Arnold Gehlen - Heike Delitz - E-Book

Arnold Gehlen E-Book

Heike Delitz

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Beschreibung

Arnold Gehlen (1904–1976) gilt neben Max Scheler und Helmuth Plessner als berühmter und umstrittener Vertreter der Philosophischen Anthropologie und ebenso als brillanter Soziologe. Heike Delitz zeigt mit dieser Einführung in Leben und Werk Arnold Gehlens, dass dieser eine grundlegende soziologische Theorie und damit auch eine veritable ›Wissenssoziologie‹ entwickelte: eine Theorie der menschlichen Welt- und Selbstbilder und ihrer institutionell verankerten »Leitideen«. Gehlens Perspektive ist die der Philosophischen Anthropologie, die beschreibt, wie sich der Mensch von anderen Lebewesen unterscheidet: Die Besonderheiten des Menschen als »nicht festgestellten Tieres« erfordern und ermöglichen die »Institutionen«, also subjekt- und weltformende soziale Verpflichtungen. Ins Zentrum rückt Heike Delitz Gehlens bahnbrechendes Buch ›Urmensch und Spätkultur‹ sowie die dafür grundlegende Anthropologie »Der Mensch«. Vor diesem Hintergrund macht sie Gehlens Kunst- und Moralsoziologie als differenzierte Gesellschaftsdiagnosen der Moderne sichtbar.

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Klassiker der WissenssoziologieHerausgegeben von Bernt Schnettler

Die Bände dieser Reihe wollen in das Werk von Wissenschaftlern einführen, die für die Wissenssoziologie – in einem breit verstandenen Sinne – von besonderer Relevanz sind. Dabei handelt es sich vornehmlich um Autoren, zu denen bislang keine oder kaum einführende Literatur vorliegt oder in denen die wissenssoziologische Bedeutung ihres Werkes keine angemessene Würdigung erfahren hat. Sie stellen keinesfalls einen Ersatz für die Lektüre der Originaltexte dar. Sie dienen aber dazu, die Rezeption und das Verständnis des Œuvres dieser Autoren zu erleichtern, indem sie dieses durch die notwendigen biografie- und werkgeschichtlichen Rahmungen kontextualisieren. Die Bücher der Reihe richten sich vornehmlich an eine Leserschaft, die sich zum ersten Mal mit dem Studium dieser Werke befassen will.

»Thomas Luckmann« von Bernt Schnettler

»Marcel Mauss« von Stephan Moebius

»Alfred Schütz« von Martin Endreß

»Anselm Strauss« von Jörg Strübing

»Robert E. Park« von Gabriela Christmann

»Erving Goffman« von Jürgen Raab

»Michel Foucault« von Reiner Keller

»Karl Mannheim« von Amalia Barboza

»Harold Garfinkel« von Dirk vom Lehn

»Émile Durkheim« von Daniel Šuber

»Claude Lévi-Strauss« von Michael Kauppert

»Arnold Gehlen« von Heike Delitz

»Maurice Halbwachs« von Dietmar J. Wetzel

»Peter L. Berger« von Michaela Pfadenhauer

Weitere Informationen zur Reihe unter www.uvk.de/kw

Inhalt

I Der Basilisk: Einleitung

II Akademisches Leben und Wirkung

III Werk: Leitmotive

IV Der Mensch I: Die Philosophische Anthropologie

V Der Mensch II: Die soziologische Theorie der Institutionen

VI Gesellschaftsdiagnose 1: Das moderne Welt- und Selbstverhältnis

VII Gesellschaftsdiagnose 2: Soziologie des Ästhetischen

VIII Der Mensch III: Die anthropo-soziologische Theorie der Moral

IX Aufgaben der Soziologie: Allgemeine Soziologie, Angewandte Soziologie, »Autosoziologie«

X Fazit

Literatur

Zeittafel

Personenregister

Sachregister

I Der Basilisk: Einleitung1

»Unter den wenigen bedeutenden Rechtsintellektuellen dieses Jahrhunderts steht er neben Heidegger und Carl Schmitt, umstritten wie sie und ähnlich diskreditiert. Der sachlichen Wertschätzung seines Werkes tat das kaum Abbruch. Zustimmung erfuhr Gehlen von ganz unterschiedlicher Seite; Adorno bekundete sie wiederholt […]. Ein böser Blick fördert zuweilen die Hellsicht – da nimmt man gewisse blinde Flecken im Auge des Beobachters in Kauf […]. Unter den Denkern der Gegenwart ist Gehlen Kulturphilosoph im emphatischen Sinn, er ist der Antinaturalist und der große Antisponti« (Güntner 1993).

Arnold Gehlen war das »Zugpferd« der Philosophischen Anthropologie (Fischer 2006: 334) und der Schlussstein ihrer Theorieproduktion (Rehberg 1981: 174). Und er war ein umstrittenes Zugpferd: mit jenem distanzierten, kühlen ›Basiliskenblick‹, den er nicht nur auf das menschliche Lebewesen, sondern ebenso auf die moderne Gesellschaft warf, in ihrer Subjektformung gegenüber derjenigen vergangener Hochkulturen und der Subjektformung der elementaren Formen des sozialen Lebens. Diese soziologische Theorie beruht in allen ihren Entscheidungen und Diagnosen auf einer philosophisch-anthropologischen Grundlage, einer komplexen, ausgefalteten Theorie des physisch-psychischen Lebewesens Mensch in seinen singulären Potenzialen und Risiken, seinen faktisch ergriffenen Möglichkeiten, seiner ebenso kultivierbaren wie bedrohlichen Vitalität. Mit Nietzsche (1999a: 3 § 62) hat Gehlen dieses bemerkenswerte Wesen stets als das »nicht festgestellte« Tier gedacht (M2: 4). Oder, formaler und mit anderem Akzent: als das handelnde Wesen. Nicht festgestellt, das heißt eben sowohl instinktentsichert, an festen Reiz- und Bewegungsvorgaben mangelnd, wie auch formbar, produktiv, sich selbst kultivierend. Es heißt ebenso sich selbst gefährdend wie sich immer wieder neu erfindend. Diese Doppelfigur von Belastung und Entlastung, Negativität und Positivität ist es, die Gehlen uns stets vor Augen stellt. Faktisch hat das menschliche Lebewesen eine Reihe singulärer biologischer Merkmale, auch noch im Vergleich zu den ihm evolutionär am nächsten stehenden Tieren: eine Instinkt-Entbundenheit; einen chronischen Antriebsüberschuss statt hormonell begrenzter Triebe; eine lange Reifezeit außerhalb der Gebärmutter; eine aufrechte Haltung mit damit verbundener Zweifüßigkeit und Frontalität des Gesichts; eine besondere Art der Gegenüberstellung von Daumen und übrigen Fingern und so fort.

Gehlen bietet mehr als diese Philosophische Anthropologie, mit der sein Name verbunden ist und die für sich schon komplex genug ist. Er ist – in deren konsequenter Weiterentfaltung – auch und zutiefst ein soziologischer Autor. Das fulminante Werk Urmensch und Spätkultur (Mensch II) verfolgt die ›Selbststeigerung‹ des Menschen von den nichtmodernen Kulturen, namentlich dem Totemismus, bis hin zur ›Spätkultur‹ der modernen Gesellschaft. Faktisch gibt es eine Vielzahl menschlicher Sozialformen und kultureller Einrichtungen, eine noch größere Zahl an Artefakten, sowohl historisch als auch global; und doch findet Gehlen in dieser Varianz Gemeinsamkeiten, Kategorien wie die ›Hintergrunderfüllung‹ oder ›Objektivität‹ der Institutionen. Philosophische Anthropologie und Soziologische Anthropologie gehören derart eng zusammen, oder anders formuliert: Anthropologie (deutsch verstanden, mit Bezug auf die Biologie) und Anthropologie (französisch verstanden, mit Bezug auf die Ethnologie), die allgemeine Theorie des Menschen und die vergleichende Theorie der Vielfalt und Emergenz der soziokulturellen Formen.

Das Werk Gehlens ist seit den 1950er-Jahren zweifellos stets bekannt gewesen. Er ist ein Klassiker der Soziologie geworden. Aber was man wahrnahm und wahrnimmt, scheint nur allzu oft ein Vulgär-Gehlen zu sein – so wie es auch einen Vulgär-Marx gibt, der in der Idee des Unter- und Überbaus und des zwanghaftkonfliktreichen Ablaufs der Weltgeschichte besteht (worin Marx nicht aufgeht). Dieser schnell verstandene, schnell abgestellte Gehlen besteht dann in den schlagwortartigen, einseitig negativen Kategorien des ›Mängelwesens‹, das ›Ordnung‹ und ›Zucht‹ nötig hat. Zweifellos ist etwas dran an solchen Lesarten, sie lassen sich aus dem Text herausdestillieren. Aber sie verkürzen und verzerren ihn. Und dies in einer Wissenschaft, die nicht nur »antitechnische« und »antiästhetische« Haltungen kennt (Eßbach 2001), sondern – als kritische Wissenschaft der Gesellschaft – vor allem auch antiinstitutionelle Haltungen. In einem solchen anti-institutionellen Affekt, der sich gegen jede Theorie der ›Ordnung‹, der Einrichtung von Handlungsweisen und Subjektivierungen wendet, werden dann im Werk Gehlens alle positiven Beschreibungen, die sich darin ebenso finden, gern übersehen: die Betonung der singulären Potenziale des Menschen und der produktiven, ermöglichenden Aspekte des Institutionellen. Ebenso wird oft übersehen, dass der Begriff der ›Zucht‹ im Sinn der Selbstdisziplinierung des Menschen gegenüber seinen Begierden benutzt wird wie bei Platon, Aristoteles und Kant (vgl. M: 430). Für Gehlen war die Person Kant sogar das ›Zuchtwesen‹ par excellence: Kant, der sich »methodisch, täglich, umsichtig und gewissenhaft mit äußerster Selbstzucht« umgeschaffen habe, allein orientiert an seinem Werk, ein zielstrebiges und asketisches Kant-Werden vollzog (Gehlen 1980e: 400; vgl. Rehberg 1993: 781.17). Gehlen selbst forciert solche Lektüren, wenn er einseitig die ›Ausartungsbereitschaft‹, die lauernde Chaotik des Menschen betont, wie etwa 1952 in Das Bild des Menschen im Licht der modernen Anthropologie. »Zurück zur Kultur«, so heißt es in diesem Vortrag gegen alle neomarxistischen Entfremdungstheoretiker. Es sei, so Gehlen, »Zeit für einen Gegen-Rousseau, für eine Philosophie des Pessimismus und des Lebensernstes« (1983d: 132f.; vgl. Rehberg 1990a). In Vorträgen nimmt man zuweilen scharf geschnittene, verkürzte Positionen ein, geht strategisch vor. Selbstverständlich zeigen diese Texte Gehlens ›wahres‹ Gesicht in der Frage der politischen Haltung (zur Begriffspolitik jenseits des anthropologischen Hauptwerkes siehe Rehberg 2000: 153f.). Über die Komplexität einer soziologischen Theorie ist damit aber noch nicht entschieden, vor allem nicht über die weitreichenden Züge des »Jahrhundertbuches« Urmensch und Spätkultur (ebd.).

Gehlen gilt zudem stets als der Denker eines biologisch unmöglichen Lebewesens. Unterstellt wird dann nicht nur ein einseitignegatives, sondern auch ein ganz unplausibles evolutionistisches Bild. Der Mensch sei bei Gehlen das »Wesen, das ›trotzdem‹ lebt«, so heißt es bei Blumenberg (2006: 635). Noch Peter Sloterdijk wird in diesem Sinn von einer »Mängelwesen-Fiktion« sprechen. Gehlen konstruiere den Menschen »all seinen kreativen Potentialen zum Trotz« als »tiefenarmes Tier« (Sloterdijk 2004: 702; vgl. Popitz 1995: 47–53). Die umgekehrte Betonung der bemerkenswerten Steigerungsfähigkeiten des Menschen beansprucht der Kritiker dann ganz für sich. Gehlen hat nun gar keine evolutionäre (und schon gar nicht eine derart unlogische) Sicht. Es gibt für ihn keine prähistorische, evolutionär aus dem Affen sich entwickelnde »Wildform des Menschen«, die vor der artifiziellen Einrichtung von Welt und Selbst irgendwie überlebte (Gehlen 1983d: 131), wie er gegen Konrad Lorenz richtig stellt. Im Übrigen nennt Gehlen neben allen Betonungen der Riskanz des Menschen ausdrücklich auch die Luxusphänomene – als dessen Wesenszüge, des Strebens nach dem Mehr-Leben (Gehlen 2004i, 2004j).

Auch als Biologismus verstand man Gehlens Theorie bereits früh (Mahn 1945) – wie die Soziologie überhaupt oft nicht zwischen einer biologistischen und einer biologisch informierten Position unterscheidet. An diesem Gehlen-Bild war später Helmuth Plessner nicht unbeteiligt, der es doch besser wusste. Auch Jürgen Habermas (1973: 101) sprach von der »anthropologischen Reduktion des Geistes in allen seinen Momenten aufs unmittelbar Lebensdienliche« – wie er auch in der Institutionentheorie eine Reduktion des Sozialen auf biologische Notwendigkeiten sah (Habermas 1981a: 101f.).3 Gehlen hat sich stets gegen diesen Vorwurf gewehrt, dabei auf seine psychophysisch neutrale Kategorienforschung hinweisend (M: 9, 14ff.). Bereits Nicolai Hartmann hatte Gehlen in diesem Zusammenhang erstens gegen jedes evolutionistische Missverständnis schützen wollen. Er machte den Autor selbst darauf aufmerksam, dass dessen eigentliche Zentralkategorien andere sind als das ›entsicherte, riskierte Mängelwesen‹: nämlich die Nicht-Festgerücktheit und damit eben neben der Entsicherung, gleich ursprünglich und weiterführend, die überschießende Potenzialität; unter anderem auch die bemerkenswerte Fähigkeit, sich in der Phantasie bewegen zu können. Und gegenüber dem Biologismus-Verdacht überredet Hartmann Gehlen zweitens dazu, seine Schichtentheorie – die in einer Art Osmose-Relation zu denkenden ›Schichten‹ des Physischen und Kognitiven – zu übernehmen (Hartmann 1958: 389; Fischer 2008a: 177ff.). Spätestens seit Friedrich Jonas’ Einführung (1966), den umfangreichen Vor- und Nachworten Karl-Siegbert Rehbergs und der Studie Joachim Fischers zur Philosophischen Anthropologie kann man hier, in der Theorie des Menschen bei Gehlen, genauer hinschauen – man sieht dann nicht grundlos (wenn auch überspitzt) sogar einen »Kulturalisten« (Ottmann 1994). Hermann Lübbe ist ein souveräner Kurzüberblick über das »kulturanthropologische« Gesamtwerk zu verdanken, das er gut kannte (Lübbe 2004). Zur Junius-Einführung in Gehlens Philosophie (Thies 2007) ist die hier vorliegende Einführung das Komplement. Ihr Ehrgeiz wird dahin zielen, Gehlens soziologische Theorie auszubereiten.

Legt man einmal die Vorurteile beiseite und vertieft sich in die Texte, dann fällt ein in der deutschen Soziologie seltener Ton auf: eine grundlegende Betrachtung des Sozialen unter Einbezug zahlreicher ethnologischer Befunde – eine Vorgehensweise, wie man sie eher bei Claude Lévi-Strauss findet. Man denke etwa an den Beginn der Elementaren Strukturen der Verwandtschaft, in dem sich der Ethnologe ja dieselbe Frage stellt wie Gehlen: Worin unterscheidet sich der Mensch aktiv vom Tier, zumal von seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen? Lévi-Strauss zufolge unterscheidet er sich durch die Einführung von Regeln in den elementarsten Bereichen menschlichen Lebens, insbesondere hinsichtlich der sexuellen Aktivität. Daraus entspringen alle Formen des Sozialen: die zunächst duale Organisation der Gruppe, dann die Integration in komplexere soziale Strukturen, und dies von vornherein mit einer bemerkenswerten Artifizialität (Lévi-Strauss 1993: Kap. I). Es könnte sich also lohnen, dieses Werk einmal an anderen Maßstäben als denen der materialistischen Gesellschaftstheorie zu messen, mit deren verfestigtem, in die ›Hintergrundserfüllung‹ (Gehlen) gerückten Verdacht einer Fixierung des Menschen in der Philosophischen Anthropologie. Zum Beispiel wäre der Maßstab der Institutionen- und Religionssoziologie Émile Durkheims angemessener: sofern dieser ebenfalls von der weder rationalistisch noch utilitaristisch erklärbaren Emergenz des Sozialen ausgeht.4 Auch Gehlens Totemismus-Theorie ist Durkheim sehr nahe, bis hin zur Interpretation des Totemismus als einer Sozialform, in der die »Tierform die Grundform« ist (Durkheim 1994: 102).5 Gehlen hat Durkheim übrigens vornehmlich durch die Brille von Maurice Pradines (Rehberg 2004b: XV) und Claude Lévi-Strauss gelesen. Er war tief beeinflusst von französischen Autoren; er hat nicht zuletzt von Bergson inspirierte Philosophen und Soziologen gelesen, die ihn – abgesehen von Marcel Mauss’ Gabentheorie – offenbar mehr interessierten als die Durkheimianer. Hinsichtlich der Betonung der Nicht-Festgestelltheit des Menschen und der je verschiedenen Subjekt-Formung in den Epochen und Kulturen wäre Gehlen ebenso mit den Augen Michel Foucaults zu lesen.

Auch hat er sich selbst ›amerikanisiert‹, in der Lektüre und produktiven Verarbeitung der amerikanischen Kulturanthropologie (Margaret Mead, Ruth Benedict) mit deren Analyse der »kleinen primitiven Gesellschaften«, die die »phantastische Vegetation menschlicher Möglichkeiten« vor Augen stellen (Gehlen 1983f: 172); sowie in der frühen Lektüre des Pragmatismus vor allem John Deweys und George Herbert Meads6, deren Ideen entscheidende Thesen seiner philosophischen und soziologischen Anthropologie verstärkten und inspirierten. Gehlen war in der Tat der erste wirkmächtige Entdecker des Pragmatismus in der deutschen soziologischen Theorie, und so ereignete sich »ausgerechnet in Deutschland« jene »unbeachtet gebliebene, aber äußerst wirkungsvolle Rezeption des amerikanischen Pragmatismus […]. Gehlens Werk Der Mensch ist die erste großangelegte Anwendung pragmatistischer Grundsätze in der deutschen Wissenschaft« (Oehler 1995: 54f.). Zu erwähnen ist weiterhin – jenseits dieser französischen und amerikanischen Quellen – Vilfredo Pareto, den Gehlen genial fand und dessen Werke er herausgeben wollte. Pareto ist wie Gehlen (oder auch Gabriel Tarde) ein Affekt-Theoretiker, einer, der die Triebkraft affektiven Begehrens im Sozialen betont (Gehlen 1983b: 264).

Nicht zuletzt ist Gehlens Theorie Nietzsche nahe, bei gleichzeitiger Distanz. An Nietzsche hat Gehlen vielleicht ebenso tiefgreifend anschließen können, wie es Foucault tat: in jenem »tiefsitzenden Nietzscheanismus«, den Gilles Deleuze in jedem Werk Foucaults nicht umhin kam zu erkennen (Deleuze 1987: 100). Man kann Gehlen hier an jeder Stelle einsetzen, an der Deleuze über Foucault spricht (auch wenn die Nietzsche-Skepsis demgegenüber bei Gehlen stets blieb). Die »großen Thesen Foucaults über die Macht« entfalten sich Deleuze zufolge in »drei Rubriken«. Die Macht ist erstens ihrem »Wesen nach nicht repressiv (da sie ›anregt, veranlasst, produziert‹)«: Die Institutionen sind nicht bloße Zwangseinrichtungen; sie sind vielmehr kanalisierend, produktiv, sie steigern das Leben. Die Macht wird zweitens »eher ausgeübt als besessen«: Die Institutionen sind Institutionalisierungen, in ihrer Performanz zu beobachten. Die Macht verläuft drittens »genauso durch die Beherrschten wie durch die Herrschenden«: Die Institutionen sind grundlegend, in allem da, was wir tun, und vor allem sind es Selbstveranstaltungen (ebd.). Das Mitmachen macht den Menschen zum großen Teil aus. Gehlen sagte im Übrigen einmal, dass »ein Mensch gar kein Mensch« sei (zitiert in Lorenz 1973: 272). Es gibt also einen ›tiefsitzenden‹ und sich selbst widerstrebenden Nietzscheanismus, in Der Mensch (das nicht festgestellte Tier), in Urmensch und Spätkultur (das sich verändernde Tier) und in Moral und Hypermoral (das sich verkleinernde Tier).

Nun hat es eine genauere, theorieinteressierte Gehlen-Rezeption insbesondere im soziologischen Feld schwer, zumal sich diese Disziplin seit den späten 1960ern auch als kritische, linke Wissenschaft etablierte. Die Etikettierung seiner Soziologie als konservativ ist hier ebenso wirkmächtig gewesen wie die als Biologist im philosophisch-anthropologischen Feld. Explizit Gehlen gewidmete soziologische Arbeiten in den 1970ern und 1980ern waren oft ideologiekritisch (z.B. Weiß 1971, Lepenies & Nolte 1971, Böhler 1973, Hagemann-White 1973, Rügemer 1979, Brede 1980; vgl. Ottmann 1979) oder, später und vereinzelt, rechtfertigend (Weißmann 2000). Der Name Gehlen war, wie Wöhrle im Blick auf Habermas, Luhmann und die »orthodoxen Linken« schreibt, eine »›diskurspolitische‹ Spielmarke« (2010: 249). Rezeptionserschwerend war insbesondere Gehlens akademische Karriere im Nationalsozialismus im Verbund mit der konservativen und als solcher nie verleugneten Sicht, die sich in seiner Theoriebildung niederschlug – und dies eben in jener gesellschafts-, also institutionenkritischen Wissenschaft, deren eine historische Wurzel Marx ist.

Andererseits muss man auch hier genauer hinsehen. Weit entfernt, eine durchgängig konservative, Moderne-kritische Haltung einzunehmen, gelingt es Gehlen zuweilen – etwa am Phänomen der abstrakten Kunst (das gesellschaftstheoretisch nicht gering zu schätzen ist) – eine positive Leistung zu sehen, eine »Reflexionskunst«. Gehlen war gewiss kein Freund der Kontingenz moderner Vergesellschaftung, ganz im Gegenteil. Das hinderte ihn aber insbesondere nicht daran, die Varianz des Menschen zu sehen, so, wie es vielleicht radikaler nicht geht, ohne andererseits zum Konstruktivisten zu werden. Ähnlich ist es mit der Frage nach der Institution: Gehlen war ohne Zweifel ein Befürworter starker Institutionen, ein Denker des sozialen Zwangs wie Durkheim – und auch bei diesem ist dies keineswegs alles, geht die soziologische Theorie darin nicht auf. Vielmehr sind es die Institutionen, die etwas einrichten, ermöglichen, ohne welche die Einzelnen nicht zu denken sind – und umgekehrt. Gehlen fürchtete daher den Verlust der unhinterfragten Geltung der derart subjektformenden Institutionen und das darauf folgen müssende ›freie Flottieren‹ der Subjektivität: sofern dies keine Möglichkeit für die Selbstkultivierung des Lebewesens Mensch zu bieten schien. Er war daher vor allem kein Freund der modernen Institutionen. Man nannte ihn nicht umsonst den »Ruinenmaler«, den »Piranesi« der Institutionen (Kulenkampff 1970: 393, 395). Und doch kann man nicht umstandslos behaupten, dass er deshalb ein Plädoyer für das »Unbewussthalten von Ordnungen« gehalten hätte (Sloterdijk 2004: 479, auch Thies 2007: 108f.). Vielmehr war sich wohl keiner der Notwendigkeit des ›Außenhalts‹, der Darstellung, der ›Theatralität‹ der Institution derart bewusst wie Gehlen in Urmensch und Spätkultur; und keiner hatte es bisher so detailliert und ethnologisch und archäologisch so fundiert beschrieben. Die Kunst der Paradoxie beherrschte er. Gehlen reagierte zudem durchaus auf Kritik, etwa auf die seines ehemaligen Assistenten und Freundes Helmut Schelsky. Schelsky hatte gegen Gehlen von der »sozio-taktischen« Anpassungsgabe von Organisationen gesprochen (Schelsky 1979b: 291): Sie können sich auf die moderne Reflexivität einstellen, sie mit institutionalisieren. Kritik ist also keineswegs immer Institutionen ›zerdampfend‹ (vgl. Wöhrle 2010: Kap. 3.2; Lepenies 2009). Institutionalisierungen sind vielmehr auch im »Säurebad« der öffentlichen Diskurse moderner Vergesellschaftung nicht nur denkbar, sondern real (Habermas 2001: 67).

Die Kritiken galten stets dem als konservativ verstandenen und sich so verstehenden Soziologen. In einer wissenssoziologischen Perspektive (wie es dieser Reihe angemessen ist) ist nun der Konservative weniger zu rechtfertigen als vielmehr zu analysieren, auf seinen Denkstandort hin zu relationieren, auf die Gesellschaft, in der er schreibt. Gehlens Konservatismus besteht in der sozialtheoretischen Suche nach Ordnung und der Entfaltung einer derart akzentuierten Theorie der Institutionen (die darin gleichwohl nicht aufgeht). Bezieht man dieses Begehren nach Stabilität auf die Gründung der Bundesrepublik, dann ist der Wunsch nach stabilen Institutionen gar nicht so reaktionär, wie es zunächst scheint – angesichts des zu lösenden Grundproblems der jungen Republik, die demokratischen Verfassungsinstitutionen zu verankern, sie stabil zu machen und den Rechtsstaat wiederherzustellen. Gehlen selbst hat im Übrigen öfters betont, wie seine pessimistische oder realistische Anthropologie und die entsprechende Institutionentheorie sowie Gesellschaftsdiagnose biografisch zu erklären sein könnten: Er hat eben nahezu alle Umstürze des langen 20. Jahrhunderts erlebt, vier Regierungsformen, zwei Weltkriege, einen ungeheuren Schwund an Institutionen bis hin zur Auflösung ganzer Staatsapparate. Schließlich würde man Gehlens Utopielosigkeit im Vergleich zum zeitgenössischen Marxismus adäquat vielleicht auch als »Desillusionsrealismus« bezeichnen können (Mannheim 1984: 210). Gleichwohl hat sich Gehlen mit den neuen Verhältnissen nicht anfreunden können; er empfand sich Anfang der 1970er, am Ende seines Lebens, gar als posthum, er habe nichts mehr zu sagen – angesichts erneuter anti-institutioneller Affekte in einer Gesellschaft, die nicht mehr die seine war.

Die Wahrnehmung Gehlens in der Soziologie scheint sich aktuell anzureichern und zu vervielfältigen, was mit dem Ende der großen neomarxistischen Theoriebewegung zusammenhängen dürfte. Jüngst erschienen explizite größere Arbeiten: Einerseits zu Werk und Wirkung in der bundesdeutschen Soziologie, sich dabei in bemerkenswert akribischer und skeptischer Lektüre nicht nur auf die »Denkmotive«, sondern auch und vor allem auf die untergründigen »Denkzwänge« Gehlens konzentrierend, um »von dort aus dann eventuell zu einem erweiterten und verbesserten Verständnis der menschlichen Handlung zu kommen« (Wöhrle 2010: 21). Der Gewinn von Gehlens soziologischer Handlungstheorie ist, die Handlungen im Vollzug zu beobachten, jenseits geläufiger dualistischer Trennungen. Dabei kommt er en passent auch zu einer Artefaktsoziologie. Andererseits ist seit kurzem der Schatz von Gehlens Religionstheorie und -soziologie gehoben (Ley 2009). Weitere theorieinteressierte Arbeiten kündigen sich an, solche, die die Theorie der elementaren Strukturen des Sozialen – zentriert um das Dritte, Nichtmenschliche, die Identifizierung mit dem Tier – in das französische Diskursfeld stellen. Überraschende Einsichten ergeben sich dabei von Gilles Deleuze (Seyfert 2010b) und Cornelius Castoriadis her (Gregorio 2011). Auch ich selbst interessiere mich – man wird es merken – insbesondere für diese frankophile Seite Gehlens, nun für seine Anknüpfung an Bergsonianer, die für sich hochinteressant sind.7

Zweifellos hat Gehlen gegenüber diesen Autoren zu viel von Nietzsche: zu viel vom Pathos der Distanz, vom Zynismus, vom Pessimismus. Es gibt eine überall durchscheinende, »Melancholie und Stoizismus zusammenbindende, aristokratische Attitüde« ebenso wie einen »fatalistisch-stoischen Zynismus« (Rehberg 1973: 16, 94) und einen »Heroismus des Stillstands« (Lepenies 1972: 253). Man muss mit einem kühlen Autor rechnen. Schelsky sprach gar von einer »submarine[n] Kühle« (1976). Andere Zeitgenossen haben ihn mit einem »Basilisken« verglichen (Duve 1976). Basiliscus plumifrons ist ein Leguan mit hohen Kopflappen, einem Rücken- und Schwanzkamm sowie einer je nach Stimmung wechselnden Hautfarbe. Die Basilisken besitzen Hautsäume an den Zehen, die es ihnen ermöglichen, auf den Hinterbeinen und sogar über Wasserflächen zu laufen. Sie sind für jede Lage eingerichtet, geradezu opportunistisch. Mehr noch, durch ihr Zischen verjagen sie alle Schlangen; sie bewegen sich dabei nicht »durch vielfache Windungen«, vielmehr gehen sie »stolz und halb aufgerichtet einher«. Die Basilisken lassen ferner (antiken Beobachtern zufolge) durch ihre Berührung und ihren Atem »Sträucher absterben«. Nicht zuletzt ist der Blick dieses Tierchens bemerkenswert: er versteinert. Eine »solche Stärke« hat dieses Tier (Plinius 1976: Kap. 33, § 78).

In dieser einführenden Lektüre in Gehlens soziologisches Werk wird die Theorie vom Pessimismus des Autors getrennt. Dies und Gehlens Spott gegenüber den Subjekten der Konsumgesellschaft sei einmal dahingestellt; beides ist offensichtlich und oft betont. Weit entfernt also von einem »Domestikationsversuch« durch »leichtfertige Affirmation« (Wöhrle 2010: 430) ist vielmehr die Frage, was man interessant findet, womit man sich beschäftigen will; mehr noch: worin der Klassikerstatus und daher auch die Aktualität Gehlens liegen könnte. Die Abhebbarkeit der theoretisch weitreichenden Gedanken vom Unbehagen gegenüber der Polemik und dahinterstehenden politischen Haltung gilt wohl selbst für Gehlens provozierendste Schrift: für Moral und Hypermoral, deren »Sofortreaktion« stets einem »affektgeleiteten Kritizismus« verhaftet blieb (Ley 2009: 8; vgl. Rehberg 2004b). Auch hier haben Ton und inhaltliche Aussagen möglicherweise je ihren eigenen Wert. Dies gilt in viel stärkerem Maße für Gehlens zweites Hauptwerk, für Urmensch und Spätkultur. Gerade hier lohnt es sich in Hinsicht auf die (Wissens-)Soziologie, sich auf die Theorie zu konzentrieren und alle Einsprengungen zum ›überbordenden Subjektivismus‹, zum Institutionenverlust in der Moderne einzuklammern und auf die Erörterung der Gegenwartsanalyse zu verschieben.8 Gehlens Polemik sowie seine Verständnislosigkeit gegenüber der eigenen Gegenwartsgesellschaft sind dabei vorausgesetzt, als stets mitzudenkende Grenze oder Denkstandort, um es mit Mannheim zu formulieren. Interessanter ist die Theorie über Eigenart und Genese des Sozialen, denn dazu bietet Gehlen eine grundlegende, spannende, verblüffende These, zentriert um das Tier: um das Totemtier.

Das Folgende hat zwei Fragen zu beantworten. Zunächst, weshalb Gehlen in einer Reihe der Klassiker der Wissenssoziologie steht. Dies ist die Frage, inwiefern es lohnt, ihn nach wie vor zu lesen. Es interessiert in dieser Frage nach dem Klassiker-Status als soziologischer Autor insbesondere sein soziologisches, sozial- und gesellschaftstheoretisches Werk. Dabei ist, da Gehlen stets ›im Kreise‹ denkt, ebenso seine Philosophische Anthropologie als Denk- und Begriffsgrundlage seiner Soziologie mitzuführen. Zweitens wird zu klären sein, weshalb Gehlen in einer Reihe der Klassiker der Wissenssoziologie auftaucht. Hier wäre zuallererst zu umreißen, was man selbst unter ›Wissenssoziologie‹ versteht, denn es gibt durchaus verschiedene Möglichkeiten. Begründet bei Max Scheler und Karl Mannheim, ist es zunächst die Beziehung von Denkstilen auf soziale Standorte, auf unbewusst bleibende, weil ganz das eigene Denken bestimmende Interessen und Motive in der Art eines sozialen Aprioris. In den 1970ern dann meint ›Wissenssoziologie‹ – mit dem Buch von Berger und Luckmann, für das Gehlens Anthropologie und Institutionentheorie wichtig war – eine allgemeine Beobachtung der Konstruktion von Wirklichkeit, jenseits identifizierbarer oder auch nur interessierender Machtfragen und Gesellschaftsstrukturierungen. In der französischen Soziologie gibt es eine Wissenssoziologie als Theorie der kollektiven Grundlage unserer Raum- und Zeitbegriffe zunächst bei Émile Durkheim und Marcel Mauss; dann die Beobachtung der Selbstklassifizierung sozialer Gruppen in den Mythen bei Claude Lévi-Strauss; die Frage nach der produktiven Machtfunktion von Wissens-Ordnungen bei Foucault und die Suche nach dem kollektiven Imaginären bei Cornelius Castoriadis. Wenn man Gehlen in eine so verstandene, reichhaltige und gesellschaftstheoretisch grundlegende Wissenssoziologie einordnen wollte, wäre die von Maurice Hauriou übernommene Kategorie der ›Leitidee‹ (idée directrice) zentral. Was Gehlen in Urmensch und Spätkultur und erneut – zugespitzt für das moralische Wissen – in Moral und Hypermoral beobachtet, ist die Selbstbild-Herstellung des Menschen. Stets macht man sich ein Bild von sich und der Welt, und dieses bestimmt, wie man sich behandelt, wie sich die Einzelnen klassifizieren und hierarchisieren und was man – kollektiv, gesellschaftlich – je als die eigene Aufgabe versteht: kurz, um welche Subjekt- und Weltform es sich handelt. Es geht um elementare Kategorien des ›Wissens‹, nämlich um die (gesellschaftlich variable und sozial konstituierte) Form der inneren und äußeren Wirklichkeit.

Dazu ist die in Mensch entfaltete Philosophische Anthropologie die unverzichtbare Grundlage. Auf deren erster Seite heißt es, der Mensch sei das zu sich selbst »Stellung nehmende« Wesen. »Das von nachdenkenden Menschen empfundene Bedürfnis nach einer Deutung des eigenen menschlichen Daseins ist kein bloß theoretisches Bedürfnis. Je nach den Entscheidungen, die eine solche Deutung enthält, werden Aufgaben sichtbar oder verdeckt. Ob sich der Mensch als Geschöpf Gottes versteht oder als arrivierten Affen, wird einen deutlichen Unterschied in seinem Verhalten zu wirklichen Tatsachen ausmachen; man wird in beiden Fällen auch in sich sehr verschiedene Befehle hören. […] Es gibt ein lebendiges Wesen, zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehört, zu sich selbst Stellung nehmen zu müssen, wozu eben ein ›Bild‹, eine Deutungsformel notwendig ist. Zu sich selbst heißt: zu den eigenen wahrgenommenen Antrieben und Eigenschaften – aber auch zu seinesgleichen, zu anderen Menschen, denn auch deren Behandlung wird davon abhängen, für was man sie hält, und für was man sich hält« (M: 3).

Der Schwerpunkt wird im Folgenden auf der ›Mensch-Trilogie‹ liegen: zunächst auf Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (M [1940/1950]), als der für alles Weitere grundlegenden Theorie des Menschen (Kap. IV); sodann auf Urmensch und Spätkultur oder »Der Mensch. Zweiter Teil«9 (US [1956]), dem soziologischen Grundlagenwerk (Kap. V). Es enthält die Theorie der Institutionen und damit zugleich eine fundamentale Wissenssoziologie sowie eine Artefakt- und Religionssoziologie. Es ist, wie auch Der Mensch, ein dichtes, ideenreiches, »bahnbrechendes« (Fischer 2008a: 292) Buch. Die Argumentationswege sind vor allem in diesen beiden Hauptwerken recht verschlungen. Gehlen nennt als Grund dafür seinen Versuch, im Kreis zu denken: weil eben im Menschen alles mit allem zusammenhängt. Andere nennen es ein Gedanken-Labyrinth. Es wird zu entwirren sein. Zusätzlich zur anthropologisch-soziologischen Theorie werden darauf – chronologisch geordnet – die beiden gesellschaftsdiagnostischen Werke interessieren: Die Seele im technischen Zeitalter (Seele [1947/57]) und Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (ZB [1960]), in denen auch die These eines Post-Histoire enthalten ist (Kap. VI und VII). Die ins allgemeine Gedächtnis der bundesdeutschen Soziologie eingegangene Zeitdiagnose Gehlens lautet: Die Gegenwartsgesellschaft ist eine im Wohlstand der Einzelnen zentrierte, durch die ›Superstruktur‹ von Wissenschaft, Technik, Industrie gesteuerte Gesellschaft nach dem Ende aller ›Schlüsselattitüden‹ einer vollständigen Umwälzung. Sofern für diese Gesellschaft das (technische) Wissen entscheidend ist, es sich um eine Wissensgesellschaft handelt, ist auch die Gesellschaftsdiagnose wissenssoziologisch einschlägig. Anschließend interessiert Moral und Hypermoral (MH [1969]) oder »Der Mensch. Dritter Teil« (Kap. VIII): die Soziologie moralischer Überzeugungen als weiterer Aspekt einer Wissenssoziologie. Schließlich ist die Frage zu stellen, was Gehlen selbst eigentlich als Aufgabe der Soziologie verstand (Kap. IX). Neben der Allgemeinen und Angewandten war das die ›Autosoziologie‹, die Soziologie der Intellektuellen, vor allem jener, die vom Standpunkt der Soziologie zu sprechen beanspruchten.

Es gibt also mehrere gute Gründe, Gehlen als einen Klassiker der Wissenssoziologie zu verstehen – im Sinn einer grundlegenden soziologischen Perspektive. Umgekehrt wäre der resignative und zuweilen zynische Ton Gehlens selbst noch einmal wissenssoziologisch aufzuklären: Welcher ›Denkstil‹ (Mannheim) steckt darin, von welchem Standpunkt, für wen spricht diese Soziologie? (vgl. dazu Rehberg 1976, 1978, 2001b, Wöhrle 2010) Die beiden Fragen – die nach dem Klassikerstatus in der Soziologie und die nach dem wissenssoziologischen Aspekt – werden im Folgenden stets in einem Zug beantwortet: Die Einführung in seine Wissenssoziologie ist eine Einführung in seine Soziologie.

Zur Textlage sind noch wenige Worte zu sagen: Gehlens kulturdiagnostische Schriften hatten hohe Auflagen, nicht zuletzt dank der Aufnahme in die erfolgreiche rde-Reihe (rowohlts deutsche enzyklopädie, die Vor-Suhrkamp-Buchkultur). Auch das Hauptwerk Der Mensch