Arbeit – Sinn und Motivation - Harald Pichler - E-Book

Arbeit – Sinn und Motivation E-Book

Harald Pichler

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Beschreibung

Sinnerfüllung in der Arbeit ist einer der wichtigsten Motivations- und Resilienzfaktoren. Sinn motiviert und macht belastbar. Ein unerfülltes Sinnbedürfnis hingegen demotiviert und macht krank. Freude im Job finden wir also weniger durch Selbstverwirklichung als vielmehr durch eine Ausrichtung auf jemanden oder etwas, das außerhalb von uns selbst liegt. Diese "Selbsttranszendenz" hilft uns, unsere Arbeit zu erledigen, selbst dann, wenn sie uns keine Freude bereitet. Diese bewusste Entscheidung zur Selbstgestaltung ermöglicht sogar bei unabänderlichen, schwierigen Rahmenbedingungen (Chefetage, Kollegenschaft, Kundenkreis, Bürokratie) eine Sinnverwirklichung, bewirkt Souveränität und Gelassenheit und hat eine nachweislich positive Auswirkung auf die Gesundheit.

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Seitenzahl: 155

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Harald Pichler

Arbeit

Sinn und Motivation

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie – detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2018

© 2018 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: © shutterstock.com | Dmitriip

ISBN 978-3-99100-243-7

eISBN 978-3-99100-244-4

Für Jakob und Johanna

Inhalt

Was ist ein gutes Leben?

Eine kurze Geschichte der Arbeit

Motivation, Engagement, Gesundheit

Warum tue ich mir das an?

Motivation spielt sich im Kopf ab

Spaß und Purpose sind zu wenig

Anleitung zum Burn-out

Was uns krank macht und Heilung verzögert

Was uns trotzdem gesund bleiben lässt

Wie Menschen ticken

Steht alles in den Sternen?

Von Trieben getrieben oder: ohne Lust nur Frust

Alle Macht den Unsicheren

Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt

Der Mensch ist nichts anderes als ein nackter Affe

Was uns Menschen menschlich macht

Hier stehe ich, ich kann nicht anders (Oder doch?)

Wo bleibt der Sinn?

Das Leben hat unter allen Umständen einen Sinn

Körper, Psyche und Geist

Jeder Mensch ist unteilbar und vollständig

Menschen brauchen Gemeinschaft, aber auch Selbstbestimmtheit

Jeder Mensch ist einmalig und einzigartig

Wege zum Sinn – nicht nur in der Arbeit

Die sinnerfüllte Aufgabe

Das Positive wertschätzen und Erlebnisse dankbar genießen

Beziehungen aufbauen und pflegen

Die innere Einstellung wählen

Was hat das alles mit mir zu tun?

Literatur

Was ist ein gutes Leben?

Eine gute Frage. Der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther hat darauf in einem Interview geantwortet: „Wenn ich immer wieder das Gefühl habe: Egal was kommt, ich krieg’s hin.“ Eine gute Antwort. Einerseits wünschen wir uns heutzutage nichts sehnlicher als Sicherheit und andererseits fühlt sich unser Leben an, als wäre es unsicherer denn je. Ist es das wirklich? Teilweise ja. Viele Einschränkungen, die es aufgrund von Traditionen, Religion und sozialen Strukturen in früheren Generationen gab, werden vielleicht aus heutiger Perspektive rückblickend als vermeintliche Sicherheiten wahrgenommen. Jedenfalls mussten oder konnten früher offensichtlich weniger Entscheidungen frei getroffen werden. Bei der Berufswahl wurde entweder auf das Handwerk der Eltern Bezug genommen oder die nächstbeste freie Ausbildungsstelle musste akzeptiert werden. Ein Arbeiter- oder Bauernkind konnte keine Offizierslaufbahn einschlagen, sondern nur einfacher Soldat werden. Und Frauen waren ganze Berufsgruppen und das Universitätsstudium verwehrt. Heute haben wir Freiheiten, die unsere Eltern und Großeltern nicht hatten. Sich möglichst viel Freiheit zu wünschen und dabei möglichst viel Sicherheit zu behalten, ist also ein verständlicher Wunsch. Es klingt jedoch sehr nach „Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“. Vielleicht sollten wir anstatt der Sicherheit, dass alles seinen gewohnten Gang geht, besser zu der Überzeugung kommen, dass wir trotz aller Unsicherheiten und Unwägbarkeiten ein sinnerfülltes Leben führen. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt, aber wir können uns zu einer inneren Haltung entscheiden: Wir können es mit den Herausforderungen des Alltags aufnehmen und unseren persönlichen Sinn entdecken und verwirklichen.

Wozu? ist hierbei die entscheidende Frage, wenn man vor unabwendbaren Schwierigkeiten oder unlösbaren Herausforderungen steht. Sie ist weit zielführender als jenes Warum?, das nach der Ursache fragt. Im Fall eines technischen Defekts bei einem Auto oder nach einem Flugzeugunglück ist das durchaus sinnvoll. Die Frage nach dem Wozu ist hingegen auf ein Motiv oder auf einen Sinn ausgerichtet. Warum fragt in die Vergangenheit, Wozu in die Zukunft. Dieses Buch soll bei der Beantwortung des ganz persönlichen Wozu helfen. Wozu sollen nun Sie, liebe Leserin, lieber Leser herausgefordert werden? Zunächst zur Unterscheidung zwischen unabänderlichen Rahmenbedingungen und individuellem Gestaltungsfreiraum. Anstatt gegen Unabänderliches anzukämpfen, Unmögliches erzwingen zu wollen oder Notwendiges andauernd zu vermeiden, sollten wir mit unserer begrenzten Energie gut haushalten. Das ist eine Einladung, der Realität ins Auge zu blicken, nichts schönzureden, aber den Fokus auf jene Aspekte zu richten, die gelungen und erfreulich sind, und auf diejenigen Bereiche, die gestaltet werden können.

Vieles in diesem Buch baut auf dem Menschenbild und der Lehre des Wiener Neurologen und Psychiaters Viktor E. Frankl auf. Er hat sich zeit seines Lebens mit der Frage auseinandergesetzt, wie es Menschen gelingen kann, auch unter schwierigsten und unmenschlichsten Bedingungen gesund zu bleiben und den Sinn im Leben nicht zu verlieren. In zahlreichen Fallgeschichten erzählte Frankl unter anderem von Menschen, die behaupten, erst durch die Bewältigung von Leid und unvorstellbaren Schwierigkeiten ihren Sinn im Leben gefunden zu haben. Er betonte aber ebenso, dass Leiden keineswegs eine Voraussetzung dafür ist, das eigene Leben als sinnvoll zu erfahren. Denn auch im Genießen und Wertschätzen von Gelungenem kann Sinn erfahren werden. Frankl hat durch sein Werk und sein eigenes Leben bewiesen, dass unter allen nur denkbaren Umständen Sinn zu finden ist und verwirklicht werden kann.

Diese Behauptung kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Vor mehr als zwanzig Jahren bin ich erstmals über Frankls Logotherapie und Existenzanalyse „gestolpert“. Nach intensivem Selbststudium konnte ich erkennen und erfahren, dass dieses Konzept nicht nur in der Psychotherapie ihren berechtigten Platz hat, sondern auch im Berufsleben und in der Führungsarbeit eine wertvolle Orientierung sein kann. Wir stehen nicht nur im Privatleben und in Fragen unserer Gesundheit, sondern gleichermaßen in der Arbeit immer wieder vor Situationen, die uns herausfordern, uns hilflos erscheinen lassen und uns alles andere als ein Gefühl von Sinnhaftigkeit erfahren lassen. Mit dem von Frankl vermittelten Menschenbild und den von ihm beschriebenen „Wegen zum Sinn“ können wir wieder zum Gestalter unseres Lebens werden und trotz Belastung, Stress und permanentem Veränderungsdruck Sinn erleben und erfüllen. Ebenfalls hilfreich und daher eingearbeitet sind Erkenntnisse aus Psychologie, Neurobiologie und Psychoneuroimmunologie. Daraus lässt sich ableiten, wie wir Menschen „ticken“, was uns motiviert und belastet, und vor allem, wie wir uns selber vor unnötigem Stress und Krankheiten schützen können.

Ziel dieses Buches ist es daher, Wege zu mehr Selbstwirksamkeit, Gelassenheit, Souveränität und Dankbarkeit aufzuzeigen. Es soll zu einer persönlichen Neuausrichtung einladen, um die eigene, künftige Geschichte neu zu erzählen, die nächsten Kapitel des eigenen Lebens selbst zu verfassen und zu verwirklichen. Das ist oft mühsam und macht auch nicht immer Spaß. Ein gutes Leben macht eben nicht immer nur glücklich und zufrieden. Lebensfreude entsteht nicht aus permanenter Sättigung und Bedürfnislosigkeit. Ein gelungenes Leben ist erfüllt von Sinn und der Überzeugung, dass wir es weitgehend in der Hand haben, ob es gelingt oder nicht. Wir sind keine Statisten unseres Lebens. Wir sind Produzent, Hauptdarsteller und Regisseur in einer Person – und können daher unsere Zukunft selbst gestalten, unsere berufliche und unsere private. Dazu müssen wir uns die eine oder andere existenzielle Frage stellen: Wozu arbeite ich? Wie ticke ich und wie ticken die anderen? Was treibt mich an, was zieht mich an? Welche (sinnvollen) Wege gibt es, mit schwierigen, unabänderlichen Herausforderungen umzugehen? Was macht mich krank und was hilft mir, gesund zu bleiben? Wie kann ich meinen persönlichen Weg gehen, auf den ich später stolz und voller Freude zurückblicken kann? Und vielleicht eine der wichtigsten Lebensfragen: Welcher Mensch will ich einmal gewesen sein?

Eine kurze Geschichte der Arbeit

Menschen haben immer schon gearbeitet. Die frühen Jäger und Sammler mussten sich ihren Lebensunterhalt, also Nahrung und schützende Kleidung, mühevoll erarbeiten. Das war im wahrsten Sinne des Wortes überlebensnotwendig. Das Sesshaftwerden der Bauern hat die Mühen der Arbeit nicht wirklich verringert. Entsprechend dem Bibelwort aus der Schöpfungsgeschichte musste der Mensch sein Brot von Anbeginn an „im Schweiße seines Angesichts“ erwerben. Im Neuen Testament wurde Arbeit grundsätzlich als positiv bewertet, ja sogar als Lebensgrundlage gesehen. Der Apostel Paulus legte sogar fest: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“ Damit war aber die Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt gemeint und nicht das Erarbeiten von Reichtümern um jeden Preis. Dennoch hat sich das Hochhalten der Arbeit als gottgewollt über die Reformation bis in die Neuzeit gehalten. Auch der Sozialismus hat die Arbeit nicht grundsätzlich kritisiert, sondern nur die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie die Entfremdung von der Arbeit, der ein tiefes Sinnlosigkeitsgefühl zugrunde liegt.

Interessant ist ebenso, sich die Trennung von Erwerbsarbeit auf der einen Seite und unbezahlter Arbeit auf der anderen im Laufe der Geschichte genauer anzusehen. Diese Trennung existierte nämlich nicht immer. In früheren, überwiegend landwirtschaftlich strukturierten Gesellschaften war jegliche Verrichtung in Haus und Hof dem Überleben des Familienverbandes sowie der Gehilfinnen und Gehilfen geschuldet. Egal ob Säen oder Ernten, Kochen oder Putzen, die Reparatur der landwirtschaftlichen Geräte oder das Flicken der Wäsche – alles diente der Gemeinschaft und ihrem Überleben. Nicht nur Frauen und Männer arbeiteten da gleichermaßen zusammen, sondern auch Jung und Alt über mehrere Generationen. Erst mit dem Aufkommen des Handwerks hat sich eine Trennung herausgebildet, für die es allerdings schon in der Antike zwei unterschiedliche Begriffe gab: Das lateinische Wort „labor“ beschreibt die mühevolle Arbeit, die zum Überleben notwendig ist. Die kreative, erfüllende, ein Werk schaffende Arbeit wurde mit dem Begriff „opus“ bezeichnet. Und noch heute gibt es diese Unterscheidung in vielen Sprachen. Im Deutschen mit „Arbeit“ und „Werk“ oder auch im Englischen mit „labour“ und „work“. Da das Handwerk einst überwiegend männlich dominiert war, wurde bereits zu dieser Zeit die Grundlage für die Aufteilung in die männliche, das Einkommen erwirtschaftende Erwerbsarbeit und die weibliche, unbezahlte Arbeit im Haushalt geschaffen. Diese Trennung war zwar schon damals nicht durchgängig (wenn zum Beispiel Witwen den Handwerksbetrieb weiterführten), aber der Beginn eines bis heute noch nicht überwundenen Trends.

Heute definieren wir unser Dasein oftmals über unsere Erwerbsarbeit – ob nun Handarbeit, Kopfarbeit, Aktienspekulation oder Privatier. Jeder kennt die übliche Frage im Small Talk: „Und was machst du beruflich?“ Daher auch der hohe Stellenwert, den Berufsausbildung und -ausübung mittlerweile haben – mit allen gesellschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen: Je höher der Wert unserer Arbeit beziehungsweise unseres Arbeitsplatzes, umso größer die Gefahr, sich zu verausgaben, bis hin zu einer existenziellen Krise im Falle von Arbeitslosigkeit. Gibt es eine gesunde Einstellung zur Arbeit? Ja, die gibt es. Eine Voraussetzung dafür ist unter anderem, die Trennung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit beziehungsweise deren unterschiedliche Bewertung aufzulockern. Und das nicht nur aus Gendering-Gründen. Das Thema unbezahlte Arbeit bleibt ein blinder Fleck der Ökonomie und wird auch nicht zum Bruttosozialprodukt (BSP) gerechnet, das gern als Vergleichskriterium mit anderen Ländern herangezogen wird. Dass das BSP zwar Wiederaufbau nach Naturkatastrophen, Autoreparaturen nach Verkehrsunfällen und Leistungen des Gesundheitssystems zur Therapie nach Gewaltverbrechen berücksichtigt, nicht jedoch die unbezahlte Arbeit im Haushalt, der Kindererziehung, Arbeit in der Pflege oder ehrenamtliche Arbeit in Vereinen, macht diese Kennzahl sehr fragwürdig. Das ist zwar allseits bekannt, aber es gibt derzeit noch keine Alternative zur Bewertung der Wohlstandssituation eines Landes. (Eine Ausnahme bildet der Staat Bhutan, der die Bewertung des „Bruttonationalglücks“ eingeführt hat.)

Nichtsdestoweniger braucht es eine gesunde Einstellung zum Thema Arbeit, um trotz schwieriger Umstände gesund zu bleiben. Natürlich ist es wünschenswert, dass man Arbeitsbedingungen vorfindet, die ein sinnerfülltes Arbeiten ohne Überforderung, ohne ständige Stressbelastung ermöglichen. Dazu sind eine sinn- und wertorientierte Unternehmensleitung, sinn- und wertorientierte Führungskräfte und auch eine Kollegenschaft vonnöten, die eine gewisse persönliche Reife im Umgang miteinander entwickelt hat. Solange es diese Rahmenbedingungen nicht flächendeckend gibt, liegt es an jedem und jeder Einzelnen von uns, einen kleinen Beitrag zu einer humaneren Arbeitswelt zu leisten.

Motivation, Engagement, Gesundheit

Warum tue ich mir das an?

Die Hauptaufgabe von Führungskräften sei die Motivation ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, behaupten die einen. Andere Managementexperten meinen, es reiche schon, die Mitarbeitenden nicht zu demotivieren. Dem würden viele Menschen im Angestelltenverhältnis sofort zustimmen. Und dann gibt es noch diejenigen, die dafür plädieren, dass Führungskräfte Rahmenbedingungen schaffen sollten, die es ihren Mitarbeitern möglich machen, sich selbst zu motivieren. Aber egal ob Mitarbeiter oder Chef – es lohnt sich, zu überlegen, was mich und andere antreiben – oder noch besser: anziehen – könnte.

Viele Forscherinnen und Forscher haben sich mit der Frage beschäftigt: „Was motiviert Menschen und wie kann man Menschen motivieren?“ Sie haben herausgefunden, dass Geld nur dann motiviert, wenn es zum Überleben dringend gebraucht wird. Eine Gehaltserhöhung erzeugt nur eine kurzfristige Freude, die sehr schnell wieder abebbt. Das höhere Einkommen wird sehr bald als normal und selbstverständlich empfunden. Auch der fehlende Zusammenhang zwischen Gehältern und Bonuszahlungen an Topführungskräfte und deren Leistung wird immer wieder betont.

Eines der bekanntesten Motivationskonzepte ist die sogenannte Bedürfnispyramide von Abraham Maslow. Von ihm stammt die These, dass wir uns letztendlich nach Selbstverwirklichung sehnen. Maslow hat eine hierarchische Abfolge von menschlichen Bedürfnissen beschrieben, die erfüllt sein sollten, damit sich der Mensch wohlfühlt und mit seinem Leben zufrieden ist. Das Fundament bilden die physiologischen Bedürfnisse, also all das, was unser Körper zum Überleben braucht: Luft, Nahrung, Wärme und so weiter. Gleich darüber steht das Bedürfnis nach Sicherheit. Die Wichtigkeit dieses Grundbedürfnisses und die politischen Verlockungen, die sich daraus ergeben, sind gerade heute in ganz Europa gut zu beobachten. Erst wenn körperliche und Sicherheitsbedürfnisse erfüllt sind, beginnt der Mensch sich laut Maslow seiner sozialen Bedürfnisse, nach einem Miteinander und nach Zusammengehörigkeitsgefühl, bewusst zu werden. Daraus ergibt sich gleich die nächste Stufe der Bedürfnispyramide: Anerkennung. Menschen wollen als Person anerkannt und wertgeschätzt werden. Damit aber nicht genug, denn an der Spitze der Pyramide findet sich das allseits bekannte Bedürfnis nach Selbstverwirklichung.

Die Selbstverwirklichung als Spitze der Bedürfnispyramide hat allerdings einen Haken. Diesen hat Maslow auch selbst erkannt: Die intensive Suche nach Selbstverwirklichung kann zu einer Egozentrierung führen, schließlich dreht sich auf jeder Hierarchiestufe alles nur um das eigene Selbst. Meine physiologischen Bedürfnisse, meine Sicherheitsbedürfnisse, meine sozialen Bedürfnisse. Abraham Maslow und Viktor E. Frankl waren Zeitgenossen und haben über dieses Problem intensiv diskutiert, was Maslow dazu bewogen hat, sein Konzept zu ergänzen: Die Bedürfnisse des Menschen drehen sich eben nicht immer nur um das eigene Selbst. Das höchste Bedürfnis des Menschen richtet sich von ihm selbst weg, nach außen auf eine Aufgabe oder auf einen anderen Menschen. Es ist das Bedürfnis nach Selbsttranszendenz. Das hat grundsätzlich nichts Übersinnliches, sondern meint schlicht und einfach die Ausrichtung des Menschen über sich selbst hinaus, auf etwas, das größer ist als er selbst. Eine Aufgabe, eine Herausforderung, ein Beitrag zu einem großen Ganzen. Er hat damit Frankl offiziell recht gegeben in der Feststellung, dass der Mensch als oberstes Bedürfnis eine Ausrichtung auf einen Sinn sucht. Und dieser liegt nicht in uns selbst, sondern draußen in der Welt.

Beispiel:

Eine Führungskraft, die sich selbst verwirklichen will, denkt natürlich zuerst an sich selbst. Das heißt, im Mittelpunkt stehen Fragen wie: Was dient meiner Karriere? Was muss ich tun, um möglichst rasch in der Hierarchie nach oben zu steigen? Welche Projekte und Aufgaben muss ich übernehmen, um kurzfristige Erfolge zu erzielen und in der Organisation möglichst sichtbar zu werden? Dabei können Themen, die zwar für das Unternehmen, nicht jedoch für die eigene Karriere wichtig sind, sehr rasch uninteressant werden. Seien diese noch so sinnvoll und nachhaltig. Umgekehrt gibt es ebenso Führungskräfte, die nicht in erster Linie an sich selbst denken, sondern das große Ganze und vor allem die Beiträge der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Fokus haben. Sie definieren ihren Erfolg über den Erfolg des Unternehmens und den Erfolg der Mitarbeiter, vor allem auch über das Wachstum und die Weiterentwicklung des Teams. Die eigene Karriere ist dann eine Folge und Nebenwirkung der Ausrichtung auf die Aufgabe und die Menschen. Erfolg muss „er-folgen“, er ist eine Folge von etwas. Das gilt übrigens nicht nur für Führungskräfte. Die Frage, worauf ich mein Streben richte, gilt für alle Mitarbeiter. Darunter sind natürlich ebenfalls solche zu finden, die nur an der eigenen Selbstverwirklichung interessiert sind und nicht am Erfolg des Unternehmens. Das kann dann durchaus dazu führen, dass sogenannte „High Potentials“ Jobs im Lebenslauf sammeln wie Großwildjäger ihre Trophäen. Da zählt dann weniger, welcher Beitrag oder ob überhaupt etwas Wesentliches geleistet wurde, sondern nur, welche „coolen Jobs“ in „prominenten Unternehmen“ in der Biografie aufscheinen.

Frankl geht bezüglich der Bedürfnishierarchie aber noch einen Schritt weiter und hat noch einen weiteren Widerspruch aufgedeckt – und zwar die bedingte Abfolge der Bedürfnisse. Im Gegensatz zu Maslows Konzept ist das Sinnstreben des Menschen nicht abhängig von der Erfüllung der Grundbedürfnisse: Zahlreiche Berichte von Menschen, die Übermenschliches geleistet haben, ohne dass ihre basalen Bedürfnisse erfüllt waren, zeugen davon. Warum haben sie das getan? Weil es für sie sinnvoll war. Frankl selbst berichtet von Erlebnissen im Konzentrationslager, wo Gefangene, die selbst am Verhungern waren, deren physiologische oder Sicherheitsbedürfnisse keineswegs gestillt waren, sich dennoch selbsttranszendent auf die Bedürfnisse anderer ausgerichtet hatten. Die vielleicht sogar das letzte Stück Brot einem Familienvater geschenkt hatten, um diesem das Überleben zu ermöglichen.

Zur Klarstellung: Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz sind keine Gegensätze. Im Gegenteil: Durch Selbsttranszendenz kann ich mich selbst erst so richtig verwirklichen. Dies erfolgt jedoch nicht über die Ausrichtung auf meine Bedürfnisse, Interessen und Vorteile, sondern über die Ausrichtung auf die Aufgaben und die anderen Menschen. Durch die Verwirklichung meiner persönlichen Sinnaufgaben verwirkliche ich mein in mir angelegtes Potenzial an Möglichkeiten und damit auch mich selbst.