Katzengold - Axel Rüffler - E-Book

Katzengold E-Book

Axel Rüffler

0,0

Beschreibung

Um ihren letzten Fall abschließen zu können, vernehmen Kommissar Moulin und sein Kollege Renard von der Spurensicherung im Gefängnis von Marseille Regina Schwartz, der vorgeworfen wird, ihren Lebensgefährten Ralf getötet zu haben. Dieser war der Hauptverdächtige in ihrem letzten Fall und hatte eine besondere Vergangenheit. Er war Mitglied einer elitären Spezialeinheit der Staatssicherheit der DDR. Regina berichtet über Stasiakten, die sie im gemeinsamen Wohnmobil in einem Geheimfach entdeckt hatte. Einer der beschriebenen Kommandoeinsätze elektrisiert Simond, den Spezialisten für Geheimdienste und Terrorismus im Team. "Katzengold", unter diesem Decknamen suchte die Stasi nach dem Bernsteinzimmer. Ein weiterer Verdächtiger, Erich, soll diese Akten an sich genommen haben. Mit Hilfe von Interpol suchen sie fortan nach diesem Erich. Die Ermittlungen führen sie nach Schraplau in Deutschland und Hallstatt in Österreich. Immer mehr Mysterien tun sich auf, und dann wird auch noch ein Anschlag auf die drei verübt. Sind sie der Wahrheit über den Verbleib des achten Weltwunders zu nahe gekommen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 264

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Autor

Axel Rüffler, 1963 in Halle/Saale in der DDR geboren, machte eine Ausbildung zum Elektriker in den VEB Leuna Werken und reiste 1988 in die BRD aus. Danach absolvierte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger in der forensischen Psychiatrie, wo er bis heute arbeitet. Er entdeckte erst spät, im Alter von 50 Jahren, seine Leidenschaft am Schreiben, als er in der bierseligen Runde eines Bildungsurlaubes aufgefordert wurde, die Geschichten, die er erzählte, zu Papier zu bringen. Er sagte zu und begann am nächsten Tag seinen autobiografischen Roman „Letzter Ausweg Staatsfeind“.

Nach „Abseits“ erscheint nun mit „Katzengold“ sein zweiter Kriminalroman

Vielen Dank an Georg Zauner für die inspirierenden Gespräche

„Mann, ich werd‘ verrückt, das glaub ich nicht!“ Fritz konnte sich an diesem 14. Oktober 1941 nicht sattsehen an dem, was da zum Vorschein kam am, als er die Pappe abzog, die notdürftig sämtliche Wände dieses hohen Raumes abdeckte. Als er durch die zweiflüglige große Tür eingetreten war, die die Weite des Raumes freigab, der schon allein durch seine grandiose Deckenmalerei glänzte, hatte er bereits einen Kloß im Hals gehabt. Doch was er jetzt sah, ließ ihn vor Ehrfurcht erstarren. Er hatte das Gefühl, dass die Sonne, die an diesem Septembernachmittag ihren Zenit schon weit überschritten hatte, nochmals aufgehen würde.

Das „Achte Weltwunder“, er hatte schon viel davon gehört, doch es wahrhaftig zu sehen, es zu berühren, war einfach nur gewaltig. Vorsichtig entfernte er die nächste Pappe.

„Diese Idioten!“ polterte er heraus, als er sah, wie diese befestigt war. Da hatten diese Dilettanten doch ganz einfach zwischen den Bernsteinen Nägel in die Paneele geschlagen, unglaublich.

Fritz wusste, wovon er redete, war er doch Tischlermeister, hätte ursprünglich den väterlichen Betrieb übernehmen sollen, aber dann kam die Einberufung. Eigentlich hatte er gehofft, dass ihm dies nicht widerfahren würde, da die heimischen Betriebe weiter produzieren sollten. Doch dann hieß es, eine Tischlerei sei nicht von strategischer Bedeutung, und es kam der Einberufungsbefehl.

Er wartete immer noch auf Kurt, seinen Kameraden. Kurt war Schlosser und sollte ihm zur Hand gehen. 36 Stunden hatte Reichsleiter Rosenberg ihnen gegeben, um alles zu demontieren und in Kisten zu verpacken. Kurt war noch unterwegs, um die Kisten abzuholen.

Er hatte noch den Satz von Rittmeister Ernst-Otto zu Solms-Laubach im Ohr, der die Aktion beaufsichtigen sollte: „Das ist Bernstein von der deutschen Ostseeküste, also ist das Deutsch“, so einfach war das. Befehl war Befehl, alles zu hinterfragen hatte er sich abgewöhnt.

Insgeheim hoffte er, dass der Krieg nicht so lange dauern würde. Er hatte Sehnsucht nach Zuhause und dieser lange Winter in Russland, darauf hatte er überhaupt keine Lust. Zwar waren die Winter bei ihm in Königsberg auch recht streng, aber kein Vergleich mit Sankt Petersburg. Er hoffte, den Transport begleiten zu können, um das Zimmer später im Königsberger Schloss wiederaufzubauen. Er hatte aufgeschnappt, dass es dorthin gebracht werden sollte.

Fritz hatte schon einige Tafeln von der Pappe befreit und überlegte, ob er schon jetzt versuchen sollte, diese Nägel aus den Paneelen zu ziehen, oder später, nachdem er sie demontiert hatte. Wie er so überlegte, betrachtete er sich in einem dieser langen Spiegel, die mit ihren vergoldeten Rahmen selbst ihm in seiner einfachen Lanzeruniform etwas Majestätisches verlieh. Er verbeugte sich vor seinem Spiegelbild: „Eure Majestät, Schreinermeister Fritz Köhler“, begrüßte er sein Gegenüber scherzend. Dann griff er nach seiner Werkzeugkiste und holte seinen kleinsten Stechbeitel heraus. Den hatte er sich damals zugelegt, um seine Gesellenarbeit zu signieren. Er ging zu der großen weißen Eingangstür und schaute heraus. Es war noch nichts von Kurt zu sehen. Er lief zurück, kniete sich vor den Spiegel und gravierte an der Unterseite des Rahmens seine Initialen, F.K.

Regina hatte wieder diese Leere im Kopf, wie jedesmal, wenn sie versuchte, sich im Gespräch mit ihrem Anwalt zu konzentrieren. Der hatte ihr im letzten Gespräch mitgeteilt, er könne es nun nicht mehr verhindern, dass dieser Moulin jetzt mit ihr sprechen wollte.

Regina hatte schon lange Zeit gebraucht, um überhaupt zu begreifen, warum sie hier war, im Prison „Les Baumettes“, diesem berüchtigten Gefängnis im Osten von Marseille.

Die ersten Wochen auf dieser überfüllten Frauenstation waren die Hölle gewesen. Und dann noch diese Ärztin, Frau Doktor Rose, eine Deutsche. Auf der Station war durchgesickert, dass sie früher in Deutschland in der Psychiatrie gearbeitet habe. Angeblich hätte sie da etwas mit Patienten angefangen, hieß es. Damals sei sie sogar Oberärztin gewesen. Sie hätte dann einige Zeit in der Schweiz gearbeitet, und dann Marseille.

Regina wusste nicht, ob an den Gerüchten was dran war, aber sie mochte die Frau Doktor auch so nicht besonders. Dieses gekünstelte Lächeln, als sie Regina aufgenommen hatte, welches die Haut spannen ließ, so wie es nur bei gelifteten Frauen im fortgeschrittenen Alter auftrat. Frau Doktor Rose war in ihrer Empathiefähigkeit Frauen gegenüber schon deutlich eingeschränkter, wie es der Gerüchtelage nach Männern gegenüber der Fall gewesen sein musste. Vielleicht war sie auch aus diesem Grund auf dieser Frauenstation des Service Medico Psychologique gelandet, wer wusste das schon.

Der scannende Blick, der sie bei ihrer Aufnahme traf, erzeugte bei Regina ein nachhaltiges Unbehagen. Dieser Blick war ihr zur Genüge von Frauen bekannt, die sie als Konkurrenz ansahen. Aber trotzdem war sie froh, hier zu sein. Sie hatte auch sofort die Einwilligung unterschrieben, an der Therapie mitzuarbeiten. Hauptsache weg aus dem normalen Vollzug. Für das, was da abging, war sie ganz einfach zu alt.

„Schön, da haben sie nun also ihren Mann umgebracht“, hatte Frau Doktor Rose im ersten Gespräch Regina an den Kopf geworfen, völlig unvorbereitet traf sie dieser verbale Faustschlag. Ralf sollte tot sein? Sie konnte sich an nichts erinnern, und die Medikamente, die sie nehmen musste, machten sie zusätzlich träge, und damit war noch nicht Schluss. Diese entsetzlichen Nebenwirkungen! Ihre Zunge machte diese unkontrollierten Bewegungen, als sie zu sprechen anfangen wollte, gepaart mit dem Augenhochstand und diesem Gefühl, in ihren Armen seien Zahnräder eingebaut, die bei jeder Bewegung solche ruckartigen Impulse freisetzten, welche einen unglaublichen Muskelkater in sämtlichen Gliedmaßen verursachten. Mit all dem konnte sie irgendwie leben, aber nicht mit dem Gedanken, Ralf sei tot, das bekam sie nicht in ihren Kopf.

Manchmal, wenn der Wind vom Meer kam und diesen salzigen Geschmack in ihrem Mund erzeugte, hatte sie die ersten Fetzen Erinnerung generiert, die sie nicht einordnen konnte. Sie waren in Les Saintes-Maries-de-la Mer gewesen, diesem Ort, der für Zigeuner so wichtig war, wegen der alten Wehrkirche und der Heiligen Sarah. Zu der Prozession im Mai, dem internationalen Zigeunertreffen, dem Höhepunkt des Jahres, wenn die Statue der Heiligen Sarah ins Meer getragen wurde.

Außer im letzten Jahr, da wollte sie aus Rücksicht auf Ralf nicht dorthin. Er war das ganze Jahr so angespannt gewesen. Es wurde immer schlimmer mit seiner Krankheit, nachdem er seine Medikamente abgesetzt hatte. Deswegen hatte sie den Trubel im Mai an diesem wichtigen Ort gemieden und war erst im September zum Familientreffen hingefahren. Und da war dann unerwartet ihr Arschlochonkel aufgetaucht. Der Mann, den sie mehr hasste, als alles auf dieser Welt.

Als eines Tages Frau Doktor Rose mit ihrem gekünstelten Lächeln auf sie zukam und meinte: „Sie haben Besuch von ihrem Onkel“, war Regina völlig ausgeflippt. Sie hatte wild um sich geschlagen und mit allem, was sie in die Hände bekam nach jedem geworfen, der versuchte, ihr zu nahe zu kommen. Das war der Anfang gewesen mit den Medikamenten und dieser ewigen Fixierung. Sie hasste diese Frau Doktor Rose, aber sie war ihr ausgeliefert, von ihr abhängig.

Irgendwann wurde die Fixierung beendet, und sie hatte sich in der Arbeitstherapie ein Stück Papier und einen Bleistift geschnappt und angefangen zu zeichnen. Sie wusste gar nicht, dass sie das konnte. Sie hatte keine Erinnerung daran, irgendwann in ihrem Leben etwas gezeichnet zu haben. Doch was da auf dem Papier entstand, erstaunte nicht nur sie selbst.

Ihr erstes Bild zeigte einen kleinen Hafen mit Fischerbooten, alten Häusern, einer Burg. Es war anscheinend so detailgetreu, dass einer der Arbeitstherapeuten sofort bemerkte: „Das ist doch Cassis!“

Es folgten weitere Bilder von Berglandschaften, die tief von Flüssen eingeschnitten waren, und hohen weißen Bergen, deren Gletscher bis weit ins Tal hinabreichten. Und immer wieder stand ein Wohnmobil vor der Kulisse.

Nur widerwillig genehmigte Frau Doktor Rose, dass dieser junge Kunsttherapeut aus der benachbarten Ecole d‘ art mal einen Blick auf diese besonderen Bilder werfen konnte, die den Eindruck einer heilen Welt vermittelten, mit spielenden Jungen und einer afrikanischen Frau. Auf einem Bild war eine Seilbahn zu sehen, an der aus der Gipfelstation Rauch aufstieg, und auch da spielte ein Junge mit einem Mann auf dem Spielplatz an einem Fluss.

Der Therapeut, Monsieur Richard, hatte sich als erster die Bilder angeschaut. Seine Begeisterung konnte man seinen Augen entnehmen: „Wahnsinn, so etwas habe ich noch nicht gesehen. Ich habe schon oft Kinderbilder analysiert, die eine Geschichte erzählen und nur einen kundigen Übersetzer brauchen. Aber das hier ist anders, eine andere Stufe“, äußerte er sich euphorisch gegenüber Frau Doktor Rose. Ich würde diese Frau gern kennenlernen.“

Regina musste einen Antrag stellen, einen Mann, den sie nicht kannte, einen Therapeuten zu treffen.

Sie hatte sich mittlerweile in ihrer neuen Welt, die die Medikamente generierten, eingerichtet. Sie hatte von einer Mitpatientin auf der Station den Tipp bekommen, viel zu trinken, so könne man die Wirkung der Medikamente einschränken. Sie wusste, dass der Prozess bevorstand. Schon der Gedanke, mit diesem Moulin zu sprechen, war ihr äußerst unangenehm, und jetzt auch noch dieser Therapeut. Ihr Anwalt hatte ihr den Rat gegeben, mit ihm zu reden. Aber selbst ihren Anwalt wollte sie eigentlich nicht. Der war ihr als Pflichtverteidiger zur Seite gestellt worden. Für einen Prozess, bei dem sie immer noch nicht wusste, worum es eigentlich ging. Ralf sei tot, aber was hatte das eigentlich alles mit ihr zu tun?

Sie war einerseits total traurig bei dem Gedanken, andererseits auch erleichtert, warum, das wusste sie nicht. Ihr Anwalt war der Meinung, dass der Therapeut ihr helfen würde herauszufinden, was passiert ist. Sie fand es schon reichlich befremdlich, dass er ihre Bilder anschauen wollte, aber naja, sie hatte ja nichts zu verlieren. Schlimmer als die Situation, in der sie jetzt war, konnte es sicher nicht kommen.

Ihre Erinnerungen waren nur in Bruchstücken langsam zurückgekommen, aber eines wusste sie ganz genau, einen Mann brauchte sie auf keinen Fall, ihren Arschlochonkel, den diese Doktor Rose zu ihr lassen wollte. Und warum sie den nicht sehen wollte, war ihr mittlerweile leider wieder eingefallen, die dunkle Zeit in ihrem Leben hatte den Weg in ihr Gedächtnis zurückgefunden. Zwar hatte dieser Mensch keinen Einfluss mehr auf sie, aber er hatte irgendetwas damit zu tun, weswegen sie jetzt hier war. Es war zum Verzweifeln.

Sie bekam auf einmal Lust zu fotografieren. Sie hatte doch so einen digitalen Apparat, den ihr Ralf geschenkt hatte, doch wo war der, wen sollte sie danach fragen? Vielleicht machte es ja Sinn mit dem Therapeuten, hatte sie das Fotografieren ja in ihrem Entzug gelernt, als Tor zu einer neuen Welt, ohne diese Tabletten, die ihr der Arschlochonkel eingeflößt hatte, bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr ohne konnte. Eine Welt ohne diesen brutalen Zuhälter und ohne die Tabletten.

Moulin saß zusammen mit Renard und Simond schon einige Zeit im Le France. Diesmal konnte er den Abend genießen. Zum ersten Mal überhaupt bekam er den Sonnenuntergang an diesem wunderschönen Hafen so intensiv mit, dieses rote Licht, welches die Konturen der Häuser und der dahinterliegenden Berge einfärbte und den Wetterwechsel heraufbeschwor, den hier alle so dringend erhofften. Es war der 15. März, jene Zeit, zu der der Ort aus seinem Winterschlaf erwachte und der Campingplatz öffnete, wie jedes Jahr.

Doch dieses Jahr war Simond fast der einzige, der an diesem Tag eincheckte. Den ganzen Winter über war es wärmer gewesen, viel wärmer als an diesen Tagen. Es hatte gestern und heute geschneit, Mitte März.

Michel wusste genau, wann das zum letzten Mal passiert war, vor zwanzig Jahren genau! Er hatte eine dieser Daunenjacken übergezogen, die die Boutique um die Ecke zum Abverkauf vor die Tür unter die Markise gestellt hatte und die gefühltermaßen jeder zweite im Ort trug. Er hatte auf Grund der kühlen Temperaturen den Reißverschluss geschlossen, was die Jacke mit einem kräftigen Spannen um die Bauchgegend quittierte. Er stellte gekonnt das nächste Bier auf den Tisch, welches die drei bestellt hatten und wartete einen Moment, bevor er sich entfernte.

Natürlich hatte er ihn erkannt, diesen Kommissar Moulin aus Marseille, und er wusste noch sehr genau, wann und warum er ihn hier gesehen hatte. Doch es kam keine Reaktion von allen dreien außer einem gespannten Blick, durch den sich Michel mit der Frage: „Das war alles?“ genötigt fühlte, den Tisch zu verlassen.

„Hast du auch so ein flaues Gefühl?“ meinte Renard zu Moulin, der in diesem Moment beobachtete, wie die Beleuchtung der Burg anging, die auf dem nahen Felsen majestätisch thronte.

„Klar“, erwiderte Moulin, „aber wir waren uns ja sicher, dass der Fall gelöst ist. Aber ich bin trotzdem froh, wenn der morgige Tag vorüber ist und nichts passiert, kein Junge, der vermisst wird.“

„Ich glaube, das geht uns allen so“, meinte Simond.

Moulin erschrak, als sein Handy klingelte. Er war gerade beim Frühstücken, als es ihn aus seinen Gedanken riss. Instinktiv schaute er auf die Uhr, als hätte er genau auf diesen Anruf gewartet. Doch dann war er beruhigt, „unbekannte Nummer“ stand auf dem Display.

„Spreche ich mit Monsieur Moulin?“

„Ja“, antwortete er.

„Monsieur Seibert mein Name, ich bin der Anwalt der Deutschen, sie haben schon mehrfach nachgefragt, wann sie meine Mandantin vernehmen können. Sie wäre jetzt soweit stabil. Ich habe zwar noch nicht den Eindruck, dass das viel bringen wird, aber ihre Ärztin, Frau Doktor Rose, hat nun ihr OK gegeben. Ich möchte allerdings noch, dass ihr Therapeut, Monsieur Richard, dabei ist. Meine Mandantin hat einen Antrag auf einen Therapeuten gestellt. Sie kann sich noch immer an nichts erinnern, was an diesem Tag passiert ist.“

„Okay“, antwortete Moulin, „ich würde meinerseits noch gern meine Kollegen Renard und Simond mitbringen. Die haben mit mir zusammen an einem Fall gearbeitet, der mit dem getöteten Mann ihrer Mandantin zu tun hat, respektive war er unser Hauptverdächtiger. Wir würden diesen Fall gerne abschließen und müssten ihrer Mandantin dazu noch ein paar Fragen stellen.“

Anwalt Seibert stockte kurz: „Sie wollen meine Mandantin also gar nicht zum Tathergang befragen?“ Seibert hasste diese Fälle, diese Pflichtmandate, er hatte sich nur oberflächlich eingearbeitet und war eigentlich davon ausgegangen, dass die Befragung nur in Bezug auf das Tötungsdelikt stattfinden würde. Nun, es sollte ihm recht sein, seine Mandantin wollte, dass er dabei war, und das Geld konnte er nun weiß Gott gebrauchen.

„Also, das ist jetzt für mich eine neue Situation“, entgegnete Seibert, „aber nun gut. Schlagen sie einen Termin vor.“

„Morgen vormittag, elf Uhr?“ fragte Moulin.

„Einverstanden“, antwortete Seibert.

Regina hatte die Nacht schlecht geschlafen. Sie hatte gestern zum ersten Mal diesen Richard kennengelernt, ihren Therapeuten. Sie fand ihn eigentlich nicht unsympathisch, aber was sollte sie ihm erzählen, wo anfangen, ohne Erinnerung.

„Das kriegen wir schon“, meinte Richard mit einem freundlichen Gesichtsausdruck, „das ist völlig normal nach so einem Ereignis.“

Ereignis, das klang schon mal viel besser als das, was diese Rose ihr an den Kopf geworfen hatte. Regina entschloss sich in diesem Moment, Richard zu vertrauen. Sie hatten sich dann noch eine ganze Zeit über die Bilder unterhalten. Alles war so zwanglos, sie verspürte keinen Druck, sich unterhalten zu müssen, ganz im Gegenteil. Sie erzählte zu jedem Bild eine Geschichte, die in diesem Moment in ihrem Kopf entstand, und Richard stellte ab und zu eine Frage. Die erste Sitzung war wie im Flug vergangen.

Heute sollte also dieser Moulin vorbeikommen. Richard hatte ihr gekonnt versucht, die Angst zu nehmen: „Die Polizei möchte gar nicht über das Ereignis mit ihnen sprechen, Regina. Dieser Polizist interessiert sich für die Zeit davor, den Sommer und das Jahr zuvor. Es geht um ihren Mann Ralf.“

Trotzdem war Regina total aufgeregt, als sie von Station abgeholt wurde. Die Leere in ihrem Kopf wurde von einer Art Gedankenflut abgelöst, alles ging durcheinander. Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf zerspringt, als sie von der Wärterin von der Station geschlossen wurde. Das Unbehagen steckte ihr wie ein Kloss im Hals und jedesmal, wenn eine dieser schweren Gittertüren in das Schloss zurückfiel und die Wärterin diese verschloss, hatte sie das Gefühl, jemand würde mit einem Stampfer versuchen, den Kloss noch tiefer zu schieben, wie bei einer Weihnachtsgans kurz vor den Feiertagen.

Sie hatte nun den ganzen Winter in diesem Gefängnis zugebracht und bis jetzt noch nicht verstanden, warum genau sie hier war. Ralf war tot, klar, sie sollte dafür verantwortlich sein, was macht Strafe aber für einen Sinn, wenn man sich an nichts erinnert? Und nun sollte Ralf selbst Beschuldigter in einem Fall sein. In was war sie da hineingeraten?

Der Weg in das Besucherzimmer machte ihr eindeutig durch die erdrückende bauliche Präsenz des Gefängnisses klar, dass sie angeklagt werden sollte, Ralf getötet zu haben.

Moulin, Renard und Simond saßen nebeneinander an zwei zusammengestellten Tischen auf diesen einfachen, harten Holzstühlen des Besucherzimmers der Justizvollzugsanstalt Marseille. Der Anwalt hätte sich verspätet hieß es, nachdem sie nun schon zehn Minuten in dem kalten Raum zubrachten und noch einmal die Akten durchschauten, die sie nebeneinander auf den Tischen ausgebreitet hatten. Sie waren nach Orten sortiert und hatten auf zwei Stapeln eine beachtliche Dicke erreicht.

Nach weiteren zehn Minuten des Wartens ging die Tür auf und Richard, Seibert und eine verstört wirkende, dunkelhaarige, schlanke Frau betraten den Raum. Rechtsanwalt Seibert und Therapeut Richard gingen auf die drei Polizisten zu und stellten sich gegenseitig vor, indem sie sich mit Handschlag begrüßten.

Regina wäre am liebsten wieder umgedreht, doch sobald sie den Raum betreten hatte, verschloss die Wärterin diesen von außen und positionierte sich vor der Tür, was man durch die gewölbte alte Scheibe, die durch ein Gitter gesichert war, sehen konnte.

Nachdem sich alle gesetzt hatten, begann Moulin, nachdem er sich und seine Kollegen vorgestellt hatte, mit der Frage: „Sie sind nun Frau Krüger?“

„Wir waren nicht verheiratet“, entgegnete Regina indem sie Simond anschaute. „Woher kenne ich den?“ ging es ihr durch den Kopf. Moulin und Renard kannte sie aus Cassis aus dem Le France, da war sie sicher. Aber wo hatte sie diesen seltsamen Typen gesehen?

„Sie können mich Regina nennen“, komplettierte sie ihre Antwort, nachdem sie in die fragenden Augen von Moulin geschaut hatte.

„Nun gut, Regina“, antwortete Moulin, „wir haben einige Fragen zu ihrem toten Mann, äh, Entschuldigung, Freund, Lebensgefährten?“

Als er keine Antwort bekam, fuhr er fort: „Ralf Krüger steht unter Verdacht“, Moulin stockte kurz, „das ist doch der korrekte Name ihres Freundes?“

„Ja“, antwortete Regina.

„Nun gut, er steht unter dem Verdacht der Tötung von mindestens zwei Jungen im Alter von sieben und acht Jahren und der sexuellen Belästigung in mindestens fünf weiteren Fällen in unterschiedlichen französischen Orten. Können sie dazu irgendetwas sagen?“

„Das ist doch kompletter Schwachsinn!“ antwortete Regina aufgeregt, „wie kommen sie dazu, so etwas zu behaupten?“ Ihr liefen die Tränen über die Wangen und ihr Kopf begann zu schmerzen. Vor ihrem inneren Auge liefen Bilder ab wie von einer Stroposkoplampe projiziert, die in einer Diskothek die Spiegelkugel anstrahlt.

Sie hatte keine Kontrolle über das, was gerade passierte, als mehrmals die Stimme von Moulin zu ihr durchdrang: „Hallo Regina, alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Ja“, antwortete sie kurz, „alles in Ordnung.“

„Haben sie verstanden, was ich sie gefragt habe?“

„Ja, ich erinnere mich, mein Onkel hat das gleiche behauptet in Les Saintes-Maries-de-la-Mer. Ich erinnere mich, er hat behauptet, Ralf hätte gerade an diesem Tag einen Jungen belästigt. Sie müssen wissen, mein Onkel ist das größte Arschloch auf Erden, der hat oft mal so einen Scheiß behauptet, um von sich selbst abzulenken.“

„Möglich“, antwortete Renard, „aber diese Aussage hat er beeidigt.“

Regina hatte den Eindruck, auf einmal völlig klar zu sein:

„Da war so eine Akte.“

„Was für eine Akte?“ fragten Moulin und Renard fast im Gleichklang.

„Na, so eine beigefarbene Akte mit alten Stasi-Berichten.“

„Da war keine Akte“, entgegnete Renard.

„Doch“, bekräftige Regina, „und Erich war auch da!“

„Sie meinen Erich Eisenhuth?“

„Ich kenne keinen Erich Eisenhuth. Ich meine Erich Lehmann!“

Die drei Kommissare schauten sich mit großen Augen an: „Wir reden doch von diesem, sagen wir mal ‚Erich‘, der einige Tage, nachdem sie auf dem Campingplatz in Cassis eingecheckt haben, ebenfalls dort angekommen ist.“

„Genau“, meinte Regina, „Erich Lehmann halt, ein alter Freund von Ralf. Die waren zusammen in Leuna zur Ausbildung, danach zusammen bei der Armee in Berlin, und Erich hat Ralf nach der Wende eine Arbeit bei einer Wachschutzfirma besorgt.“

„Nun gut“, ergriff jetzt Renard das Wort, „das ist nach unserer Erkenntnis Erich Eisenhuth. Der Mann, der 1984 im Rahmen der ersten großen Ausreisewelle aus der DDR ausgereist ist und in Traunstein in Oberbayern kurz nach seiner Ausreise in einem Fitnessstudio als Trainer und Kampfsportlehrer gearbeitet hat, welches er ein Jahr später zusammen mit Ralf Lieblich, der ebenfalls in diesem Fitnessstudio arbeitete, übernommen hat.“

Renard öffnete einen Ordner, aus dem er zwei Fotos herausnahm: „Kennen sie diese zwei Männer?“

Regina erschrak, als sie die Fotos sah, das waren eindeutig Ralf und Erich, zwar irgendwie weichgezeichnet, nachbearbeitet, da kannte sie sich aus, aber es waren eindeutig die beiden.

„Was soll das, wollen sie mich verarschen?“ sagte sie wütend, „das sind eindeutig Ralf Krüger und Erich Lehmann!“

„Nein“, konterte Moulin, „das sind nach unseren Ermittlungen Ralf Lieblich und Erich Eisenhuth, die Besitzer des Fitnessstudios ‚Eisenhut & Lieblich‘ in Traunstein bis 1986. Damals wurden sie bei einer Fahrt nach Westberlin auf einer Raststätte von der Staatssicherheit der DDR verhaftet. Der Vorwurf hieß ‚Menschenschmuggel‘. Sie hatten angeblich mehrfach Menschen aus der DDR in ihrem Wohnmobil rausgeschmuggelt.“

„Das ist doch kompletter Schwachsinn!“ sagte Regina wütend. „Ralf und Erich waren doch damals beim Wachregiment in Berlin. Alle beide 1000-prozentig überzeugt. Ralf hat mich sogar damals verlassen, weil ich Zigeunerin bin und die das von ihm gefordert haben, da ich mit meiner Familie einen Ausreiseantrag laufen hatte. Wir haben uns erst nach der Wende in Eisleben wiedergetroffen. Ralf wäre niemals in den Westen gegangen, niemals!“

Sie fing an zu weinen.

Richard und Seibert schauten sich verständnislos an. „Was passiert denn hier?“ ging es Seibert durch den Kopf.

„Meine Herren, meine Mandantin braucht eine Pause, das sehen sie doch. Außerdem muss ich mich erst noch einmal mit ihr besprechen.“

„In Ordnung“, nickten Moulin und Renard, „einverstanden.“ Simond sagte gar nichts.

Anwalt Seibert sah Regina irritiert an. Er und Richard hatten sich mit ihr in einen Nebenraum des Besucherzimmers bringen lassen.

„Also Frau Schwartz, ich bin etwas irritiert“, begann Seibert, „ich bin für sie in dem Fall des Tötungsdeliktes gegen Ralf Krüger als Pflichtverteidiger berufen worden. Das, was sich da jetzt auftut, hat ja eine ganz neue Dimension. Sexueller Missbrauch und Tötungsdelikte an Kindern, was wissen sie darüber? Oder haben sie etwas damit zu tun? Mitwissenschaft ist auch strafbar! Ich bin mir nicht sicher, ob dies alles durch mein Mandat abgedeckt wird. Ich möchte sie unbedingt bitten, mir in diesem Fall eine Vollmacht zu unterschreiben.“

„Nun lassen sie doch mal die Kirche im Dorf, Herr Anwalt“, unterbrach Richard. „Erstens ist Frau Schwartz in diesem Fall nur als Zeugin geladen, und zweitens bin ich mir sicher, dass sie sich wirklich an nichts erinnern kann und auch nichts über die Vorwürfe gegen ihren Lebensgefährten weiß. Frau Schwartz ist genauso überrascht über diese Vorwürfe wie sie.“

Regina hatte das Gespräch der beiden verfolgt, ohne etwas dazu zu sagen. Doch die Pause, die sich jetzt in der Unterhaltung auftat, nutzte sie, um selbst das Wort zu ergreifen: „Geben sie her, diesen Wisch“, sagte sie, indem sie den Anwalt anschaute und die Hand ausstreckte, „ich unterschreibe. Ich möchte jetzt wissen, was da los war. Glauben sie mir, ich zerbreche mir schon seit Wochen den Kopf und ich weiß anscheinend immer weniger über Ralf und seinen Freund Erich. Lassen sie uns wieder rübergehen und es hinter uns bringen.“

„Okay“, meinte Richard, „sobald es ihnen zu viel wird, sagen sie Bescheid.“

Renard, Moulin und Simond hatten die Pause genutzt, um einige Details in den Akten nachzulesen.

„Ich werde ihnen helfen, so gut ich kann“, begann Regina, nachdem sie wieder im Besucherzimmer Platz genommen hatte.

„Nun gut“, eröffnete Moulin die Befragung, „wir würden sie den Umgang von Ralf mit Kindern beschreiben?“

„Ralf konnte wunderbar mit Kindern umgehen, und ich glaube, er vermisste seinen Sohn über alles. Seine Frau Bärbel hat nach der Scheidung das alleinige Sorgerecht bekommen.“

„War das sein leiblicher Sohn?“ wollte Renard wissen.

„Nein, es war ein Adoptivkind, das habe ich in der Akte gelesen.“

„Diese Akte, wo haben sie die gesehen?“

„Mir ist da beim Putzen eine Fußbodenleiste abgegangen, und dahinter lag die Akte.“

„Bei ihnen zu Hause?“ hakte Renard nach.

„Nein, im Camper.“

„Okay“, sagte Renard, „da haben wir so ein Fach hinter einer losen, verbogenen Leiste gefunden, aber keine Dokumente.“

„Ich habe ihnen doch gesagt, Erich war da, und ich glaube, der hatte die in der Hand, als er ging“, antwortete Regina.

„Wissen sie sonst noch irgendetwas, was in dieser Akte stand, außer der Adoption“, wollte Simond wissen, der bis dahin geschwiegen hatte.

„Irgendetwas von einem Kommandoeinsatz ‚Abseits‘, dazugehörige Decknamen und etwas über eine Operation ‚Katzengold‘. Daran kann ich mich noch erinnern, da mein Großvater so immer den Stein an der Kette meiner Oma genannt hatte, und der war aus Bernstein.“

„Scheiße, Alter wie sieht das denn aus!“ platzte Ralf heraus, als er sich in dem Spiegel betrachtete. Es war nun wahrlich kein Meisterwerk, was Erich da abgeliefert hatte, aber sei’s drum.

„Na, jetzt läufst du zumindest nicht mehr rum wie so ‘n scheiß Kunde!“

Ralf hatte sich eben von seinen halblangen Haaren getrennt als er sich, wie jeden Tag, zum Trainieren nach der Arbeit mit Erich getroffen hatte.

„Das war allerhöchste Eisenbahn, Alter“, meinte Erich, „du kannst doch nächste Woche nicht mit ´ner Matte in der Kaserne aufkreuzen.“

„Hast ja recht“, erwiderte Ralf. Er hatte sein Hemd ausgezogen, das er immer verkehrt zusammenknöpfte, zuerst nur so aus Spaß, aber später wurde das zu einer Art Markenzeichen.

Erich legte die Schere zur Seite und betrachtete seine Arbeit argwöhnisch: „Das geht schon, die schneiden das in der Kaserne eh‘ noch mal nach, machen die immer.“ Er griff zum Handfeger, der neben dem Stuhl lag und fing an, Ralf die Schulter abzukehren.

„Spinnst du, Alter, doch nicht mit dem versifften Teil!“ Ralf sprang blitzschnell auf, hob das Bein zu einem Kick und deutete mit einer Drehung an, Erich den Handfeger aus der Hand zu schlagen. Danach sprang er zurück in eine Art Grundstellung, wie er es immer in diesen Kung-Fu-Filmen im Westfernsehen gesehen hatte, spannte sämtliche Muskeln seines Oberkörpers an und positionierte seine Arme angewinkelt neben dem Oberkörper, ballte die Fäuste und stieß einen kurzen Schrei aus.

„Nicht schlecht, Alter“, meinte Erich, „aber wie immer viel zu langsam. Man kann dir noch immer ansehen, was du vorhast.“

„Erzähl nicht so ´nen Scheiß, Alter“, antwortete Ralf lachend, ließ sich mit den Händen zuerst auf den Boden fallen, machte noch einmal fünfzig schnelle Liegestütze, sprang zurück in die Hocke und ging dann zum gefühlt dreißigsten Mal an diesem Abend zu dem großen, halbblinden Spiegel, um in einer Pose zu überprüfen, ob seine Muskeln schon gewachsen waren.

„Glaub mir, Erich, wir werden die Besten. Die besten Nahkampfspezialisten und Personenschützer, die die DDR je hatte.“

„Ich schon“, scherzte Erich, „bei dir bin ich mir da nicht so sicher.“

Ralf begutachtete sich nochmals abschließend in dem Spiegel, griff sich in die Haare und versuchte erfolglos, sie zu schütteln.

„Das musst du dir jetzt glaub ich abgewöhnen“, grinste Erich.

„Ja, ja, Regina kriegt ´ne Macke, wenn sie mich so sieht!“

Fritz grinste immer noch schelmisch, als Kurt durch die Tür kam. Der hatte schon eine dieser großen Transportkisten dabei, die er völlig unbeeindruckt über diesen edlen Parkettboden zog. Wahrscheinlich hatte er ja recht, dieser Boden interessierte sowieso keinen. Fritz hatte gehört, dass die Räume hier als Truppenquartier umfunktioniert werden sollten. Daher auch der straffe Zeitplan.

„He, Fritz, weißt du schon das Neueste? Die haben doch tatsächlich einen dieser Panzerzüge angefordert, weißte, die mit den Geschützen an Bord, Wahnsinn, hab so ‘n Ding noch nie original gesehen.“

„Meinst’e wirklich?“ fragte Fritz interessiert.

„Ich habe gerade so nebenher ein Gespräch zwischen Rosenberg und dem Solms-Laubach mitgekriegt, als ich die Kisten vom Lastkraftwagen geladen habe. Ein Befehl von Reichsmarschall Göring persönlich, damit nichts abhandenkommt beim Abtransport durchs Bolschewistenland. Der soll spätestens morgen hier sein, wegen der Umspuraktion dauert das wohl etwas länger. Die ist wohl schwieriger als erwartet, weil der Zug so schwer ist. Die Bolschewiken müssen ja alles anders machen. Sogar die Gleise sind breiter. Sag mal, du hast ja noch gar nichts abgebaut“, meinte Kurt nüchtern. Ihm fehlte anscheinend jedes Verständnis für das, was er hier sah.

„Schau doch mal hier“, versuchte Fritz ihn zu sensibilisieren, indem er ihm die Nägel zeigte, mit denen die Pappe fixiert war.

Doch Kurt zuckte nur kurz mit den Schultern. „Na und?“ sagte er, als handele es sich um eine Stallwand, in die man Nägel getrieben hatte, um Werkzeug daran aufzuhängen. Auch der letzte Versuch, Kurt von dem Frevel zu überzeugen, indem er ihm die schon gezogenen Nägel, die mittlerweile seine linke Hand füllten, zeigte, scheiterte. Kurt war nicht zu beeindrucken.

„Ist ja schon irgendwie schön“, sagte er, „aber was soll die Eile? Das kann man nach dem Endsieg doch ganz gemütlich erledigen. Aber auf mich hört ja keiner. Nun lass uns aber reinhauen, sechsunddreißig Stunden sind nicht viel.“

„Hast ja recht“, antwortete Fritz, „die erste Paneele hab’ ich fast schon ab. Der Anfang ist immer das Schwierigste, hol du doch erst mal die Kisten. Ach, übrigens, auf dem Gang steht ein Leiterwagen.“

Ralf und Erich saßen im Regionalzug von Nordhausen nach Halle, sie waren beide in Eisleben zugestiegen. Der erste Kurzurlaub nach der Grundausbildung. War normalerweise nicht üblich nach drei Monaten, doch sie hatten Sonderurlaub bekommen, wegen hervorragender Leistungen, hieß es. Doch Ralf wusste, was er zu erledigen hatte.

Da waren die regelmäßigen Gespräche mit seinem Führungsoffizier, diesem väterlichen Freund, diese Person, die er so vermisst hatte in seiner Kindheit und Jugend, den er so gerne eingetauscht hätte gegen sein prügelndes und saufendes Erzeugerarschloch.

Aber diesmal ging es, sein Vater und er, sie hatten sich beide zusammengerissen. Außerdem war er ja wegen etwas ganz anderem hier. Er hätte auch bei Erich übernachten können, dessen Eltern hätten nichts dagegen gehabt.

Er musste jedoch mit Regina sprechen, die bei seinen Eltern um die Ecke wohnte. Sie musste sich von ihrer Familie lossagen und in die Partei eintreten, so die klare Ansage seines Betreuers, eine Freundin, die mit ihrer Familie einen Ausreiseantrag gestellt hatte, und seine Ausbildung beim Wachregiment, das passte nicht zusammen.

Nachdem Regina wieder geweint und um Bedenkzeit gebeten hatte, wie auch schon in den Briefen, die sie vorher ausgetauscht hatten, war Ralf ganz einfach aufgestanden.

„Es ist Schluss“, hatte er gesagt und war gegangen.

Jetzt, wo er im Zug saß und darüber nachdachte, war er stolz auf sich. Er sah aus dem Fenster. „Der Glaube an unsere Sache macht uns stark“, hatte sein Führungsoffizier immer gesagt. So stark wie jetzt hatte er noch nie gespürt, dass dieser recht damit hatte.

Morgen hatten sie nun ihren ersten praktischen Einsatz, morgen früh bekamen sie den Einsatzbefehl. Er schaute stolz an seiner Uniform herunter, besonders auf den Streifen am linken Ärmel mit der Aufschrift „Wachregiment Felix Dzierzynski“, und rückte seine Mütze zurecht.

Spät am Nachmittag kam der Zug in Berlin an, und Ralf und Erich meldeten sich pünktlich in der Kaserne zurück.

„Du sollst dich bei deinem Führungsoffizier melden, wenn du zurück bist“, meinte Jens, als Ralf die Stube betrat.

„Okay, hat er vielleicht gesagt, warum?“, fragte Ralf nach.

„Nein, keine Ahnung“, erwiderte Jens und nahm sein Buch wieder in die Hand, das er kurz zuvor für einen Moment zur Seite gelegt hatte.

„Nun, hast du alles erledigt, was zu erledigen war?“ fragte sein Führungsoffizier.

„Jawohl, Genosse Offizier“, antwortete Ralf beflissen.