Artistic Research - Anke Haarmann - E-Book

Artistic Research E-Book

Anke Haarmann

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Beschreibung

»Artistic Research« ist in aller Munde - ein Modewort der Gegenwartsdebatte, das Vereinnahmungen ebenso provoziert wie Zurückweisungen. Doch was meinen wir, wenn wir von der Kunst als Forscherin sprechen? Kann Kunst als eine Einsichten generierende, reflexive Praxis angesehen werden, die sich in ästhetischen Artikulationen formuliert? Welche Einsicht über welche Welt könnte sie bereitstellen? Eine umfassende epistemologische Ästhetik, die sich dem künstlerischen Forschen als Methode und Praxis annimmt, gibt es bisher nicht. In diesem Grundlagenwerk stellt sich Anke Haarmann den Fragen nach den originären Methoden, historischen Vorläufern, spezifischen Artikulationsformen und konkreten Handlungsweisen künstlerischen Forschens.

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für Harald

Anke Haarmann, promovierte Philosophin und Konzeptkünstlerin, ist Professorin für Designtheorie und Designforschung im Department Design der HAW Hamburg, wo sie auch das »Zentrum für Designforschung« gegründet hat und leitet. Sie arbeitet zur künstlerischen Forschung, epistemologischen Ästhetik und visuellen Kultur.

ANKE HARRMANN

Artistic Research

Eine epistemologische Ästhetik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Korrektorat: Lara Myller, Bielefeld

Print-ISBN 978-3-8376-4636-8

PDF-ISBN 978-3-8394-4636-2

EPUB-ISBN 978-3-7328-4636-8

https://doi.org/10.14361/9783839446362

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Vorab

Einleitung

Praxologie der Erkenntnis: Über forschendes Kunsten als tätiges Einsehen

Was ist künstlerisches Forschen?

Visuelle Forschung

Epistemische Begriffe im Feld der Kunst

Methoden visueller Praxis

Die Rolle der Praxis in der Theorie von der Kunst und der Forschung

Praktische Wende – doing art

Atelierbesuche oder die Tätigkeit beim Einsehen

Von Kunst als geistig produzierter Tätigkeit

Werkssein als Praxis

Die tätige Kunst des Ausstellens

Heitere Einsichten

Verzweigte Genealogie: Vorgeschichten ästhetischen Forschens

Zur Herkunft der Kunst als Forschung

Politisierung: Von der Anschauung zur Einmischung

Was ist politische Kunst

Wider die herrschenden Behauptungen

Politik der Wahrheit

Künstlerische Eingriffe in den Theoriebetrieb

Eine Frage des Ortes: Von alternativen Kunsträumen zu Wissensforen

Institutionalisierung: Von schönen Akademien zu ermittelnden Einrichtungen

Politik macht Forschung

Über das principio della scienza dell’arte

Disziplinierungsängste und der Warenwert ästhetischen Wissens

Konzeptualisierung: Aus Zweifel wird Forschung

Kunst nach dem Ende der Kunst

Kunst am Anfang der Forschung

Der Kampf um Deutungshoheit

Manche Kunst beginnt zu forschen – worüber?

Ästhetisierung: Im Zeitalter des massenmedialen Dispositivs

Wunderwelten

Kunst im Zeitalter der visuellen Kultur

Ikonische Forschungsprogramme im Zeitalter der visuellen Kultur

Wie bedeutet visuelle Forschung?

Ikontik: Zu einer Bedeutungstheorie künstlerischer Artikulation

Bedeuten ikonische Artefakte?

Versuch einer ikonischen Semantik

Symbolkunde – wie entsteht Bedeutung?

Vom Konkreten zum Abstrakten

Das Deuten aus Eingeweiden oder vom Zeichencharakter der Physis

Ästhetische Symptomatik – mit Scharfsinn auf Spurensuche

Vom Lesen zum Mustern: das Aufspüren als Erkennungsprozess

Ikonische Zeichen im öffentlichen Raum

Nierenformen – oder die Konventionen ästhetischen Verstehens

Annäherung an eine ästhetische Syntaktik

Wie werden Sinngebilde?

Die Logik der Auslegeordnung oder eine enzyklopädische Visualität

Rahmen und Abweichungen – vom Anfang und Ende der Syntaktik

Glückliche Ästhetiker – oder das Machen ästhetischer Symbolwelten

Kritische Epistemologie: Im Kontext der Kulturgeschichte des Forschens

Oh wie schön

Relativität

Der andere Blick – künstlerische Wissenschaftsforschung

Regeln im Zeitalter des anything goes

Produktivität

Entdeckung des Forschens als Praxis des Wissens

Vom Detail der Daten und dem Ganzen der Gemälde

Das Theater der Forschung

Zum Schluss: Eine nachdenkliche Methodologie

Der ästhetische Weg des Wissens

Den Methoden nachdenken

Ästhetisches Folgern – eine epistemische Imagination

Epistemische Exempel: Eine offene Sammlung von Fällen

Zeichnen – Denklinien bilden

Montieren – Zusammenhänge herstellen

Reihen und Serien – Ansichten drehen und wenden

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Wenn eine neue Theorie oder Idee auftritt, dann befindet sie sich gewöhnlich in einem etwas traurigen Zustand, sie enthält Widersprüche, ihre Beziehung zu Tatsachen ist unbestimmt, überall gibt es Unklarheiten. Die Theorie ist voll von Mängeln.

(Paul Feyerabend zwischen 1970 und 1974)

Wer also etwas verworren denkt, stellt sich einiges dunkel vor.

(Alexander Gottlieb Baumgarten in der Metaphysik von 1779, den Erkenntnistyp des Ästhetischen typologisch vorbereitend)

Wir luden Künstler_innen ein, nicht über ihre Arbeiten zu sprechen, sondern über ihre Prozesse.

(Victoria Peréz Royo, José A. Sánchez, Cristina Blanco, die als Künstler_innen versuchen, etwas über die Methoden des künstlerischen Forschens herauszufinden 2013)

In einem gewissen Sinn wird Kunst genauso ›seriös‹ wie Wissenschaft oder Philosophie. Die ebenfalls kein Publikum haben.

(Joseph Kosuth)

Vorab

Bevor ich vor einiger Zeit begann, über das künstlerische Forschen nachzudenken, war meine ursprüngliche Absicht, den Einfluss der gegenwärtigen medialen Bilderwelten auf unser Selbst zu untersuchen. Wie bilden wir uns angesichts der umgebenden Bilder selbst – oder sollte ich ›bildern‹ schreiben? Schnell konnte ich bei diesem Unterfangen feststellen, dass künstlerische Arbeiten mitunter einsichtsvollere Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von Selbst und Bilderwelt anzubieten hatten, als die Bildphilosophie, die Medientheorie oder die Kulturwissenschaft – wenn auch auf ihre eigene, ästhetische Weise. Waren also die visuellen Künste ebenso gut geeignet, Fragen an die visuelle Kultur zu bearbeiten? Forscht die bildende Kunst an der pikturalen Umwelt unserer Gegenwart?

Mit dieser Beobachtung öffnete sich ein Feld an Problemen, dass zwar schon viel diskutiert war, aber wenig umfassende Antworten auf meine Fragen bereithielt. Brauchte es also eine epistemologische Ästhetik? Ohne es geplant zu haben, war ich in einem alten Interessengebiet gelandet: der kritischen Epistemologie. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Praxis, der Methode und der Herkunft des künstlerischen Forschens im Rahmen einer epistemologischen Ästhetik wurde unausweichlich und hat Jahre gebraucht.

Das Arbeiten an einer kritischen Epistemologie über die Kunst als Forscherin provoziert aber eine herausfordernde Frage: Benötigt die künstlerische Einsichtspraxis überhaupt ein epistemologisches Rahmenwerk außerhalb ihrer selbst, um sich als Forschung zu begreifen? Sollte ich – als Philosophin – besser aufhören über diese Angelegenheit zu schreiben, weil es Sache der Kunst wäre, ihre epistemische Qualität und Qualifikation zu bedenken und zu bearbeiten? Mir ging es in meinen theoretischen Überlegungen zunehmend darum zu zeigen, dass Kunst als Forschungspraxis, gerade aus ihren eigenen künstlerischen Artikulationsmethoden heraus Reflexionsformen entwickeln kann, die es ihr ermöglichen, ihre Inhalte zu kommunizieren und kritisch zu reflektieren. Die Kunst bedarf für ihre Reflexion und Kommunikation nicht der begrifflichen Philosophie. Aber – eine epistemologische Ästhetik schadet auch nicht, das Forschen mit den Mitteln der künstlerischen Praxis ideengeschichtlich einzuordnen und erkenntnistheoretisch zu verstehen. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Methodik kann forschende Kunst von einer Philosophie profitieren, die über die Grundlagen einer kritischen Epistemologie des Forschens nachdenkt. Aus der Perspektive einer solchen kritischen Epistemologie der künstlerischen Forschung – des ›Kunstens‹ als eines Forschens – habe ich also vor einiger Zeit begonnen, insbesondere für den Bereich der bildenden Künste über deren epistemische Praktiken nachzudenken und dieses Buch zu schreiben. Das Buch will dabei kein Beitrag zu einer umfassenden Theorie allen ästhetischen Forschens in allen Künsten sein. Es ist keine allgemeine epistemologische Ästhetik. Es ist nur ein Schritt in diese Richtung. Gerade die Debatten über die Kunst tendieren dazu, von Einzelfällen auf Generalthesen zu schließen oder grundverschiedene Künste zusammenzuwerfen. Um diesen Fehler zu vermeiden, geht es mir vornehmlich um bildproduzierende und szenische, also visuelle Künste. Allerdings werde ich auch – zu meiner ursprünglichen Fragestellung zurückkehrend – die These vertreten, dass angesichts der umfassenden visuellen Kultur, in der wir inzwischen leben, auch insbesondere die visuellen Künste geeignet sind, durch die Bildlichkeit, Objekthaftigkeit und Performativität ihrer Artikulationen, zum Verstehen dieser visuellen Kultur und unseres performativen Selbst forschend beizutragen.

Einleitung

Es hat sich in der Gemengelage der Gegenwart eine epistemische Falte gebildet, welche die Disziplin der Kunst als forschende Wissenschaft hervorbringen wird. Doch was meinen wir, wenn wir von der Kunst als Forscherin sprechen? Kann Kunst als Einsichten generierende, reflexive Praxis angesehen werden, die sich in ästhetischen Artikulationen formuliert? Diese erste Annäherung an eine Bestimmung bedeutet zunächst nichts weiter, als dass die Begriffe der Praxis, der Einsicht und der Artikulation mit Inhalt gefüllt werden müssen. Eine neue Disziplin ist in aller Munde – die künstlerische Forschung – aber welche Einsicht über welche Welt stellt sie wie bereit? Künstler haben auf gewisse Weise ›immer schon‹ geforscht, wie auch umgekehrt ihre Praktiken ›niemals‹ den Forschungsstandards entsprechen werden. So klingen die Allgemeinplätze, die immer wieder neu in den Debatten über die ›künstlerische Forschung‹ oder die ›Kunst als Wissenschaft‹ ausgetauscht werden. Die Rede über die Kombination von Kunst, Wissen und Forschung markiert ein umkämpftes Terrain, in dem es um Forschungshoheiten, Sprecherpositionen, die Zukunft der Wissenschaften und ihrer Methoden geht – und es geht auch um die Zukunft der Kunst. Auf diesem umkämpften Terrain wird mit generalisierenden Zurückweisungen und freundlichen Übernahmeangeboten gefochten. Denn wenn Wissen, Forschung und Erkenntnis verhandelt werden, geht es immer auch um Grundsätzliches: Es geht um das Verhältnis von Menschen zur Welt. Auch das künstlerische Forschen oder die Kunst als Wissensform berühren die Frage, wie und mit welchen Mitteln wir uns die Welt verständlich machen und auf welche Annahmen von Wahrheit wir unser Verstehen und Handeln gründen wollen. Die derzeitigen Debatten darüber, was legitimerweise Forschung genannt werden dürfe und welche Disziplinen anerkanntes Wissen generieren, sind Geschichtszeichen, die auf das erkenntnistheoretische und nicht zuletzt auch wissenschaftspolitische Problemfeld der Neuformation von Wissenschaft und Kunst verweisen. Denn wir haben es tatsächlich mit einer kulturgeschichtlichen Situation zu tun, die im Zuge einer Verdichtung verschiedener politischer, historischer, epistemologischer und kultureller Kräfte zur Durchsetzung der Kunst als Forschungsdisziplin beitragen wird. Bestimmte Formen künstlerischer Praxis kommen zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Forschungsverfahren eigens zu sich und tragen zum Wissenskanon bei, weil die konzeptuellen und politischen Tendenzen der Gegenwartskunst, die Hochschulpolitik des Bologna-Prozesses, aber auch die philosophische Wissenskritik sowie die Allgegenwart der visuellen Kultur zusammenspielen und das implizite ›immer schon‹ künstlerischen Forschens beginnt, eigene Parameter aus der Praxis der Kunst heraus zu setzen. Diese Eckpunkte eines angenommenen Dispositivs künstlerischer Forschung wären also Markierungen des Feldes sich gegenseitig verstärkender Kräfte, die zur Geburt einer Kunst als Forscherin führen. Es entwickeln sich bestimmte Künste zu forschenden, weil sie mit der politischen und konzeptuellen Kunst reflexiv und epistemisch geworden sind, weil die Hochschulpolitik ihnen einen Platz im Feld der Wissenschaften zuweist, weil die Methoden der Genese von Wissen sich diversifizieren und auch weil die dominant gewordene visuelle Kultur einer angemessenen ikonischen Auseinandersetzung bedarf und sich damit als ein vorzüglicher Gegenstandbereich für künstlerische Forschung anbietet. Hier kommt, wenn nicht ausschließlich, so doch besonders, die bildende und performative Kunst als Reflexionsgegenstand der epistemologischen Ästhetik ins Blickfeld. Entlang dieser Parameter aber – der reflexiv werdenden Kunstpraxis, der Kritik des Wissens und der medialen Kultur – kann die Praxis der Kunst als Forschung im Detail untersucht werden.

Zunächst fällt allerdings auf, dass vor allem die Hochschulpolitik zum Durchbruch des Begriffs der künstlerischen Forschung in Zentraleuropa geführt hat. Durch den so genannten Bologna-Prozess, dessen Ziel es war, über die europäischen Ländergrenzen hinweg eine Vereinheitlichung der Ausbildungssysteme zu erreichen, wird das Forschen in der Kunst aktuell. Denn seit den Beschlüssen von Bologna können oder sollen auch Kunsthochschulen zu Universitäten werden und daher hat man ›Artistic Research Institute‹ an Kunsthochschulen gegründet sowie Lehrpläne und Prüfungsverfahren für die Kunst als Forschung entwickelt. Denn als universitäre Einrichtungen sollen die Kunsthochschulen – wie alle anderen universitären Hochschulen auch – Forschung betreiben und zwar mit den ihn eigenen Disziplinen. Nur wie? Symptomatisch klingt hier das Bekenntnis von Henk Borgdorff, der seit dem Moment begann, sich theoretisch mit künstlerischer Forschung zu beschäftigen, wo er institutionell aufgefordert war, ein praxisbasiertes Doktoratsprogramm zu entwickeln. Borgdorff wurde aus dieser ›Not‹ heraus zu einem der wichtigsten mitteleuropäischen Theoretiker zum Thema der Forschung in den Künsten. Doch nicht nur die Forschungsinstitute oder Doktoratsprogramme an Kunsthochschulen animieren aus dem Bologna-Prozess heraus ein Nachdenken über das künstlerische Forschen. Schon die hochschulpolitische Anforderung, das Kunststudium zu modularisieren, provoziert eine Unterwanderung des alten Meisterklassenmodells in der Ausbildung. Die Tradition einer Fixierung zwischen Lehrerenden und Lernenden löst sich in eine ebenso flexible wie rationale Kursstruktur auf. In der Folge der Strukturveränderungen in der Hochschullandschaft hat mithin die künstlerische Forschung zumindest als Problemfeld und Diskurstopos Konjunktur und zugleich haben die neuen Forschungsansprüche an die künstlerische Praxis zu bemerkenswerten methodischen Zwängen und Vorgaben geführt. Methodische Korsetts wurden in eilig gestrickten Curricula entwickelt, derer sich jede andere traditionelle Forschungsdisziplin aus guten Gründen erwehren würde. In manchen Lehrplänen für die postgraduierte Schulung von Künstlerinnen und Künstlern wird etwa festgelegt, dass künstlerische Forschung nicht ohne schriftliche Textreflexion vonstatten gehen dürfe. Diese Festlegung erfolgt jedoch nicht aus der Logik des originär künstlerischen Forschens heraus, sondern nach Maßgabe anerkannter Methoden in den Geisteswissenschaften. Oder es wird gefordert, dass sich künstlerische Forschung in Teamarbeit organisieren und an Laborbedingungen orientieren solle. Diese Festlegung orientiert sich an den eingeführten wissenschaftlichen Verfahrensweisen in den Natur- und Sozialwissenschaften. Oder man ist sich sicher, dass alleine dasjenige als künstlerische Forschung akzeptiert werden dürfe, was in der intellektuellen Tradition der Kritischen Theorie sich bewege und in gesellschaftspolitischer Kritik der Forschungspraxis als solcher bestehe. Dies wären nur einige Tendenzen an den Instituten für künstlerische Forschung.

Entscheidend aber ist: Die institutionellen Zwänge, curricularen Arabesken und die hochschulpolitische Konjunktur des Begriffs der künstlerischen Forschung zeigen den erkenntnistheoretischen Klärungsbedarf. Um der methodischen Disziplinierung in der Folge der politischen Hochschulstrukturreform zu begegnen, braucht das künstlerische Forschen, braucht die Kunst, die sich als Werkzeug der Einsicht versteht, eine eigene Methodologie, Genealogie und Praxologie1, die sich auf die Geschichte, Heuristik und Praxis des spezifisch künstlerischen ›Erkennens und Argumentierens‹ konzentriert. Künstlerisches Wissen und Forschen bedürfen einer epistemologischen Ästhetik, die anknüpft an die wissenschaftskritischen Diskurse zur Geschichte des Wissens und Forschens. Die Anführungszeichen bei dem gesuchten künstlerischen ›Erkennen und Argumentieren‹ markieren dabei nur den derzeitigen Mangel an besseren, den Künsten und ihren Methoden entsprechenden Termini. Diese Begriffe sollten im Rahmen der epistemologischen Ästhetik gefunden werden. Eine umfassende, epistemologische Ästhetik, die sich insbesondere dem künstlerischen Forschen als Methode und Praxis annimmt, hat es bisher noch nicht gegeben. Das künstlerisch genannte Feld des Forschens ist einerseits noch vergleichsweise jung. Andererseits hat die Wissenschaftsforschung die Kunst historisch nicht als ihren Gegenstand anerkannt. Auch der philosophischen Ästhetik sind die Analyse der künstlerischen Praxis als einer epistemischen Praxis weitestgehend fremd, obwohl durchaus ein Erkenntnisgehalt der Werke anerkannt wird. Kunst wurde bisher in den seltensten Fällen in Hinblick auf ihre Praxis einerseits und gleichzeitig andererseits unter forschungstheoretischen Gesichtspunkten betrachtet. Doch die Lücke in der Betrachtung beginnt sich langsam zu schließen. Jüngere kunsttheoretische Veröffentlichungen umkreisen das Phänomen der künstlerischen Forschung in zahlreichen Anthologien schlaglichtartig. Der Sammelband zur Kunst des Forschens von Elke Bippus war im deutschsprachigen Raum einer der wichtigen Impulse zur ernsthaften Auseinandersetzung. Eine systematische Analyse leisten die Veröffentlichungen von Henk Borkdorff, in denen das Verhältnis von künstlerischer und anderer Forschung im Kontext einer Transformation der Wissenslandschaft diskutiert wird. Während Borkdorff allerdings – wie er selber schreibt – gerade erst beginnt die ideengeschichtliche Bedeutung der forschenden Kunst für die etablierten Wissenschaftsdisziplinen mit Referenz auf den »Streit der Fakultäten« im 18. Jahrhundert zu verdeutlichen, überlagern schon neue Ästhetiken diese notwendige Auseinandersetzung mit der künstlerischen Forschung. Dieter Mersch setzt gegen die Betrachtung des ästhetischen Forschens mancher Kunst ein ästhetisches Denken aller Kunst und weist auf diese Weise die Kunst als Praxis nach, aber auch das Forschen in der Kunst zurück, bevor die Kunst als Forscherin überhaupt umfassend untersucht wurde. Im Fall künstlerischen Forschens gibt es also nach wie vor ein methodisches wie terminologisches Desiderat. Es wird die Aufgabe der epistemologischen Ästhetik sein, künstlerische Praktiken in Form von Arbeitsweisen und Verfahren als ein Forschen und tätiges Entfalten von Wissen – als epistemische Praktiken – verständlich zu machen. Bislang können wir einiges über den Erkenntnischarakter von künstlerischen Werken lesen, wenig aber über die forschenden Methoden der künstlerischen Praktiken. Entscheidend aber ist es, den Versuch zu unternehmen, in der Ästhetik genau diese Verschiebung vom Werk zur Praxis in der Folge einer Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Moment der Erkenntnis zum Prozess der Forschung systematisch zu bedenken.

Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch einmal grundsätzlich fragen, ob die künstlerische Praxis verstanden als Forschung überhaupt diese epistemologische Aufmerksamkeit verdient? Wird Kunst tatsächlich zu einem relevanten Feld, auf dem Einsichten generiert werden? Welche kunsthistorische und wissenschaftstheoretische Bedeutung hat das künstlerische Forschen als wissenschaftliche Praxis tatsächlich? Kann man wirklich von einer epistemischen Falte sprechen, aus der die Kunst als Forschung und Praxis des Wissens geboren wird und in deren Folge die Ästhetik epistemologisch werden muss? Kann für die Kunst und ihre gegenwärtige Praxis eine umfassende Verschiebung vom Werk zur Praxis in der Folge einer grundsätzlichen Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Erkenntnismoment zur Forschungspraxis diagnostiziert werden? Für den spezifischen Fall künstlerischen Forschens mag es sinnvoll sein, eine epistemologische Ästhetik zu fordern. Braucht es aber eine allgemeine Ästhetik als Epistemologie oder reicht eine epistemologische Ästhetik mit besonderem Augenmerk auf der spezifischen Praxis der Kunst als Forschung? Was also ist der Horizont dieser Ästhetik? In Hinblick auf die große Menge dessen, was im Feld der Kunst hergestellt wird, wäre die Diagnose nicht haltbar, dass die Kunst generell oder mehrheitlich zur Forschung würde und vornehmlich zur Einsicht in Weltverhältnisse beitrüge. Massenweise wird Werkkunst erzeugt, ausgestellt und gehandelt, die keine Forschung sein will. Doch der nach wie vor mächtige Werkkunstbetrieb sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass künstlerisches Forschen als Effekt und als Weiterentwicklung insbesondere der konzeptuellen Kunst eine fundamentale kulturgeschichtliche Relevanz hat. Konzeptkunst hat seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts den Status und das Selbstverständnis der Werkkunst in Frage gestellt. Die Ausübung und der Topos künstlerischer Forschung sind eine der gegenwärtigen Antworten auf das in Frage gestellte und veränderte Selbstverständnis der Kunst als kultureller Praxis. Vor dem Hintergrund dieser kulturgeschichtlichen Diagnose ist es tatsächlich eine zentrale theoretische Aufgabe, die Praxis, die Methode und die Herkunft des künstlerischen Forschens in einer epistemologischen Ästhetik zu klären.

Kunst ist also zumindest in manchen Fällen auch Forschung und sollte als solche bedacht werden. Und wieder taucht die Frage auf: Aber war sie es nicht immer schon? Andersherum mahnen die Kritiker: Was bleibt von den Ansprüchen an Wissenschaftlichkeit, wenn Kunst als Forschung akzeptiert werden sollte? Beide provokanten Fragen kennzeichnen aber nur den mitunter holzschnittartigen Zustand der Debatte. Zwischen dem grundsätzlich Ganzen in der Vereinnahmung einerseits oder der generellen Zurückweisung andererseits liegt das eigentliche Analysefeld, das die Kunst als Einsichten generierende Reflexionspraxis verstehen will. Dieses Analysefeld offenbart drei Achsen, entlang derer das Phänomen des ästhetischen Forschens im Detail untersucht werden kann: Da ist zunächst der Begriff der Forschung selber, der von der Tätigkeit des Forschens her verstanden werden muss und anhand dessen eine Praxologie der Erkenntnis herauszuarbeiten ist. Mithilfe dieser Praxologie der Erkenntnis lässt sich künstlerisches Forschen als spezifische Tätigkeit praxisästhetisch begreifen. Dann sind da die aktuellen Beispiele von künstlerischer Forschung, ihre Methoden und Formeln, die einer Detailanalyse unterzogen werden müssen, um die Methodologie der forschenden Kunst deskriptiv, kasuistisch und immanent bestimmen zu können – also von den konkreten künstlerischen Verfahren her und innerhalb der inhärenten Schlüssigkeit des jeweiligen Forschungsfalls. Schließlich wird der Blick in die Genealogie der Kunst als Praxis des Forschens erforderlich, mit dessen Hilfe die Ausdrucksformen künstlerischen Bedeutens und Zeigens als Symptome kultureller Selbstverständnisse und kunstgeschichtlicher Entwicklungen historisch hergeleitet und kontextualisiert werden können, wie auch die künstlerische Forschung selber als epistemologisches Symptom der Gegenwart eines bildlichen Denkens und visuellen Argumentierens kenntlich gemacht werden kann. Ausgehend von diesen Achsen der Praxologie des Wissens, der Methodologie und der Genealogie der forschenden Kunst werden weitere philosophische Problemfelder sichtbar. So markiert die Frage nach der spezifischen Weise des künstlerischen Bedeutens das symboltheoretische Problemfeld einer Ikontik als einer Grammatik künstlerischen Bedeutens. Oder die Frage, wie künstlerische Forschung bestimmt werden kann, verweist auf das Problemfeld der kritischen Epistemologie, vor deren Hintergrund sich die Debatte um die Kunst als Forscherin gegenüber den historischen Kontexten des Wissens nicht naiv verhalten kann. Entlang dieser Achsen und Problemfelder der Praxologie, Genealogie, Methodologie, kritischen Epistemologie und symboltheoretischen Ikontik sollen bestimmte künstlerische Verfahren als Forschung bestimmt werden und es ist klar, dass der Gegenstand der Bestimmung dabei ganz und gar nicht das bloß oberflächliche Spiel einzelner Künstler mit neuen Technologien oder Versatzstücken von Text ist, welches sie vermeintlich in die Nähe zu geistes- oder naturwissenschaftlichen Disziplinen bringt. Es geht um die Frage nach den originären Methoden, historischen Vorläufern, spezifischen Artikulationsformen und konkreten Handlungsweisen künstlerischen Forschens.

Nun hat sich während der Arbeit an einer epistemologischen Ästhetik zur künstlerischen Forschung immer wieder die Frage gestellt, von welcher Achse aus die Probleme des künstlerischen Forschens und die Praxis des Wissens im Feld der Kunst zuallererst beschrieben werden sollten? Womit also die Reflexion und den Text beginnen? Bedarf es zunächst der historischen Einordnung und Herleitung, um der Übersicht willen? Ist der Begriff der Forschung und der Kunst als Tätigkeit derjenige, der den traditionellen Begriff der Erkenntnis als Fluchtpunkt des Wissens überwinden hilft und künstlerisches Tätigsein im Rahmen einer Praxisästhetik stark zu machen verspricht? Oder sollte zunächst und von einem induktiven Theorieansatz ausgehend anhand konkreter Beispiele eine Detailanalyse zur Methodologie künstlerischen Forschens und Artikulierens vorgelegt werden, um den Gegenstand der gesamten Untersuchung auszuweisen? Der folgende Text ist in seiner Komposition vor dem Hintergrund dieser Erwägungen mehrfach gedreht und gewendet worden und die Achsen und Problemfelder haben sich verschoben bis schließlich die vorliegende Version zum Abschluss gekommen ist. Die Lesenden mögen die Kapitel nach eigenem Interesse und Temperament variieren. Ich möchte mich für diese zugemutete Eigenarbeit entschuldigen. Denn es ist, als überließe man eine Serie von Bildern dem Betrachter, welche diese Bilder selber zu drehen, zu wenden und zu hängen haben, bis der Kontext und die Ausrichtung für den Einzelnen stimmt.

1Zum Begriff und zur Schreibweise der Praxologie soll eine Anmerkung helfen, Missverständnisse zu vermeiden: Die ›praxélogie‹ wird als Fachbegriff dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zugeschrieben, der diesen Terminus im Gegensatz zu seinen Begriffen des ›Feldes‹ oder des ›Habitus‹ nicht systematisiert und eher von einer ›Theorie der Praxis‹ (théorie de la pratique), dem ›praktischen Sinn‹ (sense pratique), den ›praktischen Gründen‹ (raisons pratiques) oder einer ›Theorie des Handelns‹ (théorie de l’action) schreibt. Bourdieus Reflexionen zu den Praktiken menschlichen Handelns sind dabei der Erklärung der Reproduktion sozialer und symbolischer Räume gewidmet. Sehr viel ausdrücklicher als Bourdieu, aber weniger bekannt, entwickeln die Autoren Ludwig von Mises und Tadeusz Kotarbiński den Begriff der ›Praxeologie‹ bzw. ›Praxiologie‹. In beiden Fällen geht es unter den sehr verschiedenen Gesichtspunkten der Effizienz oder der Rationalität des Handelns um Theorien im Kontext der Arbeits- und Wirtschaftswissenschaften. Demgegenüber verwendet der vorliegenden Text den Begriff der ›Praxologie‹ (ohne é, e oder i) weder mit soziologischen noch mit ökonomischen Erklärungsabsichten, sondern um Charakteristika der Kunst (bzw. praxologisch formuliert: des Kunstens) unter praxischen Gesichtspunkten beschreibbar zu machen – gewissermaßen in einem schwachen ontologischen Sinne, um das Sein der Kunst als ein Tätigsein zu verstehen.

Praxologie der Erkenntnis: Über forschendes Kunsten als tätiges Einsehen

Was ist künstlerisches Forschen?

Visuelle Forschung

Der Entwurf zu einer epistemologischen Ästhetik beginnt mit dem Nachdenken über eine künstlerische Arbeit, die sich selber überhaupt nicht als Beitrag zur Forschung versteht und die auch zeitlich vor der Diskussion über die Kunst als Einsichtspraxis entstanden ist. An dieser künstlerischen Arbeit lassen sich jedoch methodische Charakteristika visuellen Forschens nachzeichnen und diese Arbeit ist so bekannt, dass eine unkomplizierte Annäherung an die Kunst als Werkzeug der Einsicht mit ihr vielleicht gelingen kann. Betrachten wir also zunächst ganz dicht und im Detail diese Kunstfotografie: Eine Person ist zu sehen. Ihr Blick fällt auf. Er heftet auf etwas, das außerhalb der abgelichteten Szene liegt. Die Augenbrauen sind leicht zusammengezogen. Die Person ist schräg von unten in adretter Großstadtkleidung aufgenommen. Zur Seite gewendet blickt sie auf dasjenige außerhalb des Bildes, was Beklemmung in diese helle, urbane Szene bringt. Präzise ins Visier genommen, steht die Person vor einer Hochhauskulisse, vielleicht New York, vielleicht Chicago, und harmonisch im Zweidrittelteil der Bildfläche platziert, blickt sie an der Kamera vorbei, als wäre diese nicht vorhanden. Nichts an diesem Bild, an diesem Blick, an dieser Pose, diesem Kostüm, dieser Kulisse, diesem Licht scheint Zufall zu sein: Eine Inszenierung, ein Filmstill, es handelt sich um die inszenierte Reproduktion dessen, was ein Filmstill sein könnte, und so verkörpert die Person offenbar eine Rolle.

Offenbar? Die Blicke der Betrachtenden sind wissend, wenn sie auf dieses Foto treffen. Keine bloße Anschauung, vorreflexive Wahrnehmung oder reine Sinnlichkeit. Das Rollenhafte und Filmartige wird verständlich, weil es durch tausendfache Vorbetrachtung von Filmszenen wiedererkannt wird. Wir sind erfahren in der visuellen Kultur der Gegenwart und eingeweiht in die ästhetischen Codes dieser cinematografischen Mimik, wie sie im Gesicht der Fotografierten sichtbar wird. Da ist die Verunsicherung des leicht geöffneten Mundes, die Aufmerksamkeit des fixierenden Blicks, die unerwartete und flüchtige Beklemmung der Szene. Kein plötzlicher Schrecken, keine Angst vor dem Fürchterlichen, eher eine Besorgnis gegenüber dem Alltäglichen. Ein nervöses, fixierendes Aufblicken. Die Psychologie des visuell artikulierten Habitus macht aus dem Bild eine Sozialdiagnose und aus der Rolle eine Subjektposition. Es scheint, als wäre alles an diesem Bild eine detaillierte und präzise komponierte Anordnung von Aussagen, die davon ausgehen kann, dass den Betrachtenden jenes Vorwissen und jene visuelle Literazität zu eigen sind, welche sie zu verstehenden Augenzeugen machen.

Das Foto der adrett gekleideten, aufmerksam blickenden Frau ist Teil der Serie ›Complete Untitled Film Stills‹ von Cindy Sherman.1 Die Schwarz-Weiß-Fotoarbeiten, realisiert in den Jahren 1977 bis 1980, bestehen aus 69 Einzelbildern. Eins nach dem anderen zeigen diese Fotos eine weibliche Person in unterschiedlichen Posen, Szenen, Subjektpositionen: Die Person an der Küchenspüle, hinter dem Salzspender und vor den Pfannen ist ein anderes Foto, eine andere Rolle, eine andere Subjektposition. Der Push-up-Büstenhalter dieser Person drückt Muster durch das Kunstseidenhemd. Vor diesem gemusterten Busen ist der Arm seitlich auf den Beckenrand gestemmt, um das Präsentierte zugleich vor Blicken zu schützen. Der andere Arm drückt auf der Höhe des Spülbeckenrandes gegen die Rüschenschürze und presst damit den Bauch nach innen in Haltung. Leicht schräg gesenkt ist der Kopf. Die vorgeschobene Unterlippe und die aufblickenden Augen signalisieren Unterwerfung und Annäherungsaufforderung in der Geschirrspülszene zugleich. Auch hier fixiert der Blick der Fotografierten etwas, das außerhalb des sichtbaren Schauplatzes liegt. Dieses Etwas positioniert die Person in ihrer Pose.

In allen ihren 69 Fotos inszeniert sich die Künstlerin Sherman selber in den ästhetischen Mustern von Filmszenen. Das immer gleiche Künstlerindividuum schlüpft in unterschiedliche Rollen, die als weibliche Prototypen dechiffriert werden können. Sherman nähert sich diesen Rollen mimetisch an und scheint in ihnen fotografisch aufzugehen. Ihre Figuren sind Darstellerinnen, aber keine heroischen Hauptfiguren – etwas beschädigt und irgendwie irritiert oder am Rande des Geschehens. Gleichwohl ist eine nach der anderen Figur inszeniert und als Subjekt positioniert: Halbnackt, in antiker Pose vor dem Badezimmerspiegel die eigene Körperfigur überprüfend. Oder ertappten Blickes unerlaubte Briefe öffnend drapiert auf der Bettdecke. Oder einsam und verzweifelt im Hotelzimmer. Dann wieder Tränen überströmt mit zerfließendem Make-up in Tigerbluse rauchend vor der Cocktailschale an der Bar. Oder im langen Rock mit Reisekoffer vor drohend dunkelwolkigem Himmel auf der Landstraße im Autoscheinwerferlicht. Schließlich lasziv auf dem Sofa mit Drink. Oder Marylin-Monroe-gleich den Mantelkragen schützend vor Schnee und Fotografenblitzgewitter hochgeschoben.

Das Serielle der Arbeit von Sherman kann als forschende Auseinandersetzung mit der Inszenierung und Situierung des weiblichen Subjekts im Filmset wahrgenommen werden. »Wahrgenommen werden« meint hier im wörtlichen Sinne, die Position des Subjekts als mediale »Wahrheit« in Augenschein zu »nehmen«. Die Serie der ›Complete Untitled Film Stills‹ durchläuft jede neue Subjektposition als Aufführung, indem das identische, wenn auch wandelbare Künstlerindividuum als Ausgangsmaterial der Inszenierung sichtbar bleibt. Sherman forscht in ihren Arbeiten am Thema der filmisch inszenierten und vermittelten Subjektposition, aber nicht durch Einbeziehung von theoretischen Texten oder wissenschaftlichen Daten. Sie forscht durch die ausprobierende, variierende, filmkunstspiegelnde Bilderzeugung und serielle Re-Inszenierung von Filmstandards des weiblichen Selbst. Diese Forschung mit Bildern in Serie ist in seiner medialen Artikulation keineswegs zufällig. Sherman erzeugt Fotos, weil ihr künstlerisches Interesse der filmischen Inszenierung weiblicher Subjektpositionen gilt. Die Fotos verhalten sich zum Film wie die Analyse zur chemischen Lösung: Sie nehmen den Bewegungsfluss des Films in einzelne Momente auseinander und konservieren die Sequenzen, so dass sichtbar wird, welche Subjektposen in ihnen verkörpert werden. Die fotografische Form ist kein Selbstzweck. Sherman ist Konzeptkünstlerin. Sie arbeitet mit Ideen und Themen und findet in der Form-Inhalt-Korrelation ihren künstlerischen Ausdruck. Mit der historischen Entwicklung der konzeptuellen Kunst sind in der bildenden Kunst die Themen immer wichtiger geworden und die primäre Identifikation der Künstler mit spezifischen Medien hat aufgehört. Kunstschaffende bilden ihren Stil oder ihre Position an Themenfeldern aus, nicht an Ausdrucksmedien und Sherman wird nicht als Fotografin wahrgenommen, sondern als konzeptuelle Künstlerin, die sich mit der Frauenrolle in den Medien beschäftigt und Identitätskonstruktionen untersucht. Die Beschäftigung mit thematischen Fragen führt dazu, dass die künstlerischen Praktiken und Medien in der Kunst nicht mehr gesetzt sind, sondern reflektiert werden und als Methoden zur Untersuchung der Fragen zur Disposition stehen. Sherman sucht im Medium ihrer künstlerischen Praxis und durch die Form ihrer methodisch reflektierten künstlerischen Artikulationsweise nach Antworten auf ihre konzeptuellen Fragen. Die serielle Arbeit erlaubt es Sherman in Anlehnung an Filmserien, die Positionierung des Subjekts im Film in seinen Variationen durchzuspielen und vergleichend nebeneinander zu stellen. Im Medium der Bildlichkeit bezieht sich Sherman im formalen Entsprechungsverhältnis auf die mediale Bilderwelt. Das künstlerische Medium Fotografie reflektiert das Lichtbildmedium Film, in welchem das Subjekt szenisch positioniert wird. Durch die fotografische Stilllegung der Filmsequenzen im Standbild kann Sherman dem flüchtigen Bewegungsmedium Film kontemplative Aufmerksamkeit schenken. Die Fotoserie ›Complete Untitled Film Stills‹ macht daher zwei wesentliche Aspekte einer künstlerischen Position deutlich, die als visuelle Forschung diskutiert werden können: Erstens die Artikulation einer Forschungsfrage in der Form einer intensiven Beschäftigung der Künstlerin mit einem gesellschaftlich relevanten Thema – der visuellen Filmkultur. Und zweitens die methodischen und formalen Konsequenzen, die aus diesem thematischen Schwerpunkt für die Praxis der künstlerischen Arbeit entstehen – das Fotografische und das Serielle. Mit der seriellen und fotografischen Praxis erforscht Sherman ihren Gegenstand systematisch bildproduzierend und sie leistet darin einen methodischen Beitrag zum Verständnis unserer visuellen Gegenwart. Ihre künstlerische Arbeit hat exemplarische Bedeutung für ein Verständnis der bildenden Kunst als einer Forschung an der Erkenntnis der visuellen Kultur, weil sie ausgewählte Aspekte der visuellen Kultur mit den Mitteln der Bilderzeugung und der seriellen Methode planvoll analysiert.

Epistemische Begriffe im Feld der Kunst

Wenn aber die künstlerische Arbeit von Sherman exemplarische Bedeutung für ein Verständnis der bildenden Kunst als einer Forschung zur Erkenntnis der visuellen Kultur haben sollte – was meinen wir dann genau mit den Begriffen der Erkenntnis oder der Forschung? Was bedeuten diese epistemischen Topoi im Feld der Kunst? Der einfache Einstieg ins Feld der künstlerischen Forschung über die fotografische Arbeit von Sherman ist terminologisch befangen. In den Gebrauch der Worte ist deren Bedeutungsgeschichte eingegraben und wirft philosophische Fragen auf. Etwa diese Frage: Warum setzen wir den Begriff des Forschens vor den der Erkenntnis, wenn im Kontext der Kunst behauptet wird, dass visuelle Forschung zur Erkenntnis beitrüge? Forschung als Tätigkeit führt zu Erkenntnis als Zustand, so klingt es. Könnte man aber nicht das, was die Kunst tut, auch visuelle Erkenntnis nennen? Eine begriffliche Klärung wird nötig, denn auch das Erkennen kann, wie das Forschen, als ein Prozess verstanden werden, der auf Einsichten hinarbeitet. Warum nicht von künstlerischem Erkennen sprechen? Mit dieser Option der Erkenntnisvokabel im Hintergrund fragen wir weiter: Warum überhaupt mit dem Begriff der Forschung den Künsten jene, vom naturwissenschaftlichen Denken imprägnierte methodische Strenge zumuten, von der man umgekehrt die traditionellen Wissenschaften gerade entlasten möchte? Die Wissenschaftsforschung geht zunehmend davon aus, dass methodische Strenge bestenfalls als regulatives Ideal der Forschung angesehen werden kann. Warum also die Kunst zur Forschung erklären und damit auf das Methodische festlegen, nur weil sie Einsichten erarbeitet? Muss die Methode der fotografischen Serialität, die Cindy Sherman als systematisches Werkzeug ihrer künstlerischen Arbeit einsetzt, Forschung genannt werden? Wissenschaftliche Forschung etabliere »Experimentalsysteme«, diagnostiziert der Wissenschaftstheoretiker Hans-Jörg Rheinberger2. Diese Systeme leben mit Zufällen und nutzen die intuitiven Reaktionen der Forschenden, um zu unerwarteten Ergebnissen zu kommen. Vor dem Hintergrund dieser These von Rheinberger zur zufallsgeleiteten Forschung in der Naturwissenschaft scheint die umgekehrte Denkrichtung plausibler: Es gilt für Rheinberger die intuitive Kunst in der Forschung zu entdecken und nicht die systematische Forschung in der Kunst. Wissenschaftliche Forschung wäre mithin eine, der intuitiven – nicht der systematischen – Kunstpraxis nahe liegende Tätigkeit. Da die zentralen Verfahren, Begriffe und Konzepte in den Naturwissenschaften alles andere als streng und exakt seien, schlägt nämlich Rheinberger vor, nicht die Systematizität der Forschung zu betonen, sondern jenen Sachverhalt, dass »verschwommene Konzepte, unfertige oder überschießende Bedeutungen in der Wissenschaft positiv wirksam sein können«3. Traditionell verbinden wir gerade diese Charakteristika der überschießenden Bedeutungen und rätselhaften Konzepte mit der Kunst. Nun soll die Kunst aber Forschung sein, während die Wissenschaft sich als künstlerisch in ihrer Praxis herausstellt? Müssten wir vor dem Hintergrund der Diagnosen zum modus operandi des wissenschaftlichen Forschens nicht eher vom unvermittelten Verstehen und der pathischen Ergriffenheit in den Künsten lernen, um die naturwissenschaftliche Forschung in ihrem quasi-künstlerischen Verfahren zu erfassen, anstatt dem Desiderat intuitiven Begreifens in der Kunst das Ideal einer ordentlich methodischen Forschungsarbeit aufzubürden? Obwohl die Wissenschaftskritik das gleichsam Künstlerische in der Praxis der wissenschaftlichen Forschung entdeckt, dürfen wir andererseits nicht übersehen, dass wir bei den Künsten tatsächlich nicht nur auf überschießende Bedeutungen und pathische Ergriffenheit stoßen, sondern auch auf präzise Forschungsarbeit. Vielleicht sind Überschuss und Intuition nur mögliche Begegnungsarten mit der Kunst nicht aber ausschließliche. Vielleicht verläuft die Trennungslinie zwischen Forschung und Nicht-Forschung aber nicht zwischen methodischer Strenge auf der einen Seite und überbordenden Bedeutungen auf der anderen, sondern quer zu diesen und quer zu den Disziplinen von Naturwissenschaft und Kunst? Wie aber begreifen und benennen wir dann die forschenden Verfahren in der Kunst? Zumindest beginnen wir, einen Fragenkatalog anzulegen, der ein begriffliches Problembewusstsein etabliert, ohne die Antworten schon parat zu haben. Zugleich aber kommen wir offenbar nicht darum herum, die Problembegriffe der Forschung, Erkenntnis, Methode oder Einsicht schon vor ihrer vollständigen Klärung zu gebrauchen.

Wenn also die Kunst in ihrer Praxis mitunter methodisch präzise ist und nicht alleine auf Intuition und rätselhaften Konzepten beruht und umgekehrt die Naturwissenschaft mitunter mittels pathischer Ergriffenheit operiert, warum dann nicht anstatt des Begriffs der Forschung tatsächlich mit dem Begriff des Erkennens arbeiten, um jene Praxis zu markieren, die zu Einsichten führt? Historisch wurde in den Theorien über die Künste tatsächlich häufig von einem Erkenntnisgehalt ausgegangen, der den Werken innewohnt. Dieser Erkenntnisgehalt wurde allerdings als einer diskutiert, der sich durch die ästhetische Erfahrung der Betrachtenden vermittelt und weniger als einer, dem eine ästhetische Praxis des Herausarbeitens vorausging. Ausgehend von dieser Diskursgeschichte zum Erkenntnisgehalt von künstlerischen Werken, stellt sich vor dem Hintergrund einer Praxis orientierten künstlerischer Tätigkeit und im Rahmen einer epistemologischen Ästhetik tatsächlich nun eher die Frage nach den Erkenntnisprozessen und nicht den Erkenntnisgehalten der Kunst, also den künstlerischen Artikulationsprozessen, die sich markanter mit dem Topos der künstlerischen Forschung vom künstlerischen Erkenntnisgehalt der Werke absetzen lassen. Den Weg der künstlerischen Praxis in seiner Methodik zu analysieren und darin als Forschung zu begreifen, reanimiert zwar zunächst einen auf Systematik gehenden Forschungsbegriff, trägt aber zugleich die tätige epistemische Praxis in das Verstehen der Kunst als einer Forscherin ein. Aus diesen beiden Gründen, erstens der Praxis, die es für eine epistemologische Ästhetik zu denken gilt, und zweitens der werkorientierten Vorgeschichte des Erkenntnisbegriffs im Feld der Kunsttheorien, wird es notwendig, bei den Künsten den Prozess der Forschung vom Gehalt der Erkenntnis analytisch zu trennen, um die Aufmerksamkeit auf die methodische Arbeit der künstlerischen Verfahren in der Entfaltung von künstlerischer Einsicht richten zu können. Es erscheint also sinnvoll, den Wegen des Wissens (methodos) in den Künsten auf der Grundlage des Forschungsbegriffes nachzuspüren und den Boden für eine reflektierte Praxologie der forschenden Künste zu bereiten. Außerdem scheint es sinnvoll, vor dem Hintergrund der historischen Dominanz eines mit sinnlicher Erfahrung und intuitiver Eingebung operierenden Kunstverständnisses, diesem gegenüber auch die Methoden, Systematiken sowie »Mitvollziehbarkeiten« in der Praxis des ›Kunstens‹ herauszustellen.4

Gleichwohl befinden wir uns mit dem Vorhaben einer Analyse gegenwärtiger künstlerischer Forschungspraktiken epistemologisch in der prekären Lage, dass wir die Dekonstruktion der forschenden Wissenschaften und ihrer Begriffe mitdenken zu müssen, wenn es zugleich darum geht, Kunstpraktiken als Forschung in ihrer spezifischen Methodik zu behaupten. Forschung ist in ihrer Kontingenz und Spontaneität erkannt und beruht doch in ihrem Anspruch auf Methodik und Nachvollziehbarkeit. Erkenntnis kann als Prozess beschrieben werden und wurde doch in den Künsten auf das Ergebnis im Werk konzentriert. Vor dem Hintergrund dieser Überkreuzung von Wissenschaftskritik und Wissenschaftsbehauptung im Feld der Kunst, werden die epistemischen Begriffe neu bestimmt und transformiert werden müssen. Diese erste Zuordnung und Bestimmung der Begriffe versucht nur ein verhandelbares Vorverständnis darüber zu erreichen, worüber man beim künstlerischen Forschen eigentlich redet. Die Diskussion über die verhandelbaren Begriffe macht aber auch deutlich, dass die vermeintlich unbefangenen Einstiegserzählungen über die forschenden Künste terminologisch immer schon positioniert sind. Die Beschreibung der Arbeit von Cindy Sherman schält das Forschende der künstlerischen Arbeiten in dem Sinne heraus, dass schließlich diese Kunst als Wissenschaft und ihre Tätigkeit als methodisch dargelegt werden kann. Eben diese Beschreibungen sind aber durchwachsen von erkenntnistheoretischen Annahmen. Wir sind bei diesen Erzählung immer schon mittendrin in den Sprachspielen einer ästhetischen Epistemologie und auf die Schauplätze der Kunst wirken begriffliche Rahmungen ein: Nämlich der Begriff der ›Forschung‹, hier verstanden als eine Praxis des Tätigseins, der Begriff der ›Erkenntnis‹, hier gedacht als Ergebnis der forschenden Praxis, schließlich der Begriff der ›Einsicht‹, hier gesetzt als spezifisch künstlerische Form der Erkenntnis, welche das Sehen im Begriff des Verstehens mit eingebettet hat. Über diese Begriffsverständnisse wird man diskutieren müssen und mitnichten sind diese Terminologien allgemein verständlich oder geteilt.

Tatsächlich kommt es einer terminologischen Neubesetzung gleich, mit dem Begriff der ›Einsicht‹ die explizit künstlerische Form einer methodischen und reflexiven Erkenntnis zu bezeichnen. ›Einsicht‹ will hier nämlich nicht eine unvermittelte Erkenntnis ausdrücken, die sich beim Sehen von Bildern im Modus der Plötzlichkeit einstellt. ›Einsicht‹ will als Effekt einer methodischen künstlerischen Praxis in der Auseinandersetzung mit zu verstehender Welt begriffen werden. ›Einsicht‹ haben künstlerisch Forschende durch den Prozess ihrer Arbeit. Artikuliert in künstlerischen Positionen kommunizieren sich diese ›Einsicht‹ mittels der Werke, denen der Prozess des Einsehens ansehbar bleibt, so dass auch die Betrachtenden von künstlerischer Forschung, nicht als Publikum auftreten, sondern als ein Kollegium, welches den Einsichtsprozess mitzuvollziehen in der Lage ist, weil es der symbolischen Terminologie künstlerischer Ausdrucksweisen mächtig ist. Das Wort ›Einsicht‹ steht für den Bereich der Kunst, verstanden als einer Wissenschaft, parallel zum Begriff des ›Wissens‹ im Bereich der Naturwissenschaft oder dem Begriff der ›Erkenntnis‹ im Kontext der Philosophie. Diese Begriffsbestimmung der ›Einsicht‹ hat den Charakter eines verhandelbaren Vorschlags, der dem Zeigen, Sehen und Darstellen in der Praxis der bildenden Kunst terminologisch gerecht werden will. Etymologisch hat auch der Begriff des ›Wissens‹ seine Wurzeln im indogermanischen woida – ich habe gesehen – und wäre von daher reformulierbar für das Anliegen einer auf Sehen basierenden Einsichtsleistung in der bildenden Kunst.5 Im Deutschen ist aber gegenwärtig der Begriff des Wissens von diesen Wurzeln im Visuellen weiter entfernt als der Begriff der Einsicht. So kommt es einer an der Umgangssprache orientierten Setzung gleich, den Begriff der ›Einsicht‹ als spezifisch künstlerischen Erkenntnisterm vorzuschlagen und nicht den Begriff des ›Wissens‹ an seinen Wurzeln zu reanimieren. Der Vorschlag aber bleibt diskutabel, denn historisch wurde wiederum der deutsche Begriff der ›Einsicht‹ gerade nicht als eine methodische Erkenntnis bestimmt, sondern häufig als Übersetzung des griechischen nous angeführt. Die etymologische Herkunft dieses altgriechischen Wortes ist umstritten, aber nous könnte wörtlich vom ›Wittern‹ abstammen und markierte damit eine aus der Vagheit geborene jedoch starke Erkenntnis. In den Homerischen Epen ist nous ein Begriff, der für das Organ des geistigen Auges veranschlagt wird, und wäre in dieser Hinsicht tatsächlich als Ein-Sicht zu begreifen.6 Obwohl ein gewisser Grad des Schlussfolgerns im Gebrauch des nous mitzuschwingen scheint, findet bei Homer die Erkenntnis durch nous jedoch als plötzliche Intuition statt.7 In der weiteren Tradition der antiken Geistesgeschichte artikuliert entsprechend das noetische Denken die Idee der intuitiven, nicht methodisch hergeleiteten Eingebung, im Gegensatz zum dianoetischen Denken, welches auf schlussfolgernden Geistvorgängen beruht.8 Die Eingebung und mit ihr die griechische Witterung nous stehen in konzeptioneller Nähe zu traditionellen Verständnissen vom Erkenntnischarakter der Kunst, wo immer wieder davon ausgegangen wird, dass die besondere Qualität der Kunst in einem, den Werken innewohnender Sinn besteht, der sich über sinnlich ästhetische Erfahrung spontan vermittelt.9 Erkenntnis ereignet sich für das Publikum in diesem Kunstverständnis intuitiv. Dieser spontane Erkenntnisgewinn durch ästhetische Erfahrung angesichts von Kunstwerken soll hier nicht in Frage gestellt werden. Allerdings interessiert er für die Frage nach dem künstlerischen Forschen nicht. Es handelt sich um zwei korrelative Kunstverständnisse und Erkenntnisbegriffe, die auf Verschiedenes fokussieren. Methodische und mitvollziehbare Einsicht auf der Grundlage künstlerischen Forschens hier und sinnliche Eingebung am Konkreten durch ästhetische Erfahrung dort. Eine Konkurrenz zur intuitiven Eingebung aufzubauen, weil das künstlerische Forschen verstanden werden will, ist ebenso überflüssig, wie das künstlerische Forschen auf die Eingebung durch ästhetische Erfahrung zu reduzieren, nur weil diese Erfahrungen zweifelsohne stattfinden. Künstlerisches Forschen in der Praxis der gegenwärtigen Künste zu diagnostizieren, zu analysieren und in ihrem Wert für einen erweiterten Wissenschaftsbegriff zu diskutieren, bedeutet schlechterdings nur, das Kunstverständnis angesichts nachweislicher Arbeitsformen in den Künsten und nicht zuletzt auch neuer Diskursformationen über die Künste zu ergänzen und zu präzisieren. Vom Forschen in den Künsten zu sprechen, wird es allerdings auch notwendig machen, den Forschungsbegriff neu zu bestimmen10 und an die Methoden der künstlerischen Erkenntnisgewinnung anzupassen. Entscheidend ist es an dieser Stelle zu betonen, dass der Forschungsbegriff als regulativer Topos in seinem Bedeutungsgehalt für ein stufiges Verstehensprozedere bis zur Einsicht steht, im Gegensatz zu einem plötzlichen Erkennen. Mit diesem Forschungsbegriff sollen Verfahren und Praktiken als Wege des Wissens reflektiert werden – oder besser als Wege des Einsehens.

Methoden visueller Praxis

Sich den Praktiken der Künste als Wegen der Einsicht zuwenden, heißt zu versuchen, ihre forschenden Verfahren und künstlerischen Einsichtsartikulationen zu erfassen: Wir stehen vor einer Videoinstallation: Verteilt auf dreißig Monitore, angeordnet an der Wand in den Seitenverhältnissen eines sehr großen Monitors, sind dreißig Köpfe unterschiedlicher Personen zu sehen. Ein leises polyphones Summen bündelt die Aufmerksamkeit. Die einzelnen Personen beginnen sich in ihren Monitoren zu bewegen und in die Rhythmik ihres Gesangs hineinzubegeben. Für den Betrachter verbinden sich diese Bewegungen und Summtöne zu einem zugleich synchronen und dissonanten Gesamtbild zwischen harmonischer Angleichung und idiosynkratischer Abweichung der Einzelnen an das Gemeinsame des Lieds, das sie alle singen. Wir hören keine Musik, nur das Summen und den Gesang der gefilmten Personen. Sie aber scheinen die Musik zu hören, nach der sie singen. Wie eine untergründige Symphonie, auf deren Klangwellen sie ihren Rhythmus finden, prägt diese abwesende Hintergrundmusik die ästhetische Stimmung. Wir sehen, wie die verschiedenen Personen in ihren Monitoren ihre Köpfe wippen oder beginnen, schwungvoll die Arme und Hände zu winden. Das Singen schwillt an und fast gleichlautend trällern oder schmettern sie schließlich über 73 Minuten und 30 Sekunden lang das gesamte Album ›Immaculate Collection‹ der Popdiva Madonna in der Installation ›Queen‹ der Künstlerin Candice Breitz.11

Die künstlerische Arbeit von Breitz thematisiert die Popkultur in ihrer Wechselwirkung mit dem Individuum. Nicht die Künstlerin selber, wie bei den Fotoarbeiten von Cindy Sherman, untersucht in dieser Videoinstallation am eigenen Körper die Medienkultur. ›Queen‹ ist eine künstlerische Arbeit, bei der Fans von Madonna auf den Bildschirmen auftauchen und medial in die Position ihres Idols versetzt sind. Diese Fans singen Madonna und tanzen Madonna und positionieren sich in der Rolle des Weltstars. Ein irritierendes Gelingen und zugleich Scheitern in der Annäherung an das Ideal wird sichtbar und hörbar und bildet einen Chor der Fastähnlichen. Breitz beteiligt in ihren künstlerischen Arbeiten ›Experten des Alltags‹, wie man es nennen könnte. Die Fans sind einerseits künstlerische Laien, andererseits aber Experten in der Sache der Popkultur. Sie kennen die Texte der Lieder von Madonna, die Reihenfolge der Stücke auf den Alben, die Gesten und Rhythmen der Madonna-Performance. Sie kennen das Charakteristische der Pop-Ikone durch den imaginären Bezug, den sie als Fans zu diesem Idol aufgebaut haben. Diese Kenntnis der Experten des popkulturellen Alltags wird in der künstlerischen Arbeit von Breitz habituell in Szene gesetzt, wenn sich die Fans vor der Kamera im Studio inszenieren und Madonna spielen. Breitz verlässt sich in ihrem Forschungsinteresse an der populären Massenkultur nicht auf die Eingebung als Künstlerindividuum, sondern betreibt eine performative und bildproduzierende Sozialforschung. Sie lädt Experten ein, sich in die Rolle ihrer Kultfigur zu versetzen und damit ihr Wissen über diese Figur und ihr Verhältnis zu dieser Figur im Lichtmedium Film im wahrsten Sinne des Wortes zu beleuchten. Die Überprüfung der künstlerischen Arbeitshypothese über das Verhältnis von populärem Kultobjekt und individueller Selbstperformance findet bei dieser kooperativen künstlerischen Arbeitsweise in der Phase der visuellen Gestaltung der künstlerischen Behauptung statt. Breitz These zum performativen Verhältnis zwischen Selbstbild und Popkultur wird im Prozess der künstlerischen Praxis kontinuierlich durch die Kooperation mit den Beteiligten auf die Probe gestellt. Und im Prozess der Genese der künstlerischen Arbeit werden die Fragen der Künstlerin an die Popkultur visuell und performativ beantwortet.

Wie die Künstlerin Sherman den Kinofilm untersucht, so setzt sich Candice Breitz mit der Visualität und Performanz der Popkultur auseinander und entwickelt systematische Methoden zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dieser. Wie Sherman, so behandelt auch Breitz das Thema der medialen Wirkung auf den Einzelnen in einer seriellen Arbeitsweise. Neben Madonna bildet bei Breitz der Popstar Michal Jackson die Matrix für eine Videoinstallation mit dem Titel ›King‹, Bob Marley ist Thema von ›Legend‹ und John Lennon spielt in der Arbeit ›Working Class Hero‹ die Rolle des Vorbilds. Alle vier künstlerischen Projekte von Breitz sind 2005 bis 2006 in der gleichen experimentellen Anordnung mit unterschiedlichen Fans realisiert worden. Bob Marleys Album ›Legend‹ wird von passionierten Marley-Fans reinszeniert, Jackson-Fans singen und posen ›Thriller‹ und Lennon-Fans wiederholen in habitueller Anlehnung an das Original das Album ›Plastic Ono Band‹. Die künstlerischen Arbeiten von Breitz stellen eine »fortgesetzte Untersuchung« (ongoing survey) dar, wie eine kuratorische Beschreibung zu den Installationen festhält,12 bei der die Mechanismen von Projektion, Identifikation und Konsumption erforscht werden, welche die Beziehung zwischen einem Kultobjekt und dessen Fangemeinde charakterisieren. Durch die serielle Ausrichtung der künstlerischen Praxis auf bestimmte Themen wird ein thematisches Forschungsinteresse sichtbar. Dieses thematische Interesse hat zur Folge, dass die bildende Kunst von Breitz und Sherman nicht alleine als Medium der Repräsentation verstanden werden kann, sondern als Medium der visuellen Reflexion. Künstlerische Praxis wird zu einem Werkzeug der Auseinandersetzung mit dem Bildlichem als kultureller Realität. Die konzeptuelle Ausrichtung der künstlerischen Forschung führt bei Breitz und Sherman in einen Sinnzusammenhang, in dem die Reflexionsmedien mit dem Forschungsgegenstand stehen. Die Medien der künstlerischen Arbeiten in der Form von inszenierter Fotografie oder inszenierter Videodokumentation reflektieren die Themen der künstlerischen Auseinandersetzung. Epistemologisch relevant ist hier, dass sich populäre und künstlerische Bilderszenen im Medium der Bildlichkeit und Performativität treffen. Aus dieser medialen Korrelation heraus untersucht diese bildende Kunst die visuelle Kultur als ihr Thema. Die Fotoserien von Sherman oder die Videoinstallationen von Breitz spiegeln in künstlerischen Bildern die bildliche Performativität der visuellen Kultur. Eine bildende Kunst, die im Medium der inszenierten Bildgebung die visuelle Kultur reflektiert und dabei ihr thematisches Interesse seriell in den Vordergrund stellt, widmet sich ikonisch der mitvollziehbaren Auseinandersetzung mit ihrem Thema – sie forscht visuell.

Der Begriff des künstlerischen Forschens, der hier als ›mitvollziehbare ikonische Auseinandersetzung‹ in Gebrauch genommen wird, baut auf einer Tendenz in der Kunst auf, mit der die künstlerische Arbeit nicht vom abgeschlossenen Werk her begriffen wird – also werkästhetisch, sondern von den Praktiken und Strategien der künstlerischen Tätigkeit her – also praxisästhetisch. Der tätige Prozess der Entstehung einer künstlerischen Arbeit rückt in das Zentrum der Aufmerksamkeit und Künstlerinnen wie Künstler nehmen diesen Prozess als methodische Phase der Untersuchung oder Entwicklung einer Arbeit wahr. Mit dieser Verlagerung vom Werk zum künstlerischen Prozess, die sich spätestens seit den 1970ern in der politischen Kunst ausdrücklich artikuliert, wird das veränderte Selbstverständnis in der Kunst hin zu einer Forschungspraxis vorbereitet. Die Kunst wird entwickelnder, experimenteller, fragender, kommunikativer, kooperativer, eingelassener in die Realität, mit deren Themen sie sich ikonisch und performativ auseinandersetzt. Und diese praxische Kunst macht ihren Gestaltungsprozess als Genese der künstlerischen Position häufig sichtbar. Methodisch bedeutsam ist daher, dass auch Breitz bei ihren Videoinstallationen die Entstehung der künstlerischen Arbeit als Teil ihrer Position offenlegt. Sie macht den Experimentalaufbau der künstlerischen Forschung transparent. Ihre künstlerischen Kooperationspartner werden in der Betrachtung der Videoinstallation wahrnehmbar und diese Wahrnehmbarkeit weist die methodische Praxis als den Weg der künstlerischen Einsicht aus. Als Experten in der Sache der Popkultur einerseits und als künstlerische Laien aus dem Alltag andererseits sind diese Mitarbeiter am kollektiven Werk nicht getarnt, sondern offenbar. Die Mitvollziehbarkeit der künstlerischen Praxis von Breitz erschöpft sich dabei nicht in der Präsentation ihrer Kooperationspartner als inszenierter Popstars. Die Künstlerin dokumentiert auch die Phase der Zusammenarbeit als Teil ihres Werks. Im Internet, in Publikationen und Ausstellungskatalogen sind ›Legend‹, ›Queen‹, ›King‹ oder ›Working Class Hero‹ nicht nur als Videoinstallationen sichtbar, sondern auch die beteiligten Fans bei der Arbeit am künstlerischen Werk zu sehen. Backstage-Bilder sind Teil der Inszenierung der künstlerischen Arbeit, wie auch Backstage-Fotos von Madonna oder anderen Popstars Teil der medialen Inszenierung des Popmythos sind. Bei Breitz sind diese Dokumente vor allem Hinweise für den Betrachter auf die kooperative Methode der künstlerischen Praxis und die plurivokale Quelle der künstlerischen Behauptung. Methodisch macht sich diese künstlerische Praxis damit einsehbar gegenüber dem Nachvollziehbarkeitsbedürfnis der wissenschaftlich interessierten Betrachter. Sie zeigt ihren Experimentalaufbau und expliziert ihre Argumente als Prozess der künstlerischen Praxis.

Die Videoinstallation und Produktionsmethode von Breitz, ebenso wie die Fotoserien und thematischen Fragestellungen von Sherman vertreten mithin eine Kunst, in deren Zentrum die Erforschung der visuellen Kultur mit den Mitteln der szenischen Bildgenese steht. Breitz Darstellungsform visualisiert außerdem den Herstellungsprozess der künstlerischen Arbeit und macht sich als kooperative Praxis einsehbar. Die Arbeit der Künstlerin stellt ihr spezifisches Verfahren der Entwicklung zur künstlerischen Behauptung als Methode aus und legt nahe, dass die Erforschung der visuellen Kultur aus der Kunst heraus an spezifische künstlerische, dabei aber methodisch konsequente Praktiken gebunden ist. Diese Differenzierung auf eine methodisch konsequente Praxis hin wird notwendig, weil Kunst immer schon an eine Praxis gebunden ist, jedoch dabei nicht immer Forschung. So muss vor dem Hintergrund der Forschung als einer methodischen Praxis und der Kunst als gestaltende Praxis der Blick insbesondere auf jene spezifischen Arbeitsformen der Kunst gerichtet werden, die als methodisch forschende Praktiken der Gestaltung identifiziert werden können.

Im Feld der künstlerischen Forschung überkreuzt sich die Gestaltungspraxis der Kunst mit der methodischen Praxis der Forschung und bringt an ihrer Schnittstelle eine Wissenschaft der Kunst hervor. Deren Methoden – deren Verfahren auf dem Weg zur Einsicht – bedürfen einer präzisen Analyse. Denn nicht jede Kunst und nicht jede künstlerische Praxis kommt als Forschen in Betracht. Die Begriffe der Praxis, der Forschung und der Kunst fallen nicht in eins, wenn spezifische Gegenwartskünste erklärt werden sollen und deren besondere Praktiken als Forschung anerkannt werden, um eine Disziplin der Kunst als Wissenschaft aus der Gemengelage künstlerischer Praktiken herauszuschälen.

Die Rolle der Praxis in der Theorie von der Kunst und der Forschung

Das Forschen ist eine Praxis, die Verfahren der Kunst sind es auch. Nicht jede Kunstpraxis ist dabei Forschung und nicht jede Forschungstätigkeit ein künstlerisches Verfahren. Eine epistemologische Ästhetik ist mit der Aufgabe konfrontiert zu erklären, worin bei manchen künstlerischen Praktiken das Forschende besteht. In diese Aufgabe ist die Frage nach dem Verhältnis von Kunst, Forschung und Praxis eingebettet. Sehr ungleiche Diskurstraditionen bieten unterschiedliche Verständnisse zu diesen Begriffen und ihren Bezügen an: die lange Tradition der Ästhetik, die jüngere Geschichte der Kunsttheorie, das Erbe der Epistemologie und die neuere Wissenschaftsforschung. Sie alle operieren mit verschiedenen Verständnissen von Praxis, Forschung oder Kunst im Verhältnis zu Wissenschaft. Um das Feld der Denkweisen in diesen Diskurstraditionen abzustecken und die Verwobenheit der Begriffe zu erkennen, mag es helfen, an dieser Stelle einige der Positionen aus philosophischer Ästhetik, Kunsttheorie, Wissenschaftsforschung und Epistemologie in ihrem Verhältnis zu kennzeichnen, bevor sie im Einzelnen analysiert werden:

Seit der Antike wurden die Künste philosophisch analysiert und dabei wurde auf den ersten Blick recht häufig den Werken oder aber dem Publikum und seinen Erfahrungen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit geschenkt. Die konkreten Arbeitsweisen und tätigen Praktiken der Künste spielten demgegenüber in vielen Ästhetiken eine eher marginale Rolle. Dieser vorherrschende Eindruck lässt sich jedoch bei genauerer Betrachtung relativieren. Eine praxologische Ausrichtung der Kunsttheorie war schon 1750 bei Alexander Gottlieb Baumgarten angelegt, wenn dieser die Ästhetik als eine »Kunst des schönen Denkens« charakterisiert und in seiner »Praktischen Ästhetik« die Tätigkeit dieses Denkens als Kunstpraxis zu beschreiben vorhat.13 Baumgartens praktischer Teil der Ästhetik wurde allerdings nie vollendet und so heftet sich keine Denktradition an diese praxologische Ausrichtung seiner Theorie. Doch wird sich seine Ästhetik insofern als inspirierend für die Frage nach der künstlerischen Forschung erweisen, als es Baumgartens Anspruch war, eine epistemologische Ästhetik mit Blick auf die Praxis der Kunst zu formulieren. Diese Kopplung von Praxologie und Epistemologie im Feld der Ästhetik gilt es zu betonen, weil die Praxis des ›Kunstens‹ mit Baumgarten überhaupt in den Blick genommen wird und zugleich als Erkenntnisverfahren Aufmerksamkeit findet. Auch Konrad Fiedlers denkt die Kunst 130 Jahre später praxisch und epistemologisch von der Tätigkeit der Künstler her. Sein Text vom »Ursprung der künstlerischen Tätigkeit« aus dem Jahre 1887 ist mit dem Begriff der »Ausdrucksbewegung« als theoretischer Bestimmung der künstlerischen Tätigkeit für die Künstler seiner Zeit zentral gewesen. Mit Fiedler kann ein weiterer Vertreter einer epistemologischen Ästhetik namhaft gemacht werden, welcher sein Augenmerk auf die Praxis des künstlerischen Tuns richtet.14 Seine Theorie versucht paradigmatisch das künstlerische Gestalten als gleichzeitiges Erkennen und Erzeugen von Wirklichkeit zusammen zu denken und auf diese Weise eine produktive ästhetische Erkenntnistheorie zu formulieren. Fiedlers Theorie gibt den Impuls, Wirklichkeit nicht als etwas zu setzen, was an sich verständlich ist, sondern als eine Wirkung im Denken und Wahrnehmen, die in der künstlerischen Ausdrucksbewegung in die Welt kommt. Neben Baumgarten, der eine Erkenntnistheorie sinnlicher Rationalität begründet, und Fiedler, der mit der künstlerischen Tätigkeit eine produktive Welterkenntnis verbindet, führt eine weitere praxisorientierte Linie in der Ästhetik von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kunstbegriff über Walter Benjamins Analysen zur technischen Erzeugung von Kunstwerken bis zu materialistischen Kunsttheorien der Gegenwart. Hegel legt seiner Ästhetik zugrunde, dass das Kunstwerk kein Naturprodukt sei, sondern durch menschliche Tätigkeit zuwege gebracht wird.15 Auf der Grundlage dieser zunächst banalen Diagnose einer menschlichen Geschaffenheit der Kunst nimmt er programmatisch die Arbeit der Künstler in den Blick, um daran die Versöhnung von sinnlichem Schaffen und geistigem Tun auseinander zu setzen. Auch Walter Benjamin, der »das Kunstwerk im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit« verstehen will, widmet sich ausdrücklich der Tätigkeit der Kulturschaffenden.16 Ein Augenmerk liegt bei Benjamin dabei auf dem Gebrauch der neuen technischen Werkzeuge. Er beschreibt, wie Künstler mit der Filmkamera oder dem Fotoapparat und deren technischen Möglichkeiten eine Welt ins Werk setzen, die es vorher nicht gab. Die künstlerische Arbeit wird als technisch und medial lancierte Welterzeugung verständlich. Im Feld der gegenwärtigen Kunsttheorie hallen diese, am Begriff der künstlerischen Tätigkeit und am Gedanken des Werdens von Sein orientierte Ästhetiken in Analysen wider, die in der Gegenwartskunst die Arbeit am Gewordensein von Wirklichkeit hervorkehren.17

Die Geschichte der Kunsttheorie verläuft in jüngerer Zeit parallel zur Tradition philosophischer Ästhetik und analysiert an moderner Kunst zunehmend deren Charakter als Handlung. Dieser handlungstheoretische Ansatz fokussiert vornehmlich die Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern, deren Präsentationsformen ausdrücklich performativ sind. Zu unterscheiden sind mithin Theorien, welche praxologisch die künstlerische Arbeit als konstitutiven Weg zum Werk analysieren, von jenen, welche handlungstheoretisch solche Werkakte im Blick haben, die performativ in ihrer Eigenschaft als Handlung zutage treten wie Aktionen, Happenings oder Interventionen. Ausgangspunkt der letztgenannten, handlungstheoretischen Kunsttheorien ist die historische Diagnose, dass Kunst seit den 1960er Jahren prozessualer geworden sei und die Grenzen zwischen Kulturschaffenden und Publikum verschwimme. Betrachtende werden zu Mittätern und Kunst fordere zum Mithandeln auf. Häufig richtet diese handlungstheoretische Kunsttheorie ihr Augenmerk auf Alltagspraktiken, die seit den frühen Aktionskünsten und Happenings in Kunstpräsentationen integriert und künstlerisch reaktiviert werden, oder sie nimmt die Entgrenzung der Künste in Richtung gesellschaftlicher Handlungen und tätiger Interventionen in den Blick. Diese jüngste Kunstgeschichte interpretiert mithin künstlerische Arbeiten vermehrt unter dem Blickwinkel eines »Kunsthandelns«18, wenn auch weniger in epistemologischer als vielmehr gesellschaftstheoretischer Hinsicht.

Von ganz anderer Seite stoßen zu diesen Diskursfeldern der Ästhetik und der Kunsttheorie die Argumentationslinien zu den Begriffen Forschung, Praxis und Kunst aus der Tradition der Epistemologie und der jüngeren Wissenschaftsforschung. Im Diskursfeld der Erkenntnistheorie spielten die Künste zunächst eine untergeordnete Rolle. Philosophie und ihre Modi des Denkens werden analysiert ebenso wie Naturwissenschaften und deren Methoden der Forschung. Aber die Rolle der Praxis im Entfalten von Wissen und Erkenntnis durch Forschen und Denken ist in diesem Diskursfeld bedenkenswert. Im antiken Verständnis vom ›Diskutieren‹ schwingt semantisch das Hin-und-herlaufen der Gedanken mit und verweist auf die Arbeit des Philosophierens als einer pluripersonalen Praxis des Austauschens von Gedanken und Behauptungen. Mit der Logik als Fähigkeit des richtigen Schließens tritt allerdings schon in der Antike die Regelhaftigkeit des Denkens gegenüber einer Tätigkeit des Diskutierens in den Vordergrund der erkenntnistheoretischen Bestimmungen dessen, was es bedeutet, Erkenntnis zu generieren. Die Praxis des rationalen Schließens wird wesentlich zu einem Verfahren der reinen Vernunft und im Kontext dieser rationalistischen Schwerpunktsetzung in der Erkenntnistheorie wird dann die Kunst als negative oder aber utopische Abgrenzung von wissenschaftlichem wie philosophischem Wissen angeführt. Sie gilt bei Platon als Verschleierung theoretisch wahrer Erkenntnis oder aber hat bei Hans-Georg Gadamer exemplarische Bedeutung für eine pathische Form nichtwissenschaftlichen Verstehens.19

Die jüngere Disziplin der Wissenschaftsforschung schließlich trägt konsequent den Begriff der Praxis in die Analyse des wissenschaftlichen Forschungsgeschehens wieder ein – allerdings um die kontingenten, nicht systematischen Verfahren im Geschäft der wissenschaftlichen Forschung zu entlarven. Dabei nutzen manche Wissenschaftsforscher zwar die Kunst als Matrix, um den Aspekt der Intuition in der Praxis der Forschung zu illustrieren. Das Interesse der Wissenschaftsforschung gilt aber nicht der Kunst, sondern der neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Forschungspraxis. Die junge Disziplin der Wissenschaftsforschung schaut auf die Aktivitäten in den Laboren, nicht die Praktiken in den Ateliers. Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn spricht von »Fingerübungen« und »praktischer Arbeit«, um zu charakterisieren, was Naturwissenschaft in ihrer Forschungsrealität ausmache. Diese Ebene der tätigen Ausübung von Wissenschaft erkläre, so Kuhn, warum Forschung ohne Explikation von Methoden vonstatten gehen könne. Disziplinäre Grundlagen werden demnach in den Naturwissenschaften nicht vernünftig erdacht und methodisch erklärt, sondern in performativen Vollzügen erlernt und praktisch ausgeführt.20 Vor dem Hintergrund dieser praxischen Charakteristik der Forschung rät Kuhn bemerkenswerterweise zu einer Stilgeschichte der Wissenschaften analog zur Stilgeschichte in den Künsten. Diese Stilgeschichte der Wissenschaften ginge nicht vom Fortschrittsgedanken aus, sondern machte epochale Verschiebungen in der Arbeitsweise des jeweiligen Forschens namhaft.21

Das Nachdenken über künstlerische Forschung hat es mit diesen verschiedenen Traditionslinien in der Theorie zu tun, wenn es um das Verhältnis der zentralen Begriffe von ›Forschung‹, ›Kunst‹ und ›Praxis‹ geht. Deren unterschiedliche Gehalte müssen für das forschende Tun in der Kunst fruchtbar gemacht werden: etwa ein an Gestaltung von materialisierter Weltsicht und Handeln orientierter Praxisbegriff aus der Ästhetik und Kunsttheorie sowie ein an Denkverfahren und handwerklichen Fingerübungen ausgerichteter Praxisbegriff aus der Epistemologie und Wissenschaftsforschung. In beiden Diskursfeldern – dem künstlerischen wie dem wissenschaftlichen – ist der Praxisbegriff vor allem in jüngerer Zeit vor dem Hintergrund des neuzeitlichen Forschens und mit Blick auf moderne Kunstpositionen verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Der Forschungsbegriff, der zunächst als anstößig im Kontext der Künste empfunden wird, weil er eng mit dem naturwissenschaftlichen Geschäft der methodischen Strenge verbunden ist, erweist sich als verwandt mit dem künstlerischen Schaffensbegriff, weil er jene neuzeitliche und von den Wissenschaftsforschern wieder herausgearbeitete Idee artikuliert, dass Erkenntnisse und Einsichten nicht eine Angelegenheit vorgefundener Wahrheiten sind oder eine Sache bloß immateriell innerlicher Kalkulationen, sondern die Effekte der Arbeit eines aktiven, sich einlassenden Erkenntnissubjekts. Diesem neuzeitlichen Forschungsbegriff liegt die Vorstellung zugrunde, dass das Erkennen eine die Sachen ergründende Tätigkeit ist.22 Eine Praxis – wie die Kunst! Was tun mithin die forschenden Künste in ihrer Praxis? Der Blick auf die Arbeitsweisen und Praktiken der künstlerisch Tätigen rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn der Begriff des künstlerischen Forschens mit Bedeutung gefüllt werden soll.

1Vgl. Sherman: The Complete Untitled Film Stills, 2003.

2Vgl. etwa Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, 2001.

3Rheinberger: Epistemologie des Konkreten, 2006, S. 225.

4… und wir werden feststellen, dass eine »nachdenkliche Methodologie« ein spezifisch ästhetisches Verständnis ästhetischer Methoden zu charakterisieren in der Lage sein wird und können von Jens Badura den Hinweis jetzt schon aufgreifen, dass der Begriff der Nachvollziehbarkeit im Kontext der Kunst durch jenen der »Mitvollziehbarkeit« ersetzt werden kann. Vgl. Badura: Erkenntnis (sinnliche), in: Badura, Dubach, Haarmann et al. (Hg.): Künstlerische Forschung: Ein Handbuch, 2015, S. 43-48.

5Vgl. Walde: Lateinisches etymologisches Wörterbuch, 1938, S. 784f.

6Vgl. die Analysen des Altphilologen Snell: Die Entdeckung des Geistes, 1975, S. 22ff.

7Snell stützt sich hier auch auf die Untersuchungen des Altphilologen Kurt von Fritz zum Begriff des nous bei Homer aus dem Jahre 1940.

8Vgl. etwa Schnädelbach: Erkenntnistheorie zur Einführung, 2002, S. 159ff.

9Vgl. etwa Karl-Heinz Bohrers These von der »Plötzlichkeit«, mit der sich Sinn angesichts künstlerischer Werke einstellt. Bohrer: Plötzlichkeit, 1981.

10… was Bruno Latour ohnehin vorschlägt, wenn er anmerkt, dass es zwar eine Philosophie der Wissenschaft nicht aber eine Philosophie der Forschung gäbe. Letztere aber gälte es zu denken, weil Wissenschaft (nur) kalt, sicher und entkoppelt sei, Forschung aber (vielversprechend) warm, eingebunden und risikoreich sei. Vgl. Latour: World of Science to the World of Research? in: Science, 1998, pp. 208-209.

11Vgl. www.candicebreitz.net (Aufruf September 2018).

12Ausstellungskatalog, BALTIC Centre for Contemporary Art 2006 »Collectively, the portraits are an ongoing survey of the culture of the fan and the delicate mechanisms of projection, identification and consumption that characterise the relationship between an icon and his/her community of fans.« (Vgl. www.artthrob.co.za/06dec/listings_intl.html Aufruf: September 2018).

13Vgl. Baumgarten: Ästhetik Teil 1, 2007. Siehe zu Baumgarten auch das Kapitel »Künstlerisches Bedeuten«.

14Vgl. Fiedler: Schriften zur Kunst. Bd. 1 + Bd. 2, 1991. Siehe zu Fiedler auch das Kapitel »Zur Praxis der Kunst«.

15Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, 1970, S. 44.

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