Letzter Ausweg Staatsfeind - Axel Rüffler - E-Book

Letzter Ausweg Staatsfeind E-Book

Axel Rüffler

4,8

Beschreibung

Eigentlich beginnt eine Geschichte ja mit dem Anfang. Eigentlich, diese muss allerdings mit dem Ende beginnen. Mit einem Brief an den Bundespräsidenten, der für den Protagonisten Alex notwendig wird, da sich alles zu wiederholen scheint. Als längst verarbeitet geglaubte Ereignisse aus seiner Kindheit und Jugend in der DDR ihn während einer Nachrichtensendung einholen. Die Antwort auf seinen Brief lässt nicht lange auf sich warten, stellt ihn allerdings nicht wirklich zufrieden. Fortan beschäftigt ihn ein Gedanke, sich einzumischen, sein Anliegen deutlich zu machen. Auch für die Menschen, die nicht in der DDR gelebt haben und für die Generation, für die Erich Honecker so etwas ist wie Napoleon oder Hitler, jemand aus den Geschichtsbüchern. Er beschließt, seine Geschichte aufzuschreiben, zu erzählen. Aber auch die Staatssicherheit erzählt eine Version der Geschichte, aus ihrer Sicht, durch zahlreiche Originalunterlagen, die zeitlich und situativ eingefügt werden. Beginnend mit den ersten Wahrnehmungen seines Lebens, die zufällig das gemeinsame Auspacken eines Westpaketes innerhalb der Familie mit den unverwechselbaren Gerüchen sind, über seine Schul- und Ausbildungszeit mit Schlüsselerlebnissen, die nach und nach in ihm den Entschluss reifen lassen, dieses Land zu verlassen. Legal über einen Antrag, mit der naiven Vorstellung, es nur richtig erklären zu müssen. Jede Ablehnung seines Antrages zieht eine neue Antragsstellung nach sich, die Alex nach und nach radikalisierte.

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Seitenzahl: 257

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ich widme dieses Buch allen, die durch das DDR-Regime ihr Leben verloren, unter ihm gelitten haben und unter den Spätfolgen noch immer leiden.

07.01.2015 – Anschlag auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“, ein entsetzlicher Angriff auf die Meinungsfreiheit und die Demokratie

Und wie reagierte die Demokratie?

Mit einem Gesetzentwurf, der einige Monate später beschlossen und im medialen Schatten eines Fussball-Endspiels als Randnotiz erwähnt wurde.

18.01.2015 - Brief an den Bundespräsidenten

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

auf Grund einiger aktueller Ereignisse möchte ich mich nun doch einmal direkt an sie wenden.

Mit Schrecken und großer Anteilnahme habe ich die Berichterstattung über die aktuellen Terrorereignisse in Frankreich verfolgt. Die Verstärkung der terroristischen Aktivitäten in Europa beunruhigt mich sehr. Andererseits bin ich auch beunruhigt, wie im deutschen Bundestag sich nun einige Debatten verstärken, die auch schon letztes Jahr vor diesen schrecklichen Morden und Geiselnahmen begonnen haben. Ich wende mich ausgerechnet nun an sie, da sie mit der nach ihnen benannten Behörde für Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, auch für mich persönlich einen großen Beitrag geleistet haben, die Zeit des Wartens auf die Realisierung meines Ausreiseersuchens in die BRD und die damit verbundenen Repressalien aufzuarbeiten. Aktuell beunruhigt mich die Vorlage zu einem Gesetzentwurf, der mutmaßlichen IS-Terroristen nun durch Entzug ihres Personalausweises die Möglichkeit des Verlassens der BRD zu verweigern. Auch die Begründung, sie an einer möglichen Teilnahme an Terrorcamps zu hindern, finde ich keinesfalls ausreichend, derart Menschenrechte zu beschneiden.

Wie ihnen aus ihrer früheren Tätigkeit bekannt sein dürfte, hat die Staatssicherheit der DDR mit genau denselben Mitteln "öffentlichkeitswirksames Auftreten" versucht zu verhindern. Ich persönlich war eine der Personen, denen man durch den Entzug des Personalausweises und durch die Stigmatisierung des sogenannten "PM12" die letzte Menschenwürde versucht hat zu nehmen.

Ich appelliere an sie, diese Umstände aus unserer Vergangenheit in ihrer Entscheidung zu berücksichtigen.

Ich selbst sehe mich als begeisterten Demokraten und Verfechter der europäischen Idee und würde ein solches Gesetz als Schlag ins Gesicht aller Menschen sehen, die unter dem DDR-Unrechtssystem gelitten haben, und als nachträgliche Legitimation von Staatssicherheitsmethoden.

Mit freundlichen Grüßen

Axel Rüffler

Nun saß er da, auf einer Anrichte in der Küche. Alex hatte sich eine Art Puderdose geschnappt, aus dem Paket, das der Postbote mit einem neidischen Gesicht gebracht hatte. Jedes Mal, wenn so ein Paket kam, war so eine Art „Festtag“. Seine Mutter Ruth hatte Alex geschnappt und auf die Anrichte gesetzt, damit er nicht weiter stören konnte beim Auspacken. Alex war circa 31/2 Jahre alt, und dieser Moment war der erste in seinem Leben, an den er sich später erinnern konnte. Die Stimmung war ausgesprochen gut. Opa Emil erhielt endlich wieder seine „Ernte 23“-Zigaret-ten, von denen er 3 Packungen am Tag brauchte. Oma Emelie die lange erwarteten Süßigkeiten, die sie sich leider mit dem Rest der Familie teilen musste. Emelie aß gerne und viel Süßigkeiten und Essen aller Art, was man ihr auch deutlich ansah. Ruth bekam ihren Kaffee Jacobs Krönung, den im Osten erhältlichen bezeichnete sie als Gipfel der Frechheit, und Wernher, Alex’ Vater, war noch arbeiten, wie fast jeden Tag sollte er erst abends nach Hause kommen, um dann nach dem Abendessen in seinem Büro zu verschwinden, welches er erst spät abends verließ.

Da saß er nun und sah gebannt dem Treiben zu. Er hatte noch keinen Bezug zu den Sachen, die da verteilt wurden, aber er genoss den Geruch, der sich da im Raum ausbreitete, und der so ganz anders war, als sonst üblich.

Wernher war Dachdeckermeister. Er hatte die Firma von Emil, seinem Vater übernommen. Eine eigene Dachdeckerfirma im Sozialismus, was für eine Aufgabe. Es gehörte schon eine Verbissenheit und Unnachgiebigkeit dazu, sich auf solch eine Aufgabe einzulassen. Emil, Emelie und Wernher mussten nach dem Krieg ihre Heimat verlassen, sie kamen aus Reichenberg, jetzt Liberec, in welchem Emil schon eine gutgehende Dachdeckerei mit tadellosem Ruf betrieb. Sie bestand schon seit 8 Generationen und wurde stets auf den erstgeborenen Sohn übertragen. Im Zuge der Vertreibungen aus dem Sudetenland zerstreute sich die Familie in alle Richtungen. Konstanze, die Schwester von Emil, nach Witislingen an der Donau in die französische Besatzungszone, und Emil, Emelie und Wernher zogen es vor, sich in der amerikanischen Zone anzusiedeln. Die Vorzeichen für einen Neustart erschienen dort am günstigsten. Sie bezogen ein Haus an der Badeanstalt in Röblingen am See, in dem eine provisorische Wohnung für Flüchtlinge ausgewiesen war. Es war ein recht idyllischer Ort. Die Badeanstalt stammte aus der Jahrhundertwende mit herrschaftlichem Hauptgebäude. Es waren Umkleidehäuser für Männer und Frauen vorhanden, natürlich wie damals üblich streng räumlich voneinander getrennt. Ein Nichtschwimmer-Becken war ausgemauert mit Steinplatten, die Einfassung und Treppen aus verziertem Sandstein. Was für ein Luxus, der völlig auf dem Trockenen lag, denn den See gab es nicht mehr. Der ehemalige Salzige See, der große Bruder des Süßen Sees und einst der zweitgrößte See Deutschlands, wurde ab 1884 ausgepumpt, da das Wasser immer wieder in die Kupfermine bei Eisleben einbrach. Kurzerhand wurde er trockengelegt und musste seit dieser Zeit ständig abgepumpt werden. In den Nachkriegszeiten, als der Strom ab und zu knapp war, kam er zeitweise so stark zurück und eröffnete dadurch für die Jugend von Röblingen einen einträglichen Nebenjob. Sie setzten die Menschen mit dem Boot nach Aseleben über, wenn die Straße überschwemmt war. Auch Wernher tat das mit wachsender Begeisterung. Nach längeren Stromabschaltungen war der Wasserstand mitunter so hoch, dass man sich ducken musste, um im Ruderboot noch unter den Überlandleitungen durchzupassen. Überhaupt war die Gegend sehr schön. Rund um die Seen war eine liebliche Hügellandschaft, auf der vor dem Krieg Wein angebaut wurde. Man nannte die Region auch Klein-Italien, da sie durch ein spezielles Mikroklima verwöhnt wurde. Dazu trugen der Harz auf der westlichen Seite und die Saale auf der östlichen Seite als Wetterscheiden bei.

Bei einer der Stromabschaltungen betätigte sich Wernher wieder mal als nebenberuflicher Fährmann, als er währenddessen Ruth kennenlernte. Sie wollte zum Tanzen nach Stedten. Ruth beeindruckte der Geschäftssinn von Wernher. Und als sie erfuhr, dass er in der Dachdeckerfirma seines Vaters arbeitete, ließ sie ihn von da ab nicht mehr aus den Augen.

Irgendwann heirateten die beiden, und seither führte Ruth, die Putzmacherin gelernt hatte, ein Leben als Hausfrau und Mutter von Alex, der 1963 geboren wurde.

Alex saß in seinem Zimmer. Sein Tonbandgerät Marke „Smaragd“ spielte Jethro Tull. Er schaute auf das „magische Auge“, welches in grünen Farben verlaufend den Rhythmus anzeigte, und dachte nach. Er hatte Sommerferien, die letzten, denn er hatte gerade die Polytechnische Oberschule „Gustav Sobotka“ in Röblingen am See beendet.

Er durfte kein Abitur machen. Alex hatte sich geweigert, 3 Jahre zur Nationalen Volksarmee zu gehen. Er hatte keinen Bock mehr auf Drill, dem war er zur Genüge in seinem Elternhaus ausgesetzt. Seine schulischen Leistungen hätten durchaus ausgereicht. Allerdings war Alex's Vater Wernher nicht Mitglied der Arbeiterklasse, obwohl er härter arbeitete, als manch anderer im Sozialismus. Er war selbstständiger Dachdeckermeister, stand tagsüber auf dem Dach und abends saß er bis spät im Büro.

In den Anfängen der DDR waren handwerkliche Kleinstbetriebe in privater Hand durchaus erwünscht. Doch später wurden ihm immer mehr Steine in den Weg gelegt. In dem Maße, wie sich die Ideologie verhärtete, verstärkte sich auch die Verbissenheit, mit der Wernher seine Selbstständigkeit erhalten wollte. Er hatte es durchaus zu ansehnlichem Wohlstand gebracht. Er hatte ein eigenes Haus, im Stil der Zeit renoviert, einen privaten PKW, sogar ein Lizenzprodukt von Renault aus Rumänien, und auch sonst jede Menge Statussymbole. Alex war das alles nicht wichtig. Hatte ihm doch dieser Wohlstand den Neid und die Missgunst seiner Mitschüler und Bekannten eingebracht. Passte doch seine Familie so gar nicht in den sozialistischen Einheitsbrei. Der äußere Schein war perfekt.

Alex hatte sich als Elektriker in den Leuna-Werken „Walter Ulbricht“ beworben und war auch angenommen worden. Das Gute an der Zusage war – er war dann endlich weg von Zuhause. Weg von seiner hysterischen Mutter und seinem cholerischen Vater und aus dem kleinbürgerlichen spießigen Röblingen. Seine Kindheitserinnerungen waren schon weitgehend verblasst. Er war Meister im Verdrängen geworden, er hatte sich angewöhnt, nur noch nach vorn zu schauen Er hasste die neu gebaute Schule in Röblingen, in der ihm schon in jungen Jahren versucht wurde, im Rahmen von vormilitärischem Unterricht die These eines überlebbaren Atomkrieges beizubringen, den der westliche Aggressor irgendwann anfangen würde. Die Kellerräume der Schule wären dafür angeblich bestens geeignet. Er hasste den montäglichen Fahnenappell mit militärischem Drill und Aufstellung in Reih' und Glied, wo die neue Schulwoche mit Hissen der roten Fahne und Singen von Arbeiterkampfliedern begonnen wurde. Er hasste den Direktor, der ihm in der fünften Klasse verboten hatte, seine heißgeliebte Jeans, die ihm Tante Konstanze geschickt hatte, in der Schule anzuziehen.

Einzig der Musik- und Kunstlehrer Herr Müller hatten einen Eindruck bei Alex hinterlassen. Damals, an einem Tag im Herbst in der fünften Klasse, sie probten im Unterricht gerade „Der Kuckuck und der Esel“, bekam er auf einmal einen cholerischen Ausbruch und schrie: "Ihr seid schon wieder im Schiss-Moll!" Es folgte Stille in der Klasse und Herr Müller kämpfte sichtlich mit den Tränen, fing sich aber wieder und sagte: "Tut mir leid, mir geht es nicht so gut, mein Sohn heiratet gerade, und ich kann nicht dabei sein." Er beendete die Stunde und gab ihnen den Rest frei. In diesem Moment hatte Alex eine Ahnung, dass grundlegend etwas in diesem Land nicht stimmen konnte. Heiraten war doch was Schönes, sagten alle. Er selbst lief wie alle Kinder des Ortes immer zu dem Gemeindehaus, wenn wie fast jeden Sonntag geheiratet wurde. Der Fotograf kam aus Eisleben mit seinem Polski-Fiat, mit einer Fanfare als Hupe, die er dann immer zur Freude der Kinder bediente. Was für ein Spaß. Das Brautpaar küsste sich, und dann warfen sie Geld auf den Bürgersteig für die Kinder, die mit einem Band den Ausgang des Standesamtes versperrten. Danach wurde ein Stamm zersägt, und die ganze Truppe verschwand gut gelaunt in einer der beiden Gaststätten des Ortes, um zu feiern.

Wie konnte man einem Vater verbieten, seinen Sohn zu so einem Fest zu begleiten? Alex war ratlos. Er beschloss, seine Eltern zu fragen, die waren ja schließlich auch verheiratet. Von Freude war an den meisten Tagen allerdings nichts mehr zu spüren. Dafür stritten sie sich fast jeden Tag. Alex erhielt auf seine Frage keine Antwort. Ruth und Wernher waren vielleicht schon zu lange verheiratet.

Zwei Wochen nach dem Vorfall sah Alex einen geilen VW-Bus vor dem Haus von Herrn Müller stehen. Man erzählte sich, sein Sohn sei aus West –Berlin zu Besuch. Kurz danach hieß es, Herr Müller geht in Rente, wenig später stand seine Wohnung leer.

Der erste September rückte unaufhaltsam näher. Alex sah die Tagesschau (sein Vater hatte sich standhaft geweigert, die Antenne auf dem Dach so zu drehen, dass nur noch Ostempfang möglich war. Das wurde in den 70-ern forciert mit der Aktion „Freie Deutsche Jugend aufs Dach“, Antennen umdrehen, was sie in den kommunalen Mietskasernen ungefragt taten.). Der Sprecher verkündete, dass einer Familie die Flucht aus der DDR mit einem Heißluftballon gelungen war. Der Ballon war selbst genäht, was für eine Wahnsinns Aktion.

Alex war zwar nie so richtig angekommen in seinem Leben in der DDR, hatte aber auch keine unlösbaren Schwierigkeiten. Seine Eltern waren mittlerweile mit sich selbst beschäftigt. Sie hatten beschlossen, sich endlich scheiden zu lassen. Er hatte nun bald die Möglichkeit, Röblingen zu verlassen. Er wollte nach seiner Lehre nach Halle an der Saale ziehen. Die Stadt zog ihn magisch an. Er liebte die Altstadt, sie war im Krieg nicht zerbombt worden. Graf Luckner war mit seinem Motorrad mit einer weißen Fahne den Amerikanern entgegengefahren und hatte kapituliert und die Stadt übergeben. Die Amis hatten sich gerade auf eine Gruppe der SS eingeschossen, die sich auf dem Roten Turm mit einem Flakgeschütz verschanzt hatten. Einige Treffer hatten den Turm schon getroffen, seitdem hatte er keine Spitze mehr. (Alex war mit seinem Vater vor Ort, als diese 1973 mit dem damals größten Autokran der DDR wieder aufgesetzt wurde). Ansonsten war die Stadt weitgehend unversehrt geblieben. Wie sich herausstellte, stand sie auf der Liste der von den Alliierten zu bombardierenden Städte weit vor Dresden. Die Pläne wurden damals kurzfristig geändert.

Ihm gefiel nicht nur die Stadt. Alex sah auch viele Menschen, die er bis dato nur aus dem Westfernsehen kannte, Langhaarige mit zerflickten Jeans, Nato-Parka und Jesus-Latschen, meist noch mit einem selbst genähten Umhängebeutel aus Wandteppichen mit röhrenden Hirschen, und andere Individualisten, sogenannte Kunden. Alles war so komplett anders als in Röblingen. Alex hatte das Gefühl, hier durchatmen zu können. Wie absurd. Die Luftverschmutzung hatte einen Grad erreicht, der in Europa einzigartig war. War doch die Region dank Leuna, Buna und Bitterfeld die dreckigste der DDR. Die Saale hatte an den Wehren Schaumkronen und einen unvergleichlichen Gestank nach faulen Eiern und Chemie, der nicht zum Verweilen einlud und auch jedem Fisch das Leben unmöglich machte.

Da wollte er hin. All das erschien ihm weit lebenswerter als Röblingen, das zudem noch Gefahr lief, von dem Braunkohletagebau aufgefressen zu werden. Sollte es doch verschwinden. Er würde es nicht vermissen.

Alex hatte sich nach seinem 16. Geburtstag eine gebrauchte 150 ccm MZ gekauft. Endlich waren die größeren Städte schneller erreichbar. Er hatte mittlerweile seinen Entschluss konkretisiert. Nach Halle/Saale ziehen und niemals heiraten. Seine Eltern hatten ihm dieses Lebenskonzept für alle Zeiten ausgetrieben; und niemals dick werden. Marius Müller-Westernhagen, was für ein geiler Typ, das waren die Grundpfeiler seiner Philosophie. Auch allzu viele Sachen zu besitzen war ihm suspekt. All dieser spießige, muffige Kleinkram, nein danke. Das Leben genießen, Leute kennenlernen, Feten feiern, gute Gespräche führen, lesen und Mädels kennenlernen. Das Leben konnte so einfach sein. Ihm wurde in der Schule gebetsmühlenartig beigebracht, „Freiheit sei die Einsicht in die Notwendigkeit“, was für ein Schwachsinn. Sollte das heißen, alle DDR-Bürger seien frei, da es notwendig war, sie einzusperren, sie müssten nur noch die Einsicht dafür entwickeln, dass das gut für sie ist.

Für Alex war Freiheit, die Freiheit der Andersdenkenden, also nicht vorhanden. Doch er hatte Pläne, wie er zumindest ein Stück Freiheit für sich erreichen wollte.

Eigentlich waren die Sommerferien ja immer ewig lang, aber die letzten vergingen wie im Flug. Alex hatte sich den Wecker gestellt.

4.30 Uhr, die zwei Glocken auf dem Teil schrillten in den höchsten Tönen. Was war los? Alex war für einen Moment total orientierungslos. Er hatte die Nacht schlecht geschlafen, vor Aufregung. War doch heute dieser Tag, der erste reguläre Arbeitstag in seinem Leben. Alex musste sich um 7.00 Uhr in der Berufsschule der VEB-Leuna Werke einfinden.

Er fuhr mit dem Zug nach Halle. Er liebte diesen Bahnhof. Die freischwebende Stahlkuppelkonstruktion auf dem Sandsteingebäude. Einfach nur schön, war der Architekt auch kein Unbekannter, Gustav Eiffel hatte sich hier ein weiteres Denkmal gesetzt. Die real existierende Planwirtschaft hatte schon unübersehbare Spuren hinterlassen, aber man konnte den ursprünglichen Glanz noch erahnen. Die Menschen, die durch den Bahnhof hasteten, hatten sich dem Gebäude angepasst, so schien es. Alex schaute in leere graue Gesichter, die versuchten, ihren Anschluss zu bekommen.

Lang konnte er nicht verweilen, musste er doch noch eine 3/4 Stunde mit der Straßenbahn nach Leuna. Er fuhr über Merseburg, Schkopau, Buna, Leuna. Was für ein Schauspiel, welches sich bot, als die Sonne sich entschied, aufzugehen. Sie hatte es bestimmt schon viel früher vor, doch erst jetzt schaffte sie es, durch den Smog zaghafte Strahlen auf die Industriesilhouetten zu werfen. Da lag er nun, der alles überdeckende Grauschleier über Land und Stadt, den seine Mutter noch nicht reingewaschen hat. Alex war geschockt, er hatte noch mit der Müdigkeit zu kämpfen, die dem frühen Aufstehen geschuldet war, doch das, was er in dem ersten Morgenlicht zu sehen bekam, haute ihn um. Er fuhr vorbei an Abwasserbecken, die durch aufgeschüttete Wälle geschaffen worden waren, in die Flüssigkeiten mit undefinierbarem Geruch durch verrottete Rohre geleitet wurden. Er fuhr vorbei an Industrieanlagen, die aussahen, als wären sie noch vor dem Krieg gebaut und seit dieser Zeit nur notdürftig zusammengeflickt worden, die dominierenden Farben waren rostbraun und aschgrau, vorbei an Wohnhäusern, die sich zu 80% von ihrem Putz getrennt hatten, als wollten sie eine Last loswerden. Deren Ziegeldächer waren nur noch konturell zu erkennen, auf den meisten lagen 3 bis 5 Zentimeter dicke ausgehärtete Staubschichten in der Einheitsfarbe aschgrau. Die wenigen Bäume und Pflanzen hatten sich aus Solidarität farblich angepasst.

Alex konnte nicht glauben, was er sah, ihm ging es wie ein Blitz durch den Kopf. Scheiße, das ist es nun, was dich bis 65 erwartet. All seine Perspektiven, die er sich zurecht gesponnen hatte, bekamen einen grauen Überzug. Er träumte sich zurück in die Zeit, als Tante Konstanze noch regelmäßig Pakete schickte, mit diesem unvergleichlichen Geruch. Seine Erinnerung schaffte es nicht, den latent penetranten Geruch zu übertünchen. Diese Realität in ihrem Lauf hielten weder Ochs noch Esel auf. Zwar waren seine Kindheit und Jugendzeit auch nicht besonders farbenfroh, aber das hier toppte alles an Tristesse, was er bis dahin gesehen hatte.

Seine Eltern hatten ihn an Sonntagen manchmal in den Harz nach Ilsenburg verschleppt zum Wandern. Er musste dann immer seine besten Sachen (zumindest nach der Meinung seiner Mutter) anziehen und durfte sich nicht schmutzig machen. Danach ging es meist in ein überfülltes Café, die Plessenburg, mit Wartezeit auf einen Platz. Doch zuerst hieß es erst einmal wandern. Sie gingen meist über die Ilsefälle, ein idyllischer schmaler Weg an einem Wasserfall vorbei. Ruth schimpfte meist hysterisch, weil der Weg nicht befestigt war und Alex sich schon wieder schmutzig gemacht hatte. Doch Wernher genoss gerade dort sein Hobby, die Photographie, in vollen Zügen.

Alex fand das alles äußerst spannend. Waren sie doch auf dem Weg dorthin an einem kleinen Häuschen vorbeigekommen, in dem zwei Grenzsoldaten standen, die den Weg geradeaus zum Eckerstausee mit einem Schlagbaum sicherten und ihnen den Weg nach links wiesen. Überall standen Hinweisschilder, dass das Betreten des Sperrgebietes nicht gestattet war. In Abständen von circa 50 Metern waren die Bäume am Wegesrand mit weißer Farbe markiert. Diese Linie durfte man nicht übertreten. Es hieß, dahinter seien Stolperdrähte, die ein Eindringen meldeten, und später käme ein Minengürtel. Nach den Ilsefällen kamen sie wiederum an eine Weggabelung, an der sie später nach links weitergingen. Doch erst holte Wernher seinen Feldstecher aus dem Rucksack und schaute zum Brocken. Von diesem Platz war er bei schönem Wetter am besten zu erkennen. Wernher erklärte Alex, dass dort oben der erste Fernsehturm Deutschlands stünde. Er schwärmte von der Sicht von dort oben, bei schönem Wetter bis ins Weserbergland. Alex fragte, warum sie dann nicht dort hochlaufen. Wernher sagte kurz angebunden: "Als ich noch jung war, war das noch möglich, momentan nicht." Alex erkannte auf dem Brocken noch drei weitere Türme mit komischen Kuppeln auf dem Dach. „Was ist das denn, Vati?“ „Weiß ich nicht“, sagte Wernher knapp. Später erfuhr Alex, dass die Staatssicherheit dort oben ihr Quartier aufgeschlagen hatte, unter den Kuppeln waren Abhöranlagen, die den Westen ausspionieren sollten, wegen ihrer Form auch im Volksmund „Honeckers Moschee“ genannt. Zum Abschluss gab’s Kuchen in der Plessenburg, und Alex hoffte wie jedes Mal, dass der zahme Hirsch wieder vorbeikommt, um Kekse zu bekommen, die er sogar aus der Hand fraß.

Das alles erschien ihm jetzt auf einmal wie das Paradies. Aber was sollte er tun. Wernher hatte ihm geraten, einen handwerklichen Beruf zu lernen. „Da hast du immer und überall Arbeit.“ Alex beschloss in diesem Moment, überall ist auf keinen Fall Leuna-Buna-Bitterfeld. Aber zuerst hieß es, die Ausbildung zu machen. Alex versuchte, auf Funktionsmodus zu schalten, aber eigentlich wollte er nur weg von diesem lebensfremden Ort. Die ersten 3 Monate hieß es neben der üblichen Theorie feilen, feilen und nochmals feilen, bohren und Gewinde schneiden. Er musste wie alle anderen aus einem viel zu großen Metallstück eine Erdungsplatte herstellen. Wie schön, er war in der Masse untergetaucht. Er war ein Gleicher unter Gleichen. Er wurde nicht mehr auf seinen Vater und dessen Betrieb reduziert. Alex war zur praktischen Ausbildung dem Bau 96 zugeteilt, einem gigantischen Industriegebäude aus Kruppstahl, mit genauso gigantischen Hochspannungsmotoren und Kompressoren zur Synthesegasherstellung. Fast alles stammte noch aus Zeiten vor dem Krieg. In der Nachbarhalle standen sogar noch Dampfmaschinen der „Gebrüder Sülzer“ von 1913, die sich nach all den Jahren erstaunlich klaglos an der Erfüllung der sozialistischen Planwirtschaft beteiligten.

Alex war einer Brigade zur Instandhaltung und Wartung zugeteilt. Die Instandhaltung und Wartung scheiterte aber meist an dem nicht vorhandenen Material, so dass meist nur ein oder zwei der sechs riesigen Kompressoren liefen, die natürlich ihren Fünfjahresplan stets übererfüllten. Was für eine schizophrene Scheiße. Alle machten gute Miene zum bösen Spiel. Manchmal hatte man wochenlang nichts anderes zu tun, als Neonröhren auszuwechseln, und die Wartezeit mit Skat und Doppelkopf zu überbrücken. Das Ausbildungsziel „Skat lernen“ erreichte Alex mit Auszeichnung. Andere züchteten Karpfen in den Kühltürmen, Gurken oder Tomaten in den Schalträumen, oder schliefen sich auf der Schicht richtig aus, um zu Hause fit für alle möglichen Arbeiten zu sein. Privat geht vor Katastrophe, hieß ein oft erwähnter Spruch. Neben dem Bau 96 stand ein riesiges Verwaltungsgebäude mit einem Paternoster und einer Kantine im Keller. Und das Beste, einer riesigen Bibliothek, die so gut wie keinen interessierte. Alex wurde dort Stammgast. Anders als in jedem Buchladen gab es dort ein Wahnsinns-Angebot, auch von Schriftstellern aus dem nichtsozialistischen Ausland. Und bücken musste sich auch niemand dafür. Alex erkannte den ersten Vorteil seines Arbeiterlebens, den er in vollen Zügen genoss. Er verschlang Bücher von Autoren, von denen er nie zuvor gehört hatte, träumte sich in vergangene Zeiten und fremde Welten. Die Realität erschien immer lebensunwerter.

Sein Funktionsmodus hatte ihn zu einem guten Stand in der Berufsschule und seiner Brigade verholfen. Günther, sein Meister, konnte ihn gut leiden, was auch auf Gegenseitigkeit beruhte. Zu einigen Kollegen hatte er ein fast freundschaftliches Verhältnis. Er hatte seine Fühler in das Nachtleben von Halle und Halle-Neustadt ausgestreckt. Er ging zwei-, dreimal die Woche in das „Gastro“ und den „Treff“ in Halle-Neustadt. Dort suchte er schüchtern seinen Platz, war dort doch die Szene vertreten, die er als Kind bei seinen Ausflügen nach Halle schon bewundert hatte. Die Kunden und Hippies, Alex fühlte sich dort wohl. Seinen Kollegen erzählte er nichts von seinen Erlebnissen, waren doch diese Leute, die Langhaarigen, bei denen nicht gut angesehen.

Der Winter war im Anmarsch. Alex beschloss, sich für eine Wohnung in Halle-Neustadt anzumelden. Die Fahrerei nach Röblingen war ätzend. Zwar schlief er dort nur noch, aber schon allein der Weg zum Bahnhof kostete ihn Überwindung. Alles war ihm zu eng, zu spießig. Mitte Dezember fing ein neuer Kollege an, Gerd. Gerd war ein schweigsamer Typ. Er schien verunsichert und von angeschlagener Gesundheit. Er hatte ein aschfahles Gesicht und war starker Raucher. In den Frühstückspausen las er viel, meist in Zeitungspapier eingeschlagene Bücher. Alex fragte ihn einmal, was er da lese, „nichts Besonderes“ war die Antwort und das Gespräch beendet.

Gerd war bei den Kollegen nicht beliebt. Es hieß, er komme aus dem Knast. Hätte wohl Glück gehabt, sei unter die Amnestie zum 30. Geburtstag der DDR gefallen. Warum wusste niemand, aber es hieß wegen Republikflucht hinter vorgehaltener Hand. Gerd solle sich jetzt in der Produktion bewähren. Bewähren hieß im Klartext, von Anfang bis Ende der Schicht in den Kabelkeller und Kabel ziehen. Was für ein scheiß Job. Jeder versuchte, sich vor dieser Arbeit zu drücken. Es war schon praktisch, einen Gerd zu haben... Am Ende jeder Schicht sah Gerd aus, wie einer der Gastarbeiter aus Kuba, die zur Ausbildung aus dem Bruderland nach Buna oder Leuna geschickt wurden.

Was Gerd allerdings von den Gastarbeitern unterschied, war, Gerd hatte man eingesperrt, weil der die DDR verlassen wollte. Die Kollegen aus Kuba fuhren jedes Wochenende nach Westberlin, ganz legal. Einige protzten auch mit ihren Erlebnissen, beliebt machten sie sich damit nicht. Kurt war bei einer dieser Geschichten zugegen, die Antonio, der Kubaner erzählte. Er wäre bei seiner Freundin in Westberlin gewesen. Wie jedes Wochenende waren sie in einer Diskothek am Ku‘damm, die einem sogenannten Eden gehörte, einer Westberliner Szeneikone, und danach im Kaffee Kranzler frühstücken. Prima, dachte Alex, das möchte jetzt jeder hören. Hatte Antonio denn wirklich kein Plan, was hier los ist, dass hier keiner raus darf? Und als ob es ihm Freude machte, erklärte er, dass er heute Abend dann wieder zu seiner Freundin nach Merseburg fahren würde, die beiden wüssten allerdings nichts voneinander. Antonio fand sich toll in diesem Moment. Da war er aber der Einzige. Kurt drehte sich um und murmelte in seinen Bart: „Die scheiß Teerpappen sollen sich doch ganz einfach dahin verpissen, wo sie herkommen und unsere Frauen in Ruhe lassen“.

Kurt hatte für einen Moment seine Fassung verloren. Er war eigentlich nicht unsympathisch, ein Original halt. Er war der Einzige, der keinen gelben Schutzhelm trug. Günther hatte es aufgegeben, ihn deshalb zu ermahnen. Außerdem war er kurz vor der Rente und hatte so eine Art „Narrenfreiheit“. Kurt zog auch Hochspannungssicherungen nicht, wie es Vorschrift war, mit einem Sicherheitshandschuh und Gesichtsschutz, sondern mit seiner Schiebermütze. Alex mochte ihn eigentlich, doch ihm kamen Zweifel. Er erinnerte sich an eine Beobachtung, die er beim Duschen nach der Schicht gemacht hatte. Kurt hatte unter der Achselhöhle eine Nummer tätowiert. Als er mitbekam, dass Alex das aufgefallen war, drehte er sich blitzschnell zur Seite. Alex wusste damals nicht, wen er fragen sollte, was das zu bedeuten hat. Doch jetzt schien es zu passen. Hatte er doch bei feuchtfröhlichen Feiern diesbezüglich eindeutig zweideutig schon öfter Andeutungen gehört. Eigentlich wurde das dunkelste deutsche Kapitel in der Schule auch so behandelt, als hätte diese Zeit auf dem Gebiet der späteren DDR nicht stattgefunden. Oder hatte „das System Gerd“ auch damals schon funktioniert, Andersdenkende in die Produktion, um sich zu bewähren? Wie viele Kurt’s gab es eigentlich und in welchen Funktionen? Alex bekam Bauchschmerzen. Er mochte Kurt für seine lockere Art, die Dinge anzugehen, Vorschriften zu ignorieren, sein Ding zu machen. Andererseits wollte er nicht so über Menschen reden, obwohl ihm Antonio auch äußerst unsympathisch war. Er musste seinen eigenen Weg finden.

Mitte Dezember, es hatte angefangen zu schneien. Alex hatte beschlossen, nicht nach Halle-Neustadt zu fahren, denn Schnee bedeutete nichts Gutes. War die Reichsbahn schon unter normalen Bedingungen alles andere als zuverlässig, aber wenn Schnee lag, konnten schon mal ganze Züge ausfallen. Bei längeren Frostperioden war dann auch die gesamte Energieproduktion gefährdet. Es war dann schwierig, Braun-und Steinkohle zu fördern, und bei der Reichsbahn liefen auch noch sehr viele Dampflokomotiven, was Alex in seiner Kindheit immer sehr gefreut hatte. Er hatte dann oft an der Schranke in Röblingen gestanden und den Zügen bei der Durchfahrt zugeschaut. Er fand diese alte Technik faszinierend.

Er hatte heute sturmfreie Bude. Wernher hatte eine Frau kennengelernt, die er besuchen wollte. Alex machte es sich im Wohnzimmer gemütlich, um fernzusehen. Er schaute, wenn er die Möglichkeit hatte, die Tagesschau. Was er heute sah, beunruhigte ihn. Der Sprecher berichtete davon, dass in Brüssel ein Nato-Doppelbeschluss verfasst wurde, der als Reaktion auf die sowjetische Aufrüstung die Aufstellung neuer Atomsprengköpfe auf Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern auf dem Gebiet der Bundesrepublik vorsah. Alex mochte diesen militärischen Scheiß nicht, auf beiden Seiten. Hatte er doch erst kürzlich bei einem Besuch im „Gastro“ in Neustadt von Peter Gabriel den Titel „Krieg muss man schwänzen. Spiel ohne Grenzen“, den er sogar in einer deutschen Version eingespielt hatte, gehört. In diesem Moment sprach der ihm aus der Seele. Er hatte Angst, er wusste, dass dies Reaktionen auf der anderen Seite provozieren würde, aber seine größere Angst war die bevorstehende Musterung. Er wünschte sich zu „schwänzen“, aber wie. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten, als Antwort auf den Nato-Doppelbeschluss, der einen Tiefpunkt in den Beziehungen USA-Sowjetunion beschrieb, gab Leonid Breschnew den Einsatzbefehl, die „demokratische“ Volkspartei Afghanistans (DVPA) zu unterstützen. Ziel dieser Invasion sollte sein, ein sowjetfreundliches moskauhöriges Regime in Kabul einzusetzen, und das Land gewaltsam zu befrieden, um zugleich die Südflanke der Sowjetunion zu sichern.

Der Führer der DVPA, Tavari, hatte schon mehrfach um sowjetische Militärhilfe gebeten. Vor dem Nato-Doppelbeschluss lehnte die sowjetische Führung diese Hilfe ab, wegen des großen außenpolitischen Risikos. Nach dem Tod Tavaris befürchtete sie, der neue Führer Hafizullah Amin könnte Nato-Truppen ins Land rufen, um seine Macht zu sichern, und um die rund 30 Mudschaheddin-Gruppen zu bekämpfen, und wie zu erwarten, unterstützten die USA jetzt genau diese Gruppen. Ein Stellvertreter-Krieg war eröffnet. Würde der Kalte Krieg in Europa auch in einen heißen eskalieren? Alex schoss es durch den Kopf: Du bist doch noch so jung, musst du jetzt schon sterben?

In seiner Ausbildung funktionierte er, und abends lernte er langsam Leute kennen, die ihn interessierten. Mit einigen konnte er sich über Literatur und Musik unterhalten, mit einigen über politische Themen. Doch er hatte gelernt, vorsichtig zu sein. In seiner Kindheit und Schulzeit war es ihm kaum gelungen, Menschen kennenzulernen, mit denen er seine Interessen teilen konnte. Umso vorsichtiger war jetzt. Wusste er doch um die umfassende Präsenz der Staatssicherheit, bzw. hatte eine Ahnung, die nicht einmal ansatzweise mit der Realität übereinstimmte.

Aufgrund der aktuellen Ereignisse begann Alex nun öfter, die Tagesschau zu sehen. Seine Befürchtungen waren eingetroffen, die Lage spitzte sich zu, kein Tag verging ohne eine Meldung zum Nato-Doppelbeschluss oder Afghanistan-Krieg. In der Bundesrepublik hatte sich teils massiver Protest gegen den Doppelbeschluss formiert. Mitten in die aufflammenden Proteste kam die Nachricht, Rudi Dutschke sei an den Folgen des Attentats vom 11. April 1967 gestorben. Auch in der DDR wurde eine Friedensbewegung angeordnet. Die FDJ musste auf die Straßen, um für den Frieden zu demonstrieren, das konnte man ja nicht dem Klassenfeind überlassen.

Die Nachricht vom Tod Dutschkes heizte die Demos im Westen noch an. Alex begann zu forschen, wer war dieser Dutschke, was war damals passiert. Die Antworten zu bekommen war nicht einfach. Der Geschichtsunterricht in seiner Schulzeit hatte das Thema „68“ nicht auf dem Lehrplan.

Das Jahr verlief mit wechselhaften Erfolgsmeldungen aus Afghanistan, auch die Friedensdemos auf beiden Seiten wurden fester Bestandteil der Nachrichtensender. Einzig ein Überfall auf eine Bank in Zürich, der der RAF angelastet wurde, machte Alex neugierig. Erinnerte er sich doch noch genau an die Nachrichten um die Entführung von Martin Schleier und den Anschlag auf Siegfried Buback, sowie die Entführung der Lufthansamaschine „Landshut“, die in den 70’gern die gesamte Bundesrepublik in Atem hielt.

Ansonsten plätscherte das Jahr so vor sich hin, die politischen Spannungen waren Normalität geworden. Alex seine Ausbildung lief gut bis sehr gut. Nur eine Nachricht brachte etwas Abwechslung in den Alltag. Es hieß, es sollen einige hundert Vietnamesen als Vertragsarbeiter nach Leuna und Buna kommen. Alex musste sofort an Kurt denken, der auch, kurz nachdem er das erfuhr, gleich verbal zur Höchstform auflief.

Im Frühjahr hatte Alex Urlaub. Er hatte das Angebot bekommen, mit ein paar Leuten nach Prag zu fahren. Er war zwar als Kind schon einige Male dort, doch die Erinnerungen daran waren nicht so schön. Sein Vater fuhr früher fast jedes Jahr in die Nähe dieser schönen Stadt, genauer in



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