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Als seine Eltern tragisch versterben, erbt Marcus Himmeltroff-Gütersloh unverhofft Milliarden. Obwohl er sich als Avantgarde-Künstler Arcus von seinen konservativen Eltern losgesagt hat, muss er nun Entscheidungen treffen: Zuerst spielerisch, dann immer radikaler lotet Arcus neue Freiheiten aus und reißt damit nicht nur seine Freunde, sondern die ganze Stadt in einen aberwitzigen Wirbel aus Gier, Schuld und dem letzten Rest Würde. Norbert Maria Kröll zeigt in dicht gewebter, kompromissloser Sprache die wachsende gesellschaftliche Spaltung auf und weitet die Debatte auf die Verantwortung der Kunst aus. "Das Geld ist futsch, es ist weg, und es kommt nie mehr wieder zum Vorschein, wenn es denn überhaupt jemals zu sehen war. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Ich erzähle Ihnen nichts Neues? Nun, Arcus wird Ihnen das Neue nicht erzählen, er wird es Ihnen vielmehr zeigen."
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Seitenzahl: 276
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Norbert Maria Kröll
Roman
Kremayr & Scheriau
Zum Erben muss man geboren sein.
Margret Kreidl
Sie dachten, wir würden unser Geld verwenden,
um eine Aussage über Kunst zu machen,
und in Wirklichkeit haben wir mit unserer Kunst
eine Aussage über Geld gemacht.
Bill Drummond
Der Familiennotar hatte ihm die Geldsumme genannt. … und vierundsiebzig Cent, hatte er gesagt, und Arcus hörte aus der Art, wie er die Summe aussprach, einen Hauch von Stolz heraus. Und vierundsiebzig Cent. Das war alles, was sich Arcus von diesem Gespräch merken konnte. Es war im Grunde kein Gespräch gewesen. Arcus hatte nichts gesagt, bloß still genickt, nachdem er den Betrag und die Firmennamen gehört oder eigentlich nicht gehört hatte. Und vierundsiebzig Cent. Mit einem leisen Seufzer unterzeichnete er die Dokumente, als wären die Informationen, die darin festgehalten waren, eine unangenehme Bürde. Als er den goldenen Füllfederhalter, dessen Protzigkeit ihn beinahe zum Lachen brachte, vorsichtig neben die aufgeklappte Ledermappe legte, fiel sein Blick auf das fein geschliffene Wasserglas, das ihm ein Gehilfe des Notars kurz nach seinem Eintreffen wortlos auf einem Tablett serviert hatte. Die späte Nachmittagssonne spaltete ihre Strahlen in den Verwerfungen des kostbaren Gefäßes, als würde sie aus purer Freude ihre Essenz preisgeben und auf der spiegelnden Oberfläche auffächern. Arcus dachte sogleich an Pink Floyds Albumcover von Dark Side of the Moon, und dann – natürlich – an den Song Money.
Er fühlte sich auf einmal, als stünde hinter ihm ein Sumoringer und würde sein ganzes Gewicht auf Arcus’ Schultern pressen. Und vierundsiebzig Cent. Arcus erhob sich, schüttelte die Hand des Vermögensverwalters und des Finanzberaters, dann die des Notars, der Arcus’ Hand in seine nahm, wie um ihm mitzuteilen, dass nun er der Chef sei und sich gut überlegen müsse, wie er mit der Erbschaft verfahren wolle. Ein Gehilfe öffnete ihm schwungvoll die massive Eichentür, während der Notar selbst seine Hand auf Arcus’ Rücken legte, sodass er den Eindruck bekam, sanft aus dem Büro hinausgeschoben zu werden. Womöglich hatte der Notar, der ihm noch vor der Unterzeichnung mit feuchten Lippen mitgeteilt hatte, dass es sich in solchen Fällen wieder mal auszahle, in einem Land ohne Erbschaftssteuer zu leben, instinktiv gespürt, dass Arcus ihn so schnell nicht wieder besuchen kommen würde. Dass er sich um Leute wie ihn nicht kümmerte, dass sie für ihn, wenn überhaupt, ein unvermeidliches Übel waren, das er von nun an zu ertragen hatte, ganz im Gegensatz zu Ulrich, Arcus’ kürzlich verstorbenem Vater, von dem der Herr Notar Zeit seines Lebens tiefste Wertschätzung erhalten hatte.
Die Tür wurde lautlos hinter dem Erben geschlossen. Der Vermögensverwalter und der Finanzberater waren beide im Büro des Notars geblieben. Kurz war dumpfes Gelächter zu vernehmen. Lachten sie über ihn? Am Empfang schenkte man Arcus ein lautloses Abschiedslächeln. Seine Sneakers, deren rechter vorn am Zeh ein Loch im Stoff hatte, glitten ebenso lautlos übers polierte Parkett. Die warme Luft, die draußen in seine Lungen strömte, nahm ihm, wie bei einem kräftigen Saunaaufguss, kurz den Atem. Und konnte es sein, dass er die Hitze des Asphalts durch die kaum mehr vorhandenen Sohlen seiner Sneakers hindurch spürte? Ob es gar an der Zeit war, fragte sich Arcus, ein neues Paar zu erwerben? Im Halbschatten einiger halbhoher Bäume ging er die steile Parkstraße hinan und bog dann in eine enge Gasse ab. Doch anstatt nun sein Schritttempo zu erhöhen, blieb Arcus plötzlich stehen, drehte sich zur Seite, öffnete seine Hose und pinkelte durch den Maschendraht eines Gartenzauns. Ein älterer Herr, der ihm auf der anderen Straßenseite entgegenkam, brummte etwas Unverständliches. Ob sein Urin als Dünger für die Rosen gleich hinter den dunkelgrünen Metallstreben herhalten konnte oder aber einen langsamen Tod der Pflanzen hervorrief?
Ein paar Tropfen landeten auf seinem Zeigefinger. Als Kind war ihm das oft passiert. Deine Hose stinkt schon wieder nach Urin. Dass du das, im Gegensatz zu allen anderen Gleichaltrigen, noch immer nicht beherrschst!? Schämst du dich denn nicht, Marcus? Die Stimme seiner Mutter war in seiner Erinnerung mit einem langen, dumpfen Hall versetzt. Er kniff die Augen fest zusammen, öffnete sie wieder und trocknete den benetzten Finger am Hosenbein ab. Arcus war kein Schwein. Er wusste, wie man sich benahm, wie man sich zu benehmen hatte. Sei kein Ferkel, Marcus! Sich mit Urin zu rächen, war – er musste kurz über sich selbst lachen – ein mickriges Aufbegehren. Vor allem, da Arcus bewusst war, dass egal, was er unternahm, ein Teil von ihm für immer mit diesem System der Bevorzugten verbunden bleiben würde. Er mochte noch so kritischer Künstler sein, das Leben eines Punks nachspielen und über die unsozial agierenden Reichen wettern; die Wir-sind-besser-als-dieanderen-DNA und die nicht abzuschüttelnde Aura des Privilegs hatte Arcus mit der Muttermilch aufgesogen, wohlgemerkt, ohne je gestillt worden zu sein. Warum aber fühlte sich seine kümmerliche Rache trotz allem gut an, fundamental richtig? Und überhaupt: War er denn von nun an, fragte sich Arcus, nicht wieder einer von ihnen, einer von den Ungerechten, die von oben herab durch eine absurd verzerrte Optik auf die Gesellschaft blickten?
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es das alte Grundstück der Liebochs war, das er begossen hatte. In wenigen Tagen würde er sie gesittet weinen sehen beim Begräbnis seiner Eltern, mit denen sie stets gut befreundet gewesen waren. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er von Vater gezwungen worden war, mit den gleichaltrigen Lieboch-Zwillingen einen Tenniskurs zu belegen. Ach, wie gerne hatten sie ihn verlieren sehen!
Als ein Radfahrer um die Ecke kam, bemerkte Arcus, dass ihm noch der Penis aus der Hose hing. Er packte ihn in die Boxershorts, knöpfte die Jeans zu und schloss den Gürtel. Mit müden Beinen schleppte er seinen schmalen, großgewachsenen Körper weiter, und als wollten seine Schuhe sich nicht vom Asphalt trennen, schabten sie über die raue, dunkle Oberfläche. Nachdem Arcus einige Villen passiert hatte, kickte er mit der Schuhspitze gegen einen vor ihm liegenden Stein; dieser knallte gegen die Motorhaube eines parkenden Oldtimers. Niemand kam aus dem Haus gerannt, um ihn zu rügen. Arcus überlegte, ob er den Mercedes-Stern herunterreißen sollte, und ob dann jemand erscheinen würde, um ihn anzuzeigen und ihn bei der Gelegenheit auch gleich zu beschuldigen, dass er das ganze Geld nicht verdient habe, was der Wahrheit, so dachte Arcus, ziemlich nahekam. Niemand verdiente es, so viel Geld zu besitzen. Niemand. Mit gesenktem Blick, und dabei eine kaum hörbare Melodie pfeifend, setzte er seinen Weg fort.
Arcus schüttelte den Kopf, als auf dem Straßenschild vor ihm das Wort Fürstenstraße in verschnörkelter Schriftart aufblitzte, dahinter der strahlend blaue Himmel, als begrüße man ihn, den verlorenen und nun endlich heimgekehrten Fürsten mit in der Kehle steckengebliebenem Jubelgeschrei. Für den Abend nahm er sich, um die Mühen des Tages vergessen zu machen, als kleines künstlerisches Projekt vor, die Fürstenstraße – wie zu Kindheitstagen – mit ein paar Pinselstrichen in Furzenstraße umzubenennen. Das würde ihn zumindest bis zum Einschlafen glücklich stimmen.
Als Arcus schließlich vor dem hohen, schwarzen Gittertor mit der Hausnummer 42 stehenblieb und auf dem Klingelknopf Himmeltroff-Gütersloh, seinen Familiennamen las, griff er, ohne zu wissen warum, in seine Hosentaschen und suchte darin nach Münzen. Hastig, und als hinge von dieser Tat irgendetwas Bedeutsames ab, addierte er ihren Wert: … und vierundsiebzig Cent. Arcus musste lachen, zuerst zaghaft, dann immer lauter. Er hielt sich vor Lachen an den von der Sonne erhitzten Stahlstreben fest. Ein Mann mit blauem Arbeitsmantel, der soeben aus dem geöffneten Garagentor der Villa kam und wegen des Gelächters in Richtung Straße blickte, trat ihm, wohl um ihn zu verscheuchen, ein paar Schritte in der Einfahrt entgegen. Dann erst erkannte der Mann seinen neuen Arbeitgeber und nickte mit angewidertem Gesichtsausdruck – Arcus konnte sich auf die Entfernung aber auch getäuscht haben – in seine Richtung, streckte auf halbem Weg zum Gitter einen Arm aus und drückte auf ein Gerät an seinem Schlüsselbund. Räuspernd richtete sich Arcus auf. Seine zu Fäusten geballten Hände umklammerten die Münzen. Das Tor öffnete sich mit leisem Rattern.
Seit beinahe drei Stunden saß Arcus auf dem mit Pölstern und Decken überladenen Sofa und versuchte, sich nicht zu bewegen. Nur sein Brustkorb bewegte sich mit seinem Atem. Jahrelang hatte er hier nicht mehr gesessen. Arcus’ Augen waren weiter geöffnet, als man es um diese Uhrzeit vermuten mochte, er starrte geradeaus zum Kamin und auf den riesigen Flachbildfernseher darüber, den noch Johannes, sein sechs Jahre älterer Bruder, kurz vor seinem Tod um knappe hunderttausend Euro gekauft und an der Backsteinwand hatte anbringen lassen. Arcus war zu Ostern zufällig ein paar Tage zuhause gewesen und hatte bei der Montage behilflich sein wollen. Johannes hatte durch seine perfekten Zähne gezischt und gemeint, dass es dafür doch Arbeiter gebe, Idioten mit Schweißflecken unter den Achseln, die für eine gute Ausbildung zu dumm seien.
»Du bist doch nur unfähig, mit einem Bohrer umzugehen«, hatte Arcus gesagt.
»Bullshit.«
»Außerdem bist du herablassend, um deine Unfähigkeit zu vertuschen.«
»Und du bist ein dreckiger Verräter«, hatte Johannes gesagt, mit der Faust ausgeholt und so getan, als würde er in Arcus’ Gesicht schlagen. »Nein, du bist den Hieb nicht wert.«
»Du hast Angst, dir einen Fingerknochen zu brechen«, hatte Arcus festgestellt. »Deshalb schlägst du nicht zu.«
»Schnauze!«
Über dem Fernseher prangte ein Hirschkopf mit seinem beinah unrealistisch groß wirkenden Geweih. Die dunklen, ausdruckslosen Glasaugen des ausgestopften Tiers, die schwarz spiegelnde Fläche des Bildschirms und die rußigen Rückstände im Kamin bescherten Arcus Gänsehaut. Rechts neben dem Hirsch war eine silberne, am Lauf mit einem Blumenmuster verzierte Pistole befestigt. Ob der Hirsch mit diesem Mordgerät erlegt worden war? Arcus musste an Tschechow denken.
Eine dicke Fliege brummte zum dritten Mal dicht an seinem Kopf vorüber. Arcus bildete sich ein, an seiner linken Schläfe einen sanften Luftzug von den Flügelschlägen verspürt zu haben. Das Brummen verstummte. Dann hob es wieder an, entfernte sich nach hinten in den Speisesaal. Von Zeit zu Zeit blinzelte Arcus, wie um seine Gedanken in kurze Kapitel zu gliedern.
Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die für die Größe des Wohnzimmers relativ kleinen Fenster horizontal auf Arcus’ rechte Wange, glitten einige Zeit darüber hinweg und verfingen sich schließlich in den halbtransparenten, türkisen Vorhängen, die Mutter ausgesucht hatte, um dem schweren Holz der Wandvertäfelung, ein – wie sie es auszudrücken pflegte – frohes Gegenüber zu bescheren. Arcus’ Mutter hatte, bevor sie seinen Vater kennengelernt hatte, eineinhalb Semester lang Inneneinrichtung an einer niederösterreichischen Privatuniversität studiert. Sie hatte nach der Hochzeit, die – wie damals auch in überreichen Familien üblich – das Ende des Studiums und ihrer Eigenständigkeit sowie den Beginn einer gewissen Abhängigkeit von ihrem Mann bedeutete, nicht aufgehört, sich einzubilden, eine Meisterin dieses Fachs zu sein, was sie, ihrer Ansicht nach, ohnehin bereits vor dem Studienbeginn gewesen war. Schließlich hatte sie sich in der Ausübung des Feng Shui verloren und aus dem Haus, in der besten Absicht, die blockierten Energien der Räumlichkeiten zu entfesseln und das Qi frei zum Fließen zu bringen, das gemacht, was es heute war: ein Horrorkabinett und Dorn im Auge jedes Ästheten und jeder Minimalistin. Vollgestopft nicht nur mit teurem, aber billig aussehendem Krempel aus aller Welt, der offenbar den Familienstatus für Besuchende zementieren sollte, sondern auch mit Kitsch-Kunstwerken, die Arcus bereits in seiner Jugend, als der Wunsch, Künstler zu werden, sich konkretisierte, täglich die Netzhaut verbrannt hatten. Mutters abgebrochene Ausbildung war nichts als Ablenkung, Zerstreuung gewesen, denn jemand, der von einer altadeligen Familie abstammte, führte einen Beruf ohnehin nur als Zeitvertreib aus, als nettes Spiel, bei dem man mit solch einer Startposition nicht verlieren konnte.
Wäre nicht zufällig ein Blaumeisenjunges gegen die Scheibe geflogen, hätte ein heimlicher Beobachter denken können, Arcus wäre kein lebender Mensch, sondern konserviert, wie die Tiere rings um ihn, die sein Vater im Laufe seines Lebens erlegt und hier, zum Leidwesen der restlichen Familienmitglieder, zur Schau gestellt hatte. Arcus zuckte zusammen, er riss den Kopf zur Seite und schoss in die Höhe, als hätte ihm jemand ein glühendes Eisen in den Rücken gebohrt. Ihm schwindelte vom langen Sitzen. Er griff nach einem Lampenstiel, der sich im Halbkreis über das Sofa in Richtung des kniehohen Tischchens bog, doch die Stange war zu dünn, um ihm ausreichend Halt zu geben. Er riss die Lampe um, kam dabei in eine Schräglage und hielt sich stöhnend an der Armlehne des Sofas fest. Das Ledersofa kommentierte jede Bewegung seiner Hand mit einem leisen Knarzen. Als sich das Zimmer in seiner Wahrnehmung wieder langsam zusammengesetzt hatte, ließ er die Armlehne los und richtete den Oberkörper auf.
Er sah die gebleckten Zähne eines Fuchses, der ihn mit bedrohlichem Blick fixierte. Seine um zwei Jahre ältere Schwester Judith hatte als Kind stets einen großen Bogen um dieses Raubtier gemacht, das Vater direkt neben dem Sofa platziert hatte. So komme es wegen des Lichteinfalls besser zur Geltung, hatte Mutter ihm beigepflichtet, als Judith sich wieder einmal über den bösen Blick des Tiers beschwert hatte, der ihr Angst machte.
Wie eine Peitsche fuhr Arcus die Wut aus dem Bauch in den rechten Arm. Er schlug dem Fuchs von unten auf die Schnauze. Der ausgestopfte Kopf war härter als erwartet. Auch beim zweiten Schlag, diesmal von der Seite, gab er nur wenig nach, sodass sich zumindest die Vorderpfoten aus dem Holzsockel lösten. Arcus bemerkte, dass seine blasse Haut, da er die Zähne des Fuchses erwischt hatte, an den Knöcheln des Mittel- und Ringfingers aufgerissen war. Er steckte sich die verletzten Stellen in den Mund und saugte das Blut weg. Erneut kroch eine Welle von Wut in ihm hoch. Mit dem rechten Ellbogen holte er, wie er es als Kind bei den Wrestlern nicht ohne Staunen beobachtet hatte, aus und schlug dem Tier von oben aufs Genick. Da knickte der Fuchs endlich ein und krachte zu Boden. Wie von Sinnen trat Arcus darauf ein und ärgerte sich gleichzeitig darüber, dass es ihm so leichtfiel, die gelassene Stimmung, die er sich in dreistündiger Meditation mühsam erarbeitet hatte, in weniger als drei Minuten zunichte zu machen. Seine Augen beschlossen, zu weinen, sein Mund beschloss, zu lachen, er tat beides zur selben Zeit, stolperte über den doppelt getöteten Fuchs in Richtung Fenster und öffnete zuerst die inneren, dann die äußeren Flügel. Und dort, am Fensterbrett, lag der kleine Vogel, der vorhin gegen die Scheibe geflogen war. Er bewegte sich nicht. Arcus fragte sich, wie man feststellte, ob ein Vogel gestorben war. Er nahm ihn in die Hände. Der Körper fühlte sich weich an, zerbrechlich und zart. Er hielt das kleine Ding an sein linkes Ohr. Ob er den Herzschlag vernehmen konnte? Nichts zu hören. Sollte er ihn zu seinen ausgestopften Freunden legen? Nein, er würde ihn dort liegen lassen, wo er ihn gefunden hatte. Ein Fuchs würde kommen, um den noch warmen Kadaver zu fressen.
Arcus beobachtete, wie die Sonne ihre Strahlen durch die vom Wind sanft bewegten Blätter der Linde stieß, sodass er seine Augen zusammenkneifen musste, um nicht geblendet zu werden.
»Der Fernseher bringt in HDR viertausend Nits auf den Teller«, hatte Johannes zu ihm gesagt, nachdem er, mit dem exakt gleichen Stolz wie sein Vater, wenn er ein frisch ausgestopftes Tier ins Wohnzimmer gestellt hatte, ihn das erste Mal in Betrieb genommen hatte. »Achtundneunzig Zoll, 8K-Auflösung, eine künstliche Intelligenz rechnet die Bilder hoch. Der spielt alle Stücke.«
Die Arbeiter hatten den Raum gerade eben verlassen mit ihren Leitern und Bohrmaschinen und all dem anderen Werkzeug, für das Johannes mit Sicherheit keine genaue Bezeichnung gefunden hätte.
»Und viertausend Nits sind gut?«, hatte Arcus seinen Bruder gefragt, der ihn mit einem verächtlichen Blick bedachte.
»Wenn ich dir erzähle, dass mein Porsche Cayenne Turbo GT sechshundertvierzig PS hat, fragst du mich dann auch, ob sechshundertvierzig PS gut sind?«
»Willst du die Antwort darauf wissen?«, hatte Arcus gemeint und versucht, die Beleidigung wie an einem aufgespannten Regenschirm abperlen zu lassen. Johannes, hörte er nicht auf, sich einzureden, war eben pathologisch gehässig und konnte nichts für seine Art.
»Warum interessierst du dich eigentlich nicht für normale Dinge?«, hatte Johannes Arcus gefragt.
»Du meinst, damit wir uns unterhalten können?«, fragte Arcus.
»Vielleicht«, meinte Johannes. Kurz sah er enttäuscht aus.
»Ich weiß es nicht«, gab Arcus zu verstehen. »Ich weiß ja nicht einmal, was du unter normal verstehst. Für mich ist es normal, nicht über Autos zu reden, nicht über die neuesten Spielzeuge der Tech-Companies, nicht über …«
»Ich verstehe schon«, hatte Johannes ihn unterbrochen. »Nicht über Partys, nicht über Drogen, nicht über Girls, nicht über Geld. Du sprichst über nichts, das Spaß macht.«
Arcus hatte schmunzeln müssen und die Schultern gehoben.
»Langweiler«, hatte Johannes hinzugefügt. Er hatte seine Fassung mittlerweile wiedererlangt, seine Coolness, seine Maske, und sein Blick hatte sich verhärtet.
»In meinem Kopf«, hatte Arcus darauf entgegnet, »ist es nicht langweilig.«
Arcus senkte den Kopf, sein Blick fuhr über den dicken Baumstamm der Linde. Dann weiter nach unten, zu den Ansätzen der Wurzeln, die neben dem furchtbar exakt geschnittenen Gras in die Erde fuhren, bis er wieder am Fensterbrett direkt vor ihm ankam, wo der tote Vogel, sagte sich Arcus, hätte liegen müssen. Aber er lag nicht mehr da, der Vogel, hatte sich still und heimlich aufgerappelt, hüpfte auf der Stelle im Kreis und war auch nicht mehr tot! Er drehte Arcus den Kopf zu, neigte ihn ruckartig nach links und rechts, als frage er sich, wie er auf die wahnwitzige Idee gekommen war, einem Menschen so nahezukommen. Und dann hob er ab und flog zum nächstgelegenen Ast. Einfach so.
Arcus blieb kaum Zeit, dieses kleine Wunder einzuordnen, da vernahm er ein leises Klopfen. Überrascht zog er seinen Oberkörper zurück ins Horrorkabinett, ins Wohnzimmer, ins Jagdzimmer und fragte sich, ob es ein Einbrecher war, der erfahren hatte, dass das Haus neuerdings leer stand und geplündert werden konnte. Aber dann sagte er sich, dass ein Einbrecher mit ziemlicher Sicherheit nicht anklopfen würde. Ein höflicher Einbrecher?
Eine Frau stand im Schatten der Tür. Sie nickte, sagte hallo und fragte vorsichtig, ob sie hereinkommen könne.
»Ah, Maria«, sagte er, nachdem er sie an der samtenen Stimme erkannt hatte. »Komm doch herein! Ich stehe, wie du dir denken kannst, dieser Tage etwas neben mir.«
»Verständlich«, meinte Maria. »Mein herzliches Beileid wegen Ihres großen Verlusts.«
»Bitte«, sagte Arcus, »wollen wir nicht endlich per du sein? Sonst entsteht hier ein eigenartiges, hierarchisches Gefälle, mit dem ich nichts zu tun haben will.«
»Wenn Sie wollen«, sagte Maria. Und grinste. »Ich meine: Wenn du willst, sehr gerne.«
»Ich habe übrigens nichts Großes verloren«, meinte Arcus mit ernsten Gesichtszügen. »Zumindest nichts, das ich nicht schon vor langer Zeit verloren hätte.« Maria schaute Arcus an, als könne sie seine Gedanken nicht nachvollziehen.
»In drei Tagen findet das Begräbnis statt«, sagte Maria.
»Ja.«
»Ich werde für die Blumen sorgen«.
»Ja, danke. Aber bitte keine Blumenkränze. Ich kann sie nicht leiden.«
»Dann muss ich die stornieren«, sagte sie und zögerte.
»Ich bitte darum.«
»Und in zwei Wochen …«, stammelte sie.
»Ja? Was ist in zwei Wochen?«
»In zwei Wochen beginnt der August. Und da frage ich mich … also ich frage mich, ob Sie … ich meine du … ob du mich weiterhin als Gärtnerin benötigst?«
»Ach so«, rief Arcus aus, räusperte sich und wirkte im ersten Moment von der Frage überrumpelt. »Aber natürlich!«, presste er hervor.
Als wäre eine Last von Marias Schultern gefallen, atmete sie erleichtert auf.
»Wie viel haben dir meine Eltern eigentlich bezahlt?«, fragte Arcus nach einer kurzen Pause.
Maria antwortete nicht sofort. »Um die zweitausendfünfhundert«, sagte sie schließlich leise, als wäre es ihr peinlich.
»Brutto?«
»Ja. Und das ist ein gutes Gehalt, ich weiß …«
»Nein«, unterbrach er sie. »Das ist kein gutes Gehalt für einen Fulltime-Job, kein gutes Gehalt für die Betreuung solch eines Anwesens.«
Maria zog die Augenbrauen hoch.
»Maria?«
»Ja?«
»Du bist eine wunderbare Gärtnerin.«
»Danke«, meinte Maria.
»Aber kannst du auch kochen?«
»Äh … ja«, sagte sie zögerlich. »Ich koche sogar sehr gerne.«
»Gut«, sagte Arcus. »Das ist sehr gut. Und wie sieht es mit Saugen und Staubwischen aus?«
»Du willst wissen, ob ich es mag?«, fragte Maria und musste lachen.
»Schau, Maria«, begann Arcus. Er machte einen Schritt auf sie zu. »Ab August verdienst du um zweitausendfünfhundert Euro mehr, also fünftausend.«
»Wie bitte?«
»Netto«, sagte Arcus. »Versteht sich von selbst. Und dann gibt es zusätzlich zum Weihnachts- und Urlaubsgeld ein doppeltes Gehalt zum Geburtstag. Wann hast du Geburtstag? Oder bevorzugst du den Namenstag? Wir können beides nehmen, ja, das machen wir. Außerdem wäre es nicht verkehrt, die Vier-Tage-Woche einzuführen, meinst du nicht auch? Und sieben anstatt fünf Wochen Urlaub erscheinen mir angemessen. Sieben Wochen Mindesturlaub, ja, so machen wir das, und darüber hinaus kannst du ihn verlängern, solange du willst, unbegrenzt und nach eigenem Ermessen.«
Maria sagte nichts, hielt sich an der Rückenlehne des Sofas fest.
»Ich brauche etwas zu essen«, sagte Arcus. »Ich meine nicht jetzt, sondern generell. Deshalb hätte ich gerne, dass du für mich kochst. Und auch andere haben Hunger. Wir werden eine Gulaschkanone besorgen, damit du regelmäßig am Mödlinger Bahnhof die Obdachlosen und Bedürftigen sättigen kannst.«
Maria sah ihn mit großen Augen an und wollte schon etwas sagen, da sprach Arcus weiter: »Und ich will nicht, dass das Haus völlig verdreckt, wenn du verstehst, was ich meine. Diese Aufgabe wäre also auch noch zu übernehmen. Und wenn du willst, kannst du gerne, anstatt hier in der Villa die obersten Regalbretter abzustauben, alleinerziehenden Müttern in Mödling unter die Arme greifen. Ich weiß, das ist viel, was ich von dir verlange. Aber ich will einfach keine Armada von Koch- und Reinigungsmenschen, die hier täglich herumwuseln. Die muss ich leider alle entlassen. Natürlich mit einer mehr als angemessenen Abfertigung. Du übernimmst den Staubwedel, den Kochlöffel, die Gartenschere. Du übernimmst das Ruder. Kannst du das? Ich mag es simpel.«
»Du magst es simpel«, wiederholte Maria und räusperte sich.
»Und es gäbe noch ein, zwei Bedingungen.«
»Ja?«, fragte Maria vorsichtig. »Welche?«
»Du lässt das Gras etwas wachsen«, sagte Arcus. »Ich möchte nicht, dass es hier aussieht wie in einem Golfclub. Und du stutzt die Thujen bitte nicht mehr. Weißt du was? Wie wäre es, wenn du sie gleich entwurzeln lässt und etwas anderes entlang des Zauns hinpflanzt? Wäre das möglich?«
In Marias mandelförmigen, braunen Augen, zwei von einem Fluss glatt geschliffenen Steinen, begann etwas dunkel zu leuchten. Sie nickte.
»Und ich hätte gerne andere Blumen«, meinte Arcus. »Ich mag keine Rosen, keine Narzissen, keine Orchideen. Das ist mir alles zu hübsch, zu hochgezüchtet, zu unecht. Pflanzen, die auch im Wald auf einer Lichtung wachsen könnten, kommen mir in den Sinn. Etwas Knorpeliges. Etwas Wildes, Natürliches. Etwas, das nicht auffällt, zumindest nicht auf den ersten Blick, verstehst du, was ich meine? Narzissen und dergleichen sind solche penetranten Hingucker. Als würden sie immerfort schreien: Seht mich an, wie schön ich bin, wie perfekt. Aber das Leben ist nicht perfekt, es ist manchmal ganz grauslich. Und dann ist es wieder so einzigartig schön, dass es einem weh tut.«
Marias Blick war nach innen gerichtet, als ließe sie die Enzyklopädie aller Pflanzen, die sie in ihrer Berufslaufbahn kennengelernt hatte, durch ihren Kopf ziehen.
»Was meinst du? Wären die neuen Aufgaben, zusätzlich zum Gärtnern, bewältigbar? Macht dich dein Job überhaupt glücklich? Gibt es auf dieser Welt auch Menschen, die ihre Arbeit tatsächlich gerne machen und nicht ab Montagmorgen in Richtung Freitagabend schielen? Entschuldige«, sagte Arcus. »Das waren zu vielen Fragen auf einmal und die letzte rein rhetorisch. Möchtest du mir die, die nicht rhetorisch gemeint waren, beim Frühstück beantworten?«
»Ich habe schon gefrühstückt«, antwortete Maria. »Aber gegen einen Kaffee hätte ich nichts einzuwenden.« Sie blickte lächelnd zu Boden und fügte, den Kopf wiederaufgerichtet, hinzu: »Eine Frage kann ich gleich beantworten: Ja, das Gärtnern macht mich wirklich, wirklich glücklich. Ich habe mich ja im zweiten Bildungsweg dafür entschieden.«
»Gut, dass du Pflanzen magst«, sagte Arcus. »Denn ich kann mit ihnen keine Beziehung aufbauen. Wenn ich sie angreife, sterben sie. Ich verstehe ihre Sprache nicht.«
»Das kann ich kaum nachvollziehen«, meinte Maria. »Ich habe von klein auf mit den Pflanzen gesprochen.« Sie umrundete das Sofa und setzte sich rein zufällig in die Mulde, die Arcus in den letzten Stunden hineingedrückt hatte. Von diesem Winkel aus sah sie den zerstörten Fuchs am Boden liegen, tat aber so, als hätte sie ihn nicht bemerkt. »Mein Papa hat mir später erzählt, dass er sich Sorgen gemacht hat, da ich manchmal stundenlang auf einem hohen Ast gehockt bin und nicht mehr herunterklettern wollte. Noch heute informiere ich einen Baum oder einen Strauch, wenn es darum geht, ihn am nächsten Tag abzusägen oder zu entwurzeln.« Sie blinzelte ein paarmal, wie um sich zu fragen, ob es eine gute Idee gewesen war, sich so weit zu öffnen. »Es sind Lebewesen«, fügte sie erklärend und kaum hörbar hinzu.
»Wenn das so ist«, sagte Arcus, »dann wirst du in den nächsten Tagen und Wochen sehr viele Gespräche mit deinen Palliativpatientinnen führen müssen.«
Maria wirkte nachdenklich und fuhr sich mit ihren von der Erde verfärbten Fingerspitzen durch die dichten Haare.
»Komm«, sagte Arcus, »lass uns in die Küche gehen. Vielleicht sind noch ein, zwei Eier übrig. Oder drei. Viereinhalb Minuten sollten sie gekocht sein. Nicht länger!«
»Ich muss Wege finden, das Vermögen loszuwerden«, sagte Arcus und biss in ein knuspriges, mit reichlich Butter bestrichenes Toastbrot. »Das Geld sollte nicht mir gehören. Nicht mir allein. Niemand sollte so viel besitzen dürfen.«
Maria schwieg, während sie sich vorstellte, wie es sich anfühlen würde, Milliarden zu erben.
»Die Top-Manager des Familienkonzerns wetteifern bereits um die Spitze. Alle haben sie Todesangst, ich könnte auf die Idee kommen, die Leitung des Geschäfts zu übernehmen.«
»Und, kommst du auf die Idee?«
»Ich werde sie eine Zeitlang in dem Glauben lassen«, sagte Arcus und fügte hinzu: »Wusstest du, dass ich in meiner Ausstellung money sells in der Belvertina jeder einzelnen Person ohne Gegenleistung fünfzig Euro – und später sogar hundert Euro gegeben habe?«
Maria schüttelte den Kopf.
»Mich jetzt schon wieder damit auseinandersetzen zu müssen, kommt mir wie die Rückkehr eines geworfenen und längst vergessenen Bumerangs vor.«
»Kannst du dich nicht einfach besteuern lassen? Das Geld dem Staat geben?«
»Dafür gibt es kein Gesetz. Wüsste ich, dass es in den Bau eines Krankenhauses fließt, wäre das begrüßenswert. Im Moment aber wäre es ein Risiko, denn es könnte genauso gut die Geburtstagsfeier eines Ministers finanzieren, die Wahlkampagne einer Partei, deren Programm ich verachte; es könnte der Korruption zum Opfer fallen, es könnte eine Flut sinnloser Umfragen damit bezahlt werden und Inserate in verachtenswerten Zeitungen geschaltet, die niemand braucht, es könnte in die Beschaffung von neuen Kampfjets fürs Bundesheer investiert werden. Und es könnten damit Zäune und Mauern errichtet werden. Mit dem Geld könnten patriarchale Strukturen in der Kunst fortgeschrieben, könnte hauptsächlich männliche Kunst angekauft und gefördert werden. Oder noch Schlimmeres, wie zum Beispiel eine Autobahn oder ein Tunnel unter einem Naturschutzgebiet. Es braucht bloß die falsche Partei an den Hebeln zu sitzen – und die Wahrscheinlichkeit dazu ist, wie wir leider wissen, extrem hoch.«
»Du glaubst nicht an Demokratie?«, fragte Maria und neigte ihren Oberkörper nach links, dann nach rechts, wie um abzuwägen, wie weit sie mit ihren Fragen gehen konnte.
»Ich denke, ich misstraue den Machthabenden.«
»Misstraust du dann nicht auch dem Volk, das wählt?«, meinte Maria, ließ ihren Oberkörper nun aufrecht, als frage sie sich, ob sie mit dieser Aussage nun doch zu weit gegangen war.
»Du hast recht«, sinnierte Arcus und biss von seinem Toast ab. »Ich kann nicht raus aus meiner Haut und bin, auch wenn ich seit meinem achtzehnten Geburtstag für mich selbst sorge, im Grunde nur ein dummes Rich Kid, das die Welt retten will, also um keinen Deut besser als meine Eltern, die davon überzeugt waren, sie würden über dem Staat stehen. Das sehe ich ein. Mir ist etwas wichtig und das will ich erledigen, anstatt mich für Lösungen struktureller Probleme einzusetzen. So gesehen bin ich ein Arschloch.«
»So habe ich das nicht …«, stammelte Maria.
»Schon gut«, meinte Arcus. »Ich denke, dass ich wirklich eines bin. Nicht fähig, über den Tellerrand zu blicken. Die Kunst ist mir wichtig, sonst nicht viel. Das ist meine Welt und ich will, dass es ihr gut geht. Ich mache es mir in meiner Bubble gemütlich und lobe mich für meine guten Taten, während ich anderen misstraue.«
Maria wollte etwas sagen, doch Arcus kam ihr zuvor: »Du verachtest mich«, sagte er. Maria schüttelte den Kopf. »Kein Problem«, sprach er weiter. »Ich verachte mich ja selbst dafür, dass ich tatsächlich glaube, etwas Besseres zu sein. Diese Erziehung bekomme ich nicht mehr raus aus meinem System, verstehst du? Fast ein Jahrzehnt lang habe ich so getan, als wäre ich ein Kunst studierender Punk ohne Sicherheitsnetz, wie die meisten anderen in meiner damaligen Klasse auf der Akademie. Dass ich nun die reichste Person Österreichs und unter den zehn reichsten Europäern bin, bestätigt nur, dass ich die letzten Jahre lediglich meine Wunschvorstellung eines Durchschnittsmenschen performt habe. Lächerlich, ich weiß.«
»Nein«, sagte Maria.
»Doch, doch«, sagte Arcus.
»Du hast nur … also ich kenne dich ja eigentlich nicht, aber ich schätze, dass du den besten Weg für dich gesucht hast.«
»Nein«, sagte Arcus, »ich verhalte mich, auch wenn ich mich nach außen hin sozial gebe, unsolidarisch und egozentrisch. Die Leute haben allen Grund, mich und meinesgleichen zu hassen. Wir nehmen an einem Tag um etliches mehr ein als der durchschnittliche Vollzeitangestellte im ganzen Jahr! Da tue ich mir doch unheimlich leicht, mich selbst zum Heiligen hochzustilisieren, nicht wahr? Während der Großteil der Leute sich nicht für den Klimaschutz interessiert, weil sie es sich nicht leisten können. Abgesehen davon will niemand etwas am eigenen Lebensstil verändern; die allermeisten interessieren sich nicht für eine Aufwertung aller Bildungseinrichtungen, für den Mut, ein neues Modell, einen neuen Zugang zum Lernen zu erdenken, und für Fair Pay im Kunstbereich, für Transparenz in allen politischen Institutionen, und absurderweise nicht einmal für eine radikale Erbschaftssteuer für Überreiche … für all das gibt es zu wenig breites Verständnis.« Arcus sprach mit vollem Mund weiter: »Was schade ist, denn allen würde es besser gehen, wenn einige dieser Punkte mehr Beachtung fänden.«
Beide schwiegen einige Zeit. Maria betrachtete den kunstvoll verzierten Porzellanhenkel ihrer Tasse und fragte sich, ob sie Arcus tatsächlich verachtete. Seine Eltern hatten ihren Sonderstatus, den sie als eigene Leistung sahen, niemals verneint. Dass Arcus nun vorgab, auf Marias Seite zu stehen, in Wahrheit aber anscheinend demokratieskeptisch war und etwa hundert Etagen über ihrer Lebensrealität hauste, gab seiner zwiespältigen Haltung in der Tat einen unangenehmen Beigeschmack.
»Und was willst du nun tun?«, fragte Maria.
Nachdem er den letzten Bissen hinuntergeschluckt und Zeigefinger und Daumen an einer Serviette abgewischt hatte, sagte er: »Irgendwo muss ich anfangen. Wieso nicht hier? Die Villa muss untersucht werden, auf den Kopf gestellt.«
»Wie meinst du das?«, fragte Maria, die nun an ihrem noch heißen Kaffee nippte.
Schön sieht sie aus, dachte Arcus bei sich. Einfach. Natürlich. Als wäre sie eben erst im Garten von jemandem aus lockerer Erde erschaffen worden.
»Die Villa ist ein Rätsel. Mein Rätsel. Und ich werde es lösen«, orakelte Arcus, als würde er einem Kind eine geheimnisvolle Geschichte erzählen. »Das Haus, musst du dir vorstellen, ist wie eine Fotografie. An ihr haftet der Stempel der Zeit. Auf meinem ersten Kontrollgang nach vielen Jahren habe ich mit Bestürzung festgestellt, dass die Zimmer von Johannes und Judith so aussehen, als würden sie bis heute dort wohnen. Es ist geradezu pervers! Dass die beiden als Erwachsene noch immer hier gewohnt haben, grenzt schon an Wahnsinn. Aber dass meine Eltern, nachdem meine Geschwister gestorben waren, rein gar nichts verändert haben, grenzt schon an eine Art des Wahnsinns, die wehtut. Wenn ich die Gläser auf Judiths Nachttischchen sehe, an denen noch zwei Jahre nach ihrem Tod ihr rosaroter Lippenstift klebt, bekomme ich Gänsehaut.«
»Ich bilde mir ein«, sagte Maria und stockte. »Ich bilde mir ein, dass Marvin vor Kurzem von einem Künstler geschwärmt hat, der Gläser und Teller auf eine Leinwand klebt und …«
»Marvin?«, unterbrach sie Arcus.
»Ach, entschuldige, das ist mein Freund. Ich kenne ihn erst seit ein paar Wochen. Er ist auch Künstler.«
»Ach ja? Wie heißt er denn mit Nachnamen?«
»Marvin Gangler«, murmelte sie.
»Wie bitte?«
»Gangler«, sprach sie etwas lauter.
»Gangler«, flüsterte Arcus, der plötzlich, als hätte er eine schlechte Nachricht verdaut, mit der er nicht gerechnet hatte, wieder gefasst erschien.
»Er ist bei der Galerie Grohlinger unter Vertrag und hat vor Kurzem ebenfalls in der Belvertina ausgestellt, aber soviel ich weiß nur in einem kleinen Nebenraum.«
»Ah«, machte Arcus. »Malerei?«
Maria nickte.
»Dann wundert es mich nicht, dass ich ihn nicht kenne. Ich habe die Malerei hinter mir gelassen, noch bevor ich damit angefangen habe.«
»Aha«, machte Maria. »Was ist schlecht an Malerei?«
»Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten«, gab Arcus ihr zu verstehen und fand, dass ihre Unkenntnis in Kunstdingen sie nur noch anziehender machte. Vielleicht hatte sie nichts gegen einen Seitensprung? »Jedenfalls hat es nichts mit gut oder schlecht zu tun, sondern mit einer Sinnhaftigkeit, die dahintersteckt, oder eben gerade nicht dahintersteckt«, sagte er und löffelte eines der weich gekochten Eier in ungewöhnlich hohem Tempo aus.
»Malerei ist ein zu kleiner Ausschnitt«, sprach Arcus weiter, nachdem Maria nichts dazu gesagt hatte. »Ein zu kleiner Ausschnitt aus dem Leben. Wenn du aus dem Fenster siehst, dann steht dort keine Staffelei.«
»Ich verstehe leider nicht«, sagte Maria mit leicht geröteten Wangen.
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