dieser Mann?«, fuhr er sie erneut an.

»Sein Herz hat versagt. Es hat den Stress des Angriffs nicht verwunden«, schrie sie zurück. Ihre Hände zitterten. Sie rechnete jeden Moment damit, dass er sie schlagen würde.

Mit einem Ruck ließ er sie los. Seine Augenpartie nahm wieder normale Züge an, doch der Blick in ihnen, ließ Evelin schlucken.

»So ist es«, hauchte er und fuhr dann in normaler Lautstärke fort. »Dieser Mann wäre vielleicht in den nächsten Tagen tot umgefallen, weil einer seiner Arbeiter eine Ladung Silberschmelze verschüttet hätte. Jede Form von Stress hätte das auslösen können. Das Ganze war ein tragischer Zufall. Verstanden?«

Wie mechanisch nickte Evelin. Es entsprach sicherlich der Wahrheit, dass dies möglich war. Dennoch begriff Evelin nicht recht, warum Edvane auf diesen Umstand pochte. Wollte er etwas verbergen? Etwas verheimlichen?

»Du wirst jetzt zurück in deine Kammer gehen und einen Bericht dazu schreiben. Diesen wirst du mir anschließend aushändigen.« Edvane verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte sie mit seinem Blick. »Sollte mir zu Ohren kommen, dass du dich auch nur noch ein einziges Mal ohne deinen Rabenmantel in der Stadt bewegst, werde ich dich persönlich zur Rechenschaft ziehen, Evelin. Die Regeln existieren nicht grundlos.«

Hitze stieg ihre Wangen hoch und sie sah beschämt zu Boden. »Du hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst, Evelin, aber ich werde dafür sorgen, dass es dir leidtun wird.«

Bei allen Dingen, die der Rote Rabe gerade gesagt hatte, bezweifelte sie die Letzten am wenigsten. Ihn so wütend zu erleben, verstärkte das Gefühl der Scham in ihrer Brust erheblich.

»Ich habe es nur getan, um meinen Bruder sehen zu können«, flüsterte sie, in der Hoffnung, die Erklärung würde ihn milde stimmen. Seine Reaktion verriet das Gegenteil.

»Das ist mir bewusst, aber du bist nicht …« Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Statt seinen Satz zu beenden, kniff er die Lippen zusammen und atmete geräuschvoll aus. »Geh mir aus den Augen und tue, was ich dir gesagt habe«, zischte er und winkte sie davon, wie ein lästiges Insekt.

Betreten verneigte sie sich und hielt dann auf die Tür zu. Doraz flatterte auf ihre Schulter und vergrub seinen Kopf in ihrem Nacken.

Ohne zurückzublicken, rannte sie die Stufen hoch und den Gang zu ihrer Kammer entlang.

5

AIRRIL

VERLUST

Du warst unkonzentriert, Airril!« Gistrells Stimme donnerte über den Hof. »Das hätte deinen Patienten fast das Leben gekostet. Was immer in deinem Kopf vorgeht«, er tippte unsanft gegen Airrils Schläfe, »du solltest es dringend hier oben lassen.«

»Ja, Sir«, murmelte er. Die Schelte seines Meisters stellte den üblichen Abschluss eines Arbeitstages dar und nach all der Zeit hatte Airril sich daran gewöhnt, es einfach über sich ergehen zu lassen. Diskutieren war sinnlos und führte nur dazu, dass sein Vater am Ende von der Sache Wind bekäme. Etwas, dass er unter allen Umständen vermeiden wollte. Starr blickte er die Steinplatten im Hof an und gelobte wie üblich Besserung.

Sein Magen knurrte indessen so laut, dass er fast Gistrells Tirade über Belanas Fehlverhalten übertönte. Zum Glück hatte er heute an seiner jüngsten Feder nicht übermäßig viel auszusetzen und entließ die Gruppe bis zum nächsten Tag.

Airrils Blick wanderte zum Himmel. Dunkle Regenwolken steiften beinahe die Spitze des Turmes, während die ersten Tropfen auf seiner Haut landeten. Er folgte Belana die Treppe hinauf in die lange Halle. Kaum hatte er die Schwelle überschritten, stieß Kwill sich von seiner Schulter ab und flog zu der Futterstelle zwischen den Dachbalken empor.

Kurz sah er sich in der Halle um und entdeckte eine freie Bank in der hinteren Ecke. Kaum hatte er Platz genommen und sich einen frischen Becher von einem Diener reichen lassen, plumpste Evelin stöhnend neben ihm auf die Bank.

»Du siehst grauenvoll aus. Wo hast du dich die letzten Tage herumgetrieben?«, raunte sie und stieß ihm mit einem sanften Lächeln gegen die Schulter.

»Wo schon? So weit weg wie nur möglich.«

Sie schnappte sich seinen Becher und leerte diesen in einem Zug. Derweil winkte sie bereits eine Dienerin heran.

»Also auf dem Turm? Wie hältst du es dort nur den ganzen Tag aus?«

»Ich habe meine Wege. Immerhin kann ich mich nicht einfach hinausschleichen«, murrte er zurück. Er nahm der Dienerin einen weiteren Becher ab, während Evelin ihr den Krug aus den Händen nahm.

»Genau dazu muss ich dir dringend etwas erzählen«, wisperte seine beste Freundin verschwörerisch und zwinkerte ihm zu. Ihr rotblondes Haar fiel ihr wild über die Schultern, als hätte sie sich nach dem Aufstehen nicht gekämmt. Die fingerlange Narbe an ihrem Kinn schimmerte silbrig im Licht der Öllampen und verlieh ihr ein verwegenes Aussehen.

»Was ist denn los?« Der gehetzte Unterton in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Etwas hatte sie aus der Fassung gebracht und das kam nicht allzu oft vor.

»Gestern Abend gab es einen Vorfall in der Südstadt und ich bin zu spät am Tor gewesen. Das wäre alles nicht so schlimm gewesen, aber ausgerechnet der Rote Rabe musste mich dabei erwischen. Jedenfalls …«

»Bist du irre, Eve!«, rief er und senkte sofort wieder seine Stimme. »Lord Edvane hat dich draußen erwischt?«

»Jetzt beruhige dich. Das ist nicht das eigentlich Furchtbare an der Sache.«

Die Geschichte von dem Toten und ihre unschöne Begegnung mit dem Roten Raben im Keller, die er anschließend zu hören bekam, vertrieb jegliches Hungergefühl und ersetzte es mit drückender Übelkeit.