Deep Black - Miles Cameron - E-Book

Deep Black E-Book

Miles Cameron

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Beschreibung

Fähnrich Marca Nbaro hatte immer davon geträumt, an Bord der gewaltigen Großraumschiffe zu dienen. Sie sind der Lebensnerv des von Menschen besetzten Weltraums und transportieren unermessliche Warenmengen von City, dem größten menschlichen Orbital, bis zum Tradepoint am anderen Ende, um sie dort mit einer unbekannten außerirdischen Spezies gegen Xenoglas zu tauschen. Doch es lauern Feinde draußen in der Dunkelheit des Weltraums, die die Zukunft der gesamten Menschheit bedrohen. Marca Nbaro und ihre Freunde sind kurz davor, diese Feinde zu entlarven, aber ihnen läuft die Zeit davon – und ihren Verbündeten geht die Geduld aus …

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Seitenzahl: 731

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Schon ihr ganzes Leben lang hat Marca Nbaro davon geträumt, an Bord eines der gewaltigen Großraumschiffe zu dienen, und mit ihrem Dienstantritt auf der Athen ist er in Erfüllung gegangen. Diese Schiffe sind der Lebensnerv des von Menschen besiedelten Weltraums und transportieren unermessliche Gütermengen von City, dem größten menschlichen Orbital, bis zum Tradepoint am anderen Ende, um sie dort mit einer geheimnisvollen außerirdischen Spezies gegen Xenoglas zu tauschen. Doch es lauern Feinde draußen in der Dunkelheit des Weltraums, die die Zukunft der gesamten Menschheit bedrohen. Marca Nbaro und ihre Freunde sind kurz davor, diese Feinde zu entlarven, aber ihnen läuft die Zeit davon – und ihren Verbündeten geht die Geduld aus …

Miles Camerons ARTIFACT-SPACE-Saga:

Erster Band: Artifact Space

Zweiter Band: Deep Black

Der Autor

Miles Cameron hat mittelalterliche Geschichte studiert und als Soldat selbst an vielen Kriegsschauplätzen gekämpft. Inzwischen widmet er sich jedoch ganz dem Schreiben und dem historischen Schwertkampf. Miles Cameron ist verheiratet und lebt in Kanada.

Mehr über Miles Cameron und seine Werke erfahren Sie auf:

MILES CAMERON

DEEP BLACK

ROMAN

Aus dem Englischen von Bernhard Kempen

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe DEEPBLACK erschien erstmals 2024 bei Gollancz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Miles Cameron

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung: Das Illustrat nach einer Vorlage von Blacksheep und unter Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-32949-5V002

www.heyne.de

Für Sara Jane Watt, die ihren Kaffee schwarz trinkt

1

»Herein«, sagte Truekner.

Der Kommandeur saß auf seiner Koje, den Rücken gegen die verhangene Bordwand gelehnt, die mit einem Stück Nanoflaum gepolstert war …, aber das musste von einer anderen Beschleunigungsliege stammen. Truekner war schon alt – genau an der Grenze zu dem, was die meisten Leute noch tolerierten, bevor sie zur Verjüngung gingen. Wo sein Kinn und sein Hals sich trafen, hatte er ­Falten, Krähenfüße rund um die Augen, auch wenn er nicht lächelte, und sein Haar war überwiegend grau. Er trug einen Fluganzug und war barfuß, was Nbaro ein wenig peinlich und intim erschien, obwohl sie wusste, dass das albern war.

Sie stieg über die Stolperwand der Luke. Truekners Quartier war groß genug, um mit einer Luftschleuse und eigenen Schränken ausgestattet zu sein. Es sah recht ordentlich aus, nicht einmal ein T-Shirt lag herum. Auf dem Bildschirm war ein Hund zu sehen, ein großer Hund, der in einer Endlosschleife herumtollte.

Nbaro räusperte sich. »Personalbericht und Empfehlungen.«

Truekner sah sie mit einem dünnen Lächeln an. »Ausgezeichnet.« Doch dann verwarf er die Bemerkung, die er hatte machen wollen, mit einem Schulterzucken und setzte sich auf. »Hocken Sie sich irgendwo hin. Und dann geben Sie mir einen schnellen Überblick, damit ich alles absegnen kann.«

Sieben Schiffstage waren seit der größten Raumschlacht der Menschheitsgeschichte vergangen. Und es lag zweiundzwanzig Stunden zurück, dass es den Menschen erstmals gelungen war, direkt mit den Seesternen zu kommunizieren, den Aliens, die den Handel mit Xenoglas beherrschten. Es war der erste echte Kontakt seit zweihundert Jahren gewesen.

Danach hatte der Skipper Nbaro zum Schiff zurückgezerrt und von ihr verlangt, dass sie blieb und den Papierkram erledigte. Nbaro fand diesen Ausdruck witzig, weil Papier bei alldem natürlich überhaupt keine Rolle spielte. Aber das Direktorat Menschlicher Korporationen, eine vierhundert Jahre alte Handelsgemeinschaft, die eine lockere Kontrolle über etwa die Hälfte der Menschheitssphäre ausübte, betrieb den »Raumdienst«, der wiederum Traditionen hatte, die bis zu Meeresmarinen, Segelschiffen und … Papier zurückreichte. Nbaro hatte schon ihr ganzes Leben damit verbracht, alles in Sims zu lernen, und noch mal ein Jahr hatte der Versuch gedauert, es in der Realität anzuwenden. Bis heute fühlte sie sich von dem hohen Alter all dessen eingeschüchtert.

Truekner bedachte sie mit einem leicht zynischen Lächeln. »Ja, Nbaro, auch in Kriegen und Seuchen und bei Kontakten mit Aliens müssen wir weiter unsere Berichte abgeben und unsere Leute für Auszeichnungen nominieren. Und wo Sie gerade hier sind, haben Sie eigentlich das Gutachten zur Materialbereitschaft abgeschickt, das ich Ihnen vor zwei Wochen gegeben hatte?«

Darüber musste sie nachdenken. Das Gutachten zur Materialbereitschaft war vor der Schlacht fertiggestellt worden, was – wie es schien – in einem ganz anderen Zeitalter geschehen war. Es war schon so lange her, dass sie sich kaum noch an die Langeweile dabei erinnern konnte. »Ja, Sir«, sagte sie schließlich. »Von Morosini archiviert und akzeptiert.« Morosini war die KI des Schiffes, die sich als höfischer, aber auch schwieriger Mann in der scharlach­roten Kleidung einer vergangenen Ära manifestierte.

Er nickte. »Schön. Gut. Das ist mir entgangen. Also schauen wir uns jetzt die Berichte an.«

Sie hatte das »Gutachten zur Materialbereitschaft« – was in Wirklichkeit ein Bericht über die Sauberkeit und Ausstattung in den Räumen der Schwadron war – kurz vor der Schlacht eingereicht, oder genauer gesagt, zwischen dem ersten großen Kampf und dem zweiten …

Es war nicht einfach, den Überblick zu behalten.

Für alle an Bord der DMKSAthen war es zu einer Zeitdilatation gekommen. Ihre Reise war fast von Anfang an von gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägt gewesen. Eine der ersten Erinnerungen Nbaros an Bord war der Alarm, den der Doge Eli Sagoyewatha angeordnet hatte, als das Großschiff New York als zerstört gemeldet worden war – das erste der riesigen Handelsschiffe des DMK, das überhaupt jemals zerstört wurde. Das war bereits in der Anfangsphase des Auftankens und der Wartung geschehen, bevor sie Fracht geladen hatten und gestartet waren. Was darauf gefolgt war, ließ sich manchmal nur schwer in eine Reihenfolge bringen: der Versuch, eine Atombombe an Bord zu schmuggeln; ein zweiter Versuch, bei dem es gelungen war, Enterer und Hacker ins Schiff zu bringen; eine komplexe Intrige, das Schiff zu übernehmen oder zu zerstören, während die Kommando-KI Morosini korrumpiert wurde; ein gleichzeitiger Kampf gegen zwei angebliche Q-Schiffe der PTX im Dock bei Sahel; und schließlich etwas, das faktisch eine einzige Raumschlacht gewesen war, die nach Schiffszeit Monate gedauert hatte – mit sekundenlangen Gefechten, die von Computern ausgetragen wurden, unterbrochen durch Handelsmissionen und viele Tausend Stunden, in denen im Weltraum nach Signalen des Feindes Ausschau gehalten wurde. Und das alles kulminierte in der Schlacht bei Trade Point, wie jeder die Station nannte: ein drei- oder sogar vierseitiger Kampf, den die Athen eindeutig gewonnen hatte.

Vorläufig.

Sie richtete ihren Tab auf die Bildschirme des Skippers und rief ihren ersten Datensatz auf.

»Bootsmann Tresa Indra. Posthumer Ehrenstern.«

Truekner las die Daten, nickte und las vor: »Nach den höchsten Traditionen des Raumdienstes …« Er zog eine Grimasse. »Der Raumdienst hat in dreihundert Jahren sechzehn Ehrensterne vergeben«, sagte er. »Wie viele haben Sie in diesem Stapel?«

Sie runzelte die Stirn. »Nur Indra und Zeynep Suleimani, Sir. Indra bemerkte das beschossene Alienschiff, lokalisierte es und benachrichtigte die Athen. Ohne sie wären wir alle tot. Suleimani hat ihr Leben gegeben, als sie ihre Besatzung ausschleuste, während die PTX versuchte, uns in einen Hinterhalt zu locken.«

»Und Lance Ko von Flugstaffel Fünf und Naisha Qaqqaq von der Technik – sie könnte es sogar noch erleben, ihren entgegenzunehmen. Und Sie, Leutnant. Ihren haben Sie sich nach der Enterung bei Sahel verdient. Es könnte noch mehr geben – nicht ohne Grund spricht der Meister von einem ›Schiff der Helden‹. Fünf Ehrensterne für ein einziges Schiff.«

Nbaro nickte. »Ja, Sir.«

Er wackelte auf eigenartige Weise mit dem Kopf, was wie ein »Ja« und »Nein« in einer kombinierten Bewegung wirkte. »Gut, versuchen wir es einfach. Ich bin bereit, alles für Indras Familie zu tun, was ich kann, und auch für die von Suleimani. Bunte Bändchen kosten nichts. Und natürlich kommt der Stern mit einer Beförderung und einer Bonuszahlung, die jede Familie gut gebrauchen kann.«

»Beförderung?«, fragte sie.

Truekner lächelte. »Das war Ihnen noch nicht klar?« Er zuckte mit den Schultern. »Und in Indras Fall kommt sogar noch das Frachtkontingent eines Patriziers hinzu, das nach dieser Reise ein Vermögen wert sein wird.« Das Lächeln ging in ein Grinsen über. »Ich meine, falls wir es lebend nach Hause schaffen. In der Offiziersmesse stehen die Wetten fünfzig zu fünfzig.«

»Fünfzig zu fünfzig?«, fragte Nbaro nach. »Ich meine, für wen würde sich eine solche Wette lohnen?«

Truekner seufzte. »Ach, Nbaro, wir alten Leute machen unsere kleinen Scherze, und wir hoffen einfach, dass die jungen Leute mitziehen.«

»Ja, Sir«, sagte Nbaro.

Sie blätterte zum nächsten Datensatz, das war der Ehrenstern für Leutnant Suleimani.

»Nett formuliert. Haben Sie jemals Owens Dulce et decorum est über den Krieg im Chaoszeitalter gelesen, Nbaro?«

»Das kann ich nicht von mir behaupten, Sir.« Sie war leicht verärgert, da die Literatur des Chaoszeitalters zu den wenigen Dingen gehört hatte, die im Waisenhaus verfügbar gewesen waren.

»Hm.« Er lehnte sich zurück, und sein Lächeln verschwand. »Ich denke an Suleimanis Tapferkeit – wie sie ihre Besatzung rauswirft und weiß, dass sie allein sterben wird. Im Vakuum. Owen hat es auf den Punkt gebracht, und in dieser Schicht habe ich genug von Heldentum. Tabben Sie mir den Rest, und ich werde es lesen, wenn ich … dazu bereit bin.«

»Ja, Sir.«

»Haben Sie die Personalberichte?«

»Ja, Sir. Hier ist der von Eyre. Sir, eigentlich sollte er ein ›nicht beachtet‹ erhalten, weil …« Nbaro wedelte träge mit einer Hand.

»Weil er während des größten Teils des Berichtszeitraums ein Bootsmann war«, sagte der Skipper, »und erst einen Monat, bevor wir Trade Point erreichten, zum Fähnrich befördert wurde.« Wieder machte er die seltsame Ja-Nein-Bewegung mit dem Kopf. »Meinetwegen kann man mich deshalb vor Gericht stellen. Wir werden einen Offiziersbericht für ihn schreiben, damit die Schlacht in seine endgültige Offiziersakte eingeht.« Er blickte auf.

»Ist Ihnen bewusst, dass jene von uns, die dabei waren, vermutlich für den Rest ihrer Karriere bei Beförderungen begünstigt werden?« Er wirkte von sich selbst und seiner Karriere unbeeindruckt, und sein Lächeln bekam dabei fast etwas Zynisches – das hatte sie noch nie zuvor an ihm gesehen.

»›Uns wenige, uns wenige Glückliche‹?«, fragte Nbaro. Truek­ner mochte Anspielungen auf antike Literatur, und einiges kannte sie durchaus.

»Unsere Schar aus Schwestern, Brüdern und Gynen«, sagte ­Truekner. »Ja, so in etwa.«

»Falls wir es überhaupt nach Hause schaffen«, sagte sie.

»Touché«, erwiderte Truekner. »Haben Sie Ihren eigenen geschrieben?«

Nbaro zögerte. »Nein, Sir.«

Er schüttelte den Kopf. »Dann gehen Sie und schreiben Sie ihn. Sofort. Erklären Sie mir, was für ein im Dunkeln leuchtendes Wunder Sie sind. Ernsthaft. Ich stecke gerade bis zum Arsch in der ­Kacke. Tun Sie es einfach, und danach können Sie zurückgehen und wieder mit den Seesternen plaudern.«

Sie hatte zu dem Team gehört, das den Code der Seesternsprache geknackt hatte. In gewisser Weise. Und der Teamleiter …

Sie klammerte sich an diesen Gedanken. »Und was steht als Nächstes an, Skipper?«

Truekner hatte sich schon wieder gegen seine Nanoschaumkissen gelehnt. »Sie haben eine engere Beziehung zu Pisani und Moro­sini als ich«, sagte er. »Wenn die Ihnen etwas ins Ohr flüstern, Leutnant, wäre ich für eine Vorwarnung dankbar.«

Er öffnete seinen Tab und rief ein Hologramm auf. Dann ließ er Musik spielen: eine klagende männliche Stimme neben einer ­Gitarre. Sie hörte das Wort strange. Der Sänger klang wie ein Verrückter.

»The Doors«, sagte Truekner.

»Ich werde sie zumachen«, sagte sie und ging hinaus. Der Skipper ist definitiv seltsam drauf.

»Das ist eine Band«, erklärte er, als sich die Luke schloss.

»Zwingt dich dein Chef, deinen eigenen Personalbericht zu schreiben?«, wollte Marca von Thea Drake wissen, ihre Zimmergenossin und beste Freundin. Auch Thea war vom Asteroiden Trade Point zurückgekehrt, und auch sie war gerade mit »Papierkram« beschäftigt.

»Kapitän Hughes möchte, dass wir alle unsere eigenen schrei­ben«, sagte Thea. Sie war groß und blond, blass und körperlich so präsent, dass sie fast wie der genaue Gegensatz zu Nbaro erschien. Sie beugte sich vor und legte einen Arm um ihre Freundin. »Das ist keine Bestrafung, du barbarisches Waisenkind. Das ist eine Belohnung.«

Nbaro gab einen Laut von sich, der wie ein Knurren klang. »Hauptsächlich mache ich mir einfach nur Sorgen, dass ich nie wieder nach Trade Point zurückgehen kann.«

»Das habe ich gehört, Schwester«, sagte Drake. »Jede halbe Stunde ist wie ein Stachel in meinen Träumen.«

Sie hatten zurückkehren müssen, denn sie brauchten alles von einer heißen Dusche bis zu frischen EVA-Anzügen und neuen Sauerstoffflaschen. In der Schlacht war die menschliche Seite der Trade-Point-Station fast völlig zerstört worden, und nun war sie kaum noch bewohnbar, und nur vier Räume mit Atmosphäre blieben übrig. Die Athen hatte bei ihrem ersten Kampf schwere Schäden erlitten und noch mehr in ihrem zweiten, außerdem hatte sie zwei Reaktoren und einige andere kritische Systeme verloren, während sie durch die Schlacht bei Trade Point getrieben wurde. Nbaro war davon überzeugt, dass nur ihre immense Größe sie vor katastrophalen Schäden bewahrt hatte. Ein 30-Millimeter-Geschoss aus abgereichertem Uran von einem PTX-Kreuzer musste sich große Mühe geben, etwas Kritisches in einem zehn Kilometer langen Schiff zu finden. Und die neuen Aliens mit ihren Energiewaffen waren noch einmal etwas ganz anderes.

Viel zu oft hatte sie solche Momente, wenn irgendein müßiger Gedanke eine fast greifbare Erinnerung an die Schlacht – eine der Schlachten – auslöste und sie sich mit leerem Blick in einem Korridor stehend wiederfand.

Wie auch jetzt. Nur dass sie auf das Bild des Weltraums vor dem Bug starrte, wie es vom Monitor in ihrer Kabine gezeigt wurde. Es war eine Liveübertragung der Reparaturarbeiten an der Station, vierzigtausend Kilometer entfernt. Da es im dreidimensionalen Raum kein »richtiges« Oben oder Unten gab, sah es aus ihrer Perspektive so aus, als würden die Reparaturteams und Schlitten rund um die Handelsstation kopfstehen. Die Hälfte der technischen Abteilung befand sich dort draußen, einschließlich ihrer Freundin Naisha Qaqqaq, die stellvertretende Leiterin der Reparaturen an der Station war, während der Rest der Technik an den Schäden der Athen arbeitete.

Sie waren da draußen und taten etwas …

»Wir müssen mit unserem Gold handeln«, fuhr Drake fort.

Nbaro lehnte sich gegen den Spind, der ihre sehr dürftige Garderobe enthielt, und brachte ein Lächeln zustande. »Ich glaube, wir können uns darauf verlassen, dass Dorcas den Handel für uns übernimmt«, sagte sie.

Drake bedachte sie mit diesem Blick: einer Mischung aus Frust und Entschlossenheit, die besagte, dass ihr Wille unbeugsam war. »Ich möchte an Ort und Stelle mit meinem Gold handeln«, sagte sie.

Nbaro richtete sich auf. »He, ich auch …«

»Ich möchte meinen Enkelkindern sagen, dass ich den Seester­nen Auge in Auge gegenüberstand und mit ihnen verhandelt habe …«

Nbaro, die mehr als die meisten Menschen über die Anatomie der Aliens wusste, die tief in einem Ammoniakozean lebten, musste unwillkürlich lachen.

»Na gut!«, blaffte Drake. »Auge in Tentakelrezeptor!«

»Wäre Dorcas hier, würde er bestimmt darauf beharren, dass sie als Rhinophoren bezeichnet werden, es sei denn, du meinst die Cer…« Sie schaffte es nicht, das Wort Cerata vollständig auszusprechen, bevor sie beide loslachten. Nbaro hatte sich in Dorcas verliebt, beziehungsweise sie glaubte, ihr von Begehren erfüllter beständiger Wunsch, ihn zu sehen, könnte Liebe sein, aber sie machte sich auch gern über ihn lustig, sowohl ihm selbst gegenüber als auch gemeinsam mit Thea Drake.

Als ihr Gelächter verklang, zwang sich Nbaro dazu, sich zu setzen, ihren Holoschirm aufzurufen und damit zu beginnen, ihre eigene Evaluierung einzugeben. Nach fünfzehn Minuten legte Thea einen Arm um Nbaros Schulter, beugte sich näher zu ihr heran, wie eine Geliebte, und sagte: »Du bist grottenschlecht, wenn es um Selbstlob geht. Geh und leg dich hin. Ich übernehme das.«

»Ist doch alles da«, sagte Nbaro, aber sie machte den einzigen winzigen Stuhl in der Kabine frei und stieg auf ihre Beschleunigungsliege.

»Klar«, sagte Drake. »Ganz besonders gefällt mir der Punkt ›Diente während des Konflikts um Trade Point, sicherte die Station vor feindlichen Enterern.‹ Sehr beeindruckend.« Drake schnaufte so heftig, dass sie sich die Nase abwischen musste.

Dann setzte sie sich und sprach leise mit Morosini, der für jeden sowohl Sekretär als auch Übersetzer war, und ging dann ihre Aufzählung mit einem Lichtstift durch.

»Da«, sagte sie. »Das ist wahres Heldentum. Dein einziges Manko ist, dass du nicht gestorben bist. Wenn du tot wärst, würde man dich zur Dogin machen.«

Marca sprang von ihrer Koje herab und sah sich die Evaluierung auf Morosinis schimmerndem Holodisplay an. Die großgeschriebenen Worte UNVERZÜGLICHBEFÖRDERN stachen ihr ins Auge, dann weiter unten auf dem Bildschirm Unter direktem Feindbeschuss … »He! ›Nahm ein feindliches Alien unter direktem Feindbeschuss gefangen‹ stimmt überhaupt nicht. Ich habe es nach dem Feuergefecht gefangen genommen.«

Drake grinste. »Die Schlacht war doch noch im Gange, richtig? Die Schiffe haben sich weiter gegenseitig beschossen, nicht wahr?«

»Vielleicht viele tausend Kilometer entfernt …«, gab Nbaro zurück.

»Ausgezeichnet. Und was war ihr Ziel?«

»Thea, ich finde, du übertreibst die Sache …«

»Schätzchen, so werden wir zu Kapitänen. Bescheidenheit ist etwas für Zivilisten.« Thea Drake, Tochter aus einer Reihe von hundert Generationen patrizischer Offiziere, beugte sich vor und drückte den Senden-Knopf auf dem Holodisplay, bevor Nbaro sie daran hindern konnte.

Nbaro zwang sich, ruhig zu bleiben und zu lächeln. Bei den ­Nbaros gab es genauso viele Generationen von Offizieren wie bei den Drakes, aber ihre Eltern waren gestorben, als sie ein kleines Mädchen gewesen war, und hatten das skrupellose Selbstbewusstsein nicht weitergegeben, das wie die edelste Glasrüstung an Thea Drake zu haften schien.

Doch ihr war klar, dass die Frau recht hatte: Bescheidenheit führte nicht zu Beförderung.

»Hör zu, meine Liebe«, sagte Thea. »Ich bin mir sicher, dass man, als du Rost und ranzige Rattensuppe in deinem barbarischen Waisenhaus gefressen hast, euch allen geraten hat, bescheiden zu sein und den Kopf einzuziehen, aber das hier ist eine Evaluierung, die in Zukunft von jedem vorgesetzten Offizier gelesen wird, unter dem du dienst, und von jedem, der in einem deiner Prüfungsausschüsse sitzt.«

Nbaro nickte. »Truekner sagte, dass diejenigen unter uns, die bei Trade Point gekämpft haben, vermutlich für den Rest ihrer Karriere davon weitergetragen werden.«

Thea grinste. »Genau das meine ich. Du musst dafür sorgen, dass sie nie vergessen können, was du getan hast. Niemals.«

Nbaro zuckte mit den Schultern. »Es kommt mir seltsam vor, wie wir unsere Zeit verbringen, nachdem wir zu Helden geworden sind – indem wir darüber schreiben.«

Drake erwiderte ihr Schulterzucken mit übermäßiger Betonung. »Ganz gleich, was geschieht, diese ganze Dokumentation muss archiviert werden.«

Fünfzehn Minuten später wurde die endgültige Fassung, die von Truekner digital signiert und besiegelt worden war, in ihrer persönlichen Akte gespeichert. Vier von Drakes überschwänglichen Lobpreisungen waren unterstrichen und die Worte »bereit für die unverzügliche Beförderung« ein zweites Mal ganz unten hinzugefügt.

Angehängt war eine Notiz, in der es hieß: »Lt. Nbaro ist vom Raumflugdienst freigestellt.« Auf ihrem Tab hatte sie eine Nachricht von Qaqqaq, in der sie gebeten wurde, eine Sim über Schweißarbeitskontrolle zu überprüfen, sowie eine lange Liste mit Material, das sie mitbringen sollte. Typisch.

Marca reckte die Faust hoch und stieß einen Jubelschrei aus. Doch dann stellte sich heraus, dass ihr noch sieben Stunden blieben, bevor sie einen Flug nehmen sollte, um an den Trade-Point-Asteroiden anzudocken. Also lief sie zur Messe im Heck hinunter, um eine ganz schnelle Mahlzeit zu bestellen, dann nahm sie einen Kirschkuchen mit, den sie gegen eine Helmtasche voller Kekse eintauschen wollte, und als die Kekse sicher gelagert waren, flog sie ein Schiffsbeiboot in einer Sim-Mission. Danach überprüfte sie Qaqqaqs Sim über die Schweißarbeitskontrolle und machte ein Nicker­chen. Schlaf war fast genauso kostbar wie Essen. Nach dem Aufwachen ging sie zügig durchs Schiff und suchte alles auf Qaqqaqs Liste zusammen, hauptsächlich Ersatzteile für Sachen, von denen Nbaro ganz und gar nichts verstand.

Es war ihr dritter Flug auf dem Kommandodeck des Beiboots – laut Definition des Raumdienstes dem kleinsten Raumschiff, weil es über ein Triebwerk verfügte, mit dem sich zwischen den Sternen navigieren ließ. Letztlich bestanden die Beiboote fast nur aus Triebwerken, und sie benötigten lediglich eine Besatzung von drei Personen, im Notfall sogar nur eine, und nahezu alles war automatisiert. Ihre Fracht bestand aus sechzigtausend Litern Frischwasser, fünfzig Tonnen Kohlenstofffaserplatten und Säcken mit Faserbeton, eine Art nanobetriebenes Epoxid, das bei Weltraumkonstruktionen als Betonersatz diente. Nbaro befand sich »unter Anleitung« eines Kapitänleutnants aus Flugstaffel Eins, Fuju Han, einem großen dünnen und gut aussehenden Mann, der für seinen Rang absurd jungenhaft wirkte und ihr irgendwie bekannt vorkam. Vielleicht waren sie sich einmal in einem Kampfsportkurs irgendwo in der Dunkelheit begeg­net. Der einzige Makel war, dass Doros McDonald, ein rothaariger Leutnant aus Flugstaffel Eins, offenbar nicht für einen Platz an Bord des Beiboots ausgewählt worden war, was ein paar kalte Blicke ausgelöst hatte.

Doch Nbaro empfand dies als normal. Normal für ein Waisenkind.

Han bedachte sie mit einem feinen Lächeln. »Ich werde Bewertungen schreiben«, sagte er. »Übernehmen Sie.«

Das Beiboot wurde nicht aus den Railgun-Röhren gestartet. Stattdessen war es am oberen Schiffsrumpf angedockt, was eine völlig andersartige Startsequenz zur Folge hatte, eine neue Abdockprozedur und eine ganze Reihe möglicher Fehler, die sie vermeiden musste. Beim Start ging sie äußerst vorsichtig vor und dirigierte das Beiboot mit Mikroschubkraft aus den Klammern, bis sie sich ganz sicher war, dass es gegen keine Antennen stieß, wenn es vom Dock aufstieg.

Han blickte auf, lächelte, warf einen Blick auf die Bildschirme und wandte sich dann wieder dem zu, was auch immer er gerade auf seinem Tab machte.

Das interpretierte sie als Bestätigung, auch wenn sie eher schwach wirkte, und erlaubte der Sub-KI des Beiboots, mehr Energie für eine aggressivere Flugbahn freizusetzen. Innerhalb von Sekunden beschleunigten sie mit einem sanften g von der Athen weg und zielten auf den weiß leuchtenden Punkt, den das Helmvisier als Trade Point identifizierte. Aus Gewohnheit glich sie den gesamten Kurs erneut mit den Daten der Sub-KI ab, wies ihren Tab an, sie fünf Minuten vor dem Umkehrpunkt und dem Bremsschub zu warnen, und schob ihren Kommandosessel von den Instrumenten zurück.

Han blickte auf. »Sieht gut aus«, sagte er wie automatisch.

Sie lächelte und hoffte, ihn damit zum Reden zu bringen. Er wandte sich wieder seinem Tab zu.

Sie seufzte und griff nach ihrem. In ihrer Nähe waren die meisten Leute befangen, seit sie erstmals zu einer Berühmtheit an Bord geworden war, und danach wurde es nur noch schlimmer, und kein Nachhilfeunterricht von der sozial talentierten Thea könnte sie da retten. Dessen ungeachtet hatte sie weiterhin eine Menge Arbeit zu erledigen. Suleimani fehlte ihr, und Truekner hatte ihr Suleimanis Besatzung anvertraut: fünfzehn Raumflugtechniker und genauso viele Mechaniker und Datensystemtechniker. Das gesamte Personal der Schwadron war zwischen den Offizieren aufgeteilt worden, doch bis vor Kurzem war Nbaro noch zu unbe­deutend gewesen, und jetzt stellte sie fest, dass es keineswegs die größte Zeitverschwendung im Raumdienst war, endlose ­Bordkurse zu belegen.

Sie glaubte, die Stimme des Skippers zu hören, der ihr sagte, dass es nie eine Zeitverschwendung ist, sich um seine Leute zu kümmern, und dann zuckte sie bei ihrem eigenen Gedanken zusammen. Doch was sie mehr als alles andere wollte, war …

Es war …

Was in hundert Höllen will ich?

Sie starrte in den Weltraum. Alles, was sie während der neun höllischen Jahre im staatlichen Waisenhaus je gewollt hatte, war eine Karriere als Raumfahrerin. Jetzt hatte sie ihren Traum erfüllt, und es war zu ihrem täglichen Leben geworden. Es mangelte nicht an Aufregung und Erfüllung, und doch …

Und doch …

Ich habe mir so große Mühe gegeben, hierherzukommen, dachte sie. Wohin gehe ich jetzt?

Ein Teil der Zukunftspläne beinhaltete das Zusammensein mit Horatio Dorcas. Der sie heiraten wollte. Vielleicht.

Und ich will ihn definitiv. Aber was passiert dann? Babys? Ein Zuhause? Ein Leben in der Politik? Dorcas wird nicht mehr von Bord gehen, also …

Ein getrenntes Leben? Ich fünf Jahre lang auf einem Rundflug und er zu Hause …?

Und ich würde mir nur Kummer einhandeln, wie Thea mir zweifellos erklären würde. Wir sind noch mindestens zwei Jahre von zu Hause fort und mitten auf einer langen Reise. Warum mache ich mir jetzt solche Sorgen?

Weil wir drei Tage lang getrennt waren und ich befürchte, er könnte weitergezogen sein? Im Ernst?

Weil ich eine Idiotin bin.

Und sie bemühte sich nach Kräften, nicht an ihr Neuralgeflecht zu denken, von dem sie erst vor Kurzem erfahren hatte. Mit all den daraus resultierenden Zweifeln und der Paranoia ihrer Erziehung im Waisenhaus.

Morosini hat mir das Ding eingepflanzt, kurz nachdem ich an Bord kam, verdammt noch mal. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass man mir nie vertraut hat. Es bedeutet, dass man bereits wusste, dass ich eine Schwindlerin bin …

Mein Gott, wenn Morosini es die ganze Zeit wusste … was zum Teufel macht das dann aus mir?

Sie verlangsamte den rasenden Raumjet ihrer Gedanken, senkte den Blick auf ihren Tab und arbeitete an Raumkadett Patel und seinen schlechten Prüfungsergebnissen. Mustergültige Leistungsberichte, hervorragende Arbeit unter Druck, miserable Testresultate.

Ja, ich glaube, ich kenne dich. Okay, mach einen Gesprächstermin mit Patel.

»Wie war das Alien?«, fragte Han.

Sie blickte auf und machte »Hm?« oder etwas ähnlich Unverständliches. Dann brachte sie ein Lächeln zustande, ihre beste neue Reaktion, die fast natürlich wirkte. Sie wusste, dass sie seit der Raumschlacht ein wenig rückfällig geworden war. Nicht deinen Vorgesetzten anknurren, er ist ein Netter.

»Die Seesterne …«

Auch er rang sich zu einem Lächeln durch, was ihn allerdings noch jünger erscheinen ließ. »Ich meinte die anderen Aliens. Die Käfer.«

»Käfer?«, fragte sie nach. Sie hatte noch nicht gehört, dass sie Käfer genannt wurden.

»Hatte es … Augen?«, wollte Han wissen.

Sie dachte an ihren kurzen Blick durch das Helmvisier zurück. »Es hatte irgendwas«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. »Es spürte … irgendwas.«

»Ich habe gehört, dass wir es ausfragen werden«, sagte Han.

»Das übersteigt meine Gehaltsklasse, Sir.« Am Ende fügte sie noch ein Lächeln hinzu, eine sorgsam gewählte Reaktion, die zeigen sollte, dass ihr in diesem Fall bewusst war, wie sehr es die Gehaltsklasse von ihnen beiden überstieg. Eine weitere von Theas kleinen Taktiken.

»Ich hoffe, man wird sich an dem Ding revanchieren.« Er nickte ihr zu. »Ziemlich beeindruckend, Leutnant, muss ich sagen. Ich … habe mich gefreut, dass Sie mir auf diesem Flug zuge­teilt wurden.«

Sie nickte. »Ich bin davon überzeugt, dass jeder andere dasselbe getan hätte«, sagte sie, obwohl ihr bewusst war, wie banal und lahm diese Bemerkung klang.

»Auf keinen Fall.« Er runzelte die Stirn. »Ich stelle mir vor, dass ich den Marine vielleicht gerettet hätte, aber verdammt, den Käfer hätte ich einfach erschossen.« Er warf ihr einen Blick zu. »Mein bester Freund wurde in das Tiefe Schwarz geschickt …« Er hielt inne. »Sie wissen vom zweiten Beiboot?«

»Ich weiß, dass wir früher zwei hatten«, antwortete Nbaro vorsichtig. Über dieses Thema wurde auf dem ganzen Schiff spekuliert, was Han bekannt sein musste.

»Davies ist damit vor einer ganzen Weile losgeflogen, kurz nach Sahel.« Han verzog das Gesicht. »Ich dachte, er wäre nach ein oder zwei Wochen zurück. Jetzt mache ich mir Sorgen, dass die Bläschen ihn erwischt haben.« Er sah Nbaro an. »Eigentlich sollten wir nicht darüber sprechen.«

Nbaro hoffte, dass es ihr besser als Han gelang, ein Geheimnis zu bewahren. Sie murmelte etwas Diplomatisches und widmete sich wieder ihrem Tab.

»Was glauben Sie, was der Meister jetzt tun wird?«, fragte Han. Betont fügte er hinzu: »Alle sagen, er hätte ein offenes Ohr für Sie.«

Sie war sich nicht sicher, warum diese Bemerkung sie beunruhigte, da es gelegentlich tatsächlich so war. »Ich weiß es wirklich nicht, Sir.«

»Nennen Sie mich Fuju«, sagte Han.

Sie lächelte. »Nennen Sie mich Marca. Ich hatte nur eingeschränkten Zugang zum Meister. Es ist nicht mehr als Tratsch, wenn es heißt, ich wüsste, was vor sich geht.«

Han lächelte, als wäre ihm ein Geheimnis bekannt. »Klar«, sagte er. Aber sein Lächeln wirkte aufrichtig, und er ließ sie ihre Arbeit fortsetzen.

Etwa vierzig Minuten nach dem Abflug von Trade Point räusperte er sich. »Ich weiß, dass Sie eine exzellente Pilotin sind«, sagte er, »aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir das Andocken zu überlassen?«

»Sir?«, fragte sie.

»Das Dock ist ein Scherbenhaufen, man könnte gegen alle möglichen Sachen stoßen, und die automatischen Systeme haben noch nicht alles registriert.«

»Klar«, sagte sie.

»Sie sitzen auf dem Platz des Co-Piloten und schauen zu. Da ist ein Trick dabei.«

Es war definitiv ein Trick dabei: eine Kombination aus einer gut platzierten automatischen Kamera, die auf ein Andockziel ausgerichtet werden konnte, und dem Wissen, wie man diese Kame­ra in den Andockring dirigierte. So etwas hatte es auch in der Sim gegeben, aber Han nutzte nicht die Schulbuchlösung, worauf er in ihrer Anerkennung ein paar Stufen nach oben stieg. Statt zu »landen«, kam er rückwärts herein, ohne die Ausrichtung des Schiffes zu ­ändern, und nutzte lediglich den Bremsschub der Haupttriebwerke. Es war alles zugleich: raffiniert, elegant und simpel.

»Nett«, sagte sie und meinte es auch so. Sein Können als Pilot verjagte ihre schlechte Laune.

Han strahlte.

Leute mögen es, wenn man ihnen Komplimente macht. Denk daran, wenn du mit Patel sprichst.

Die Handelsstation hatte sich so sehr verändert, dass sie nicht einmal wusste, wo sich die Besatzungsquartiere befanden. Verändert war eigentlich unangemessen, völlig umgebaut kam der Sache schon näher, und es gab Montagekräne und Gerüste, die sich in drei Dimen­sionen um den Asteroiden erstreckten, der die Basis für die Station war. Jeder Raumfahrer mit Außenbordqualifikation, der nicht die Athen reparierte, war hier und arbeitete so schnell, wie es Sicherheit, Durchhaltevermögen und Materialverfügbarkeit erlaubten.

Nbaro blieb für länger. Also verließ sie das Beiboot mit ihrem Seesack und winkte dem hübschen Han zum Abschied, während sie mehrfache Pings von ihrem Tab hörte, der gerade ein Dutzend Nachrichten und Kommunikationsanfragen empfing. Sie wollte PERSÖNLICH von Dorcas öffnen, doch ARBEITSPLAN besagte, dass sie zu Fuß fünfzehn Minuten bis zur EVA brauchte, wo sie mit Qaqqaq an der strukturellen Integrität arbeiten sollte.

»Ma’am?«, sagte jemand.

Sie stand in der Luftschleuse und wurde von der Menge des Nachrichtenverkehrs erdrückt. Aber sie erkannte seine Stimme sofort: Marine Wilson Akunje.

Sie drehte sich um, ihre Helme berührten sich. »Mister Akunje«, sagte sie mit echter Freude.

»Webel meinte, dass Sie sich als Offizier verirren könnten. Hat mich geschickt, um Sie zu Ihrem Quartier zu bringen, Ma’am.« Er lächelte.

Sie grinste. »Webel hat mich abgestempelt. Wie geht es ihm?«

»Immer noch in der Muschelschale.« Dieser antike Begriff bezog sich auf einen Seemann, der in den Bau wanderte, aber die neuen medizinischen Versorgungssysteme sahen tatsächlich wie riesige Muscheln aus, weshalb die Bezeichnung migriert war. Wilson lächelte. »Aber die Muschelschale ist hier an Bord der ­Station, und er gibt Anweisungen, als hätte er keine anderen Sorgen.« Akunje drückte einen Knopf an einem Lift – einem brandneuen mattschwarzen Lift aus Kohlenstofffaser.

»Außerhalb ist alles luftleer«, sagte er. »Das spart Zeit.«

Der Lift kam zum Stehen, und die Doppeltür öffnete sich vor einer weiteren Luftschleuse. Diese war aktiv, und sobald sie gegen die Aufzugkabine versiegelt war, drängte sich Atemluft herein. ­Nbaros Helm zeigte Gelb an, dann Grün.

Akunje zwinkerte ihr zu. »Sie können Ihren Helm jetzt abnehmen, Ma’am«, sagte er.

»Aber Webel hat Sie alle in voller Ausrüstung und Bereitschaft, richtig?«

»Ja.« Akunjes Schulterzucken war durch seinen EVA-Anzug und die Kampfrüstung erkennbar.

Sie nickte. »Na ja, ich bin noch ein Neuling«, sagte sie und klappte ihr Visier auf. Die Luft war gut: kühl und frisch, ein Zeichen für saubere Filter und nagelneue Bauteile.

Es gab einen Teppichbelag auf dem »Boden« und künstliche Schwerkraft.

»Wow!«, sagte sie. »Es gefällt mir, was Sie aus dieser Station ­gemacht haben.« Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte es keinen Teppich und an vielen Stellen nicht einmal Wände gegeben. Die präzisen Railgun-Löcher in den Korridoren waren verschwunden, aber dieser Ort erinnerte sie dennoch an einen Moment des Schreckens. Genau hier hatte sie hilflos gestanden, während ein Alien-Raumschiff diese Stelle unter Beschuss genommen hatte. Durch reines Glück war sie am Leben geblieben.

Aber sie ging weiter. Auf eine seltsame Art half es ihr, das Gleichgewicht wiederzufinden. Schließlich war sie tatsächlich die Heldin des Kampfes um die Station … sie war wirklich eine erfolgreiche Offizierin gewesen. Ganz gleich, was Morosini über sie gedacht haben mochte, als sie an Bord kam, das alles stand für sie fest.

Nicht wahr? Truekner ist kein Spieler. Er würde niemandem etwas vormachen …

Sie stapften durch den Gang, kamen durch eine Gemeinschaftsmesse, wo ein Dutzend Raumfahrer und Offiziere außer Dienst aufblickten und einige, die sie kannten, winkten und sie herzlich begrüß­ten. Dann befanden sie sich in einem Besatzungskorridor, der auf einem Planeten in einem grotesken Winkel verlaufen würde, aber die künstliche Schwerkraft ermöglichte es, abzubiegen und die Wand »hinauf« weiterzulaufen, und zwar so mühelos, als würde man um eine Ecke gehen.

»B1601«, sagte Akunje. »Viel Vergnügen, Ma’am. Willkommen zurück.«

Sie grinste. »Es ist schön, zurück zu sein. Ich habe in zehn Minuten eine EVA.«

Er lachte. »Ja, wir sind unterbesetzt. Gelinde gesagt. Ich muss weiter. Ciao!«

Sie warf ihre Taschen in die winzige Kabine – kaum mehr als eine Koje und ein Spind, sie sah eher wie ein Zylinder aus, nicht wie ein Zimmer – und zog die Luke sofort wieder zu.

»Warten Sie!«, rief sie. »Ich soll mit Qaqqaq an der strukturellen Integrität arbeiten«, fügte sie hinzu.

»Ich kann Sie hinbringen.« Akunje konsultierte den Tab an seinem linken Handgelenk. »Hakuna matata.«

Sie folgte ihm zurück durch die Messe und zur selben Luftschleuse mit dem Lift, und im Gehen versiegelte sie wieder ihren Helm. Diesmal fuhren sie am Dock vorbei und hinauf zu den unfertigen Gerüsten über den Docks – das Gewirr der Streben und Kabel, denen Han bei der Landung ausgewichen war.

Hier waren mindestens zehn Raumfahrer beschäftigt, und ihr Tempo war unglaublich. Kohlenstofffaserplatten wurden so schnell montiert, dass sie das Wachstum eines Arms der Station beobachten konnte, als wäre es irgendeine irdische Pflanze in einem Zeitraffervideo.

Akunjes Stimme sprach in ihrem Helm, während er in den Lift zurückkehrte. »Bis bald, Ma’am!«

Beinahe gleichzeitig hörte Nbaro, wie Qaqqaq sagte: »Siehe da, die heldenhafte Eroberin kommt!« Die kleinste der Gestalten in den Anzügen ließ eine Strebe los, drehte sich herum und schwamm mit der Anmut eines Delfins oder einer Robbe auf sie zu. Qaqqaqs Landung war so perfekt, so ausbalanciert, dass die beiden schließlich Helm an Helm dastanden, fast in einer Umarmung.

Sie legten ihre Helme aneinander.

»Wenn ich jetzt vorschlagen würde, nach drinnen zu gehen …«, sagte Qaqqaq, nicht ganz im Scherz.

»Ja, Ma’am«, stimmte Nbaro ihr zu.

»Sie werden eine Weile bei der Schweißkontrolle sein«, sagte Qaqqaq, als wäre es Smalltalk. »Später werde ich Sie auf Bauarbeit testen. Stimmt es, dass Sie eine Weile bleiben?«

»Mindestens eine Woche«, sagte sie.

Qaqqaq hielt die Verbindung zu Nbaros Helm. »Ich weiß, dass Sie auch andere Sachen zu tun haben. Aber in jeder wachen Minute, die Sie erübrigen können, sind Sie eine schlichte Bauarbeiterin. Ich brauche jeden mit EVA-Qualifikation, den ich bekommen kann.«

»Sie lassen es so verlockend klingen«, sagte Nbaro, aber in Wirklichkeit war sie begeistert, »draußen« zu sein. Es packte sie immer wieder: die Realität des Universums um sie herum. Tage oder gar Wochen konnten vergehen, wenn sie sich im Schiff aufhielt und überhaupt nicht daran dachte …

… an die Unermesslichkeit. Hier draußen, weit entfernt von den zwei Sternen, auf einem Arm der Station, der von einem Asteroiden in die Leere hinausragte, konnte sie in jeder Richtung einen Blick in die Unendlichkeit werfen – hinauf, hinunter, überallhin. Sie erstreckte sich immer weiter, war überall unbegrenzt.

Hier im System von Trade Point erschien es seltsamer als anderswo. Der einsame Asteroid war offensichtlich zum Gleichgewichtspunkt zwischen zwei fernen Sternen gebracht worden, und die zwei Asteroidengürtel – oder eher Mondgürtel – um die Sterne verliefen in einer komplexen und ausbalancierten Kette von Umlauf­bahnen.

Es sah künstlich aus. Für das bloße Augen sah es sogar noch künst­licher aus als auf den verschiedenen Karten und 3-D-Darstellungen.

Und jenseits der hellen Punkte der zwei Sterne befand sich …

… der Weltraum. Die tiefschwarze Abwesenheit von Licht war wunderschön, genauso wie die enorme Helligkeit der unendlich vielen Lichtpunkte, die von all den Sternen erzeugt wurden. Die Mondgürtel verliehen der Szenerie Tiefe und dazu noch etwas Geheim­nisvolles, doch die Sterne gaben dem Ganzen Erhabenheit, und der Pferdekopfnebel an Nbaros Horizont in Rotationsrichtung flößte ihr Ehrfurcht ein.

»Sind Sie raumkrank?«, fragte Qaqqaq.

»Nein, Naisha«, antwortete Nbaro. »Ich bewundere das Univer­sum.«

»Gut«, sagte Qaqqaq. »Obwohl es funktionell ähnlich ist. Ich selbst bemühe mich, nicht hinaufzuschauen.«

»Wo auch immer hinauf sein mag«, witzelte Nbaro. »Bringen Sie mich zu meinen Schweißnähten.«

Was folgte, war ein kurzer Auffrischungskurs in Schweißarbeits­kontrolle. Da sich Nbaro das Video erst vor Kurzem angesehen hatte, fühlte es sich ein wenig herablassend an, aber sie hatte genug Erfahrung mit Außenbordeinsätzen, um zu wissen, dass es ein lebens­wichtiger Job war, und allzu oft klaffte ein Abgrund zwischen Videoanweisungen und der Realität vor Ort.

Die nächsten sechs Stunden verstrichen in einer verschwommenen Abfolge von Schweißnähten und QR-Codes. Jede Naht, die sie inspizierte, erhielt einen Code, der von ihrem Prüflaser in das Bauteil eingebrannt wurde. Darin waren Datum und Uhrzeit der Inspektion sowie ihr Name aufgelistet.

Sie ging ausgesprochen vorsichtig vor. Alle Schweißnähte waren in Ordnung, obwohl sie in großer Eile angefertigt worden waren. Diese Arbeiter waren Veteranen. Nbaro schwebte angeleint an einer sechsfachen Verzweigung vorbei, als ihr Tab läutete.

»Die Schicht ist zu Ende, Marca. Sie können jetzt hereinkommen.« Qaqqaq klang amüsiert.

Nbaro beendete ihre Inspektion der sechsten Schweißnaht, prägte ihren Stempel ein, tabbte das Resultat an den Stationsspeicher, hangelte sich zurück zum Sammelplatz, sprang dann zu einem Handgriff und weiter auf die Liftplattform und war stolz auf ihr hart erarbeitetes Geschick in Nullschwerkraft. Als sie damals an Bord der Athen gekommen war, war selbst ein Sprung durch einen Liftschacht gefährlich für sie gewesen.

Qaqqaq und zwei weitere Raumfahrer hielten den Lift zurück, bis sie ihn komplett ausfüllten. Zu viert drückten sie sich für die Fahrt nach unten aneinander.

»Luftschleuse«, sagte der Lift in ihren Helmen. Sie drängten sich in die Schleuse, die dann unter Druck gesetzt wurde. Nbaro sah erstaunt, dass die anderen ihre Visiere öffneten, sobald die Anzeige auf Gelb stand, und vermutete, dass Vertrautheit Geringschätzung hervorbrachte, selbst wenn es um Vakuum ging.

»Wann kommen wir zu den Geschütztürmen?«, fragte eine Raumfahrerin. Sie war jung, fast völlig kahlrasiert und etwa so klein wie Qaqqaq.

Der technische Offizier lächelte. »Rosta, unser Schutz ist die Athen. Wenn die Bläschen zurückkommen, werden wir sie nicht mit ein paar kleinen Railguns abwehren.«

Der männliche Raumfahrer machte eine säuerliche Miene. »Verstanden, Ma’am, aber mit Bewaffnung würde ich mich besser fühlen.«

»Noch neun Tage in diesem Tempo, und wir können ein Railgun-Geschütz montieren«, sagte Qaqqaq. Aber es klang ein wenig zweifelnd. Als wüsste sie etwas.

Als die zwei Raumfahrer zu ihren Quartieren weitergingen, sah Nbaro Qaqqaq an. »Also bleiben wir hier noch mindestens neun Tage?«

Qaqqaq zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, Sie würden mir das sagen. Ich stinke. Für eine verdammte Dusche könnte ich morden.«

Nbaro wusste, dass die Station Probleme mit den Wasservorräten hatte. Ein Teil der Fracht des Beiboots waren sechzigtausend Liter Frischwasser gewesen. »Ultraschall?«

»Klar, Schätzchen, aber damit fühle ich mich nie ganz sauber.« Qaqqaq blieb an einer Luke stehen. »So bin ich eben.«

»Schön, wieder hier zu sein.«

»Schön, Sie hier zu haben. Gönnen Sie sich ein bisschen Schlaf.« Die Bemerkung klang etwas spitz, und die erdgeborene Frau schmun­zelte, als sie zum Abschied winkte.

Nbaro verstand nicht ganz, worauf das alles hindeuten sollte. Aber sie winkte zurück und stapfte durch den Korridor, durch die Messe und dann zu ihrem eigenen winzigen Zylinder, in dem gerade genug Platz war, um ihre Rüstung und ihren grandiosen High-Tech-EVA-Anzug abzulegen. Er war streng genommen Eigentum des Spezialdienstes und gleichzeitig war er ein Beweisstück im Spinnennetz, das sie um die Verschwörung webten, die das Schiff übernehmen oder vernichten wollte. Nbaro war ehrlich genug zu sich selbst, um sich einzugestehen, dass sie nie beabsichtigt hatte, ihn zurückzugeben.

Sie liebte ihren EVA-Anzug und die Rüstung so sehr, dass sie fünfzehn Minuten damit zubrachte, sie zu reinigen. Der Anzug hatte eine sich selbst erneuernde Innenfläche, die sich angeblich automatisch säuberte, aber ihr war aufgefallen, dass sie in Bereichen hoher Transpiration etwas Unterstützung benötigte. Und die Xenoglasrüstung war praktisch unzerstörbar, aber sie polierte sie gern, bis sie glänzte.

Sie saß auf ihrer winzigen Koje, putzte ihre Handschuhe und dachte an etwas zu essen, als ihr Tab und gleichzeitig ihre Luke läuteten.

»Nbaro, verstecken Sie sich da?«, hörte sie eine Stimme.

Es war Dorcas.

Nbaro war nackt, Dorcas war ihr Verlobter, und er war auch ihr vorgesetzter Offizier im Außenteam für diplomatische Interaktionen mit den Seesternen: All das ging ihr in einer Viertelsekunde durch den Kopf, und sie errötete heftig und drückte gleichzeitig eine Handfläche fest gegen die Luke.

»Ich komme in fünf Minuten raus«, sagte sie.

»Ich werde in der Messe sein«, sagte Dorcas. Eine seiner besten Eigenschaften war seine allgemeine Direktheit; so ärgerte er sich nie über Kleinigkeiten. Es machte ihm nichts aus, wenn er warten musste; in dem Fall würde er sich einfach irgendein esoterisches Journal herunterladen.

Sie stieg in einen Fluganzug und zog den Reißverschluss zu, nahm ihre weichen Stiefel und streifte sie über, strich sich mit den Fingern durchs Haar und öffnete die Luke. Er wartete dort nicht gegen die Wand gelehnt auf sie. Wie er gesagt hatte, saß er in der Messe und hatte mit seinem Tab ein Holoprojekt aufgerufen.

»Was lesen Sie da?«, fragte sie.

»›Erhitzung lässt Elektronen in gedrehtem zweilagigem Graphen erstarren‹«, antwortete Dorcas.

»Graphen?«, fragte sie nach, obwohl sie wusste, dass sie nicht alles verstehen musste, was er las.

»Graphen ist eine einzige Schicht aus Kohlenstoffatomen, die in einem hexagonalen Gitter angeordnet sind.« Er lächelte.

»Tatsächlich? Gibt es so etwas wirklich?«

»Ihre Bauplatten aus Kohlenstofffaser bestehen aus Graphenschichten mit Elektronenbindungen, die …«

Sie beugte sich über den Tisch und küsste ihn.

Für einen Moment hielt er inne. »Ich glaube, damit wollen Sie mir sagen, dass wir nun genug über Graphen gesprochen haben.«

»Für den Augenblick«, räumte sie ein. »Obwohl es interessant klingt … Verdammt noch mal! Ich habe Sie seit Tagen nicht gesehen.«

Dorcas lächelte. »Wie Sie sehen, habe ich mich nicht verändert. Genauso wie Sie.«

»Wie geht es den Seesternen?«, fragte sie.

Er verzog das Gesicht und strich mit der Zunge über die Innenseite seiner Wange, die dadurch nach außen gedrückt wurde. Das hatte sie bei ihm schon gelegentlich gesehen, und sie wusste immer noch nicht genau, was es zu bedeuten hatte.

»Wie geht es den Seesternen?«, fragte er zurück. »Wenn ich das nur wüsste. Ich kann lediglich Sachen übersetzen, die ich bereits grundsätzlich verstehe. Dann suchen wir in einer dreidimen­sio­nalen logischen Tabelle nach der chemischen Antwort, arbeiten sie einen Tag lang aus, scheitern, sind erfolgreich, arbeiten dann an der nächsten Komponente, bis wir am Ende zu ›es ist kalt‹ gelangen.«

»Aber es steckt so viel Bedeutung in ›es ist kalt‹«, sagte sie.

»Wenn ›es ist kalt‹ die ganze Bedeutung wäre, die wir verstehen. Das war bloß ein Beispiel … Sie sind so sachlich.«

»Ist das von Ihnen?«, fragte sie.

Sein Lächeln schien voller Selbsterkenntnis zu sein. »Eine der großen Patrizierfamilien fürchtete diesen Kontakt so sehr, dass sie bereit war, ihn durch Piraterie und Mordanschläge zu verhindern, und was geschieht? Wir lernen gar nichts.«

Sie hatte ihn noch nie verbittert erlebt. Das war nicht sein Ansatz.

»Sie hatten sofortigen Erfolg erwartet?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern.

»Wow, ich bin nicht die Einzige, die denkt, sie sei eine Idiotin«, sagte sie.

Er blickte auf, lehnte sich zurück und betrachtete sie. Er nickte, als wäre er zu einer Entscheidung gelangt. »Es ist gut, Sie wieder hier zu haben.«

Sie brachte ein »Ich habe Sie vermisst« heraus, und er grinste sein natürliches rundum zufriedenes Grinsen.

Leute mögen es, wenn man ihnen Komplimente macht und sie vermisst. Kapiert.

Als hätten sie gemeinsam vereinbart, dass damit die erste Runde beendet war, erhoben sie sich und gingen zur Essensausgabe. Alles war für eine Mahlzeit im freien Fall in Blasen verpackt: Curry mit Reis, Orzo-Nudeln mit Hackfleisch, ein scharfes Gericht mit Aubergine für Vegetarier. Marca nahm sich von jedem eine Blase und eine Extraportion Reis, und gab entzückte Laute von sich, als sie auf dem Curry kaute.

»Es ist der beste Beweis für die schlechte Qualität des Essens in Ihrem Waisenhaus, wenn Sie unsere Null-g-Kost mit solchem ­Genuss aufsaugen«, sagte er.

Sie zuckte mit den Schultern, weil sie einen vollen Mund hatte.

Naisha Qaqqaq tauchte auf, das Haar in ein Handtuch gewickelt, schnappte sich ein paar Essensblasen und setzte sich zu ihnen, dann kamen noch einige ihrer Schiffskameraden von ihrem letzten Ausflug zur Station hinzu. Nbaro öffnete ihre Helmtasche und verteilte die Kekse, was alle begeisterte.

Nbaro suchte immer wieder Dorcas’ Blick, worauf beide sogleich wieder wegschauten, bis sich Qaqqaq schließlich vorbeugte und murmelte: »Nehmt euch ein Zimmer.«

Nbaro zog in vorgetäuschter Überraschung einen Schmollmund. Und bemühte sich, Dorcas nicht mehr anzuschauen. Und sie gab den Ton für die nächsten Tage an, weil die beiden die Regeln befolgten, und die Regeln besagten, dass sie nicht zusammenkommen konnten, solange er ihr vorgesetzter Offizier war. Qaqqaq hielt sie für verrückt und sagte es auch. Aber Nbaro senkte den Kopf und arbeitete, weil das die Methode war, wie sie mit den meisten Pro­blemen umging. Und weil ihre Erfahrungen im Waisenhaus sie …

… zögerlich gemacht hatten.

2

Es war bemerkenswert und auch ein wenig traurig, wie schnell sich ihre Pflichtbesuche durch die Luft-Ammoniak-Schleuse in die Stationshälfte der Seesterne von aufregenden Kontakten mit Aliens in stumpfsinnige Routine verwandelt hatten. Die Station war seit der Schlacht umfangreich wiederaufgebaut worden, mit Trennwänden aus Xenoglas und einem riesigen Tank, der es den Menschen ermöglichte, das Ammoniak schneller aus der Schleuse abzulassen, um sie dann erneut aufzufüllen. Das Resultat bestand darin, dass sich Nbaro ein wenig vorkam, als befände sie sich in einem Aquarium, mit dem Ammoniaktank hinter ihr, sodass alle vier Wände des Beobachtungsdecks aus Xenoglas bestanden und es immer kalt war. Das machte ihr nichts aus.

Dann saß sie da und beobachtete die Monitore und ein kleines Werkzeug, das dazu gedacht war, für Fischer auf Sahel Vibrationen im Wasser zu messen. Sie hatte es an die Trennwand aus Xenoglas geklebt, die die Hochdruckatmosphäre aus flüssigem Ammoniak mühelos zurückhielt, in der die Seesterne lebten, und es gab ihr ein paar Sekunden Vorwarnung, wenn ein Seestern zu Besuch kam. Für diese Innovation hatte sie den Applaus des restlichen Sprachteams bekommen, aber letztlich diente es nur dazu, die Wirkung einer Begegnung zu entschärfen. Das kleine Werkzeug blinkte mit der winzigen roten LED, und wenn sie aufschaute, wurde im Ammoniak eine Art Sediment aufgewirbelt, das in der schwachen Beleuchtung sichtbar wurde, und dann tauchten die Seesterne wie Monstren auf – normalerweise nur einer, aber manchmal auch zwei. Sie waren tatsächlich sternförmig, wie zwei terranische Seesterne, die in der Mitte miteinander verbunden waren, Rücken an Rücken, mit fünf radialen Armen an jeder Hälfte. Die Arme waren von kurzen Tentakeln überzogen, die Dorcas als »Cerata« bezeichnet, die vom übrigen Team aber verschiedene andere Namen bekommen hatten. Sie wedelten und wogten auf sehr unsäugetierhafte Weise, die bei den meisten Beobachtern ein mulmiges Gefühl auslöste, und die zehn Arme konnten sich miteinander verknoten, sodass zwei oder drei von ihnen … sehr furchteinflößend aussahen. Einer der Seesterne besaß Cerata, die viel feiner waren, fast federartig, und sie hatten ihm den Namen Federtänzer gegeben. Dorcas glaubte, er könnte der Älteste von allen sein, aber sie hatten keinen Beweis, der dafür oder dagegen sprach. Dieses Exemplar schien niemals allein zu sein.

Dessen ungeachtet wartete sie auf jeder Wache, dass sich ein Seestern zeigte, und wenn das geschah, löste sie vorprogrammierte Grußroutinen in ihrem Seesternroboter aus, worauf die Begrüßung erwidert wurde. Dann bewirkten die Seesterne, dass sich einer ihrer Robotschlitten mit einer Fracht in ihre Handelsschleuse bewegte. Auf Anraten eines Frachtoffiziers, für gewöhnlich war das Don Jha von der Großfracht, legte Nbaro anschließend Goldbarren in die Handelsschleuse der DMK. Beide Luftschleusen verfügten über transparente Luken aus Xenoglas, sodass alle Parteien den Austausch beobachten konnten. Der DMK-Vertreter stapelte die Goldbarren – manchmal auch Reinaluminium oder Stahl oder Kupfer, aber hauptsächlich Gold –, bis ein fairer Gegenwert erreicht war, worauf die Schleusentür mit einem gewissen Maß an Förmlichkeit geschlossen wurde. Dann öffnete der Vertreter der Seesterne entweder ihre Seite und nahm das Metall entgegen oder entfernte ein paar Xenoglasplatten.

Das Erstaunlichste war vielleicht, dass die exakte Menge, die gehandelt wurde, von Tag zu Tag zu variieren schien, manchmal sogar von einem Austausch zum nächsten, als würde der Wert des Glases schwanken. Nbaro wollte mit Thea darüber sprechen, was das über die Wirtschaft der Seesterne aussagen mochte, aber sie arbeitete zu viel. Zwei Vier-Stunden-Schichten an den Handelsschleusen und dann mindestens eine Vier-Stunden-Schicht in einem Arbeitsteam, das die Trade-Point-Station wiederaufbaute. Ganze Tage vergingen, an denen sie Dorcas nur für einen kurzen Moment sah. Sie schienen nie eine gemeinsame Wache zu haben, was ihrer Vermutung nach beabsichtigt war.

Sie ließ alle durchführbaren Sprachtests laufen. Dorcas schickte ihr Wortlisten mit zugeordneten chemischen Verbindungen als Modifikatoren. Der große Durchbruch in den letzten vier Wochen war die Erkenntnis gewesen, dass die Seesterne sowohl mit chemischen Pheromonen als auch mit Lauten kommunizierten. Dorcas hatte im gesicherten Bereich der Station ein Labor, in dem er ständig tüftelte.

Die Struktur ähnelte keiner menschlichen Sprache, aber das überraschte sie nicht. Dorcas suchte nach Verben für Handlungen und fand ein Schlüsselwort für »sich bewegen/schwimmen«. Sie machten nur extrem langsame Fortschritte, weil die Seesterne eher selten reden wollten. Don Jha war der Erste, der Federtänzer dazu brachte, auf Dinge zu zeigen und sie zu benennen, und ließ sich die wichtigen Begriffe »du« und »ich« beschreiben, dann noch etwas, von dem sie hofften, dass es »hier« und »dort« hieß, aber es konnte genauso gut »Luftschleuse« und »Ammoniak« bedeuten.

»Wir werden fünfzig Jahre brauchen«, sagte Nbaro zu Jha.

Der Frachtoffizier lächelte. »Sie wissen, dass dies nicht mein Job ist, aber ich liebe es. Ich hätte nie erwartet, etwas zu tun, das … so viel Spaß macht. Es ist wie ein riesiges Puzzle.«

Nbaro freute sich, dass jemand Vergnügen daran hatte. Sie war zu ungeduldig, und allzu häufig schwammen die Seesterne wieder fort, sobald der Roboter ein kleines Stück über eine simple Begrüßung hinausging.

Aber sie legte ein Notizbuch an, in dem sie individuelle Merkmale katalogisierte, die sie erkennen konnte – Größe, Farbe und so weiter. Allerdings erwies es sich bald als unzuverlässig, als sie sah, wie ein größerer Seestern schrumpfte und die Farbe wechselte, während ein anderer eintraf.

Doch Jha gefiel die Idee – und er hatte selbst noch ein paar andere. Er bemerkte die fehlenden Cerata an dem Seestern, den sie Krummkerbe tauften, und ausgefranste Armenden bei einem anderen, als wäre er alt und verschlissen. Dieser wurde zu Großmutter. Nbaro glaubte, den Unterschied zwischen Jüngeren und Älteren erkennen zu können, und sie vermutete, dass von den Jüngeren erwartet wurde, dass sie in Anwesenheit von Älteren schrumpften – aber das waren bloß Mutmaßungen.

Jha arbeitete an Korrelationen zwischen den bezahlten Preisen und den jeweils anwesenden Seesternen. Damit war er nicht allzu erfolgreich, aber auch das war Teil des Spiels, und immer mehr Xenoglas wanderte durch die Barriere der Luftschleuse und in die Frachträume der Athen.

Bei ihren anderen Schichten lernte Nbaro ein wenig über Schweißen und auch darüber, wie man an den Stahlträgern mit verklebten Kohlenstofffaserplatten etwas zusammenbaute. Es freute sie, der Station beim Wachsen zuzuschauen, und am Abend des vierten Tages wurde eine große Feier abgehalten, als der neue Habitatbereich für die Besatzung geöffnet wurde, einschließlich einer riesigen Wasseraufbereitungsanlage und vierzig Duschräumen.

»Scheiße, das wird in einer Orgie enden«, sagte Qaqqaq, aber tatsächlich war es mehr eine Warmwasserschlacht, gefolgt von einer Mahlzeit.

Nbaros fünfter Tag begann gut, als Webel Drun aus seiner Muschelschale entlassen wurde und auf einen Automatikstuhl umzog. Er war zwar angeschlagen, aber sein Sinn für Humor schien immer noch vorhanden zu sein, und er zeigte Nbaro einen hochgereckten Daumen, als er vorbeirollte.

Sie gönnte sich eine Dusche, weil es endlich möglich war, dann ging sie zu ihrer Wache an den Handelsschleusen.

Dorcas war da.

»Hallo«, sagte er.

Sie lächelte. »Hi«, antwortete sie, während sie sich plötzlich etwas schüchtern fühlte.

Er nahm ihre Hände und küsste sie, und sie reagierte …

»Wir sollten es nicht in einem Glaskasten miteinander treiben«, sagte sie.

Dorcas war errötet und atmete schwer, und sie lachte, weil er sich normalerweise gut unter Kontrolle hatte. Sie beugte sich vor und beabsichtigte, ihn wenigstens noch einmal zu küssen, als Federtänzers komplexe Wedel das Sediment unter der Beleuchtung aufwirbelten und ihr bewusst wurde, dass ihr kleiner Bewegungsmelder blinkte.

»Verdammt«, sagte sie.

Dorcas lachte schnaufend und machte sich daran, den Seestern-Roboter auf der anderen Seite der Luke zu bedienen.

»Haben wir heute keinen Frachtoffizier?«, fragte sie.

Dorcas schüttelte den Kopf. »Heute handeln wir zu Gunsten unseres eigenen kleinen Kartells«, sagte er. »Ich habe es so arrangiert.«

»Natürlich haben Sie das.«

Horatio Dorcas verfügte nicht nur über ein Neuralgeflecht und eine unglaublich hohe Sicherheitsfreigabe, sondern entstammte obendrein einer der reichsten Patrizierfamilien im gesamten Direktorat Menschlicher Korporationen. Er hatte Zugriff auf eine Macht, die sich Nbaro nicht einmal vorstellen konnte. Auf diese Weise hatte er arrangiert, dass sie privaten Handel mit den Seesternen treiben konnten. Das war absolut legal, denn der DMK-Raumdienst war eine kommerzielle Organisation und keine Kriegsflotte, und jeder Raumfahrer durfte Handel treiben. Zumindest grundsätzlich.

»Das ist unser Gold?«, fragte sie, als sie den Antigravschlitten betrachtete, der mit mattgelben Barren beladen war.

»Und etwas Kupfer«, sagte er. »Und mit ein bisschen Hilfe von Thea habe ich auch noch ein paar Dutzend Kilo Bronze mit Phosphor und Silizium hinzugefügt, eine Legierung, von der ich vermute, dass sie sich in flüssigem Ammoniak als beständig erweist.«

»Schön«, sagte Nbaro. »Das hat bisher noch niemand ausprobiert?«

»Hier wird ein großes Geheimnis um den Handel gemacht«, sagte er. »Ich habe zu den meisten Unterlagen Zugang, und selbst ich weiß praktisch nichts darüber, was alles mit den Seesternen ausprobiert wurde.«

»Immerhin haben wir hier Federtänzer«, sagte sie.

»Falls er tatsächlich höhergestellt ist. Soweit ich weiß, glaubt man nämlich, dass er einer untergeordneten Spezies angehört und nicht zum Handel befugt ist. Ihnen wird sicherlich aufgefallen sein, dass er niemals allein ist.«

»Sie sind immer so optimistisch«, witzelte sie.

Federtänzer interagierte mit Dorcas’ Roboter, während ein größerer Seestern im Schatten auf ihrer Seite der Luft-Ammoniak-Schleuse zusah. Er war nur sichtbar, wenn gelegentlich ein Tentakel im Dunkel der großen Halle aufblitzte. Nbaro erinnerte sich plötzlich daran, wie sie zusammen mit Dorcas in diesem riesigen Bereich gewesen war und wie die endlose Finsternis jedes Licht geschluckt hatte.

Federtänzer trieb auf den Roboter zu, sie tauschten Begrüßungen aus, und dann probierte Dorcas seine neue Pheromon-Audio-Phrase aus.

Der Seestern antwortete. Nbaro sah die Spitze auf den Rezeptoren, als sie die chemischen Komponenten der Reaktion aufnahmen, und dann den Audio-Input, der als eine Reihe von grünen Wellen auf dem Monitor dargestellt wurde.

Es war eine Mischung aus Ammoniakparfümen und Walgesang. Dorcas strahlte zufrieden.

»Was bedeutet das?«, fragte sie. Der zweite Seestern hatte sich zu Federtänzer gesellt, und ihr Frachtroboter rollte in ihre Seite der Schleuse und entlud die Stapel aus Xenoglasplatten.

»Führen Sie und Jha immer noch ein Notizbuch?«, fragte Dorcas.

Sie nickte über die Schulter, während sie zusah, wie der Xenoglasstapel größer wurde.

»Könnten Sie bitte eine Beschreibung des zweiten Seesterns machen? Ich meine, wenn Sie das Gefühl haben …«

»Ich glaube, in diesem Augenblick ist mein einziges Gefühl Habgier.« Nbaro riss sich vom Anblick des Xenoglases los.

»Hmmm«, machte Dorcas.

»Das sagt sich so leicht für Sie, reicher Junge«, gab sie zurück.

»Hmmm?« Dorcas sah sich immer noch die Messwerte auf dem Monitor an, die vom Sprachbot kamen, den sie auf der anderen Seite platziert hatten. »Ich glaube, ich habe ›sich bewegen/schwimmen‹ isoliert«, sagte er atemlos vor Aufregung.

Er hat kein einziges Wort gehört. Gut.

Nbaro hatte das noch nie zuvor gemacht, ohne von jemandem angeleitet zu werden. Aber sie hatte ihre eigenen Vorstellungen, und sie beobachtete den Robotgabelstapler der Aliens, der so auffallend wie eine etwas rundlichere und glanzlose Version des menschlichen Modells aussah, als er einen Stapel von Platten manövrierte und sie auf dem Deck der Handelsschleuse abstellte. Eine Präzisionswaage, die schon vor Jahrhunderten eingebaut worden war, maß das ­Gewicht der Platten. Ihr Tab subtrahierte das leichtere Material, das die Seesterne dazwischen legten.

Ein großes Paket: etwa hundertsechzig Kilo. Das war keinesfalls das höchste Angebot, aber während ihrer fünf Tage des Handels bislang die größte Menge.

Sie sah sich die Angebote des Vortages an, die angenommenen wie auch die abgelehnten, und unterbot bewusst das niedrigste akzeptierte Angebot, nahm neun Goldbarren, legte vier Kupferbarren dazu und obendrein einen der Phosphorbronzebarren.

»Das ist nicht genug«, sagte Dorcas. »Fügen Sie noch mindestens einen Goldbarren hinzu. Was ist, wenn sie sich beleidigt fühlen?«

Sie sah ihn an. »Können Sie sich beleidigt fühlen? Ist das nicht etwas Menschliches?«

»Wohl wahr, meine junge Entrepreneurin. Sind Sie bereit, es zu riskieren?«

Sie fügte einen ihrer hart erarbeiteten Goldbarren hinzu und verließ die Handelsschleuse.

Nun pressten sich die Seesterne gegen die Glaswand. Sie drückten ihre Saugnäpfe und Cerata auf eine fast obszöne Weise an die Scheibe. Aber so hatte Nbaro einen guten Blick auf die Armenden des größeren Seesterns, die jung und glatt wirkten. Und seine Cerata wirkten unbeschädigt, wobei er an einem Arm eine bemerkenswerte doppelte Cerata hatte – zwei Arme an einem Rumpf.

So notierte es sich, machte ein Foto und nannte ihn Doppler.

Während Nbaro mit ihren Beobachtungen beschäftigt war, öffneten die Seesterne die Handelsschleuse, ohne ihre eigene freizugeben.

Nbaro sah Dorcas an.

»Das passiert«, sagte er. »Ich vermute, sie wollen sich die Bronze genauer anschauen.«

Tatsächlich schwamm Doppler in die Handelsschleuse, hob den Bronzebarren mit einem Greiforgan auf und schwamm mit eigenartigen Wellenbewegungen davon, wie sie nur ein Geschöpf mit fünf Seiten zuwege bringen konnte.

Plötzlich kam es zu einem Ausbruch von hörbarem Walgesang.

Dorcas beugte sich tief über den Monitor des Sprachbots. »Feder­tänzer kommuniziert mit dem Roboter.«

»Es ist, als hätten sie jetzt erst erkannt, dass wir sprechen können«, sagte sie. »Nach einer ganzen Woche!«

Dorcas nickte, ganz und gar auf den Monitor konzentriert. Er sendete etwas, und sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sein Neuralgeflecht als direktes Interface benutzte.

Doch nach einer langen Minute blickte er auf. »Stellen Sie sich vor, jedes Mal, wenn Sie zu einer tauben Freundin sprechen, würde direkt neben ihrem Kopf ein Licht angehen. Wie lange würden Sie brauchen, um zu verstehen, dass sie versucht, das Licht zur Kommunikation zu benutzen?«

»Etwa dreißig Sekunden«, sagte Nbaro.

Dorcas seufzte. »Das ist eine Hypothese«, räumte er ein. »Nach zwei Minuten und vierzig Sekunden kommuniziert er immer noch. Bei den Göttern, hier kommen so viele Chemikalien herein, dass ich nicht einmal die Reihenfolge nachvollziehen kann. Das ist die längste Übertragung, die jemals aufgezeichnet wurde, nach Hunderten von Jahren.«

»Oder seit fünf Tagen, je nachdem, wie man es betrachtet«, sagte sie. »Wohin ist der eine mit unserer Bronze gegangen? Hm?«

»Wahrscheinlich in ein Labor«, sagte Dorcas.

»Richtig.«

»Drei Minuten zwanzig und immer noch Gesang«, stellte ­Dorcas fest.

»Zweifellos beklagt er sich über die Temperatur«, sagte Nbaro.

Dorcas sah sie an. »Was?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Eigentlich habe ich nur dummes Zeug geredet.« Sie zeigte auf den trüben flüssigen Ammoniak. »Aber Federtänzer ist ganz aus dem Häuschen. Schauen Sie mal, wie sich seine Wedel bewegen. Diese dreidimensionale Körperhaltung ist doch bestimmt auch ein Teil ihrer Sprache.«

»Scheiße.« Dorcas fluchte selten, und wenn er es tat, war es eindrücklich. »Scheiße«, wiederholte er. »Ich habe nicht daran gedacht, dass der Lautsprecher näher bei uns ist, wenn wir den Roboter hier platzieren. Wir müssen eine Kamera darauf richten.«

Nbaro hatte zwar ein eigenes Neuralgeflecht, aber sie wusste nicht, wie man es benutzte. Allerdings hatte sie einen Freund …

Sie griff auf Morosini zu. Die nahezu allmächtige Schiffs-KI hatte einen Ableger von sich in die Station geschickt.

»Sie haben gerufen?«

»Können Sie eine Kamera auf den Seestern richten? Ohne dass es allzu offensichtlich wird?«

Morosini gluckste. »Ja.«

»Geben Sie mir den Feed?«