Arnulf - Das Schwert der Sachsen - Robert Focken - E-Book

Arnulf - Das Schwert der Sachsen E-Book

Robert Focken

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Beschreibung

774 nach Christus: Krieg, Aufruhr und Vertreibung erschüttern das Reich Karl des Großen. Während der Frankenkönig in Italien die Langobarden niederringt, schmiedet der Sachsenherzog Widukind ein Bündnis der heidnischen Stämme, um das verhasste Frankenreich heimzusuchen. Im Strudel dieser Ereignisse steht Arnulf, ein fränkischer Gefangener an Widukinds Hof. Nur er kann die Franken vor dem Angriff warnen – doch die Flucht scheitert. Mit der Kraft der Verzweiflung stemmt Arnulf sich gegen sein Schicksal, während Widukinds Krieger sich für den großen Sturm rüsten…

Ein packendes Drama aus der Zeit der Sachsenkriege, das den Leser über blutige Schlachtfelder und durch heidnische Waldwildnis bis zu den mythischen Heiligtümern der Falenstämme führt.

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Seitenzahl: 624

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Zum Buch

»Arnulf trat ins Freie hinaus. Die Abendsonne war durch die Wolken gebrochen und tauchte die breitschultrige Statur des Gefangenen in goldenes Licht. Südlich der Siedlung erhob sich der Osning, – irgendwo jenseits davon lag Arnulfs Heimat, lag das Reich der Franken. Nicht einmal eine Meile entfernt, konnte er den Pass sehen, wie ein Tor in die Freiheit … Aber der Eindruck trog: Auf den Hügeln links und rechts vom Durchlass standen Wachtürme, die Tag und Nacht besetzt waren; weiter oben thronte eine Burganlage auf dem Höhenzug. Von dort konnte man das ganze Land überblicken. Nein, eine Flucht würde scheitern …«

Zum Autor

Robert Focken wuchs in Holzminden an der Weser auf. Nach ersten journalistischen Gehversuchen folgten längere Reisen durch Afrika und den Mittleren Osten. In Bonn studierte Focken anschließend Geschichte und gründete eine Familie. Seiner Leidenschaft für Geschichte tat auch die Tätigkeit bei einer Bank keinen Abbruch. Viele Jahre und einige graue Haare später entstand die Idee für die Arnulf-Erzählung: Ein fränkischer Krieger, in dessen Abenteuern die Regierungszeit Karls des Großen erlebbar wird. Robert Focken lebt im Vordertaunus.

ROBERT FOCKEN

Arnulf

DAS SCHWERT DER SACHSEN

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2017 by Robert FockenCopyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenRedaktion: Catherine BeckUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Kiselev ValerevichSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-21426-5V004
www.heyne.de

Das Frankenreich im Jahr 774:Viele der Edlen haben den König Karl – der später der Große genannt wurde – über die Alpen nach Italien begleitet, um die Langobarden in die Knie zu zwingen. Die Nordgrenze bleibt nahezu ungeschützt zurück: Karl hat seinen gelehrten Berater Einhard als Statthalter eingesetzt, der mit wenigen Hundert Panzerreitern von der Eresburg aus über den trügerischen Frieden wacht. Irgendwo in der Waldwildnis nördlich der Grenzfeste aber leckt Herzog Widukind seine Wunden: Der Führer der Westfalen hat sich nicht mit seiner Schlachtenniederlage gegen die Truppen Karls abgefunden! Früher oder später wird er die Gaue aufwiegeln und die anderen Sachsenstämme für einen neuen Angriff gewinnen. Nicht zuletzt Vergeltung für die Zerstörung der Irminsul will Widukind nehmen – und weiß nicht, dass er bei einem Scharmützel eben den gefangen genommen hat, der das Heiligtum in Flammen aufgehen ließ: den Krieger Arnulf, genannt sax hamar. Die Halbschwester des Herzogs nämlich, die stolze, eigenwillige Erika, bewahrte das Geheimnis; dies und noch ein anderes, ebenso schwerwiegendes. So lautet Arnulfs bittere Einsicht zu Beginn des zweiten Bandes: Sein Überleben liegt nicht mehr in seiner Hand …

Eine Namensliste sowie Erläuterungen althochdeutscher Begriffe und Ortsnamen finden sich im Anhang

1

Vor der Siedlung Korbach, im Frühjahr 774

Halblaute Worte unterbrachen die Stille. Widukind hörte Dagos leises Lachen.

»Das Seil ist gespannt, Herzog! Fünfzig Schritt vor dem Tor, außerhalb des Fackellichts!«

»Gut«, raunte Widukind. »Hoffen wir, dass die Kerle auch rauskommen …«

Schemenhaft sahen sie die Umrisse des Palisadenzaunes von Korbach vor sich. Seit Anbruch der Dunkelheit harrte der Westfalenherzog mit einer Handvoll Krieger in einer kleinen Vertiefung nördlich des befestigten Edelhofes aus. Immer noch klangen die getragenen Gesänge der Christen herüber. Widukind spürte das Kribbeln aus seinem Innern aufsteigen, das sich vor jedem Gefecht einstellte.

»Ich sage, die Franken machen einen Ausfall!« Dago kniete direkt neben ihm. »Bei Wodan, nach den ersten Brandpfeilen müssen sie rauskommen … ich wette um Eure junge Fuchsstute, Herzog, dass sie kommen! Was setzt Ihr ein?«

Widukind lächelte in sich hinein. Dago war einer seiner Schildmänner, der engsten Kampfgefährten. Und einer, der das Wettspiel liebte. »Die Stute«, murmelte Widukind, »gegen Euren Sattel mit den Silberbeschlägen, den Ihr aus Nordelbien mitbrachtet!«

Dago streckte eine Hand aus, Widukind meinte ihn grinsen zu sehen. »Es gilt«, raunten sie gleichzeitig.

Etwa drei Dutzend Frankenkrieger bewachten die Siedlung. Dago hatte dies herausgefunden, als er sich vor nicht allzu langer Zeit unter die Arbeiter gemischt hatte, die beim Kirchenbau helfen mussten; sächsische Grundherren, die sich mit den Franken gutstellen wollten, schickten ihnen ihre Knechte. Der Krieger räusperte sich. »Sie singen noch für ihren Gott, in dem Steinbau, mit ihrem Priester …«

Widukind schnaubte verächtlich. »Sie singen für ihren Gott?«, fragte er und verlagerte das Gewicht auf das rechte Knie, leise knirschte sein Kettenhemd. »Werdet Ihr das Dach treffen?«

Dago wandte ihm sein Gesicht zu. Wolken verdeckten die Mondsichel, es war fast völlig dunkel. »Der Runenmeister hat die Pfeile geweiht«, murmelte der Gefährte. Er zog einen Pfeilschaft aus dem Köcher, den er an der Seite trug, und ging mit den Fingern über das Holz in der Mitte, wo ein winziges, zackenartiges Zeichen eingeschnitzt war. »Und ich habe einen Richtungsstock ausgelegt, im letzten Licht. Wir müssen beim Zielen hoch genug anhalten, das ist alles. Die Pechlappen machen die Pfeile schwer …«

Widukind grunzte zufrieden, denn alles war vorbereitet: Ein paar Schritt hinter ihnen warteten Krieger mit einem Brandtopf. Auf der Südseite des Anwesens harrte unweit des Tores ein weiterer Trupp: Er würde Warnung geben, wenn fränkische Krieger wider Erwarten die Siedlung verließen, bevor es losging. Ein flackernder Lichtpunkt bewegte sich jetzt auf der Palisade: eine Wache mit Harzfackel. Die acht bis neun Fuß hohen Holzbalken der Umwallung waren kein echtes Hindernis für entschlossene Angreifer. Lange hatte Widukind überlegt, ob er Korbach nicht einfach stürmen sollte. Da war die heranwachsende Kirche, eine der ersten auf sächsischer Erde: Sie musste zerstört werden. Nebenbei würden Pferde und die wertvollen Schuppenpanzer der Besatzung als Beute anfallen. Aber ein offener Angriff blieb riskant für einen Kriegsherrn, dessen Gefolgschaft kaum mehr als hundert Krieger zählte! Er musste seine Kräfte gut einteilen, denn jenseits von Korbach lockte ein ganz anderes, bedeutsameres Ziel: die Eresburg1! Der Verlust der Festung an die fränkischen Eroberer ein Jahr zuvor war das Fanal für einen schändlichen Rückzug gewesen …

Das Gesinge war vorbei! Eine geradezu unheimliche Stille breitete sich aus. Der Herzog nahm den Geruch des Pechs war, als sein Kamerad die ersten Pfeile aus dem Köcher holte. Schon machte sich Dago mit zwei anderen daran, ein Feuer zu entzünden. Sie hatten dafür einen Eimer mit Zunder und Kleinholz mitgebracht. Stahl schlug auf Feuerstein, und nach vorsichtigem Pusten züngelte eine Flamme aus dem Eimer, halbwegs abgedeckt zur Siedlung hin durch die mächtigen Rundschilde der Männer. Dago tauchte den ersten Pfeil mit dem stinkenden Pech in den Brandtrog, sofort fing er Feuer. Der Krieger richtete sich zu voller Größe auf und zog die Sehne aus, bis seine rechte Hand fast die Wange berührte – die Pfeilspitze zeigte in den Nachthimmel. Mit einem lauten Schlag löste sich der Pfeil, stumm verfolgten die Falen den feurigen Bogen, der in den Himmel stieg, wieder an Höhe verlor und sich auf die Dächer der Siedlung senkte. Ein sattes »Wock!« verkündete den Aufschlag.

Dago ließ den Bogen sinken. »Im Dach, Herzog!«

Im Grunde konnte man es nur ahnen, wenn man nicht die Augen einer Eule hatte; knapp ragte das Dach der großen Halle über die Palisadenhöhe hinaus. Prompt taten die anderen beiden Schützen es Dago gleich, Brandpfeil um Brandpfeil surrte los, um in weitem Bogen auf die große Halle Korbachs niederzugehen. Bald sahen sie erste Flammen emporzüngeln – Widukinds Herz schlug schneller. Endlich, nach unfassbar langer Zeit, erscholl der erste Warnruf. »Fiur!«

»Na also«, sagte Dago grimmig. »Dachte schon, wir hätten die Wachen gleich mitdurchbohrt!«

»Schießt, was Ihr könnt!«, stieß Widukind hervor. Von der Palisade aus konnte man sie mit dem Feuertopf sehen, das stand fest – die Franken könnten versuchen zurückzuschießen. Oder einen Ausfall wagen … Schon verschmierten Pechtropfen die Bogenhölzer. Die Bogner wischten es so gut wie möglich mit ledernen Handschuhen ab, um sofort das nächste, qualmig-stinkende Geschoss aufzulegen. Der Dachfirst war mittlerweile von den Flammen beleuchtet. Widukind fluchte in sich hinein, nur zäh breitete das Feuer sich aus. Die letzten Wochen waren zu feucht gewesen. Enttäuschung rollte durch seine Adern wie ein Kältestoß, erstmals an diesem Abend fröstelte er unter Wolfsfell und Kettenhemd. Lautes Rufen drang jetzt herüber, die Franken versuchten, mit Wassereimern zu löschen. Waren sie mutig genug für einen Ausfall?

»Das reicht! Los, zu den anderen!«

Auf das Kommando des Herzogs hin griffen sie Waffen, Schilde und Pfeilköcher und liefen zu den Pferden – nur der Feuertopf blieb zurück. Udo, ein junger Halbfreier, hielt das Ross des Herzogs. »Ihr heizt ihnen ein, Herr!«, rief er mit mühsam gedämpfter Aufregung.

»Nicht genug«, schnappte Widukind und schwang sich in den Sattel. Sie umritten Korbach in einem halbkreisförmigen Bogen, da das Tor auf der Südseite lag. Widukind steuerte die dunklen Umrisse der Walnussbäume an, unter denen eine Schar fälischer Krieger mit Blick auf das Tor kauerte. Hier führte Widukinds Vetter Ingmar das Kommando. »Die Kreuzanbeter trauen sich nicht raus«, rief er dem Herzog missmutig entgegen. »Das Gesinge hat ihr Mark weich gemacht!« Er hatte eine dünne Stimme, die nicht zu seinen massiven Umrissen passen wollte.

Widukind stieg vom Pferd und starrte wie die anderen auch auf das dunkle Tor. »Sie wären mutiger, Ingmar, wenn Ihr nicht neulich im Forst ihre Holzhauer massakriert hättet«, bemerkte er trocken.

Ingmar schnaubte ein kurzes, hartes Lachen und versuchte, Widukinds Gesichtszüge zu erkennen; war das ein Tadel seines Blutsverwandten? Er beschloss, dass ihm das gleichgültig war. Für ein paar Augenblicke verfolgten sie still das Schreien und Klappern hinter dem Tor. Köpfe einiger Frankenkrieger tauchten auf dem Wehrgang über dem Tor auf, schwarz hoben sie sich gegen den Feuerschein im Hintergrund ab. Auch sie konnten mit dem Bogen umgehen, aber im Dunkeln waren die Sachsen für sie wie Geister …

»Verdammte Feiglinge«, murmelte Dago. »Wegen Euch verliere ich einen guten Sattel!«

»Still!«, zischte Widukind. »Der Torbalken!«

Tatsächlich hörten sie nun das schwere Reiben von Holz auf Holz. Gebannt starrten sie auf die aufschwingenden Torflügel knapp hundert Schritt vor ihnen: Ein Trupp Franken kam heraus, zu Fuß, im Laufschritt – im Fackellicht konnte Widukind die Eisenschuppen auf den Panzern der vorderen Männer erkennen. Sie würden die Reste des Feuertopfes auf der anderen Seite der Palisade ansteuern, weil es das Einzige war, was sie vom Feind sahen. Es mochten zwanzig Mann sein, weniger noch, als Widukind selbst dabeihatte. Das Kribbeln kam zurück, heftiger als zuvor, er spürte jede Faser und jeden Muskel. Seine Rechte umfasste den Griff seines Schwertes bluot trinkar.

»Zum Teufel …!« Die ersten Franken stürzten über das Seil, fluchten, rappelten sich hoch – ein Augenblick der Verwirrung …

»Schießt!«, brüllten Ingmar und Dago gleichzeitig. Zehn Bogenschützen hatten sie dabei – ihre erste Salve traf die Franken vollkommen überraschend. Drei oder vier Mann schrien getroffen auf oder gingen zu Boden. Aber schon die zweite Runde Geschosse blieb in den Schilden stecken, flog über die Frankenkrieger hinweg und bohrte sich in die Palisaden. Widukind warf sich in den Sattel. »Schießt auf die Palisadenwachen!«, schrie er Ingmar zu. »Die anderen – mir nach!«

»Aber … Rabendreck!« Ingmar knirschte mit den Zähnen. Widukind wollte den fränkischen Ausfall niederreiten und sein Schwert in Frankenblut tauchen – wie viel ruhmloser war es, von weit hinten auf die feindlichen Bogner zu schießen!

Wie Gespenster aus dem Dunkeln sprengten Widukinds Reiter heran. Verblüfft und erschrocken machten die ersten Franken kehrt. Sie versuchten, das Tor zu erreichen – nur wenige Schritt hinter ihnen lockte die Sicherheit! Andere hoben ihre Schilde, schickten einen Gottesruf in die Nacht und erwarteten die Angreifer mit gezogenem Schwert. Die schiere Wucht des Pferdeangriffs warf die ersten Männer nieder. Widukind durchschlug einen Speer, den ihm ein Franke entgegenstieß, und hieb den Mann mit dem zweiten Streich zu Boden. Blitzschnell sah er sich um: Dago war zu seiner Linken, während sein anderer Schildmann Liudolf rechts mit fürchterlichen Schwertschlägen einen fränkischen Schild traktierte. Widukind sprang vom Pferd, fegte mit einem Tritt den Schild des Verwundeten vor ihm zur Seite und rammte ihm bluot trinkar in den Hals, oberhalb des Saums des Schuppenpanzers. Erst als er die Klinge zurückzog, sah er einen Franken mit riesiger Streitaxt auf sich losgehen. Widukind riss den Schild hoch, dumpf dröhnte das Lindenholz, die Wucht des Schlages jagte einen Schmerzstoß bis ins Schultergelenk. Er ließ sich auf das rechte Knie fallen und erwischte den linken Knöchel des Franken mit einem sensenartigen Hieb. Schreiend ging der andere zu Boden. Sofort war Dago zur Stelle und beförderte den Franken mit zwei schnellen Speerstößen ins Jenseits.

Wer konnte, wich zurück: Ein halbes Dutzend Franken eilte, humpelte durch das noch halb offene Tor – sie nahmen ihren eigenen Bognern die Sicht, die jetzt auf die Sachsen anlegten. Ein Pfeil schlug mit dumpfem Geräusch in die Flanke von Widukinds Pferd ein, der Apfelschimmel wieherte erschrocken und lief in die Nacht hinein.

»Zurück!«, donnerte Widukind. Doch in diesem Augenblick durchzuckte ihn ein wilder Gedanke … Er packte den toten Frankenkrieger vor sich und wuchtete den schlaffen Körper auf seine rechte Schulter. Dann rannte er los, auf seine Leute bei den Walnussbäumen zu. Schon nach wenigen Schritten schlug ein Pfeil mit schmatzendem Geräusch in die Schulterlast ein. Zwei Herzschläge später drängte Dago sein Pferd neben den schwer atmenden Stammesführer. »Springt auf, Herzog!« Widukind widerstand der Versuchung: Im Laufen, ohne auch nur langsamer zu werden, wuchtete er die schwere Last quer über den Hals von Dagos Pferd. »Passt auf ihn auf«, schrie er dem verblüfften Schildmann zu. Atemlos erreichten sie Ingmars Bogner. Udo, der Lite, kam seinem Herrn mit dem Apfelschimmel entgegen; er hatte das verwundete Tier eingefangen. »Er wird Euch nach Hause tragen, Herr! Die Pfeilspitze saß nicht tief.«

Widukind strich dem Burschen über die Wange, dann tätschelte er den Hals des Hengstes. Erleichterung durchschauerte seinen Körper. Alles war gut gegangen, selbst die halb verrückte Kühnheit, einen Panzerkrieger vom Kampffeld fortzuschleppen!

Eilig verschwanden die Sachsen ins Dunkle und schwenkten auf den Weg Richtung Arolsen ein, einer Engernsiedlung nordöstlich von Korbach. Nach ein paar Meilen machten sie halt, um in die Dunkelheit zu lauschen. Kein Hufgetrappel, kein Waffenklirren: Niemand verfolgte sie. Noch immer lag die Leiche des Frankenkriegers quer über Dagos Gaul.

»Was wollt Ihr mit dem toten Kreuzanbeter, Vetter?«, krächzte Ingmar.

»Nichts«, sagte Widukind rau. »Nehmt ihm den Panzer ab. Den Rest brauchen wir nicht!«

Alle starrten auf die Leiche, aus der noch der Pfeil ragte. Dago versuchte, ihn mit einer Hand herauszureißen, doch die Spitze steckte zu fest. Mit einem Grunzen brach er den Schaft schließlich eine Handbreit über dem Rücken des Toten ab. Die Mondsichel war zwischen den Wolken hervorgekommen und warf blasses Licht auf die Eisenschuppen, die den Oberkörper des Toten bedeckten.

»Das war leichtsinnig«, murmelte Ingmar, gerade laut genug, dass Widukind es hören konnte.

Während zwei Krieger die Lederverschlüsse des Schuppenpanzers aufschnitten, wandte sich der Herzog gut gelaunt seinem Vetter zu. »Die Franken vor dem Tor ohne Eure Bogner anzugreifen, das wäre leichtsinnig gewesen!«

Ingmar brummte etwas, noch nicht ganz versöhnt. »Wo sind Bothos Leute, verdammt? Sollten sie hier nicht irgendwo warten?«

»Allerdings«, nickte Widukind und kratzte sich unter dem bärtigen Kinn. Eine halbe Hundertschaft hatte ihm der Engernfürst zugesagt – oder besser sein Halbbruder, Wolfger. Sie sollten an der Straße nach Arolsen Aufstellung beziehen, um etwaige Verfolger der Falen niederzumachen … Niemand in der Dunkelheit konnte Widukinds bitteres Lächeln sehen, als der Herzog daran dachte, wie Botho taktiert hatte: Gewiss, er hasste die Franken. Aber der Schlachtensieg König Karls über Engern und Falen wirkte nach wie eine Knochenkrankheit.

»Eine Meile voraus ist ein fränkischer Wirtschaftshof«, fiel Liudolf ein. Die Kette um seinen Hals mit dem silbernen Donarhammer und durchlochten Münzen klirrte leise beim Reiten – »Silberhals« nannten sie ihn zu Hause. »Sie haben sich’s gemütlich gemacht, wetten? Fressen den Franken die Würste weg und jagen die Weiber ins Heu!«

Widukind schüttelte unwillig den Kopf. »Damit gewinnt man keinen Krieg«, murmelte er. Seine Blicke gingen voraus, bohrten sich in die Dunkelheit. Wolfgers Leute mussten hier irgendwo sein … Wolfgers Halbbruder Botho war Herzog der Engern – ohne seine Unterstützung war alles umsonst.

»Was erwartet Ihr, Vetter?«, höhnte Ingmar. »Die Weiber der Engern waren nie mehr als Bettwärmer für die Franken. Heraus kommen Bastardkinder, keine Kämpfer!«

Raues Lachen lief durch die Gruppe der Männer. Da ertönte ein Zuruf aus dem nahen Waldrand, und sofort ging Widukinds Hand zum Schwertgriff. »He da, Söhne Saxnoths!«

Schemenhaft löste sich eine Gruppe von mehreren Reitern aus dem Dunkel des Waldrandes. Einer von ihnen ritt direkt auf Widukind zu. »Heil, Herzog! Wir dachten schon, die Panzerreiter hätten Euch erwischt …«

Erleichtert reichte Widukind dem anderen die Hand. Die heisere, fast brüchige Stimme war nicht zu verkennen. »Wolfger! Ihr habt Wort gehalten!«

»Was sonst? Ich habe fünf Dutzend Krieger unter den Bäumen, Ihr seid in Sicherheit!«

»Sicherheit?«, schnauzte Ingmar los. »Wir haben zwanzig von ihnen aufgeschlitzt, vor ihrer Dreckspalisade, und Ihr …«

»Das reicht, Ingmar«, sagte Widukind scharf. »Also – wo können wir von Mann zu Mann reden?«

Kurze Zeit später trabte die Kavalkade aus Engern- und Falenkriegern auf die geduckten Umrisse eines fränkischen curtis, eines Wirtschaftshofes, abseits der Straße zu. Seit dem vergangenen Sommer erschienen solche Höfe in wachsender Zahl im Grenzland. Widukind kamen sie vor wie fremdartige Disteln, die sich auf einer Wiese breitmachten: Vorläufer einer Landnahme. Dieses Land war die Heimat der Engern, des Sachsenstammes, der an der Grenze zum Frankenreich siedelte. Danach aber würden die Westfalen an die Reihe kommen, dann alle anderen sächsischen Lande …

Ein großes Wohngebäude, Arbeitsschuppen und Vorratsscheunen auf Stelzen, umzogen von einem Steckenzaun: Der Hof lag still und dunkel inmitten einiger Felder abseits der Straße. Als sie das Zauntor mit zwei Axthieben öffneten und ihre Pferde hindurchdrängten, schlugen Hunde an. Bevor die Krieger die Haustür einschlagen konnten, öffnete sie sich von allein: Ein Mann ohne Hose stand im Türrahmen, ein Öllicht in einer, eine kurze Axt in der anderen Hand; die Tunika hing ihm bis auf die nackten Knie.

Die Eindringlinge lachten auf. Ingmar sprang auf die Schwelle und fegte den Hausherrn mit einem kräftigen Schildstoß zur Seite, worauf mehr als ein Dutzend Männer ins Haus eindrangen. Als Letzte traten Wolfger und Widukind über die Schwelle.

Dago hatte eine Fackel entzündet: Im hinteren Teil des Raumes kam eine Frau mit Angstschluchzern aus einem Bett hervor, gefolgt von einem Mann, einem Kind und einem jungen Hund.

»Licht!«, herrschte Ingmar sie an. »Und bring Fleisch und Bier, wenn Ihr den nächsten Tag erleben wollt!«

Der Hausherr, eine dünne Gestalt mit zu langen Armen, bekreuzigte sich. »Almahtigan!« Angsterfüllt musterte er die Eindringlinge. »Wolfger? Aber Ihr seid doch …« Er brachte den Satz nicht zu Ende, eine Faust landete in seinem Gesicht.

»Tisch auf, Bastard!«

Neben der rußig-schwarzen Feuerstelle war ein Tisch mit einer Bank und ein paar grob gezimmerten Stühlen, auf der sich die sächsischen Führer niederließen. Mit dem Handrücken wischte Widukind ein Holzkreuz mit steinernem Ständer von der Tischplatte. Eilig schleppte die Frau im dünnen, wadenlangen Nachthemd einen Krug Bier und Stürzbecher herbei. Ingmar wollte ihr offenes Haar greifen, doch sie entwand sich, ohne ein Wort zu sagen. Zwischen die Becher ließ Dago auf ein Nicken Widukinds hin den fränkischen Schuppenpanzer krachen.

Durchdringend sah Widukind den Engern an. »Gute Geschenke sind solche, die man nicht kaufen kann, heißt es bei uns. Der Panzer ist für Euch!«

Wolfger nickte mit dünnem Lächeln; er war von hagerem Körperbau, seine Augen lagen tief in den Höhlen, und aus dem Gesicht sprang eine Hakennase hervor, die ihm etwas Raubvogelhaftes verlieh. Seine Hand strich respektvoll über die daumennagelgroßen Eisenplatten des Panzers, die auf dickes Leder genietet waren – die Rüstung bot ebenso viel Schutz wie ein Kettenhemd und ungleich mehr als ein Lederpanzer. Sie tranken auf den Sieg, auf die Herzöge und ihre Väter, und dann musste Widukind erzählen, wie man die Franken überrascht hatte. Gebannt lauschten die Engern der Schilderung, wie er den toten Frankenkrieger vom Kampfplatz geschleppt hatte. Stolz nickten die Falenkrieger im Takt der Erzählung, wo sonst gab es einen wie den Herzog Widukind?

Als Widukind geendet hatte, stützte Wolfger die Ellenbogen auf die Tischplatte und knetete seine Hände mit langen, dürren Fingern: »Ich danke Euch, Herzog! Aber wer diesen Panzer trägt, der ist ein Franke – oder ihr Todfeind, nicht wahr?«

Widukind schluckte eine erste Aufwallung von Ärger hinunter. »Wer sich Fale oder Enger nennt und kein Feind der Franken ist – was ist der anderes als ein Feigling?«

Für einen Augenblick war nichts zu hören als das Wimmern der Hausherrin im Hintergrund und das Schmatzen der Männer, die Brot und Schinken in sich hineinstopften. Dann lösten sich Wolfgers Züge, seine Lippen entblößten spitze Zähne. »Wir wissen, dass Ihr die Eresburg angreifen wollt, Herzog. Und wir fragen uns, warum? Eure Höfe liegen fern von hier, die Franken bedrohen das Westfalenland nicht!«

»Noch nicht«, knurrte Widukind und leerte seinen Becher in einem großen Zug. »Aber es wird nicht lange dauern, dann werden sie auch bei uns einfallen! Der Frankenkönig hat tausend oder zweitausend Panzerreiter, er kann jederzeit zuschlagen – selbst wenn er den Heerbann seines Volkes zu Hause lässt!«

Wolfger nickte bedächtig und musterte Widukinds Gesicht mit der Ruhe eines Geiers. »Wisst Ihr, was man sich auf unseren Höfen erzählt, Herzog? Dass Ihr gern Herzog aller Stämme wärt – auch der Engern, auch der Ostfalen und der Nordelbier! Und dass Ihr deshalb einen neuen Krieg mit den Franken wollt …«

Widukind atmete durch. Das dumme Geschwätz, das er schon so oft gehört hatte. »Glaubt Herzog Botho diesen Unfug auch, Wolfger? Ich kann es mir nicht vorstellen.«

Wolfger wiegte den Kopf, wie alte Leute es mitunter tun. »Er ist bereit, Euch zu vertrauen – aber denkt immer an eins: Dies ist unsere Heimat! Ihr wollt die Burg? Gut, aber das Kommando muss bei uns liegen, Herzog!«

»Warum nicht?« Widukind zwang sich zu einem Lächeln und schloss die rechte Hand zur Faust. »Wichtig ist nur eines, dass wir zusammenstehen! Hören wir auf, einander zu misstrauen! Lasst uns unsere Speere nur noch gegen die Franken wenden!«

Wolfger grinste jetzt, eine für andere Menschen unheimliche Miene. »Darauf wollen wir trinken, Herzog!« Er prostete Widukind zu, alle setzten die Becher an.

»Ich will nicht nur darauf trinken, Wolfger.« Widukind hob die Rechte: »Niemand hier im Raum, kein Enger und kein Fale, hat mehr Kreuzanbeter getötet als ich! Ich leiste diesen Schwur, und ihr alle sollt mein Zeuge sein: Wenn wir die Eresburg zurückgewonnen haben, rufe ich die Falen zum thing! Ich will das größte Heer nach Süden führen, das je auf sächsischer Erde zusammenkam! Und ich will so lange kämpfen, bis ihr König selbst in seinem Blut liegt! Bei Wodans Auge, ik swur!«

1 Das heutige (Ober-)Marsberg in Ostwestfalen

2

In der Westfalensiedlung Bylanuelde2, im Frühjahr 774

Sie werden dich umbringen, Junge.« Weder Drohung noch Mitgefühl schwangen in den Worten des Alten mit. Es war eine Feststellung.

»Ach ja?« Arnulf presste stoßartig die Luft durch die Nase. »Glaubst du, ich hätte Angst vorm Sterben?« Seine Stimme war fest. So fest, als glaubte er diese Worte selbst. In Wirklichkeit hatte er so viel Angst vor dem Tod wie davor, irgendwann so jämmerlich zu enden wie der Sklave vor ihm, der da mit dem fast fertigen Korb im Stroh des Arbeitsschuppens saß – seit wie vielen Stunden?

»Du hast Glück gehabt, bisher«, murmelt der Alte. »Aber Glück ist wie Tau auf dem Gras.«

»Bei Gott, das weiß ich selbst!« Arnulf schoss einen grimmigen Blick auf den Korbflechter ab. »Wolltest du mir nicht etwas Neues erzählen?« Das Gesicht des Alten war ein Netz von Linien, mit weißen, wuchernden Augenbrauen, die länger waren als das graue Haupthaar – geschorenes Sklavenhaar. Ohne Unterlass zogen seine hornigen Finger neue Weidenzweige durch die Rippen des halb fertigen Korbes, der vor ihm auf dem Boden lag. Er lebte schon viele Jahre in Bylanuelde, kannte die Geschichten der Menschen und auch die von Arnulf: Als Führer einer fränkischen Kriegsschar, die eine Heidentaufe im Grenzland sichern sollte, war Arnulf von Herzog Widukind überrascht worden. Arnulfs Männer waren getötet worden, ihn selbst hatte man leben lassen – warum auch immer …

Der Alte schwieg. Arnulf wartete. Fünf Fuß gegenüber dem Greis kauerte der Hesse auf seinen Hacken, die muskulösen Unterarme lagen auf den Knien und schienen dadurch noch breiter. Er betrachtete den Dreck unter seinen Fingernägeln und in den Längsrillen seiner Finger: Dreck vom Feld, von der Knochenarbeit des Pflügens. Schließlich verlor er die Geduld. »Also«, sagte er halbwegs freundlich. »Rede mit mir. Was weißt du?«

Prompt hob der Sklave den Kopf. »Ich gehöre zum Haus von Dago Silberhals, Widukinds Schildmann. Dagos Frau sagte, dass sie bald zurück sind aus dem Engernland – der Herzog mit seinen Kriegern. Sie holen sich die Eresburg zurück, verstehst du?«

»Dafür braucht Widukind ein Heer«, knurrte Arnulf. »Woher will er das nehmen? Dreihundert Panzerreiter verteidigen die Burg!« Dreihundert – von denen Arnulf sax hamar einer gewesen war.

»Der Herzog«, fuhr der Alte bedächtig fort, »wird die Fürsten der Engern auf seine Seite ziehen, die an der Grenze leben … er muss die Burg haben, um seine ahta wiederherzustellen, verstehst du?«

»Kann sein«, sagte Arnulf langsam und begann zu ahnen, worauf der Alte hinauswollte; er selbst hatte in vorderster Reihe im Frankenheer gekämpft, das auf dem Blutfeld zwischen Korbach und Eresburg das Ansehen des Westfalenherzogs zerstört hatte!

Der Alte blinzelte misstrauisch nach links und rechts, bevor er weitersprach. Der Werkschuppen stand mit ein paar anderen Baracken am Rand der Siedlung, die aus kaum einem Dutzend verstreuter Langhäuser bestand – man konnte nie wissen, wer hinter einer Wand lauschte. »Der Herzog«, sagte der Alte endlich, »wird alles daransetzen, die Burg zurückzuerobern. Und wenn er nach Bylanuelde zurückkehrt, wird es Feiern geben. Er wird seinen Leuten etwas bieten: Zweikämpfe, verstehst du? Kriegsgefangene, Mann gegen Mann. Oder Mann gegen Bär. Vielleicht sogar …«

»Was?«

Der Alte ließ den Korb sinken und musterte den Jüngeren aus faltig-eitrigen Augenschlitzen. »Gottesopfer. Zu Ehren Wodans … Sie schneiden dem Opfer die Kehle durch und vermengen das Blut mit einem Heidengebräu. Die Priester trinken es.«

Abrupt richtete sich Arnulf aus der Hocke auf. »Lieber mit der Waffe in der Hand sterben«, murmelte er und verspürte ein Brennen an seinem linken Mittelfinger: Dort hatte der Ring des Königs gesessen, den er herausragenden Kriegern gab. Bis vor zwei Wochen – dann hatte Arnulf diesen Ring einem der fahrenden Händler zugesteckt. Oder waren es schon drei Wochen? Es war ein unbeobachteter Moment gewesen, als Arnulf dabei gewesen war, Stapel mit Fellen auf den Wagen des Händlers zu wuchten. Der Friese hatte behauptet, die Eresburg zu kennen. Arnulf hatte ihn den Namen Einhards zweimal wiederholen lassen. Die Scara soll mich rausholen! Der Friese hatte genickt, als verstünde er … War dieser Kerl jemals in der Burg angekommen?

Über ihm raschelte es: Schwalben, die ihr Nest unter dem Strohdach bauten. Nebenan, in einem festen Holzbau, fluchten zwei Kerle beim Einspeichen eines neuen Wagenrades; einen Steinwurf vor dem Werkschuppen standen Halbwüchsige mit ihren Pferden beieinander und begutachteten einen Dolch, den einer herumreichte. Die Söhne wohlhabender Freier …

»Du hast Widukinds Bruder getötet«, raunte der Sklave. »In der großen Schlacht – stimmt das?«

Arnulf schien etwas zu streifen wie einen Mantelsaum: eine Anwandlung von Furcht. »Wer erzählt das? Hast du das auch von Dagos Weib?«

Der Alte schüttelte den Kopf. Mit einer knotigen Hand wischte er sich Dreck oder Eiter aus den Augen. »Ein Edling aus dem Engerngebiet war hier. Er hat dich auf dem Feld gesehen, beim Pflügen. Du siehst aus wie der Franke, den sie hamar nennen – das hat er zu meiner Herrin gesagt. Wie der Krieger, der Witigo getötet hat …«

Arnulfs Brustkorb hob und senkte sich. Wie von selbst ging seine Rechte zum Gürtel, dort, wo ihn die leere Schlaufe der Streitaxt an bessere Tage erinnerte. Wie eine Verlängerung seines Armes war diese Axt gewesen. »Dann ist es also wahr?«

Der Alte zwinkerte wieder, wagte aber nicht, Arnulf anzusehen.

Arnulf schwieg. Sein Blick ging nach unten, auf die schwarze Erde zwischen seinen Zehen. Sklaven trugen keine Schuhe. Das erschwerte die Flucht. Aber alles war besser, als öffentlich aufgeschlitzt zu werden.

Hatte der verdammte Friese den Ring für sich behalten?

»Erzähl es niemandem, Alter«, knurrte Arnulf ohne Hoffnung, dass das etwas ändern würde.

Der alte Mann nickte gleichmütig und zog das rechte Bein an, um sich aufzurichten. Überrascht erkannte Arnulf, dass der eine Fuß nur noch ein Stumpf war.

»Ist schon lange her«, murmelte der Greis, als hätte Arnulf die Frage laut gestellt. »Ich wollte fliehen. Sie haben mich eingefangen und ausgepeitscht. Und dann – mit dem Schwert, weißt Du …«

»Die Bastarde«, sagte Arnulf, und es klang beinahe sanft.

»Schon lange her«, wiederholte der Alte ohne Zorn. »Damals lebte Dagos Vater noch.« Er zog den fertigen Korb an sich, als wäre er ein Kind, und murmelte etwas in sich hinein, das nach »Speck« klang; ja, er mochte einen Happen Fleisch für seine Arbeit bekommen. Oder ein paar Eier – dieser Sklave hatte sich eingerichtet im Tal des Jammers.

Arnulf trat ins Freie hinaus. Die Abendsonne war durch die Wolken gebrochen und tauchte die breitschultrige Statur des Gefangenen in goldenes Licht. Südlich der Siedlung erhob sich der Osning, der wie ein bewaldeter Riegel in der Landschaft lag – irgendwo jenseits davon lag Arnulfs Heimat, lagen der Hessengau und das Reich der Franken. Und mitten in diesem Querriegel, nicht einmal eine Meile entfernt, konnte er den Pass sehen, wie ein Tor in die Freiheit … Aber der Eindruck trog: Auf den Hügeln links und rechts vom Durchlass standen Wachtürme, die Tag und Nacht besetzt waren; weiter oben thronte eine Burganlage auf dem Höhenzug. Von dort konnte man das ganze Land überblicken. Auf der Straße selbst kamen fast täglich Wagen und Reiter aus südlicher Richtung, die weiter nach Norden wollten, oder bis zur Weser und darüber hinaus zu den Ostfalen. Nein, eine Flucht nach Süden würde scheitern …

Nachdenklich lief er in Richtung der Unterkunft. Die Werkschuppen lagen am westlichen Rand einer Gruppe verstreuter Langhäuser mit strohgedeckten Giebeldächern. Zwischen ihnen standen Vorratsspeicher auf Stelzen, auf denen Storchpaare mit dem Nestbau begonnen hatten. Die Siedlung hatte keine Palisade, im Kriegsfall zog man sich in die Fliehburg auf dem Berg zurück. Wieder sah er die Halbwüchsigen mit ihren Pferden. Weitere Knaben waren hinzugestoßen, ausgerüstet mit langen, angespitzten Eschenhölzern: Behelfsspeere, mit denen die Jungmänner den Kampf zu Pferde übten. Und gelegentlich einen Sklaven angingen, aus reinem Übermut …

Als Arnulf sich mit der Hand durchs Gesicht fuhr, spürte er den Dreck vom Acker im Bart. Kurz entschlossen ging er zum Bach hinab, der die Siedlung nach Süden begrenzte. Am Ufer stieg er über das gebleichte Schwemmholz hinweg, das das letzte Hochwasser mitgebracht hatte, und kniete auf einem flachen, ins Wasser ragenden Stein nieder. Er zog die stinkende Tunika über den Kopf und schruppte sich den Dreck mit den Händen ab. Noch immer kam ihm sein Spiegelbild fremd vor: An das kurz geschnittene Haupthaar hatte er sich nicht gewöhnt; es war übel, so herumzulaufen! Der Bart war gewachsen, er sah damit älter aus als Anfang zwanzig – aber warum sich rasieren unter diesen Sachsen, die Haare hatten wie Wisente im Winter? Er grinste seinem Wasserbild Mut zu – seine Augen leuchteten noch. Du hast den Blick von einem, der glaubt, dass alles gut wird! Esiko, ein Hundertschaftsführer der Scara, hatte ihm das zugeworfen. Esiko und Einhard mussten ihn für tot halten – falls der friesische Händler nicht doch Arnulfs Geschichte erzählt hatte. Aber was, wenn sie zu dem Schluss kamen, dass ein Vorstoß nach Bylanuelde zu gefährlich war? War Arnulf das Leben von zwanzig Männern wert, die solch ein Abenteuer kosten konnte?

Er musste sich selbst helfen! Und auf Gott vertrauen … Aber war Gott noch bei ihm? Er würde beten. Beten konnte nicht schaden! Als er die Tunika wieder überzog, tuschelte jemand hinter ihm. Er bemerkte zwei junge Mägde, die ein paar Schritt weiter Wasser schöpften; die eine hatte rote Flecken auf den Wangen und lächelte ihm zu. Arnulf wusste, dass sie zum Gesinde von Widukinds Hof gehörte, immer wieder hörte er schlüpfrige Bemerkungen der männlichen Knechte über das Mädchen.

»Sklave, was trödelst Du mit Weibern rum?« Die Jungmänner waren den Frauen gefolgt, zwei von ihnen kamen nun zu Pferde auf den Hessen zu. Die sächsischen Silben klangen abgehackter und zugleich kehliger als das heimische Fränkisch, und doch hatte Arnulf die Worte sofort verstanden. Ohne zu antworten, ohne die Burschen anzusehen, zog er den Gürtel über der Tunika fest und lief in Richtung der Häuser zurück. Da hielt ihm der vordere der Halbwüchsigen den Eschenspeer vor das Gesicht, wie jemand, der einen Hund abrichten will. »Ich hab dich was gefragt, Sklave!« Er sah aus wie viele der heranwachsenden Falen: schulterlange Mähne, aber nichts als ein paar Kräuselhaare an der Kinnspitze. Das Kinn stand ein wenig vor, und zusammen mit dem kalten Blick ließ ihn das niederträchtig aussehen.

»Lasst mich durch«, murmelte Arnulf.

»Du … du sprichst mich mit Herr an, hörst du? Ich bin der Sohn von Ingmar, mein Vater ist ein Edling!« Der Jungmann sah sich zu seinem Kameraden um, der mit ein paar Schritt Abstand aus dem Sattel zuschaute und den Speer in einer Hand wog. Er schien unentschlossen, wie weit man es mit diesem Kreuzanbeter treiben durfte. Doch dann richtete der Edlingsohn die Speerspitze direkt auf Arnulfs Augen. »Sag ›Es tut mir leid, Herr‹! Los!«

Arnulf musterte den anderen mit starrem Blick. Der Sporn war nur zwei Handbreit von seinen Augäpfeln entfernt. Arnulf atmete tief ein und stellte sich vor: Den Kerl vom Pferd reißen, ihm die Faust ins Gesicht rammen, immer wieder … »So was sage ich nur zu Männern mit Bärten, Junge!« Mit einer schnellen Bewegung tauchte er unter der Spitze hinweg und lief rasch am Hinterteil des Pferdes vorbei. Brennend heiß spürte er die Blicke des Burschen in seinem Rücken.

»Du Bastard! Das wirst du noch bereuen!«

Arnulf umkreiste eine Horde schwarzbrauner Jagdhunde mit kurzem Fell, die sich um die Reste eines Rehlaufes balgte. Der Leitrüde hob kurz den Kopf, erkannte den Sklaven und biss sofort wieder den nächsten Hund weg. Die Hunde gehörten Marbold: Der Halbfreie war so etwas wie Arnulfs Herr, er beaufsichtigte die Sklaven, die nicht selbst in Widukinds Haus untergebracht waren. Sie lebten im nordwärtigen Drittel des gut zwanzig mal sieben Schritt großen Langhauses. Im südlichen Abschnitt waren Ziegen und Schafe untergebracht, in der Mitte lebte Marbolds Familie: Der Eingang war mit geschnitzten Balken verziert, die oben in gekreuzten Pferdeköpfen ausliefen. Arnulf zögerte; er hätte hineingehen und fragen müssen, was für morgen anlag. Doch ihm war nicht danach. Und dann lief er fast in Marbods massigen Körper hinein. Der Lite stand mit verschränkten Armen im Türrahmen des Sklavenquartiers. Der dunkelblonde Bart reichte ihm auf die Brust, massive Augenbrauen gaben seiner Miene etwas Strenges. Arnulf murmelte einen Gruß und wollte sich an ihm vorbeidrängen.

»Nun, kneht? Zufrieden mit dem Tagewerk?«

»Zufrieden?« Die Frage entsprach irgendwie dem kruden Humor des Falen. »Pflügen mit einem Räderpflug ist schlimm genug«, sagte Arnulf, weil ihm nichts Besseres einfiel; »aber Eure Holzpflüge, die stammen noch von den Ahnen! Man muss sie in den Boden drücken …«

»Du jammerst wie ein Weib«, sagte Marbold und erlaubte sich ein Grinsen. »Aber bitte, wenn du dir für Männerarbeit zu gut bist …« Er rief den Hunden ein scharfes Kommando zu, worauf sie sich verzogen.

»Was dann?«, fragte Arnulf mit unbewegtem Gesicht.

Marbold spuckte aus. »Einer der Träger von Widukinds Weib hat sich den Fuß gebrochen. Morgen früh gehst du zum Hof des Herzogs hinauf, zwei Stunden nach Sonnenaufgang. Verstanden?«

»Ich soll eine Verkrüppelte … skizan!« Er sah Marbold furchtloser an, als es sich für einen Knecht gehörte. Für einen Augenblick konnte er nicht einmal mehr an Flucht denken – zu groß war die Demütigung, die hier drohte.

»Es wird dich Demut lehren«, grollte Marbold mit den Händen in den Hüften. »Ich bin ein Lite, ein Halbfreier, wie ihr Franken sagt. Schon mein Großvater hat an Widukinds Sippe gezinst. Und meine Kinder werden das ebenfalls tun … Dafür stehen wir unterm Schutz des Herzogs. Niemals wird sich das ändern. Und genauso sicher wird es immer Knechte geben, die das tun, was die Freien und Liten nicht tun wollen. Nimm das an, desto weniger wirst du leiden.« Er gab den Weg frei, Arnulf betrat mit starrer Miene das Halbdunkle der Gesindeunterkunft. Doch dann schickte der Sachse ihm noch eine Warnung hinterher: »Und denk nicht daran, Franke! Die Hunde finden immer deine Fährte!«

2 Bielefeld

3

Auf der Eresburg3, im Frühjahr 774

Wieder war Einhard die Stufen zum großen Wachturm hinaufgestiegen. Die beiden Krieger, die, an die Brustwehr gelehnt, miteinander geplaudert hatten, murmelten einen respektvollen Gruß. Tatsächlich hatten sich die Wachen an das plötzliche Auftauchen ihres Burgherrn auf dem Wall und auf den Türmen gewöhnt. Einhard trieb seit geraumer Zeit eine innere Unruhe um: Wie Tinte im Fässchen fühlte sich sein Körperinneres an, wenn sie vor dem Schreiben durchgeschüttelt wird. Sein linker Zeigefinger strich über den goldenen Ring, den er Tage zuvor über den Daumen gezogen hatte. Auf der abgeflachten Seite waren ein C und R eingeprägt, Carolus Rex: Solche Ringe gab der König Kriegern, die sich in der Schlacht ausgezeichnet hatten. Ein Fernhändler, ein Friese, hatte ihm vergangene Woche den Ring ausgehändigt, als er auf der Burg seine Waren feilbot. Angeblich stammte das Stück von einem fränkischen Gefangenen im Westfalenland: von Arnulf sax hamar. Zwei Tagesmärsche nordwestlich des Paderborns4 befand sich angeblich auch einer der Höfe Widukinds. Der Herzog der Westfalen war der Erzfeind der Franken. War es möglich, ihn in seinem Bau zu überraschen und Arnulf zu befreien? Oder würde so ein Vorstoß in einer Katastrophe enden, für die Einhard dann die Verantwortung trug? Was hätte der König an seiner Stelle befohlen? Hätte er nicht die Hundertschaften der unfortha losgeschickt, der furchtlosen Panzerkrieger, um einen seiner tapfersten Krieger zurückzuholen? Kühn, wie Karl nun einmal war, hätte er sich wahrscheinlich an die Spitze der Truppe gesetzt … Einhard seufzte und zog fröstelnd den blauen Wollmantel enger um die Schultern. Er, der Burgherr, war kein Krieger! Aber er befehligte den Hundertschaftsführern der Scara, die diesen Außenposten verteidigten. Eine Laune des Königs war es gewesen, ihn hier im Norden als Statthalter zurückzulassen: einen gelehrten, viel belesenen Mann mit nicht mehr vollem Haar, der am Hof dank Verstand und Tüchtigkeit zum Consiliarius aufgestiegen war, zum Ratgeber … Er hatte diese Burg zu verteidigen, die für die Sicherheit der ganzen Grenzmark stand!

Mit einem Ohr hörte er, wie die beiden Wachen den Namen von Hauptmann Erwein erwähnten, und den seiner Unterführer. Dazu immerhin hatte Einhard sich gestern durchgerungen: eine Hundertschaft zur Pader zu schicken, oder besser zum Sklavenmarkt, der nahe der Quellen im Frühjahr und im Herbst stattfand. So ein Markt war Umschlagplatz für Nachrichten aller Art: Gut möglich, dass dort einer der Händler mehr über einen versklavten Frankenkrieger wusste … Fast zwanghaft polierte sein Zeigefinger die Buchstaben auf dem Ring. Aber was, wenn die Heiden unterdessen die Burg selbst angriffen? So unwahrscheinlich, ja unmöglich das war, die Vorstellung verfolgte Einhard … Der Blick des Burgherrn ging nach Norden, das schmale Tal der Diemel entlang, als würde ein Magnet seinen Kopf in diese Richtung ziehen. Eine Bergflanke mit dichtem Urwald stieg ein Stück links des Flusses an; rechts vom Ufer, in nordöstlicher Richtung, schoben sich hinter dem grasigen Talgrund zwei steile und ein etwas flacherer Hügel ineinander. Fünfhundert oder sechshundert Fuß über Einhard zog ein Adler seine Kreise, still, nahezu ohne Flügelbewegung – wie weit mochte man von dort oben sehen? Noch war das Graubraun des Laubwaldes nur mit einem grünen Flaum überzogen; noch konnte man jeden Feind erkennen, der versuchte, sich heimlich zu nähern. Doch schon in zwei oder drei Wochen würde das Grün frischer Blätter wie eine Schutzdecke über der Wildnis liegen …

Der Adler tauchte nach unten. Er schien etwas auf der grasigen Ebene anzuvisieren, dem sogenannten Reitgrund, der sich unmittelbar nördlich des Burgberges erstreckte. Aus dem Augenwinkel bemerkte Einhard die verstohlenen Blicke der Turmwachen – er erkannte Ansgar, einen stiernackigen, kampferprobten Krieger, der wie Einhard selbst vom oberen Main stammte. Den Burgherrn peinigte der Gedanke, dass der Veteran seine Unruhe spürte. Wahrlich, mit fünfeinhalb Fuß Körpergröße und einer schmächtigen Gestalt wirkte der Hofmann auf seine Soldaten nicht besonders Ehrfurcht gebietend.

»Skizan!« Ansgars Schuppenpanzer knirschte leise, als er einen Arm ausstreckte in Richtung Norden, die lederne Unterarmschiene wie ein Rohr, aus dem eine Faust mit dickem Zeigefinger hervorragte. »Flüchtlinge, ich sag’s Euch!« Er spuckte über die Brustwehr. »Schon wieder!« Zwei Gefährte, das vordere ein Ochsenwagen, waren jetzt zu erkennen. Sie hielten auf die kleine Sachsensiedlung zu, die auf Höhe des Reitgrundes am Diemelufer lag.

»Oder unsere Getreidelieferung«, sagte Einhard mit erzwungener Ruhe und hoffte inständig, dass es so wäre. Wenig später erkannte er auf dem hinteren, von Eseln gezogenen Karren einige Frauen und Kinder, eng aneinandergekauert. Schon hatten die Wagen die Siedlung durchquert, nicht mehr als ein größerer Wirtschaftshof, umbellt von ein paar Hunden, deren Gekläffe der Wind zu den Männern auf dem Turm trug. Einhard presste die Lippen zusammen – der Krieger hatte recht. Da kamen Sachsen, oder Engern, wie sie sich in dieser Gegend nannten. Sie würden behaupten, dass man sie von Haus und Hof vertrieben hatte, weil sie die Taufe genommen hatten. Wie von selbst ging der Blick der drei Männer zu den Verschlägen aus Leinwand und Holzstecken hinab, die in der Vorburg errichtet worden waren: Dort kampierten seit einigen Tagen einige Dutzend christlicher Engern. Der alte Südwall trennte die Vorburg vom eigentlichen Burggelände ab, das sie nur zum Wasserholen betreten durften. Der sogenannte Königswall, eine halbkreisförmig den Hügel hinablaufende Mauer aus Holz und Stein, umgrenzte das Refugium der Engernflüchtlinge – dieser zusätzliche Wall war im letzten Herbst angelegt worden, um einen möglichen Angreifer besser abwehren zu können. Und Angreifer konnten nur von Süden kommen, über die große Rampe, die zum Tor führte …

»Prokurator! Herr!« Eine schlaksige, rotwangige Gestalt stand am Fuße des Turmes, die Arme in die Hüften gestemmt. Nur Einhards Schreiber Tristan sprach ihn so an. Er konnte sich den groben Kerlen um ihn herum überlegen fühlen, wenn er lateinische Ausdrücke benutzte. »Besuch aus Korbach, Herr! Der Diakon!« Tristan wischte sich Haarsträhnen aus der Stirn.

Einhard zuckte zusammen: Der Diakon kam eigentlich nur sonntags – und das war gerade drei Tage her! Korbach lag ein Stück weit südlich der Burg, dort, wo früher die Siedlungsgrenze zwischen Franken und Sachsen verlaufen war. Der Ritt bis zur Eresburg dauerte immerhin drei bis vier Stunden; dass Emeran schon wieder erschien, ließ Einhard nichts Gutes ahnen. »Er soll in die Halle kommen«, rief Einhard hinab. »Nein – bring ihn in mein Studierzimmer … und sag Hauptmann Erwein, dass er mit seinen Leuten noch nicht losreiten soll.« Tristan blickte mit dem Kopf im Nacken nach oben, als schulde Einhard ihm Erklärungen für diese Aufträge, die Hände nach wie vor in den Hüften, fast schon provozierend.

»Beweg dich, Junge!«, entfuhr es dem Burgherrn. »Für eine Salzsäule bist du zu hübsch!«

Einhard hörte knurrige Geräusche der Belustigung bei den beiden Turmwachen. Tristan war ein auffallend gut aussehender Bursche von neunzehn oder zwanzig Jahren. Sein feines und gleichzeitig unernstes Wesen passte genauso wenig in diese Umgebung wie Einhard selbst. Langsam stieg er die Trittbretter zum Wehrgang hinab, die auf der Innenseite der Turmbohlen angebracht waren. Es würde nicht um den Kirchenbau gehen, ahnte Einhard. In jedem Fall war es besser, wenn er erst selbst mit dem Geistlichen sprach – bevor Hauptmann Esiko sich einmischte. Harto nannten die Krieger ihren Anführer – Gespräche mit ihm arteten regelmäßig in der Machtfrage aus: Wer gab die Kommandos auf der Burg? Esiko liebte den Kampf und hasste das Gehorchen. Und wusste längst, dass Einhard keine Ahnung vom Kriegführen hatte.

Der Burgherr lief am mit Steinen eingefassten Brunnen vorbei, wo zwei Flüchtlingsfrauen schnaufend den schweren Wassereimer hochzogen. Er nickte ihnen zu, sie schlugen schamhaft die Augen nieder. Der Brunnen bildete in der Mitte der Anlage ein Dreieck mit einem niedrigen Steinhaus – der ewig rauchenden, stinkenden Schmiede – und dem massiven Hauptgebäude. ›Studierzimmer‹ war eine etwas pompöse Bezeichnung für Einhards persönliche Kammer. Fränkische Zimmerleute hatten die Kammer nach der Eroberung an die Rückseite des Hauptgebäudes angefügt, das sich wie eine Festung in der Festung erhob: Eng gefugte Eichenbohlen, kleine Fensteröffnungen und ein kegelförmiges, mit Rinderhäuten beschlagenes Dach: hässlich und zweckdienlich. Als Einhard eintrat, stand der Besucher zwischen Schreibpult und Fenster – einem übergroßen Fenster, zweimal zweieinhalb Fuß, ausgefüllt mit straff gespannter, dünner Ziegenhaut, durch die bei Sonnenschein genügend Licht einfiel, um lesen zu können. Emeran, der Priester, hatte eine blutige Schmarre auf der Stirn. Die dunklen Augen wirkten größer als sonst. Das schmale, asketische Gesicht und darüber die in der Mitte gescheitelten, langen Haare: Jesus, kurz vor der Kreuzigung.

»Heil, Statthalter! Gottes Segen …«

»Und Gottes Segen mit Euch, Emeran!« Einhard rieb sich die Hände, wie um sich Mut zu machen. »Ist heute Mittwoch? Da erwarte ich höchstens Gernot, den Baumeister …«

Fahrig strich Emerans Hand über das Elfenbeinkreuz auf seiner Brust. »Wir sind von den Sachsen überfallen worden! Widukind führte sie, die Männer haben ihn erkannt!«

Einhard sog die Luft ein, ohne auszuatmen.

3 (Ober-)Marsberg in Ostwestfalen

4 Paderborn: »Quelle(n) der Pader«

4

In der Westfalensiedlung Bylanuelde, im Frühjahr 774

Die Morgenluft roch nach Frühling und frischem Leben. Mücken umsummten Arnulfs Kopf. Er spürte die Strahlen der Sonne auf Rücken und Schultern, als er vor dem Anwesen des Sachsenherzogs stand. Aber er misstraute diesem Morgen – eine Frau tragen zu müssen war sklavisch. Dass sie verkrüppelt war, machte es noch schlimmer: Von diesem Fluch konnte etwas an Arnulf hängen bleiben … Das Anwesen des Falenherzogs lag im nördlichen Teil der Siedlung, nahe dem seichten Wasserlauf, der fast parallel zum weiter südlich fließenden Bach floss. Drei alte, weit ausgreifende Weidenbäume schirmten das Haus halbwegs von den Blicken der anderen Höfe ab. Es war größer als die anderen Gebäude Bylanueldes, das schindelgedeckte Dach wurde von einem Dutzend umlaufender Balken gestützt, die kunstvolle Schnitzereien aufwiesen. Für ein paar Augenblicke betrachtete er die geschnitzten Pferdeköpfe auf den gekreuzten Balken über dem First – dann hörte er ein hässliches Krächzen irgendwo über sich. Es war wie eine kleine Warnung, dieses Schnarren: ein Rabe – ein Strauchdieb und Hexenfreund war dieser Vogel! Die Haustür ging auf, und ein untersetzter Mann in heller, makelloser Tunika trat heraus. Er trug den breiten, mit Bronze und Silberbeschlägen verzierten Gürtel, den man bei den wohlhabenderen Freien sah.

»Dich schickt Marbold?« Seine Rechte hielt eine zwei Ellen lange Rute, die spielerisch gegen den Unterschenkel klopfte.

»Ja, Herr.« Der Mann hieß Baldur, er war so etwas wie der Hofmeister Widukinds.

»Warte dahinten!« Der Stock zeigte nach rechts.

Arnulf trottete zur Hausecke und lehnte sich gegen einen jungen Apfelbaum, dessen Zweige voller kräftiger Knospen waren. Von hier aus konnte er die Ställe und Wirtschaftsgebäude hinter dem Haus einsehen: Zwei Männer scheuchten eine Horde Schweine aus einem mit Stecken umgebenen Verschlag; man würde sie in den Wald treiben. Hinter dem Schweinestall trabten zwei Stuten mit ihren Fohlen im Pferdegatter herum. Arnulfs wirkliche Aufmerksamkeit aber galt einem kleinen, strohgedeckten Haus am anderen Ende des Hofes, vierzig bis fünfzig Schritt hinter dem Haupthaus, unweit des Bachufers. Die beiden Fenster schienen größer, die ledernen Fenstereinsätze neuer und sauberer als bei den anderen Häusern. Erika, die Halbschwester Widukinds, lebte dort. Erika, seine ehemalige Geisel … Von einem Knecht hatte er gehört, dass sie manchmal bei den Angehörigen ihrer Mutter auf dem Hof Enger weilte, nördlich von Bylanuelde. Plötzlich hoffte Arnulf, dass sie in diesem Augenblick aus dem Haus treten würde – oder fürchtete er es?

Wieder meldete sich der Rabe mit hässlichem Krächzen. Als wäre es ein Zeichen, hielten vom Hof aus zwei große Hunde auf ihn zu: Jagdhunde mit kräftigem Brustkorb, starken Läufen und kurzen, steifen Ohren, schwarzgrau wie Wölfe. Instinktiv wusste Arnulf, dass dies Widukinds Hunde waren. Eins der Tiere stieß Arnulf die Schnauze in die Seite, entblößte lange Eckzähne und fing an zu knurren.

Die Sonne stand ein ganzes Stück höher, als Baldur endlich mit den anderen Trägern unter dem Vordach erschien. Jetzt fiel ihm ein, dass Arnulfs nackte Sohlen ein Risiko waren. Er schickte einen jungen Hausknecht los, um Abhilfe zu schaffen. Für einen Moment empfand Arnulf Genugtuung – Schuhe! Seine Zehen waren bräunlich, die Spitzen fast schwarz, und manchmal fühlte er die verhornten Fußsohlen kaum noch; dass er sich im Winter nichts abgefroren hatte, war ein Wunder!

Im Hauseingang erschien eine Frau in weißem Kleid, mit einer dunkelblauen Manteldecke über den Schultern, zusammengehalten von einer goldenen Fibel. Sie stützte sich auf zwei lange Krücken. Ihre hohe Stirn wurde von einem dicken Golddraht betont, der um ihren Kopf lief und die beiden Zöpfe umschloss. Wenig später landete ein Paar Bastsohlen mit dünnen Lederriemen vor Arnulfs Füßen. Während er die Behelfslatschen befestigte, warf er einen heimlichen Blick auf die Beine von Galswintha. Ihr Kleid endete auf Wadenhöhe. Unten schauten mit Stoffbändern umwickelte Beinlinge hervor. Die Füße waren nach innen gedreht. Hatte sie schiefe Knie? Auf das Kommando von Baldur traten die Knechte an den Tragestuhl heran. »Du, Franke! Nach vorn!« Baldurs Gerte zeigte auf den Platz vorne links.

Galswintha setzte sich in den thronartigen, aus einem einzigen Klotz geschnitzten Stuhl, der vorne und hinten in zwei Tragestangen auslief. Die hager wirkende Frau strahlte trotz der Verkrüppelung etwas Stolzes, Unnahbares aus. Die Träger hoben an, und die Sänfte schwebte über dem Boden.

Mit ein paar Gertenschlägen verscheuchte Baldur die Hunde, die den Trupp umsprangen. »Zum Runenmeister, Herrin?«

Sie nickte.

Unter Baldurs Führung überquerten sie auf einer geländerlosen Brücke den Bach und liefen zwischen weidenden Rindern einen sanft ansteigenden Hang hinauf. Hütejungen neigten respektvoll die Köpfe und achteten darauf, dass ihre Tiere genügend Abstand zu der Gruppe hielten. Sie steuerten einen großen, runden Holzbau mit Spitzdach an, dessen Wände mit sonnengebleichten, langhörnigen Rinderschädeln behängt waren. Arnulf hatte die Kulthalle noch nie betreten. Seine rechte Faust hielt den Tragegriff eisern umschlossen, doch es dauerte, bis er sich an das langsame und gleichmäßige Schreiten der anderen Träger gewöhnt hatte. Der Bursche, der rechts vorne trug, grinste Arnulf unverhohlen zu, eine Art stilles Willkommen; seine schwarzen Haare waren fast zu lang für einen Sklaven, und er hatte quicklebendige Augen, die ständig nach rechts und links blickten. Galswintha plauderte derweil mit den zwei Zofen, die dem Zug folgten.

»Wohin gehen wir?«, raunte Arnulf dem Schwarzhaarigen zu.

Baldur drehte abrupt den Kopf und sah Arnulf scharf an. »Was war das?«

Arnulf musste in diesem Augenblick einem Bodenloch ausweichen, es war nicht leicht, dabei das Trageholz ruhig zu halten. Der Stuhl kippelte. Da explodierte seine Wange in glühendem Schmerz, als ihn die Gertenspitze traf. Er kam aus dem Tritt, und der nächste Schlag traf ihn am Hals; die Träger kamen zum Stehen.

»Ihr hättet ihn belehren sollen, Baldur!«, rief Galswintha – ein freundlicher Hinweis, nicht einmal eine Mahnung.

Baldur neigte den Kopf zur Herzogin hin. Dann knurrte er Arnulf von der Seite ins Ohr: »Du bist aus dem Frankenreich, ja? Habt ihr da Esel, die sprechen?«

»Nein.«

»Wir auch nicht. Also halt dein Maul! Weiter!«

Zähneknirschend setzte sich Arnulf in Bewegung, die Augen auf den Boden gerichtet. Prompt hörte er wieder das durchdringende Krächzen in der Luft. Verspottete ihn dieses Drecksvieh?

Augenblicke später sah er den Raben auf einer mannshohen Pyramide aus kürbisgroßen Steinen landen, etwa einen Steinwurf vor dem Rundbau. Baldur ließ sie halten. Prompt erhob sich der Vogel mit kräftigem Flügelschlag und flog in die Krone einer riesigen, schrundigen Esche, die sich mit zwei anderen Bäumen hinter dem Kultbau erhob; die Stämme waren wulstig und verwachsen, als stünden sie seit ewigen Zeiten dort.

Vorsichtig setzten die Träger Galswinthas Stuhl im Gras ab. Mit Hilfe ihrer Zofen stand die Herzogin auf und schleppte sich auf ihren Krücken dem Eingang entgegen, der ein Dach und Seitenwände hatte und wie ein kurzer Tunnel wirkte. Im Schatten dieses Daches stand ein sehniger, weißhaariger Mann. Der Runenmeister war in schlichtes Leinen gekleidet, das von einem strickartigen Lederstreifen zusammengehalten wurde. Er stand dort so ruhig und aufrecht, als wäre er mit der Erde verwachsen, und plötzlich wusste Arnulf, dass er diesen Mann auf dem Schlachtfeld bei Korbach gesehen hatte, im Herzen der sächsischen Stellung, kurz vor dem Höhepunkt des Gefechts.

Der Hesse blickte vorsichtig nach rechts: Sein Nebenmann blickte immer noch heiter drein. Die beiden Zofen sprachen im Flüsterton, am lautesten aber waren die Jagdhunde, die die Gruppe eingeholt hatten und sie hechelnd umsprangen. Arnulf sah Galswintha eine Verbeugung andeuten, dann übergab ihr der Weißhaarige etwas, das in Tuch eingeschlagen war. Langsam, mit zäher Anstrengung schleppte sie sich wieder zum Tragholz zurück. In einem Bogen liefen sie nun auf der diesseitigen Seite des Baches um die Siedlung, über Weiden, die noch mit dem braunen Gras des Winters durchsetzt waren. Sie stießen auf den Fahrweg, der auf den Durchlass im Höhenzug zuführte. Wagenräder hatten tiefe Spuren hinterlassen; der Untergrund hier war feucht, fast schon sumpfig, und die Träger mussten aufpassen, wo sie hintraten. Dann bogen sie nach links ab. Auf einem schraubenförmig ansteigenden Weg keuchten die Männer den Rabenberg hinauf. Dieser Hügel überblickte die ganze Siedlung, die Kuppe war auf der gleichen Höhe wie der sich südlich anschließende Osning. Die Sonne schien jetzt mit sommerlicher Kraft, Arnulf schwitzte am ganzen Körper, als sie oben ankamen. Seine Schulter schmerzte, und im rechten Unterarm staute sich das Blut. Doch die einzige Hautstelle, die er wirklich fühlte, war die glühende Wange. Wie lange würde er brauchen, um Baldur zu packen und ihm den Hals zu brechen? Auf dem Plateau ragte eine Gruppe mächtiger Buchen in den Himmel. Beim Näherkommen erkannte Arnulf, dass sie einen groben Kreis bildeten, in dessen Mitte sich einige weiß gekleidete Gestalten um einen hüfthohen Felsblock bewegten. Pferde waren in der Nähe angebunden, und auch von der anderen Seite des Hügels hielten mehrere Frauen und Männer auf die Baumgruppe zu, ihre Pferde am Zügel hinter sich. Arnulf war froh, als Baldur sie nahe der silbrig grauen Bäume halten ließ. Er murmelte etwas zu Galswintha hin, das Arnulf nicht verstand.

»Frijas Segen«, antwortete sie und erhob sich mithilfe ihrer Dienerinnen aus der Trage. Entschlossen, mit der Würde einer stolzen, wenn auch versehrten Fürstin humpelte Galswintha mit den Frauen zwischen die Bäume.

Baldur gab den Trägern einen Wink: Ihr wartet hier! Er selbst schlenderte zur gegenüberliegenden Seite des Heiligtums, wo mehrere Männer herumstanden und sich unterhielten.

Arnulfs dunkelhaariger Nebenmann hockte sich mit zufriedenem Gesicht auf einen breiten, halb verwitterten Baumstumpf. Keiner von ihnen sagte etwas, und eine Zeit lang beobachteten sie, wie die Frauen den Felsen in der Mitte der Buchen umkreisten und dabei eine auf- und abschwellende Weise sangen. Er setzte sich zu dem anderen Knecht. »Hast du immer so gute Laune?«

Der andere grinste. »Nicht, wenn Baldur mich trifft … Tut’s noch weh? Er schlägt nie besonders fest, finde ich.«

Arnulf betastete die Schwellung der linken Gesichtshälfte. »Mein Name ist Arnulf5«, schob er hinterher.

»Klingt besser als ›Esel‹, wenn du mich fragst«, lachte der andere. Sein Gesicht war eher schmal, dichte, kurze Bartstoppeln rahmten die Züge ein. »Ich bin Heden. Schleppe die Herzogin schon eine Weile durch die Gegend. In ihrem Haus hast du immer gut zu essen. Aber leg dich nicht mit ihr an – die lässt eine Magd durchpeitschen wegen drei Tropfen verschütteter Milch.«

»So brutal sieht sie gar nicht aus.« Arnulfs Blick ging wieder zu der Frau auf Krücken, die angehalten hatte und – wie die Segen heischenden um sie herum – eine Getreideähre in der Hand hochhielt, oder etwas, das so aussah.

Heden erriet Arnulfs Frage. »Sie rufen die Mutter Frija an«, sagte der Knecht, »Wodans Weib. Die Frauen bitten sie um Gesundheit und – na ja, Fruchtbarkeit …«

»Was ist mit den Füßen der Herzogin?«, fragte Arnulf halblaut.

»Manche sagen, es sei ein Fluch … Das fing vor zwei, drei Sommern an. Sie hat häufig im Bett gelegen mit Beinschmerzen. Kein Heiler hat ein Mittel dagegen. Aber vielleicht erbarmt sich Frija … Ihrem Mann ist es, glaube ich, egal.« Er zog einen Mundwinkel nach oben und zwinkerte.

»Widukind? Du meinst – er hat noch eine andere Frau?«

»Da ist eine Litin«, nickte Heden. »Die Tochter Marbolds. Sie teilen das Lager, sagt man …«

Marbold hatte mehrere Töchter, aber Arnulf wusste sofort, wen Heden meinte. Gunda war groß, hatte einen langen, schönen Hals und Augen, die einen Mann auf eine besondere Weise ansahen.

»Und Marbold lässt sich das gefallen?«, fragte Arnulf zögernd.

Heden zuckte die Achseln. »Widukind ist ihr verfallen, sagt man. Wer weiß, vielleicht hätschelt er deshalb die Liten … nimmt sie sogar mit in den Kampf. Halbfreie! Wofür kämpfen die, frage ich mich?«

»Vielleicht für die volle Freiheit.« Arnulf dachte nach. »Du wurdest nicht als Knecht geboren, stimmt’s? Dafür grinst du zu viel …«

»Es ist besser, nicht alles so ernst zu nehmen, mein Freund.« Doch nun wirkte das Feixen angestrengt. »Ich bin aus Thüringen, vom nördlichen Grabfeld. Die Falen raubten mich, da war ich noch ein …« Heden brach ab und schnellte hoch. »Holla«, zischte er. »Hier kommt Ärger!«

Von rechts, aus Richtung der Bäume, nahte Galswintha mit Baldur und den Zofen. Von links kam Marbolds Tochter Gunda, die ihr Pferd am Zügel führte, in Begleitung ihrer jüngeren Schwester. Auf Höhe des Baumstumpfes würden sie zusammentreffen. Galswintha hatte Gunda erkannt, Arnulf sah ihre Züge erstarren. Sie wurde langsamer, die Füße schleiften wie nutzloser Ballast über den Boden. Gundas Wangen nahmen Farbe an. Der Pfad, an dessen Rand der Tragestuhl stand, war hier gesäumt von Brombeerbüschen und Ginster – Gunda und ihre Schwester hätten sich in die Sträucher drücken müssen, um Galswinthas Gruppe zu umgehen. Stattdessen blieben nun alle stehen und funkelten einander an wie Raubkatzen.

»Was willst du hier, Schandweib?«, zischte Galswintha.

Gunda schien Luft zu holen. »Ich habe dasselbe Recht auf Frijas Segen wie Ihr, Galswintha!«

»Du redest vom Recht? Das Pferd, das du da führst – es gehört mir! Ich selbst habe es eingeritten!«

»Dieses Ross ist fränkische Kriegsbeute, Widukind hat es meinem Vater geschenkt!« Gunda legte eine Hand wie zum Schutz auf die helle Stelle über den Nüstern des Braunen. Sie warf einen kurzen Blick zur Seite, auf Arnulf und die anderen Trägerknechte und auf die Gestalten hinter Galswintha. Ihre Stimme klang nicht einmal böse. »Aber wenn Ihr wieder einmal reiten wollt, überlasse ich es Euch gern …«

Galswintha wurde bleich vor Wut. Sie zischte Baldurs Namen, der sich wohlweislich im Hintergrund gehalten hatte. Stattdessen trat nun eine schlanke junge Frau mit hellbraunem, in einem Knoten gebändigtem Haar vor, selbstbewusst und anmutig.

Arnulf atmete durch.

»Genug, Gunda!« Erika musterte die Litin kühl. »Es ist nicht gut, neben dem Heiligtum zu streiten. Geht Eures Weges, aber erweist der Herzogin Respekt!«

Gunda presste die Lippen zusammen, neigte abrupt den Kopf und drängte sich ohne ein weiteres Wort an der Gruppe vorbei.

Schwer ließ sich Galswintha in den Stuhl fallen. »Sie hat Glück, dass Ihr dazwischengegangen seid, Erika … vertrocknen soll diese Hure!« Wütend sah sie sich um, und die Träger senkten den Blick. »Fort von hier, Baldur! Worauf wartet Ihr?«

Bevor Baldur das Kommando geben konnte, hatten die Träger bereits angehoben. Doch direkt vor Arnulf, das Gesicht zu ihm gewandt, stand Erika. Ihre Blicke kreuzten sich. Plötzlich spürte er mit jedem Blutstoß seine aufgeplatzte Wange.

»Seid Ihr mit Eurem neuen Träger zufrieden, Galswintha?« In Erikas Augen lag funkelnder Spott, aber vielleicht auch eine Prise Mitleid.

Mürrisch zuckte die Verkrüppelte die Schultern. »Einer wie der andere … Ein paar Dinge muss er noch lernen.«

»Dieser Sklave ist etwas Besonderes, Herzogin«, sagte Erika nüchtern. »Er hielt Wache über mich, als ich bei den Kreuzanbetern gefangen war. Weißt du noch, wie du mir die Anrede verweigert hast, kneht? Du wolltest mich nicht mit ›Edelfrau‹ ansprechen!«

Arnulf wusste es nur zu gut.

»Antworte, du Esel!« Baldurs Gerte zischte über Arnulfs Schulter.

Er zuckte zusammen und hätte fast das Trageholz losgelassen. Und nun war Galswintha neugierig geworden. »Sieh mich an, Sklave! Bist du also ein Edling? Warst du einer der Vasallen von kunig Karl?«

Die Träger setzten den Stuhl ab.

Arnulf bemühte sich, normal zu sprechen. »Ich führte Männer, Herrin, aber … ich war ein Freier, ein friling, wie Ihr sagt.«

Sie nickte, als hätte sie davon gehört. »Sag mir: Bist du froh, noch am Leben zu sein?«

Arnulf fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Der Tod ist ein gnädiges Ende, sagt man … Vielleicht will mein Gott mich vorher noch quälen.«

»Warum soll dein Gott das tun?« Sie klang nicht mehr spöttisch, sondern empört. »Was für dummes Zeug! Hat euer Christengott nichts Besseres zu tun?«

»Sie glauben, dass der eine Herr in den Wolken über Tod und Leben jedes Wesens entscheidet«, sagte Erika ruhig. »Sie wissen nichts von den Nornen und der Weltenesche.«

»Wirklich?« Ein grausamer Zug spielte nun um Galswinthas Mund. »Wenn Baldur dir noch die andere Wange zerschlägt, ist er dann dein Gott Jesus, ja? Weil er dich quält?«