Argumentieren in der Literaturwissenschaft. Eine Einführung - Stefan Descher - E-Book

Argumentieren in der Literaturwissenschaft. Eine Einführung E-Book

Stefan Descher

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Beschreibung

Wie begründet man die Interpretation eines literarischen Texts? Antworten auf diese Frage geben zu können, ist entscheidend für den Studienerfolg in allen literaturwissenschaftlichen Fächern. Mit diesem Band liegt erstmals eine umfassende Einführung in das literaturwissenschaftliche Argumentieren vor: Praxisnah und anschaulich erklären Stefan Descher und Thomas Petraschka, was ein Argument ist, welche Formen des Argumentierens es gibt, was gutes Argumentieren für Interpretationen auszeichnet und wie man Argumente sprachlich darstellt. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 211

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Stefan Descher / Thomas Petraschka

Argumentieren in der Literaturwissenschaft

Eine Einführung

Reclam

2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961499-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-017693-1

www.reclam.de

Inhalt

1 Einleitung2 Warum sollte man überhaupt für Interpretationen argumentieren?3 Was ist ein Argument?4 Wie hängen Argumentieren und Interpretieren zusammen?5 Welche Typen von Argumenten gibt es?6 Mit welcher Art von Gründen kann man für Interpretationen argumentieren?7 Was heißt es, gut für eine Interpretation zu argumentieren?8 Welche typischen Probleme gibt es beim Argumentieren?9 Wie stellt man Argumente sprachlich dar?Zu den Autoren

[7]1 Einleitung

Dieses Buch handelt davon, wie man Interpretationen literarischer Texte gut begründen kann. Es richtet sich an alle, die darüber nachdenken möchten, was gutes Argumentieren auszeichnet und wie man Interpretationen durch Argumente nachvollziehbar stützen kann.

Natürlich sind Argumentationskompetenzen nicht nur im Umgang mit literarischen Texten wichtig. Durch Argumente sind wir in der Lage, ganz allgemein Probleme zu lösen und unseren Alltag zu bewältigen. Argumente helfen uns nämlich, herauszufinden, welche Sichtweisen besser begründet sind als andere. Das gilt für alle möglichen Bereiche: Soll ich das eine Fach studieren oder lieber das andere? Ist es wirklich eine gute Idee, eine Grillparty an einer Tankstelle zu veranstalten? Ist ein bedingungsloses Grundeinkommen sinnvoll? Ist die Evolutionstheorie eine bessere Theorie als der Kreationismus? Antworten auf solche Fragen zu finden, ist nicht immer einfach. Es gibt oft manches, das für diese, und manches, das für jene Sichtweise spricht. Aber trotzdem sind nicht alle Antworten gleich gut! Und wenn wir herausfinden möchten, welche Option die bessere ist, dann müssen wir Argumente gegeneinander abwägen.

Auch wenn Sie einen Gesprächspartner von Ihrer Sichtweise in Bezug auf ein Thema überzeugen möchten, wird es nicht ausreichen, wenn Sie einfach nur ein paar Dinge äußern, die Ihnen gerade durch den Kopf gehen. Sie müssen Ihrem Gegenüber Argumente dafür liefern, wieso Ihre Sichtweise besser gerechtfertigt ist als eine andere. Argumentieren ist eine fundamentale Fähigkeit, die entscheidend dafür ist, wie wir unseren Alltag bewältigen und gestalten, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen und wie unser Selbst- und Weltbild beschaffen ist.

[8]Was für den Alltag gilt, gilt ebenso für den spezielleren Bereich der Wissenschaft, und innerhalb der Wissenschaft für den Bereich der Literaturwissenschaft. Schon dann, wenn Sie einfach nur zum Spaß Literatur lesen, ziehen Sie ständig Schlüsse, überlegen sich, warum dies und jenes passiert, wieso sich eine Figur so verhält und eine andere Figur so, warum der Text so eine merkwürdige Form hat, was bestimmte Sprachbilder ausdrücken könnten usw. Und wenn Sie Literaturwissenschaft studieren, dann kommen Sie um das Argumentieren für Literaturinterpretationen erst recht nicht herum. Im universitären Kontext wird sogar vorausgesetzt, dass Sie für Interpretationen argumentieren. Im Seminar, in Haus- und Abschlussarbeiten oder anderen Prüfungen erwartet man von Ihnen, dass Sie nicht irgendwelche Aussagen über literarische Texte treffen, sondern dass Sie Ihre Aussagen durch gute Argumente begründen.

Ein Lehrbuch über das Argumentieren?

Wie genau man für Interpretationen von literarischen Texten argumentiert, wird allerdings selten direkt gelehrt. Eben weil das Argumentieren eine so tief in unserem Alltag verwurzelte Praxis ist, scheint man vorauszusetzen, Studierende wüssten darüber ohnehin schon Bescheid, oder sie würden durch learning by doing und die Orientierung an Vorbildern schon irgendwie lernen, wie man Interpretationen gut begründet.

Diese Sichtweise hat auch durchaus etwas für sich. Tatsächlich brauchen Sie keine Einführung, um argumentativ begründen zu können, wieso es keine besonders gute Idee ist, Grillpartys an Tankstellen zu veranstalten. Zudem reicht der bloße Erwerb von Fakten- und Regelwissen allein noch nicht aus, um [9]zu erlernen, wie man gut für eine Interpretation argumentiert. In dieser Hinsicht ähnelt das Argumentieren anderen Tätigkeiten wie z. B. dem Spielen eines Instruments: Man muss sich nicht nur theoretisch damit beschäftigen, sondern es auch tun und einüben, um besser darin zu werden.

Doch wir hätten dieses Lehrbuch nicht geschrieben, wenn wir nicht der Auffassung wären, dass das argumentative Begründen von Interpretationen etwas ist, worüber man etwas lernen kann und das sich gezielt verbessern lässt. Dafür wird Ihnen diese Einführung wichtige systematische Grundlagen vermitteln. Sie hat das Ziel, Ihren Blick dafür zu schärfen, was Argumente eigentlich sind, und Sie darauf aufmerksam zu machen, was gute Argumente von schlechten Argumenten für Literaturinterpretationen unterscheidet. Dadurch schulen Sie zugleich Ihre Fähigkeit, selbst gute Argumente zu konstruieren. Darüber hinaus führen wir viele verschiedene Typen des Argumentierens vor und zeigen, wie man diese im Kontext der Literaturinterpretation einsetzen kann.

Überblick über das Buch

Damit Sie sich einen Überblick darüber verschaffen können, was Sie im Einzelnen erwartet, möchten wir Ihnen die Inhalte der folgenden Kapitel kurz vorstellen:

In Kapitel 2 setzen wir uns mit einigen Einwänden auseinander, die manchmal gegen die Idee erhoben werden, dass man Interpretationen begründen sollte. Wenn diese Einwände zutreffend wären, wäre dieses Buch sinnlos. Deshalb zeigen wir kurz, weshalb uns diese Einwände nicht überzeugen. Außerdem geben wir auch positive Argumente dafür, warum das Argumentieren für Literaturinterpretationen sinnvoll und lohnenswert ist.

[10]Richtig los geht es dann in Kapitel 3. Dort stellen wir die zentralen Begriffe vor, die wir in diesem Buch immer wieder verwenden, und auch ein ›Notationssystem‹, d. h. die Art und Weise, wie Argumente in diesem Buch dargestellt werden.

In Kapitel 4 erläutern wir, wie Interpretieren und Argumentieren eigentlich zusammenhängen bzw. welche Rolle dem Argumentieren bei der Interpretation literarischer Texte zukommt.

Kapitel 5 gibt einen Überblick über wichtige Argumenttypen. Argumente können nämlich unterschiedlich aussehen bzw. eine unterschiedliche formale Struktur haben. Wir geben Ihnen eine Reihe von ›Argumentschemata‹ an die Hand, mit denen Sie Argumenttypen voneinander unterscheiden können. Außerdem erläutern wir, worauf man bei der Verwendung des jeweiligen Argumenttyps besonders achten sollte.

Während wir in Kapitel 5 über die Form von Argumenten sprechen, thematisiert Kapitel 6 mögliche Inhalte von Argumenten. Interpretationen kann man nämlich inhaltlich in verschiedener Weise begründen – z. B. mit Rückgriff auf den zu interpretierenden Text, aber auch mit Rückgriff auf historische Sachverhalte oder andere relevante ›Daten‹. Auch hier thematisieren wir jeweils, welche Probleme mit den jeweiligen Begründungsarten verknüpft sein können und illustrieren unsere Erläuterungen anhand von Beispielen aus der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis.

In Kapitel 7 stellen wir anhand einer Beispielinterpretation Kriterien vor, die gut begründete Interpretationen auszeichnen. Zum Schluss erhalten Sie eine ›Checkliste‹, mit der Sie prüfen können, ob man es mit einer gut begründeten Interpretation zu tun hat oder nicht.

Kapitel 8 enthält eine kleine Fehlschlusslehre. Es gibt nämlich ein paar typische und immer wiederkehrende [11]Argumentationsfehler, die man bei der Literaturinterpretation – und nicht nur da – vermeiden sollte.

Im letzten Kapitel 9 sprechen wir darüber, worauf man achten sollte, wenn man seine Argumente sprachlich darstellen möchte.

Mit Ausnahme von Kapitel 2, das vorbereitenden Charakter hat, enthält jedes Kapitel am Ende eine kurze Zusammenfassung, in der die wichtigsten Punkte noch einmal resümiert werden. Außerdem geben wir dort einige kommentierte Literaturhinweise, mithilfe derer man das jeweilige Thema vertiefen kann. Leicht zugängliche und thematisch breit angelegte Forschungsbeiträge sowie Literatur direkt zum Kapitelthema nennen wir zuerst, spezialisiertere und voraussetzungsreichere Untersuchungen danach.

Die Kapitel bauen aufeinander auf, jedes Kapitel ist aber auch aus sich selbst heraus verständlich. Sie können also bei Bedarf Abschnitte überspringen oder gezielt das nachschlagen, was Sie interessiert.

Abschließend möchten wir noch eine kleine Warnung aussprechen: Wir haben uns für diese Einführung vorgenommen, dass sie beispielreich, praxisnah, so kurz und so leicht verständlich wie möglich sein sollte. Das heißt jedoch auch, dass wir auf manche Punkte nicht so ausführlich eingehen konnten, wie es vielleicht wünschenswert wäre. In Kapitel 6 werden wir zum Beispiel über Interpretationen sprechen, die mit Bezug auf die Biographie von Autoren begründet werden. Solche biographischen Argumente sind in der Literaturwissenschaft hochumstritten. Die entsprechende Debatte füllt meterweise Buchregale und es gibt viele rivalisierende Meinungen. Auf große und schwierige Themen wie diese werden wir manchmal nur hinweisen, ohne dass wir dazu abschließend Stellung nehmen. Wichtig ist uns vor allem, Sie auf solche komplexeren Fragen, die mit dem Interpretieren und Argumentieren [12]zusammenhängen, aufmerksam zu machen und Sie dafür zu sensibilisieren.

Aus diesen Gründen wünschen wir uns Leserinnen und Leser, die dieses Buch kritisch lesen und es als Anregung verstehen, sich mit den darin angesprochenen Themen tiefer auseinanderzusetzen. Dies betrifft nicht nur die Argumentationstheorie selbst, es betrifft auch darüber hinaus gehende Fragen der Literaturwissenschaft und Literaturtheorie, Fragen zur Rolle, die das Argumentieren darin spielt, und schließlich auch wissenschaftsethische Fragen danach, wie Literaturwissenschaft eigentlich aussehen sollte.

In allererster Linie geht es in diesem Buch aber nicht um solche großen und allgemeinen Themen, sondern um eine ganz konkrete Frage, nämlich: Wie begründet man Interpretationen? Und mit ihrer Beantwortung fangen wir jetzt an.

[13]2 Warum sollte man überhaupt für Interpretationen argumentieren?

Zunächst wollen wir einige grundsätzliche Bedenken gegen unser Vorhaben ansprechen. Denn gegen die Idee, dass man für Interpretationen literarischer Texte argumentieren sollte, werden immer wieder einmal Einwände erhoben. Auf drei solcher Einwände wollen wir kurz reagieren: Erstens kann man ganz generell bezweifeln, dass rationales Argumentieren zweckmäßig ist, weil wir ohnehin nie mit letzter Sicherheit wissen können, dass wir mit unseren Überzeugungen richtig liegen. Zweitens könnte man einwenden, dass uns das Argumentieren niemals eine endgültige Lösung für Interpretationsprobleme bieten wird und daher sinnlos ist. Drittens kann man die Meinung vertreten, dass das Argumentieren im Bereich der Interpretation literarischer Texte deplatziert ist, weil es sich dabei um Kunstwerke handelt, für die ein rationaler Umgang unangemessen ist. Wir möchten jeweils erklären, warum diese Einwände nach unserer Ansicht den Sinn und Zweck dieses Buches nicht überzeugend in Frage stellen können. Abschließend wollen wir kurz überlegen, was für das Argumentieren im Kontext der Literaturinterpretation spricht.

Einwand 1: »Argumentieren ist zwecklos, weil sich immer alles bezweifeln lässt!«

Das ist der Einwand eines radikalen Skeptikers. Der radikale Skeptiker bezweifelt, dass Argumente überhaupt sinnvoll sind, weil sie nicht zu völliger Erkenntnissicherheit führen. Sein Angriff lautet also in etwa so: »Selbst wenn wir noch so viele und noch so gute Argumente für eine Behauptung [14]sammeln, es könnte immer noch der Fall sein, dass die Behauptung falsch ist! Letztlich bringt alles Argumentieren nichts, da wir niemals etwas mit absoluter Sicherheit wissen können!« Dieser radikale Zweifel betrifft alle menschlichen Erkenntnisse und damit natürlich auch die Literaturinterpretation: Wenn jede Interpretation angezweifelt werden kann, warum dann noch argumentieren?

Versuchen wir diesen radikalen Skeptizismus zunächst anhand eines Beispiels genauer nachzuvollziehen, das nicht aus der Literaturwissenschaft stammt. Nehmen wir an, wir wollten den radikalen Skeptiker davon überzeugen, dass Neil Armstrong 1969 auf dem Mond spazieren ging. Für diese These argumentieren wir, indem wir ihm Filmaufnahmen präsentieren, ihm Augenzeugen des Starts von Armstrongs Apollo 11-Rakete vorstellen, ihn mit chemischen Analysen konfrontieren, die die von Armstrong mitgebrachten Bodenproben als Mondgestein ausweisen und so weiter. All das wird den radikalen Skeptiker nicht überzeugen. Er wird uns darauf hinweisen, dass man nicht genau wissen könne, ob die Filmaufnahmen nicht doch gefälscht seien, die Augenzeugen bestochen und die chemischen Analysen fehlerhaft. Selbst wenn Sie Armstrongs Kollege Buzz Aldrin sein sollten und dem Skeptiker entgegnen könnten, dass Sie höchstpersönlich dabei waren und Armstrongs erste Schritte auf dem Mond mit eigenen Augen gesehen haben, wird das den radikalen Skeptiker nicht aus der Ruhe bringen. Auch als Buzz Aldrin wissen Sie nicht mit völliger Sicherheit, ob Sie nicht geträumt haben, unter halluzinogene Drogen gesetzt wurden oder ob Sie in Wirklichkeit nur ein Gehirn in einem Tank sind, das eine Computersimulation im Stile von The Matrix für die Realität hält. »Wirklich vollkommen sicher wissen können wir nichts«, würde der radikale Skeptiker auf seiner Position beharren – Argumente hin oder her.

[15]Philosophen haben sich mit dieser Position des radikalen Skeptizismus auseinandergesetzt, seit es Philosophen gibt. Eine typische Antwort darauf lautet zum Beispiel, dass der radikale Skeptiker, wenn er es wirklich ernst meint, auch seiner eigenen These nicht trauen dürfte. Die Überzeugung des radikalen Skeptikers, dass man nichts mit absoluter Sicherheit wissen kann, muss für den Skeptiker doch genauso zweifelhaft sein wie alles andere auch! Und das heißt, dass seine Überzeugung keinen größeren Anspruch darauf haben kann, richtig zu sein, als ihr Gegenteil. Die Entscheidung für oder gegen die Position des radikalen Skeptikers wäre damit letztlich willkürlich. Und deshalb ist fraglich, ob der radikale Skeptiker seine eigene Position überhaupt sinnvoll mit dem Anspruch, die richtige Position zu sein, vertreten kann.

Es gibt aber auch eine sehr einfache und pragmatische Antwort auf die Herausforderung des radikalen Skeptikers: Seine Ansprüche an sicheres Wissen, seine erkenntnistheoretischen Standards, sind viel zu hoch, um praktikabel zu sein. Wenn wir nur das gelten lassen würden, was wir mit absoluter Sicherheit wissen, dann würden wir uns in der Welt überhaupt nicht mehr zurechtfinden. Keine Überzeugung wäre mehr vor dem Zweifel sicher, ja wir würden gar keine Überzeugungen im eigentlichen Sinne mehr haben können. Zugespitzt formuliert: Sie können natürlich bezweifeln, dass da gerade ein Grizzlybär auf Sie zuläuft – absolut sicher kann das ja vielleicht tatsächlich niemand wissen. Die Evolutionsgeschichte zeigt aber recht eindeutig, dass diejenigen, die in solchen Situationen radikalem Zweifel nicht allzu viel Raum geben, besser dran sind.

Das gilt auch für die Wissenschaft im Allgemeinen und für die Literaturwissenschaft im Besonderen: Zugestanden, wir werden vielleicht niemals eine Interpretation eines literarischen Textes finden, von der wir mit absoluter Sicherheit [16]wissen, dass sie richtig ist. Das ist so. Es ist aber auch kein Problem. Erkenntnisfortschritt ist nicht gleichbedeutend mit dem Finden von absoluter Sicherheit. Wir suchen in der Regel nicht absolut sichere Interpretationen, sondern solche, deren Korrektheit unter den gegebenen Umständen am wahrscheinlichsten ist. Und wenn man wissen will, welche Interpretationen das sind, dann muss man eben fragen, welche Argumente für oder gegen sie sprechen.

Einwand 2: »Argumentieren führt zu keiner endgültigen Lösung von Interpretationsproblemen!«

Nur wenige Menschen sind so radikal wie der Skeptiker aus Einwand 1. Es gibt aber auch eine Möglichkeit, das Argumentieren im Kontext literaturwissenschaftlicher Interpretationen anzuzweifeln, ohne gleich generell die Möglichkeit sicherer Erkenntnis zu verabschieden. Diesen Weg schlägt der ›moderate Skeptiker‹ ein. Sein Einwand ist mit dem ersten Einwand verwandt, aber nicht mit ihm identisch. Der Punkt des moderaten Skeptikers ist dieser: Selbst wenn wir die grundsätzliche Frage außen vor lassen, ob wir durch Argumentieren zweifelsfreie Erkenntnisse gewinnen können oder nicht, scheint es insbesondere beim Interpretieren literarischer Texte immer wieder Pattsituationen zu geben. Manchmal sprechen gute Gründe für Interpretation A, aber andere gute Gründe für Interpretation B.

In vielen derartigen Fällen gibt es vielleicht keine eindeutigen Argumente, die uns sagen, welche von beiden (oder auch noch mehr) Interpretationen wir bevorzugen sollten. Dementsprechend, so der moderate Skeptiker, bringt das Argumentieren für eine Interpretation nicht besonders viel: Letztlich wird die Entscheidung für oder gegen eine Interpretation [17]doch darauf hinauslaufen, dass der einen Interpretin vielleicht A ›besser gefällt‹, dem anderen Interpreten vielleicht B – aber wirklich argumentieren, so der moderate Skeptiker, kann man hier nicht mehr.

Weil der Einwand des moderaten Skeptikers von einer zutreffenden Beobachtung ausgeht – die angesprochenen Pattsituationen können tatsächlich vorkommen – und unserer Erfahrung nach gerade von Studienanfängern in der Literaturwissenschaft mitunter geteilt wird, möchten wir gleich mehrere Punkte nennen, die zeigen, dass er trotzdem nicht überzeugend ist:

Erstens trifft der Einwand nicht auf alle interpretativen Streitfragen zu. In vielen Fällen ist klar, dass eine Interpretation A besser begründet ist als eine Interpretation B. Sehr oft sind die Ergebnisse solcher ›Interpretationsvergleiche‹ nicht einmal knapp. Offensichtlich ist die Interpretation, dass es in Goethes Faust unter anderem um die Gefahren menschlichen Erkenntnisstrebens geht, besser als die Interpretation, dass es in Goethes Faust um die richtige Aufzucht von Pudelwelpen geht. (Welche Kriterien eine Interpretation erfüllen muss, damit sie als gut begründete Interpretation gelten kann, erläutern wir ausführlich in Kapitel 7.) Dass es also argumentativ nicht auflösbare Pattsituationen gibt, heißt noch lange nicht, dass alle oder auch nur viele Textinterpretationen in solchen Pattsituationen enden. Das müsste der moderate Skeptiker erst einmal beweisen. Und solange er das nicht beweisen kann, sollte uns sein Hinweis auf eine mögliche Pattsituation so wenig vom Argumentieren abhalten, wie uns der Hinweis, dass einem möglicherweise ein Blumentopf auf den Kopf fallen kann, davon abhält, die Wohnung zu verlassen.

Zweitens: Selbst in den Fällen, in denen man zu dem Ergebnis kommt, dass zwei (oder noch mehr) Interpretationshypothesen argumentativ gleich gut fundiert sind, gibt es [18]immer noch eine unendlich große Menge an Hypothesen, die schlechter gerechtfertigt sind. Literaturwissenschaftler streiten z. B. seit langem darüber, ob die Figur der Gouvernante in der Erzählung The Turn of the Screw (Das Durchdrehen der Schraube) von Henry James tatsächlich von Geistern heimgesucht wird oder ob sie im Verlauf der Geschichte wahnsinnig wird und sich deshalb nur einbildet, Geister zu sehen. Für beide Interpretationen gibt es gute Gründe, vielleicht haben wir es hier also tatsächlich mit einer Pattsituation zwischen zwei Interpretationsoptionen zu tun. Trotzdem käme niemand auf die Idee, in einer Interpretation zu behaupten, dass die Gouvernante selbst ein Geist ist und deshalb ihre ›Artgenossen‹ sehen kann etc. Für eine derartige Interpretation gibt es nämlich keinerlei gute Argumente. Eine argumentative Pattsituation entsteht also erst, wenn durch das Abwägen von Argumenten das ›Bewerberfeld‹ für gute Interpretationshypothesen schon stark eingeschränkt wurde. Und schlechte Hypothesen herauszufiltern ist auch eine Leistung des literaturwissenschaftlichen Argumentierens. Ganz und gar ›sinnlos‹ ist das Argumentieren also in keinem Fall.

Damit hängt ein dritter Punkt eng zusammen: Der Wert des Argumentierens bemisst sich nicht daran, ob man interpretative Streitfragen eindeutig entscheiden kann. Selbst wenn man am Ende zu keiner ›eindeutigen Lösung‹ kommen sollte, kann einem der Argumentationsprozess viele interessante Dinge über einen Text aufschließen und damit zu einem besseren Verständnis beitragen. Das begründete Feststellen von Unentscheidbarkeit bezüglich mehrerer Interpretationsoptionen ist keineswegs eine ›Niederlage‹ für das Argumentieren. Im Gegenteil: Wenn man auf argumentative Weise zu der Erkenntnis kommt, dass ein Text mehrere Interpretationen erlaubt, die sich gleichermaßen gut begründen lassen, dann kann das ein [19]wichtiges und aufschlussreiches Ergebnis des Interpretationsprozesses sein. So etwas kann einen literarischen Text sogar besonders interessant machen!

Außerdem kann die argumentative Auseinandersetzung mit einem Text – unabhängig von ihrem Ergebnis – dem Interpreten den ästhetischen Wert des Textes erschließen. Man lernt dadurch auch, den Text als Kunstwerk zu schätzen. Und schließlich ist das Argumentieren eine soziale Praxis, die ganz einfach Spaß machen kann. Indem man lernt, sich mit verschiedenen Ansichten auseinanderzusetzen, die eigene Meinung nicht zu verabsolutieren, stichhaltige Gegengründe gelten zu lassen und sich miteinander auszutauschen, übt man mit dem literaturwissenschaftlichen Argumentieren etwas ein, das auch ganz allgemein zu den wünschenswerten Kompetenzen einer Person zählt.

Einwand 3: »Argumentieren für Interpretationen ist ein unangemessener Umgang mit Literatur!«

Nach dem ›radikalen Skeptiker‹ des ersten und dem ›moderaten Skeptiker‹ des zweiten Einwands haben wir es bei Einwand 3 mit einem ›ästhetizistischen Skeptiker‹ zu tun. Er hegt ebenfalls Bedenken gegenüber der Idee, dass Literaturwissenschaftlerinnen Argumente verwenden sollten, wenn sie literarische Texte interpretieren. Auch er ist nicht so radikal wie der Skeptiker aus dem ersten Einwand. Er gesteht zu, dass Argumente z. B. im Alltag oder in der Naturwissenschaft sinnvoll und wichtig sein können und außerdem dazu führen, dass wir mit Recht behaupten, bestimmte Dinge sicher zu wissen. Seine Bedenken sind also nicht grundsätzlicher Art, sondern richten sich konkret auf Argumente im Kontext der Interpretation literarischer Texte.

[20]Pattsituationen stören ihn dabei nicht weiter. Die entscheidende Überzeugung des ästhetizistischen Skeptikers besteht darin, dass er einen rationalisierenden Zugriff auf literarische Texte für unangemessen hält. Wer Argumente verwendet und beurteilt, wer versucht, durch Argumente bestimmte Interpretationshypothesen zu bestätigen, oder noch allgemeiner: Wer einen literarischen Text zum Objekt der wissenschaftlichen Analyse macht, der verkenne die Eigenschaft des Textes, ein Kunstwerk zu sein. Ein literarischer Text, so würde der ästhetizistische Skeptiker weiter behaupten, sei in allererster Linie ein Kunstwerk, das uns emotional berühren, durch seine Schönheit oder Rätselhaftigkeit bezaubern, gerade das Nicht-Verstandesmäßige in uns ansprechen, unsere Phantasie beschäftigen sollte und so weiter. Diesen Zauber, die emotionale Kraft eines Kunstwerks und überhaupt den Kunstgenuss mache man aber kaputt, wenn man versucht, es auf rationale, argumentgestützte Weise zu interpretieren: »Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst«1, hat die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag diese Haltung in ihrem Aufsatz Against Interpretation auf den Punkt gebracht.

Muss man literarische Texte also unbedingt wissenschaftlich und rational analysieren, Interpretationshypothesen aufstellen, stichhaltige Argumente dafür liefern usw.? Unsere kurze Antwort: Nein, natürlich muss man nicht! Mit Texten kann man alles Mögliche anstellen, und dazu gehört auch, sie einfach nur auf sich einwirken, sich emotional berühren und sich von ihnen bezaubern zu lassen. Wenn man will, kann man sie übrigens [21]auch bewusst falsch verstehen. Man muss also nicht versuchen, Texte auf rationale Weise zu interpretieren – aber man kann. Und wir denken, dass das in vielen Fällen auch eine gute Idee ist. Denn in der Regel kann man literarische Texte ganz einfach besser verstehen, wenn man sie interpretiert und sich dabei rational verhält, also für seine Interpretation argumentiert. Das Verstehen, zu dem eine überzeugende, gut begründete Interpretation führen wird, muss die Freude an Literatur auch nicht zwangsläufig zerstören, sondern kann sie sogar fördern. Einen literarischen Text besser zu verstehen, kann zum ästhetischen Genuss des Textes beitragen. Oder anders gesagt: Der Umgang, den der ästhetizistische Skeptiker für Literatur einfordert, steht gar nicht im Widerspruch zum Versuch, Literatur argumentgeleitet zu interpretieren.

So scheint es uns in vielen Fällen ganz offensichtlich zu sein, dass man einen literarischen Text erst dann als Kunstwerk wertschätzen kann, wenn man im Rahmen einer rationalen Interpretation Hintergründe, Bezüge oder nicht-oberflächliche Bedeutungen erklärt hat. Peter Handkes berüchtigter Text Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968 ist ohne Interpretation beispielsweise einfach genau das, was der Titel sagt: die schematische Darstellung der Aufstellung einer Fußballmannschaft. Und wieso die Aufstellung einer Fußballmannschaft ein Kunstwerk und damit Gegenstand ästhetischer Wertschätzung sein sollte, ist nicht unmittelbar einsichtig. Erst eine Interpretation von Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968 macht klar, dass das ›Gedicht‹ implizit z. B. die Frage stellt, was ein Gedicht eigentlich zu einem Gedicht macht, ob es allein anhand von Merkmalen wie Inhalt und Sprache identifiziert werden kann oder ob dazu ebenfalls Dinge wie der Veröffentlichungskontext (»Wenn der Text in einem Gedichtband erscheint, wird er wohl ein Gedicht sein.«) bzw. so etwas wie etablierte gesellschaftliche Rollen [22]berücksichtigt werden müssen (»Peter Handke ist ein anerkannter Schriftsteller, von ihm produzierte Texte werden wahrscheinlich Kunstwerke sein.«). Erst wenn man solche Zusammenhänge versteht, ist man in der Lage, Handkes ›Gedicht‹ als interessant, gedankenvoll oder zum Nachdenken über Literatur anregend zu charakterisieren.

In Kapitel 7 werden wir Ihnen eine Interpretation des Gedichts Mein Garten von Hugo von Hofmannsthal vorstellen. Dieses Gedicht ist auf den ersten Blick nicht so leicht zu verstehen und lässt viele Leserinnen vielleicht sogar kalt, da darin vor allem von Gärten und den in diesen Gärten befindlichen Gegenständen die Rede ist – was vielleicht nicht jeden auf Anhieb begeistert oder emotional berührt. Wenn man sich aber einmal genauer mit dem Text beschäftigt und auf begründete Weise verstanden hat, worum es darin eigentlich geht und wie er beschaffen ist, dann wird es einem vielleicht gehen wie uns: Wir finden Hofmannsthals Gedicht ästhetisch wertvoll und berührend, gerade weil wir zu einer gut begründeten Interpretation des Textes gekommen sind und ihn dadurch erst so richtig verstanden haben.

Die argumentationsgeleitete Interpretation eines Textes – so würden wir dem ästhetizistischen Skeptiker also entgegenhalten – kann in vielen Fällen sogar notwendig sein, um einen Text überhaupt erst als Literatur wahrnehmen und wertschätzen zu können.

Was spricht für das Argumentieren? Literaturinterpretation als rationale Tätigkeit

Die präsentierten Einwände konnten uns also nicht davon überzeugen, dass es eine schlechte Idee ist, im Rahmen literaturwissenschaftlicher Textinterpretationen nach Gründen zu [23]suchen, zu argumentieren, oder, wie man zusammenfassend sagen kann: die Literaturinterpretation als rationale Tätigkeit zu verstehen. Es mag weitere Einwände geben, die wir hier aber nicht ausführlich diskutieren können. (In den Literaturhinweisen am Ende des Kapitels finden Sie einige Forschungsbeiträge zu diesem Thema.) Außerdem wollen wir nicht nur Gegenpositionen zurückweisen, sondern auch zumindest kurz ansprechen, was dafür spricht, Interpretationen mit guten Argumenten zu stützen bzw. ganz allgemein in der Literaturwissenschaft nach denjenigen Hypothesen und Überzeugungen zu suchen, für die es die besten Argumente gibt.

Außerhalb des engen Kontexts literaturwissenschaftlicher Textinterpretation liegt auf der Hand, was für diese Ansicht spricht: Wenn man Argumente für eine Hypothese angibt, zeigt man, dass die Hypothese mit größerer Wahrscheinlichkeit wahr ist als eine konkurrierende Hypothese, für die es nur schlechte oder gar keine Argumente gibt. Auf andere Art und Weise kann man die wahrscheinliche Wahrheit von Hypothesen oder Überzeugungen leider nicht zuverlässig herausfinden – man sieht einer Hypothese die Eigenschaft, wahr oder falsch zu sein, nicht einfach so an, wie man einer Ampel die Eigenschaft ansieht, gerade rot oder grün zu sein. Und in den meisten Fällen ist es nun einmal besser, eine wahre Überzeugung zu haben, als eine falsche Überzeugung – z. B. wenn Sie mit der Frage konfrontiert sind, bei welcher Ampelfarbe man gefahrlos die Straße überqueren kann. Wir sind gewissermaßen gezwungen, rational zu argumentieren. Nur so finden wir uns in der Welt zurecht.

Für das Zurechtfinden in der Wissenschaft gilt das ebenso. Das ganze Projekt einer Wissenschaft und insbesondere die Idee des wissenschaftlichen Fortschritts ist an das Austauschen von Argumenten gebunden. Die Astronomie ging so lange davon aus, dass sich die Sonne um die Erde dreht, bis [24]Kopernikus und Galilei Argumente präsentierten, die zeigten, dass es genau andersherum ist. Ohne die Anerkennung dieser Argumente und das damit einhergehende Verwerfen der unterlegenen (oder, wie die Wissenschaftstheorie das ausdrückt: der falsifizierten) geozentrischen Hypothese könnte jeder Wissenschaftler denken, was er will. Wissenschaftlicher Fortschritt wäre damit unmöglich.