Aranea - Axel Rüffler - E-Book

Aranea E-Book

Axel Rüffler

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Beschreibung

"Katzengold. Abseits." Kommissar Simond, der, wie auch Moulin, mittlerweile als Kriminalanalytiker bei Europol arbeitet, konfrontiert beim Verhör im ehemals berüchtigten Stasiknast "Roter Ochse" Erich Lehmann mit den Decknamen der Kommandoeinsätze der Eliteeinheit "Wachregiment Dzierzynski", an denen dieser maßgeblich beteiligt war. Lehmann hatte sich kurz zuvor ohne Not selbst gestellt. Doch warum? Was hatte ihn dazu bewogen? Als dann in der Untersuchungshaft ein Mordanschlag auf Lehmann verübt wird, entschließt er sich zu einem Deal, denn ausgerechnet Oberst Klappblau hatte ihn angezeigt. Sein ehemaliger Chef beim Wachregiment, der nach dem Ende der DDR eines der größten Elektrounternehmen sowie eine europaweit agierende Wachschutzfirma aufgebaut hatte. Erich Lehmann ist nur einer von vielen Elitesoldaten sowie Menschen mit besonderen Fähigkeiten, die nach der Wende für ihn arbeiteten. Doch womit diese Firmen sich wirklich beschäftigen und in welchem Ausmaß, das sprengt jegliche Vorstellungskraft der Ermittler.

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Der Autor

Axel Rüffler, 1963 in Halle/Saale in der DDR geboren, machte eine Ausbildung zum Elektriker in den VEB Leuna Werken und reiste 1988 in die BRD aus. Danach absolvierte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger in der forensischen Psychiatrie, wo er bis heute arbeitet. Er entdeckte erst spät, im Alter von 50 Jahren seine Leidenschaft am Schreiben, als er in der bierseligen Runde eines Bildungsurlaubes aufgefordert wurde, die Geschichten, die er erzählte, zu Papier zu bringen. Er sagte zu und begann am nächsten Tag seinen autobiografischen Roman „Letzter Ausweg Staatsfeind“.

Nach „Abseits“ und „Katzengold“ erscheint nun mit „Aranea oder Das Rote Netz“ sein dritter Kriminalroman.

Was bisher geschah

Alles begann mit einem anscheinenden Routinefall. Kommissar Moulin aus Südfrankreich wurde nach Cassis geschickt, um das Verschwinden eines Jungen zu untersuchen und klärte dabei mit Hilfe seiner Kollegen Renard und Simond zwei der spektakulärsten Kriminalfälle der Nachkriegsgeschichte auf.

Nach den Fällen „Abseits“ und „Katzengold“, wo die Spur zur ehemaligen Staatssicherheit der DDR führte, stehen die drei Ermittler nun vor ihrem schwersten Fall, „Aranea“. Mittlerweile bei Europol, bekommen sie es hierbei mit dem ehemals besten Geheimdienst der Welt zu tun, der auch nach dem Ende der DDR noch in Teilen weiterhin zu existieren scheint.

Personen und Handlungen der Kriminalromane sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit real existierenden Personen oder Firmen sind nicht beabsichtigt.

Die beschriebenen Orte können zum Beispiel über die Facebook Autorenseite durch die jeweilige Foto-Tour mit der eigenen Fantasie abgeglichen werden.

„Wir sind das Volk!“ Jemand hatte diesen Satz gerufen, als die ersten Volkspolizisten vorfuhren, an diesem Montag in Leipzig, als Bernd sich das erste Mal entschlossen hatte, auch an der Demonstration teilzunehmen.

Nach einem kurzen Moment der Stille wiederholten die ersten diesen Satz, und bei jeder Wiederholung wurden es mehr, immer mehr.

Bernd bekam Gänsehaut, aber er traute sich noch immer nicht, mitzumachen. Diesen Satz auszusprechen kostete ihn so viel Überwindung, denn er wusste, dass er auf ihn nicht zutraf.

Bernd war mit zu der Demo gefahren, weil auch er unzufrieden war. Dabei war in seinem Leben eigentlich alles blendend gelaufen, bis zu diesem Ausscheidungswettkampf, den er zwar klar gewonnen hatte, danach aber trotzdem nicht er zum Nationalkader nominiert wurde, sondern sein Gegner, den er in diesem Kampf besiegt hatte. Die Siegquote über das ganze Jahr wäre der entscheidende Grund gewesen. Der Grund für das Ende seiner Ringerkarriere, in die er so viel Energie, Kraft und Überwindung investiert hatte. Die Überwindung, Sachen zu tun, die er eigentlich nicht wollte. Diese drei Jahre bei der Nationalen Volksarmee, ohne die schon viel früher mit der Sportförderung Schluss gewesen wäre. Und da waren noch diese Medikamente, vorbeugend gegen Verletzungen, hieß es, die nehmen doch alle.

Bernd war sich sicher, diese schreckliche Akne auf Brust und Rücken hatte damit zu tun, und die Salbe, die er daraufhin bekam, verschlimmbesserte das Problem nur.

Jetzt, nach dem Ende des Sports, wenn er sich manchmal vor dem Spiegel etwas zur Seite drehte und seine Ohren betrachtete, die durch die ständigen Knorpelbrüche völlig verwachsen waren, fragte er sich, wofür das alles.

All diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als das „Wir sind das Volk!“ in seiner wachsenden Präsenz erneut eine gewaltige Gänsehaut bei ihm auslöste und er bei der nächsten Wiederholung wie automatisch mitrief.

„Die Mauer ist offen!“ Bernd konnte sich noch genau an den Satz erinnern, den sein Vater an diesem denkwürdigen Abend sagte und ihn noch dreimal wiederholte, als müsse er sich selbst davon überzeugen, dass das alles wahr ist, was die ganze Nacht im Fernsehen lief. Später kam die allumfassende Euphorie, die Hochstimmung, alles schien möglich, alles machbar.

Bloß Bernds Vater fiel nichts mehr ein. Seinem Café blieben die Gäste weg. Zu DDR-Zeiten war er die Nummer Eins in Halle mit seinem Laden, der vor allem auch bei internationalen Messegästen sehr beliebt war, die zusammen mit ihren Geschäftspartnern, die im Interhotel abgestiegen waren und dort hinter vorgehaltener Hand diese Empfehlung bekamen, am Abend etwas Zerstreuung jedweder Art suchten. „So etwas ist möglich, ein privates Café?“ Bernd wusste gar nicht, wie oft er diesen Satz schon gehört hatte und die erstaunten Blicke, die damit einhergingen. Für ihn war es das Normalste der Welt.

Wenn er am Wochenende zu Hause war, half er manchmal aus, mal legte er Platten auf, mal stand er hinterm Tresen. Die normalen Sorgen eines DDR-Bürgers kannte Bernd nicht.

Doch nun war alles anders. Früher war alles klar für Bernd, er würde den Laden seines Vaters übernehmen, so der Plan, der vorgezeichnete Weg. Jetzt hatte er nur ein Problem, die DDR war weg, und mit der DDR die Gäste. Viele hatten die arroganten Einlasskriterien nicht vergessen, die in einer Mangelwirtschaft durchaus funktionierten und auch in Studentenklubs ähnlich waren, denen man das komischerweise nicht so übelnahm wie ihm und seinem Vater.

Dazu kam, dass gefühlt jeder Zweite in den Westen gegangen war, um Arbeit zu suchen, und genau dieses Problem kam auch auf Bernd zu. Das Café ernährte nicht mal mehr seinen Vater, der inzwischen von seinen Rücklagen lebte. Und das übernehmen? Bernd war unsicher.

Immer öfter ging er abends ins Bermudadreieck, dieses Kneipenviertel, das aus dem Nichts entstanden war und wo man aus provisorisch zusammengezimmerten Tresen Getränke verkaufte und sich auf dem Hof an Fässern, in denen ein Lagerfeuer angezündet wurde, aufwärmte. Das „Nee“ hatte neu eröffnet, die „Kaffeescheune“, und mit der Zeit wurden es immer mehr, die ihre Ideen verwirklichten. Alles lief, außer das Café von Bernds Vater.

Auch Bernd fühlte sich in der neuen Szene wohl. Er knüpfte neue Kontakte, lernte Leute kennen, die so gar nicht zu der Klientel der Gastronomie seines Vaters gehörten. Das Positive war, sie kannten auch seine privilegierte Vergangenheit nicht. Auf seinen sportlichen Körper angesprochen, antwortete er meist nur knapp, dass er mal Ringer war, und dann war das Thema auch schon durch. Alles war so unverkrampft. Die ersten Studenten aus dem Westen schrieben sich an der Uni in Halle ein und waren begeistert. Vor allem das Nachtleben elektrisierte sie, die Offenheit, die Neugierde der Leute. Es ließ sich einfach hervorragend und verdammt günstig hier leben.

Offenheit war für Bernd nach wie vor schwierig, seine neuen Freunde kannten ihn nicht wirklich, und wenn es nach Bernd ging, sollte es auch so bleiben. Er hatte sich eine neue Wohnung zugelegt und sie günstig eingerichtet. Man musste nur schneller sein als die ganzen Trödelhändler, meist aus Holland, die die Straßen der Altstadt abfuhren und nach alten Möbeln Ausschau hielten, die sie dann eilig in ihre Transporter luden. Wahre Schätze verschwanden da für immer. Schätze, an denen sich ihre Besitzer sattgesehen hatten, über die ganzen Jahre der Mangelwirtschaft. Nun standen die Erbstücke der Eltern und Großeltern als Sperrmüll auf der Straße. Eine Art Befreiungsschlag für die alten Eigentümer, die nun beflissen die großzügig in alle Briefkästen verteilten

Kataloge von „Otto“ und „Neckermann“ nach neuen, günstigen und stylischen Möbeln durchstöberten, als wäre alles, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte, ein Makel, den es nun auszumerzen galt. Der Lebensstandard musste so schnell wie möglich auf ein westliches Niveau gehoben werden. Die Ratenzahlungsangebote machten es einfach. Schöne neue Welt, die meist aus lackiertem Pappmaschee und billigen Scharnieren bestand.

Bernds neue Freundin fand dagegen die alten Sachen schick und trendig. Anna war ein Szenemädel, die sich jedem neuen Trend verpflichtet sah, dazugehören um jeden Preis. Bernd und sein neues Leben waren in der Szene durchaus vorzeigbar. Bernd hatte sich auch einen Hund, einen beeindruckenden Rottweiler zugelegt. Hunde gehörten ganz einfach dazu, und manchmal musste er selbst schmunzeln über die Ähnlichkeiten, die Hund und Herrchen im Allgemeinen zugesprochen wurden. Bei seinem durchtrainierten Nacken und Oberkörper gab es schon eindeutige Parallelen zu seinem Vierbeiner.

Dieses Leben zu finanzieren wurde immer schwieriger für Bernd. So, wie es die meisten machten, kurz einen Job im Westen annehmen, bis man Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte, welches dann im Osten ein sorgenfreies Leben ermöglichte, das kam für ihn nicht in Frage. Er war schon an den Abenden rasend eifersüchtig, wenn er tagsüber mit seinen Geschäften nicht genügend Geld auftreiben konnte, um die allabendlichen Club- und Kneipenbesuche zu finanzieren, die Anna für selbstverständlich hielt. Sie fand auch ohne Bernd immer jemanden, der sie aushielt, und wenn sie nach diesen Abenden nach Hause kam, meist erst am frühen Morgen, mit dem Geruch von fremden Männern in ihrem langen, roten Haar, stellte sich Bernd schlafend. Jede Muskelfaser in seinem Körper war in solchen Momenten bis aufs äußerste angespannt, doch Bernd wusste, wenn er jetzt mit Anna reden würde, konnte alles passieren. Am liebsten hätte er die ganze Wohnung kurz und klein geschlagen, doch er war vernarrt in sie und wollte sie nicht verlieren, also ertrug er diese Demütigungen.

Und jetzt war Anna auch noch schwanger. Insgeheim hoffte Bernd, dass das Kind vielleicht doch nicht von ihm war. Einerseits machte ihn der Gedanke völlig fertig, dass Anna sich mit anderen Männern vergnügte. Noch mehr quälte ihn jedoch die Vorstellung, das alles finanzieren zu müssen. Ein Job musste her. Möglichst viel Geld für möglichst wenig tun. So, wie Bernd es durch das Café seines Vaters und den damit verbundenen Kontakten und Privilegien gewöhnt war. Doch wie sollte das funktionieren? Er war ratlos.

Anna schien das alles nicht zu berühren. Okay, sie war schwanger. Aber was sollte sich denn für sie ändern? Bernd musste sich etwas einfallen lassen, nicht sie. Sie kannte genügend junge Frauen, die in der gleichen Situation waren. Die Zeit schien wie geschaffen dafür, alles veränderte sich.

Die Stimmung unter den Menschen war so positiv wie noch nie. Dieser scheiß Kalte Krieg war vorbei. Die Russen hatten die Perestroika ausgerufen und nach der Wende mit dem Abzug ihrer Armee begonnen. Alles war so friedlich. Ein spürbares Aufatmen ging durch die Welt. Vereinzelt kamen noch mahnende Worte aus dem einen oder anderen Nachbarland, die ihre Bedenken hatten, welche Rolle ein wiedervereinigtes Deutschland in der Welt spielen würde. Aber das alles betraf Anna nicht.

Sie liebte das Leben. Die Partys, die Clubs, Grunge, diese neue Rockmusik, die wie geschaffen für diese Zeit war, und sie mochte Bernd, ihren väterlichen Freund. Bernd war so viel erfahrener und reifer als sie, doch manchmal erdrückte er sie fast mit seiner Fürsorge, damit, sie vor allem bewahren zu wollen. Anna wollte sich ausprobieren, das Leben spüren, und dazu gehörten auch andere Männer. Bernd war ihr Ruhepol, ihr sicherer Hafen, der sie vor den Turbulenzen dieser spannenden Zeit schützte und sie auffing, wenn sie mal über die Stränge geschlagen hatte. Und wenn einer ihrer neuen Errungenschaften nicht kapieren wollte, dass das nur eine einmalige Geschichte zwischen ihnen war, dann nahm sie am nächsten Tag ganz einfach Bernd mit.

Bernd erstickte jegliche Diskussion allein durch seine körperliche Präsenz, schon bevor sie überhaupt begonnen hatte. Bernd, ihr Beschützer, den sie nach ihren erotischen Ausflügen mit Zuneigung überschüttete, um nicht den geringsten Zweifel bei ihm aufkommen zu lassen. Sie gehörte zu ihm, aber für das ruhige Leben, das er brauchte, war sie einfach noch zu jung und zu wild.

Bei einem dieser Typen hatte sie aber alle Vorsicht über Bord geworfen und sich nach längerer Zeit ein zweites Mal mit ihm getroffen. Sven, ein Kunststudent aus Köln, der sich auf der Burg Giebichenstein für ein Semester eingeschrieben hatte. Sie waren mit dem Porsche seines Vaters nach Seeburg gefahren und spazieren gegangen. Sven hatte so viel von sich erzählt, von seinen Projekten, seinen Eltern, die in Köln eine angesagte Galerie betrieben. Anna war fasziniert von ihm, seinem selbstsicheren Verhalten, seinem glamourösen Auftritt und von der Lederjacke, die er ihr beim zweiten Treffen schenkte, um sie, Anna, besser in sein „Gesamtkunstwerk Sven“ zu integrieren, sie noch vorzeigbarer zu

machen, wenn er sich mit seinen überheblichen Freunden traf. Mit diesen Leuten, bei denen Anna sich unwohl fühlte, sich klein vorkam. Doch Sven hatte sie schon wie selbstverständlich in seinen Besitzstand übernommen und stand nun einfach mit seinem geilen Porsche vor ihrer Tür und klingelte.

„Ich erkläre dir das später“, hatte Anna nur kurz gesagt, „ich will diesen Typ nicht mehr sehen.“

„Ist die Lederjacke von dem da?“ wollte Bernd wissen.

„Ja“, antwortete sie kleinlaut.

„Ich kaufe dir eine schönere“, sagte Bernd leise und ging mit der Jacke in der Hand vor die Tür.

Anna schaute heimlich am Fenster zu, was da unten passierte.

Bernd schmiss Sven die Lederjacke ins Gesicht, als dieser daraufhin auf Bernd zustürmte, um ihn mit der Faust ins Gesicht zu schlagen, landete er mit der Hand auf dem Rücken und einem lauten Knall mit dem Gesicht voran auf der Motorhaube seines Wagens.

Bernd schob die Lederjacke mit dem Fuß in eine Pfütze, trat noch zwei Mal darauf, hob sie auf und schleuderte sie nochmals auf Sven, der leicht benommen gerade versuchte, von der Motorhaube aufzustehen.

Anna war in diesem Moment so unendlich stolz auf Bernd, ihren Beschützer, machte sich aber auch Sorgen, wie er reagieren würde, wenn er wieder zurückkam. Sie sah noch, wie Sven versuchte, so schnell wie möglich in seinen Porsche einzusteigen, um sofort mit quietschenden Reifen davonzufahren.

Bernd schaute kurz hoch zu dem Fenster, wo Anna das Geschehen beobachtete und jetzt erschrocken den Spalt des Vorhangs wieder zuzog. Nun hatte sich ihr Stolz in Angst verwandelt. Angst vor dem, was jetzt kommen mochte. Bernd betrat die Wohnung und nahm seine Jacke vom Haken.

„Ich kann dir das alles erklären“, sagte Anna hilflos und versuchte, ihn zu umarmen. Er stieß sie weg und sagte nur kurz: „Warte nicht auf mich, es wird später“, dann ging er.

„Dreitausendfünfhundert D-Mark für ’ne neue Motorhaube und zweitausend D-Mark Schmerzensgeld will der Lackaffe!“

„Was hast du gerade gesagt? Ich habe dich nicht verstanden“, sagte Jörg und beugte sich über den Tresen der „Kaffeescheune“, an dem Bernd schon seit einigen Stunden saß und versuchte, sich volllaufen zu lassen. Aber jedes Mal, wenn er an den Brief des Anwalts dachte, war er schlagartig wieder nüchtern.

„Bist du sicher, dass du noch eins möchtest?“ Jörg runzelte die Stirn, als er Bernds Bestellung aufnahm.

„Klar, mach‘ hinne!“

„Die Runde geht auf mich“, sagte eine tiefe Stimme neben ihm.

Bernd blickte nach rechts. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie dieser seriös wirkende Mann mit dem edlen Anzug und der teuren Uhr sich neben ihn gesetzt hatte.

„Und wie komme ich zu der Ehre?“, fragte Bernd mürrisch.

„Wir kennen uns“, antwortete der Fremde.

„Das wüsste ich aber!“ Bernd stand auf, stütze sich am Tresen ab, drehte sich zu dem Mann und musterte ihn von oben bis unten.

„Woher soll ich dich denn kennen? Aus dem Café meines Vaters vielleicht?“

„Auch“, entgegnete der dieser. Er nahm sein Bierglas, das Jörg gerade vor ihn gestellt hatte, hob es an und sagte laut:

„Prost!“

Bernd ergriff ebenfalls sein Glas. Er stand immer noch vor diesem Mann, den er nicht einordnen konnte.

„Du musst mir schon helfen“, er setzte sich wieder, „beim besten Willen, dich kenne ich nicht.“

Dann widmete er sich mit einem großen Schluck seinem neuen Bier und überlegte erneut. Aber wie schon den ganzen Abend über beschäftigte ihn, ohne dass er es verhindern konnte, erneut dieser Brief mit der immensen Geldforderung. Dann ergriff erneut sein Gegenüber das Wort.

„Oberst Klappblau.“

Bernd blickte wieder nach rechts und versuchte, sich zu konzentrieren.

„Wer soll das sein, dieser Oberst Klappblau?“ fragte Bernd, mehr an sich selbst gerichtet, was nun schon eine Folge des Alkoholkonsums war.

„Ich bin das“, der andere erhob sein Glas und prostete Bernd erneut zu.

„Für dich Heinz, und bevor du noch weiter grübelst, ich war bei deiner NVA-Musterung dabei.“

„Wie, bei meiner Musterung?“ Bernd standen die Fragezeichen ins Gesicht geschrieben.

„Ja, du bist ein Mann mit besonderen Fähigkeiten, und auf solche Leute habe ich damals ein besonderes Augenmerk gelegt.“

Er schmunzelte Bernd an und wartete auf seine Reaktion. Als diese allerdings ausblieb, begann Heinz nach einer Weile erneut zu reden.

„Also, ich will’s mal nicht so spannend machen. Ich war immer auf der Suche nach fähigen Leuten für unsere Eliteeinheit, das Wachregiment in Berlin. Du standest auf meinem Zettel ganz oben. Aber bei der abschließenden Prüfung der Behörde bist du dann leider durch das Netz gefallen.“

Bernd schaute immer noch, als würde er gar nichts verstehen, und ließ dabei seinen Mund offenstehen, was diesen Eindruck noch verstärkte.

„Das lag nicht an dir, mehr an deinem Vater, der durch seine Kontakte in einer Zuverlässigkeitsprüfung nur als mäßig eingestuft wurde. Wie gesagt, ich habe das sehr bedauert, das bedeutete damals auch das Aus für deine Sportförderung, so war das halt zu dieser Zeit.“

„Da kannst du dich noch dran erinnern?“, fragte Bernd erstaunt.

„Na klar“, erwiderte Heinz, und nach einer kurzen Pause fügte er noch nachdenklich hinzu: „solche Leute wie dich trifft man nur selten.“

Er legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter: „Was machst du denn momentan?“, dabei sah er ihn aufmerksam an.

„Nichts“, antwortete Bernd verlegen, „so kleine Jobs hier und da, aber nichts Festes.“

„Du hast doch mal Betriebsmess- und Regeltechniker gelernt.“

„Ja, das hab’ ich“, erwiderte Bernd, den sein Gegenüber immer mehr in Erstaunen versetzte. Es tat ihm ganz einfach gut, beachtet zu werden. Anna betrog ihn, dann die Scherereien mit diesem Schnösel, mit dem sie sich eingelassen hatte, seine Geldprobleme, und für Heinz war er etwas Besonderes, das ging runter wie Öl.

„Und, warum hast du keinen Job?“, hakte Heinz interessiert nach.

„Ja, du weißt doch, wie’s läuft“, sagte Bernd.

Er trank einen Schluck Bier, dann fügte er resigniert hinzu: „Entweder, du gehst in den Westen, um zu arbeiten, oder du bist halt arbeitslos. Die haben doch hier alles dichtgemacht, und die scheiß Treuhand verjubelt alles für ’ne Mark.“

„Da sagst du was“, Heinz nickte zustimmend.

„Ich musste gestern geschäftlich nach Eisleben, da bin ich an dem großen Obstanbaugebiet vorbeigefahren. Das wurde an einen Investor aus dem Westen verkauft. Diese Plantagen haben mal die ganze DDR mit Äpfeln versorgt, und was machen die? Alle Bäume rausgerissen, alles plattgemacht. Die haben ihre eigene Konkurrenz gekauft und ausgeschaltet, so funktioniert Kapitalismus.“

„Echt, die Plantagen sind weg?“ Bernd sah Heinz verwundert an.

„Da war ich mal im Ferienlager in Aseleben, zum Äpfel pflücken, von der FDJ aus.“

„Ja, genau, alles weg, und die Äpfel waren Spitzenklasse!“, bekräftigte Heinz seine Geschichte mit einem Nicken.

„Du, pass mal auf. Ich lade dich ein“, sagte Heinz spontan, „wir gehen noch woanders hin. Hier lässt es sich nicht so gut reden.“

Er holte ein Bündel Banknoten aus der Hosentasche, das mit einer exquisiten Geldspange zusammengehalten wurde, winkte Jörg heran und beglich die Rechnung nebst sattem Trinkgeld.

Jörg schaute Bernd mit großen Augen an, als Heinz noch mal kurz zur Toilette ging, hielt lächelnd den Hunderter in die Höhe.

„Da, schau mal. Es ist für alle genug da, es ist nur ungerecht verteilt. Mach’s gut, Alter.“

Dann machte er sich wieder an seine Arbeit.

„Deine Unterlagen sind, wie erwartet, vollständig. Willkommen im Team. Und noch was“, Heinz stand auf und ging um den Schreibtisch herum. Er stellte sich hinter Bernd und klopfte ihm auf die Schulter.

„Wir verstehen uns nicht nur als Kollegen, sondern wie eine Familie. Das heißt, wenn einer Probleme hat, dann kümmern wir uns darum.“

Er ging zurück hinter seinen Schreibtisch und setzte sich. Er griff zum Telefon und wählte die Null.

„Erika, bringst du uns bitte mal zwei Kaffee?“

Kurz darauf öffnete sich die Tür und die Sekretärin brachte ein Tablett mit zwei Kännchen Kaffee, etwas Gebäck, Milch und Zucker herein. Sie stellte es ab und schob Heinz ein Telefax über den Schreibtisch.

„Ach, Erika, ich möchte dir unseren neuen Kollegen vorstellen. Bernd, das ist Erika. Erika, das ist Bernd.“

Die Sekretärin gab Bernd freundlich lächelnd die Hand.

„Ach, Erika, wie spät ist es eigentlich?“, fragte Heinz und runzelte die Stirn.

„Dreiviertel elf, Heinz.“

„Danke, meine Liebe, ich habe heute früh ganz vergessen, die Uhr umzutun.“

„Alles klar“, sagte Erika, nahm das leere Tablett, lächelte und ging.

„So, mein Guter. Wir beide trinken jetzt mal in Ruhe unseren Kaffee.“ Heinz überflog das Fax und schmunzelte.

„Ach, übrigens, danke für dein Vertrauen, Bernd, dass du mir von deinen persönlichen Problemen erzählt hast. Nicht jeder wäre so ehrlich, seinem zukünftigen Arbeitgeber zu erzählen, dass ihn seine Freundin betrügt. Ich persönlich finde, dass du völlig richtig reagiert hast. Wie hieß der gleich noch mal, dieser Kunstfutzi?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Heinz fort.

„Diese Wessis müssen kapieren, dass hier andere Regeln gelten. Aber herkommen, auf die Kacke hauen und unsere Ostmädels pimpern? Ich habe gerade erfahren, dass dieses arrogante Arschloch Probleme mit seinem Porsche hat. Der muss in irgendetwas reingefahren sein. Alle vier Reifen platt. Das ist ganz schön ärgerlich. Die kosten ja nicht wenig. Und aus lauter Frust ist er dann noch unvorsichtig gewesen und die Treppe runtergefallen. Das kann schon mal passieren, wenn man meint, man ist was Besseres. Ich glaube, der hat kapiert, dass es keinen Sinn macht, einen unserer Kameraden anzuzeigen. Spätestens morgen, könnte ich mir vorstellen, nimmt er seine Anzeige zurück. In Köln kann man, glaube ich, auch ganz gut studieren, oder was meinst du, Bernd?“

Heinz grinste über das ganze Gesicht.

„Was machst du eigentlich heute Abend?“

Bernd lief den Boulevard hinunter und schaute sich um. Er liebte seine Heimatstadt, doch die Tristesse der leeren Schaufenster befremdete ihn. Hier war ja zu DDR-Zeiten mehr los gewesen! Es lag schon einige Zeit zurück, dass er in diesem Teil der Stadt unterwegs war. Zwar lag das Café seines Vaters der Luftlinie nach gar nicht so weit entfernt, aber schon früher waren das zwei Welten. Zumindest die Fassaden der Häuser dieser großen Einkaufsmeile waren schon zu Ostzeiten ganz gut in Schuss gewesen. Auf der Rückseite dieser Vorzeigestraße waren diese in genau solch einem katastrophalen Zustand, wie in dem Viertel hinter dem Interhotel, in dem Bernd großgeworden war.

Viele der Schaufenster des Boulevards, der den Bahnhof, ein Kunstwerk von Gustav Eiffel, das mit sozialistischer Kaschierungswut durch Plaste und Elaste aus Schkopau seine Verfallsspuren verdeckte, und die Innenstadt, die zwar das Glück hatte, nie im Zweiten Weltkrieg zerbombt worden zu sein, aber trotzdem trostlos wirkte, miteinander verband, waren von innen mit schmucklosem Packpapier verkleidet und mit Zetteln bestückt: „Zu vermieten“.

Bernd dachte an sein brandneues Mobiltelefon, das ihm sein neuer Arbeitgeber zusammen mit dem Arbeitsvertrag in die Hand gedrückt hatte. „Damit du immer erreichbar bist“, hatte Heinz noch als Kommentar dazu losgelassen. Aber das war nicht das Einzige, was Bernd stutzig machte.

Das für Nach-Wende-Verhältnisse üppige Anfangsgehalt war schlichtweg der Hammer. Nun gut, er musste dafür auf Montage gehen, von Montag bis Freitag weg von Anna, dafür aber keine finanziellen Probleme mehr.

Das wirklich ungute Gefühl hatte er allerdings wegen diesem Kunststudenten. Eigentlich war es nicht seine Art, so zu reagieren, doch die Summe der „Ereignisse“, die ihm Anna zugemutet hatte, waren auf Dauer schlichtweg nicht mehr zu verkraften. Bernd wusste genau, es war nicht nur die finanzielle Geschichte, die ihm das Genick brechen konnte, sondern auch seine sportliche Vergangenheit. Bei einem möglichen Prozess könnte der Richter seine Attacke auf Grund Bernds spezieller Fähigkeiten als schwere Körperverletzung werten, was durchaus auch Freiheitsentzug bedeuten konnte. Nun hatte das Heinz für ihn „geregelt“. Bernd bekam ein flaues Gefühl. Was bedeutete das, dass Heinz angeblich seine Uhr vergessen hatte, obwohl diese deutlich aus seinem Jackenärmel hervorblitzte? Bernd war absolut ungeübt in solchen Angelegenheiten. Früher hatte er sich nur um seinen Sport gekümmert. Viel mehr musste er auch nicht tun. Den Rest hatte sein Vater organisiert.

Geld war nie ein Thema gewesen, das war ganz einfach vorhanden. Sein Vater hatte für alles gesorgt, und das in einem Maße, welches Bernd manchmal ein ähnliches Gefühl beschert hatte, wie er es jetzt bei Heinz bekam, der ihn in weiten Teilen an seinen Vater erinnerte. Doch Heinz schien die Welle der neuen Zeit zu reiten, und sein Vater lief Gefahr, darunter zu ertrinken.

„Wir müssen reden!“ Bernd versuchte, diesen Satz besonders vorsichtig zu formulieren, als er mit seinem Hund Schröder seine Nachmittagsrunde drehte. Jedes Mal, wenn er diesen Satz aussprach und überlegte, wie es weitergehen könnte, blieb er stehen. Schröder fand es äußerst merkwürdig, wie sich sein Herrchen benahm, und quittierte dessen Verhalten, indem er sich ganz einfach vor ihn stellte, den Kopf schief hielt und ihn anbellte.

Bernd erschrak, schaute Schröder an und musste lächeln, das erste Mal an diesem Tag. Anna war mit einer Freundin unterwegs und wollte gegen Abend wieder zurück sein. Gegen Abend, wenn er das schon immer hörte, wusste er genau, eigentlich machte es keinen Sinn zu warten. An manchen Tagen kam sie dann um Mitternacht, manchmal auch später.

Ihn machte das wahnsinnig, nicht zu wissen, wo sie sich herumtrieb.

Er wollte Klarheit in seine Beziehung bringen. Klarheit, wie sollte das gehen?

Wenn sie nicht da war, dann war alles klar. Auch jetzt, in diesem Moment, wenn er mit seinem Hund unterwegs war, konnte er glasklar seine Beziehung reflektieren. Doch wenn sie dann vor ihm stand und ihm in die Augen schaute, war er ihr hoffnungslos verfallen.

Bernd wusste, er musste den Mut aufbringen, mit ihr zu klären, von wem das Kind war. Und wenn es von ihm war, musste er, wie Heinz sagte, das Zepter wieder in die Hand nehmen.

Heinz, sein väterlicher Kamerad, der Bernds Probleme ganz einfach in die Hand genommen hatte, ohne dass er dies gewollt hätte. Aber Heinz war in seinen Methoden wohl sehr effektiv. Zwar hatte sich die Polizei nochmal bei ihm gemeldet und hatte Bernds Alibi für den fraglichen Zeitraum abgefragt. Dreiviertel elf, ausgerechnet an dem Tag, als er zum Vorstellungsgespräch war und Heinz seine Uhr vergessen hatte, was dessen Sekretärin Helga natürlich bestätigen konnte. Doch genau wie Heinz es prophezeit hatte, zog dieser Sven seine Anzeige zurück.

Jetzt würde sich alles zum Guten wenden, da war Bernd sicher. Er ließ Schröder von der Leine, der sofort damit beschäftigt war, die Schwäne auf der Wiese vor dem Teich mit der Fontäne ins Wasser zu schicken, wo sie seiner Meinung nach hingehörten, und bellte zufrieden.

Bernd setzte sich auf eine Bank, schaute Schröder zu und schloss gedanklich das ab, was er Anna heute Abend sagen würde. In diesem Augenblick schien alles so einfach.

„Das ist doch ganz einfach“, sagte Anna lächelnd. „Ich lasse auf der Geburtsurkunde ‚Vater unbekannt‘ eintragen. Dann muss das Sozialamt die Alimente übernehmen.“

Bernd fühlte sich wie immer hilflos, wenn Anna diesen Gesichtsausdruck aufsetzte. Diese weit geöffneten Augen, dieses entzückende Lächeln und der gekonnte Augenaufschlag, den sie mehrmals in einem Satz zelebrierte, waren einfach entwaffnend.

„Da ist aber noch etwas.“

„Ach ja, was denn?“ Anna schaute interessiert, wenn auch etwas angespannt. Sie dachte eigentlich, dass sich das Thema mit Sven und der ungewissen Vaterschaft erledigt hatte, doch als sie bemerkte, dass Gerd sich am Kopf kratze, wusste sie, es musste etwas Ernstes sein.

„Ich habe Arbeit“, erklärte Bernd in einem betrübten Ton.

„Ja, das ist doch super!“, entgegnete Anna erleichtert, „und, was machst du genau?“

Gerd überlegte kurz, bevor er antwortete: „Ich arbeite für ein Subunternehmen der großen Telefongesellschaft. Wir verlegen für die das neue Telefonkabelnetz.“

Er erwartete eine Reaktion von Anna, die ihrerseits darauf wartete, dass Bernd noch etwas mehr über seine Arbeit erzählen würde.

„Ja, und?“, beendete sie die eingetretene Pause, „das ist doch klasse, Bernd.“

Dann blickte sie ihn wieder mit ihrem perfekten Augenaufschlag an, darauf lauernd, dass sich seine Miene aufhellen würde.

„Aber, also“, druckste er herum und räusperte sich.

„Aber was?“, hakte sie nach.

„Aber ich muss auf Montage“, begann Bernd erneut, senkte dabei den Kopf, als hätte er etwas Unrechtes getan, „das heißt, von Montag bis Donnerstagabend, spätestens Freitag, bin ich unterwegs.“

So, nun war es heraus.

„Das ist doch kein Problem, ich habe doch Schröder, der auf mich aufpasst, wenn du nicht da bist.“

Bernd war unheimlich erleichtert über ihre Reaktion, gleichwohl spürte er eine wachsende Anspannung in sich aufsteigen bei dem Gedanken daran, Anna die ganze Woche über allein lassen zu müssen.