Arztroman Dreierband 1003 - Anna Martach - E-Book

Arztroman Dreierband 1003 E-Book

Anna Martach

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Romane Das Leben ist zu kostbar (Thomas West) Vater zu verschenken (Anna Martach) Eine Lawine wird zum Schicksal Anna Martach) Konrad Neukirchner hat ein Auge auf die fesche Tierärztin Bernie Brunnsteiner, Fast-Verlobte von Doktor Daniel Ingold, geworfen. Konrads Kinder leiden derweil unter der Trennung von der Mutter – und dann geschieht ein Unfall, der den arbeitswütigen, sturen Neukirchner vieles mit anderen Augen sehen lässt …

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Seitenzahl: 389

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Anna Martach, Thomas West

Arztroman Dreierband 1003

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Inhaltsverzeichnis

Arztroman Dreierband 1003

Copyright

Das Leben ist zu kostbar

Vater zu verschenken

Eine Lawine wird zum Schicksal

Arztroman Dreierband 1003

Anna Martach, Thomas West

Dieser Band enthält folgende Romane

Das Leben ist zu kostbar (Thomas West)

Vater zu verschenken (Anna Martach)

Eine Lawine wird zum Schicksal Anna Martach)

Konrad Neukirchner hat ein Auge auf die fesche Tierärztin Bernie Brunnsteiner, Fast-Verlobte von Doktor Daniel Ingold, geworfen. Konrads Kinder leiden derweil unter der Trennung von der Mutter – und dann geschieht ein Unfall, der den arbeitswütigen, sturen Neukirchner vieles mit anderen Augen sehen lässt …

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

COVER A.PANADERO

© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Alles rund um Belletristik!

Das Leben ist zu kostbar

Ärztin Alexandra Heinze

Arztroman von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 149 Taschenbuchseiten.

Rainer Hahn kann endlich die Kaserne verlassen. Bei einem Umtrunk mit seinen Kumpeln erfährt er, dass seine Tania einen Neuen hat. Voller Wut und betrunken rast er mit seinem Auto los.

Der berühmte Trapezkünstler Salvatore Ikarelli ist die Hauptattraktion des Zirkus‘ Markos. Seine Frau Lisa jedoch ist besorgt, dass ihm etwas zustoßen könnte.

Dr. Herbert Conrady findet in seinem Fach einen Erpresserbrief. Jemand hat beobachtet, dass er mit der jungen Carola vor einiger Zeit seine Frau Clara betrogen hat.

Das wird sicher kein ruhiger Dienst im Krankenhaus für Frau Dr. Heinze.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]

1

Er trat vor die Kaserne auf die Straße. Einen Augenblick blieb er stehen und sah in den blauen Morgenhimmel. Er schloss die Augen und saugte die noch von der Nacht kühle Luft in die Lungen. Dann warf er seinen schwarzen Ledersack über die Schulter. Ohne sich noch einmal umzusehen, überquerte er die Straße. Trotz der frühen Morgenstunde war sie schon stark befahren. Er kümmerte sich nicht um das Gehupe der Autos. Auf der anderen Straßenseite beschleunigte er seinen Schritt. Ein trockenes Lachen löste sich aus seiner Kehle.

Er bog in eine Seitenstraße ein und rannte los. Rannte und lachte.

"Du bist frei!", lachte er. "Du bist frei, Rainer!" Er wusste nicht, wohin er rannte. Es war ihm egal. Hauptsache weg. Möglichst weit weg von dieser verfluchten Kaserne. Er rannte und lachte und rannte.

"Sie können gehen, Hahn!", keuchte er mit verstellter Stimme. Plötzlich blieb er stehen, ließ den Ledersack auf den Gehweg fallen und salutierte. "Jawoll, Herr Feldwebel!" Er lachte wieder, nahm seinen Seesack auf und lief weiter. "Jawohl, du Arschloch, ich gehe!"

Er kam an einem Park vorbei und verlangsamte seinen Laufschritt. Hinter einer Buchenhecke erkannte er einen Spielplatz. Drei Reckstangen in unterschiedlicher Höhe ragten über die Hecke. Er spurtete in den Park, setzte mit einem Sprung über die Hecke und hängte sich an die höchste der Stangen. Bis seine Arme schmerzten, turnte er an dem Gerät. Als wollte er die sportliche Abstinenz, die ihm die kleine Gefängniszelle in der Kaserne aufgezwungen hatte, in wenigen Minuten wieder wettmachen. Anschließend machte er einige Dehn- und Streckübungen und lief dann weiter. Er genoss es, seinen Körper zu spüren, genoss das rhythmische Abfedern seiner Fußsohlen vom Asphalt, genoss das Gefühl seiner Kraft. Nein, die vierzehn Tage in der Zelle hatten ihm nichts anhaben können. Seine Kondition war ungebrochen.

In einer Bäckerei kaufte er drei Schinkenbrötchen und ein Stück Mohnkuchen. Später saß er in einer Spelunke vor einem Kännchen Kaffee und einer Packung Marlboro. Die Kneipe war schmutzig und verraucht. Einige Nachtschichtler tranken Kaffee, Frührentner und Arbeitslose - er entnahm das ihren Gesprächen - tranken das erste ihrer zahllosen Biere dieses Tages. Er war glücklich, unter ihnen zu sein. Unter Menschen, nach vierzehn Tagen Arrest wieder unter Menschen!

Er mischte sich in ihre Unterhaltung, und bald gingen Witze hin und her. Schließlich setzte er sich an ihren Tisch und gab eine Runde Schnaps aus. Als er nach zwei Stunden wieder auf die Straße trat, traf ihn die einsetzende Hitze des Hochsommertages wie ein Faustschlag. Er versuchte sich zu orientieren und schlenderte Richtung Bahnhof.

Was mach' ich jetzt?, überlegte er. Erst einmal Tania anrufen, dann den Alten.

Auf der anderen Straßenseite fiel ihm ein Schaufenster auf. Er steuerte es an.

Nein, das Unangenehme zuerst.

Ja, er würde zuerst seinen Vater anrufen. Wahrscheinlich hatte der ihn durch seine Beziehungen so schnell aus dem Bau geholt. Er musste ihn anrufen. Er brauchte Geld.

Das Schaufenster gehörte zu einem Fitnessstudio. Es war schon nach zehn, und das Studio hatte bereits geöffnet. Für zwei Stunden vergaß er Tania, vergaß sogar seinen Vater, vergaß alles.

Mit der besten Laune seit Tagen kam er gegen Mittag am Bahnhof an. Sogar, als er die Nummer des Anwaltsbüros seines Vaters wählte, dämpfte das seine Stimmung kaum.

"Rainer Hahn hier, ich möchte meinen Vater sprechen."

"Herr Dr. Hahn telefoniert gerade, wollen Sie warten?"

Er wollte, und kurz darauf ertönte die sonore Stimme seines Vaters.

"Junge? Alles klar?"

Er hasste es, Junge genannt zu werden. Er war ein Mann von achtundzwanzig Jahren. Wann würde der Alte das endlich kapieren?

Sein Vater kam gleich zur Sache: "Wir müssen über die Angelegenheit noch sprechen. Es hat mich eine Menge Geld gekostet, dich ohne Vorstrafe da 'rauszuboxen."

"Danke."

"Schon gut. Ich habe mit deinem Professor gesprochen, du kannst im Wintersemester sofort wieder einsteigen."

Er antwortete nichts. Sie tauschten noch ein paar Bedeutungslosigkeiten aus. Das war's.

Als Tania sich meldete, verstellte er die Stimme und sprach in breitestem rheinischen Dialekt. "Hier ist die Staatsanwaltschaft. Leider müssen wir Ihren zukünftigen Gatten noch ein paar Jährchen hier behalten, Frau Billinger, wegen Beschädigung von Staatseigentum. Sie müssen die Trauung hier im Gefängnis vollziehen."

Tania erkannte ihn nicht gleich. Dann kicherte sie los: "Du unverbesserlicher Witzbold, du."

Sie verabredeten sich für den Nachmittag.

"Mein Wagen steht zu Hause in der Garage. Ich muss die Bahn nehmen, sonst läge ich längst in deinen weichen Armen, Holdeste." Eine merkwürdige Zurückhaltung lag in ihrem Lachen. Er schob es einfach weg.

Nachdem er die Fahrkarte nach Bad Ems gelöst hatte, saß er mit einer Cola vor dem Bahnhof auf einem Blumenkasten und wartete auf seinen Zug. Ein Strahlen lag auf seinem Gesicht. Der Tag war gut. Er dachte an Tania und lächelte. Er dachte an den Hochzeitstermin in einem Monat und grinste. Er dachte an das idiotische Gesicht seines Feldwebels heute Morgen und lachte. Er lächelte sogar den einen oder anderen Passanten an, und nicht nur junge Frauen. Und er wäre in schallendes Gelächter ausgebrochen, wenn ihm jemand gesagt hätte, dass Rainer Karl Hahn noch am gleichen Tag, etwa zehn Stunden später, den Tod suchen würde.

2

Die Tageszeitung brachte es auf der ersten Seite des Regionalteils: ,Zirkus Markos gastiert eine Woche lang in unserer Stadt‘.

"Hier ist es, Gottfried, willst du hören?" Lisa sah den Mann, der ihr am Campingtisch gegenüber saß und sein Frühstücksei löffelte, fragend an. Er nickte.

Sie frühstückten meistens vor ihrem blauen Wagen, jedenfalls wenn das Wetter es zuließ. So konnte man den anderen Artisten zuwinken, die ebenfalls vor ihren Wagen frühstückten, mit Vorübergehenden plaudern, dem Jongleur beim Training zusehen, das Knurren der Raubkatzen hören und den Duft der Pferde riechen. Gottfried liebte es, den Tag so zu beginnen.

"Mitten in meiner Familie", wie er manchmal sagte.

Lisa betonte die Stellen, die Gottfried betrafen.

"Der berühmte Trapezkünstler Salvatore Ikarelli wird mit seinem dreifachen Salto mortale auftreten. Er ist einer der wenigen Artisten auf der Welt, der diesen Sprung ohne Netz wagt …" Lisa ließ die Zeitung sinken. "Ich werde bei der Zeitung anrufen. Die sollen endlich einmal schreiben, dass seine Frau dabei jedes Mal Blut und Wasser schwitzt."

Gottfried stand auf, ging um den Tisch und beugte sich zu ihr hinunter.

"Meine Liebste", er streichelte ihr blauschwarzes, langes Haar und küsste sie, "jetzt mache ich diese Nummer schon seit fast drei Jahren und immer noch versetze ich dich in Angst und Schrecken. Das tut mir leid." Er ging vor ihr in die Hocke. "Aber solange du Blut und Wasser schwitzt, weiß ich wenigstens, dass du mich noch liebst."

Seine Augen waren wasserblau, und eine Entschlossenheit funkelte in ihnen, die Lisa selten bei einem Mann gesehen hatte. Sie konnte nicht in diese Augen schauen, ohne dass etwas in ihr zu schmelzen begann. Seit sieben Jahren ging ihr das so, seit sie zum ersten Mal in diese Augen geblickt hatte.

"Dummkopf", sie klopfte ihm mit der flachen Hand auf den kahl rasierten Schädel, "solche Liebesbeweise hast du gar nicht nötig. Du weißt, dass ich dich noch lieben werde, wenn du mich einst krächzend um dein Gebiss bittest, damit du mich ins Ohrläppchen beißen kannst." Der gespielte Ärger wich aus ihrer Stimme, und sie wurde plötzlich sehr weich. "Ich werde dich immer lieben ..."

Er nahm sie in die Arme und küsste sie auf's Neue.

"He Salvatore! He Lisa!" Einer der beiden Liliputaner lehnte zwei Wagen weiter aus der Tür. "Einen guten Morgen braucht man euch wohl nicht mehr wünschen."

"Warum nicht, Charlie?" Gottfried stand auf. "Der Tag fängt zwar gut an, aber warum sollte er nicht noch besser werden?"

"Hoffen wir mal, dass er für den Chef ähnlich gut angefangen hat!" Charlie verschwand in seinem Wagen.

Lachend ließ sich Gottfried auf seinem Klappstuhl nieder und widmete sich seinem Ei.

"Du hast gut lachen, Baby", Lisa nahm die Zeitung wieder hoch, "aber nicht jeder hat bei unserem Direktor so einen dicken Stein im Brett wie du."

"Vor zwölf Jahren, als ich anfing, ging es mir nicht anders als den beiden Kleinen. Da war ich dreiundzwanzig, und nicht nur mein damaliger Direktor hat mich als Blitzableiter für seine Launen benutzt." Er sah Lisa mit hochgezogenen Brauen an und sprach leise weiter. "Du weißt selbst, dass wir schon bessere Clowns gesehen haben."

Lisa zuckte nur mit den Schultern. Sie vermied es, kritisch über Kollegen zu sprechen. Gottfried allerdings - ihm gestand sie das zu. Er war ein As auf seinem Gebiet. Sein Standpunkt war: zehn Prozent Talent, neunzig Prozent Fleiß. Er hatte sich seinen Spitzenrang als Trapezkünstler hart erarbeitet. Und er arbeitete immer noch an sich. Und er respektierte keinen Artisten, der nicht an sich arbeitete.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte Lisa die Zeitung wieder sinken lassen. Sie beobachtete ihn. Seine Gesicht war weich, und besonders sein Mund mit den vollen Lippen schien Gottried Vogel eher als weichen Gefühlsmenschen, denn als energischen Willensmenschen zu charakterisieren. Lisa wusste, dass er beides war. Sie hatte es gleich damals gewusst, vor sieben Jahren, aus seinen Augen.

Wann wird er endlich ans Aufhören denken? Lisa sprach diese Frage nicht aus. Nicht mehr. Zu oft hatten sich die heftigsten Auseinandersetzungen an dieser Frage entzündet. Und an der anderen: Wann werden wir Kinder haben? Sie hatte sie nur zweimal ausgesprochen.

Gottfried stellte den Eierbecher auf den Tisch und griff nach seiner Kaffeetasse. Jetzt erst merkte er, dass seine Frau ihn beobachtete. Und in ihren wehmütigen, dunkelblauen Augen las er ihre Gedanken.

"Lisa ..." Er ging zu ihr und nahm sie in den Arm. "Mach' dir keine Sorgen, du hast doch mich."

Sie dachte daran, dass ein Kind ihr als lebendiges Bild ihrer Liebe bleiben würde, wenn er sich eines Tages den Hals bricht. Sie hütete sich aber, diesen Gedanken auszusprechen.

"Heute ist heute", Gottfried lächelte sie aufmunternd an, "und um morgen kümmert sich das Leben." Er stand auf und begann abzuräumen. "Und jetzt geht es an die Arbeit, das verscheucht trübe Gedanken und regt den Appetit auf's Mittagessen an."

3

"Hurra, die Erlösung kommt, das Wochenende kann beginnen!" Dr. Herbert Conrady hing seinen Arztmantel in den Schrank und ging dann erst auf Alexandra Heinze zu, um ihr die Hand zu drücken. "Ein ruhiges Dienstwochenende wünsche ich Ihnen, Frau Kollegin.

"Danke, Herr Conrady, wünsche ich mir auch." Die Notärztin stellte ihre Tasche auf den Schreibtischstuhl und schlüpfte in ihren weißen Mantel. "Und? Wie war es?"

"Ruhig, sehr ruhig."

"Hoffentlich bleibt es so." Alexandra warf ihren Sanitätern, die es sich schon am Tisch bequem gemacht hatten, einen hoffnungsvollen Blick zu. "Ich habe heute Abend nämlich einen Tisch im ,Corona d'Oro‘ bestellt. Da wäre ein pünktlicher Dienstschluss ganz wünschenswert, nicht wahr, meine Herren?"

"Das kann man wohl sagen", tönte Ewald Zühlke, "sonst müssen wir das langversprochene italienische Essen doch noch auf den Sankt Nimmerleins-Tag verschieben."

"Oh, Sie tun etwas für das Betriebsklima!" Conrady war schon an der Tür. "Na, dann viel Spaß. Sie werden schon pünktlich hier wegkommen. Unfälle und Herzinfarkte sind vertagt. Die Leute sind im Urlaub oder lassen sich auf ihren Terrassen und Balkonen von der Sonne bescheinen. Was machen Sie eigentlich im Urlaub?"

"Sobald Herr Stellmacher zurückkommt, also in vier Wochen, werden mein Mann und ich zu unserer langgeplanten Nordlandtour aufbrechen. Drei Wochen Dänemark, Schweden und Norwegen. Der Campingbus ist schon gebucht."

"Na, das klingt ja nach Abenteuer!" Conrady öffnete die Tür, wandte sich dann aber noch einmal seiner Kollegin zu. "Ach übrigens, Frau Heinze, bleibt es dabei, dass Sie nächste Woche Mittwoch für mich den Spätdienst machen? Ich will mit meinen Neffen und Nichten in den Zirkus gehen."

"Steht schon im Kalender." Alexandra ließ sich in den Schreibtischsessel fallen und griff nach dem Heft mit den Dienstprotokollen.

"Wunderbar! Vielen Dank und auf Wiedersehen!" Herbert Conrady schloss die Tür. Pfeifend ging er über den Gang in Richtung Pforte. Die Aussicht auf das freie Wochenende beflügelte ihn ungemein. Seine Frau Carla, OP-Schwester im Städtischen Krankenhaus, hatte ebenfalls frei. Sie hatten eine Segeltour an der Holländischen Nordseeküste geplant. Es war das erste gemeinsame freie Wochenende seit zwei Monaten.

Die Tür zur Pforte stand offen. Im Vorbeigehen sah er, dass einige Papiere in seinem Fach lagen. Er betrat pfeifend die Pforte und räumte sein Postfach leer.

"Schönes Wochenende, Herr Preuss", verabschiedete er sich vom Pförtner.

Auf dem Weg zum Parkplatz sah er die Post aus seinem Fach durch. Der Durchschlag seines Urlaubsantrags mit dem Genehmigungszeichen des Chefs, eine Einladung zu einer Tagung in Düsseldorf, ein OP-Bericht, um den er den Oberarzt gebeten hatte, und ein Brief ohne Absender.

Erst in seinem Wagen öffnete Conrady den Brief. Schon als er die ersten Zeilen überflogen hatte, wusste er, dass er ab sofort ein Problem hatte.

,Sehr geehrter Herr Doktor,

erinnern Sie sich an den letzten Grillabend im Spätsommer vorigen Jahres? Der OP, die Ambulanz und das Notarztteam haben zusammen gefeiert. Ich denke, Sie erinnern sich gut. Ich jedenfalls bin über alles bestens informiert. Aus erster Hand sozusagen. Haben Sie Interesse daran, dass Ihre Frau Genaueres über den Abend - bzw. über die Nacht - erfährt? Wenn nicht, zahlen Sie mir 5.000 DM, und die Sache ist erledigt. Falls Sie mit diesem Geschäft einverstanden sind - es ist wirklich weiter nichts, als ein faires Geschäft - lassen Sie die ganze nächste Woche über einen grünen Papierbogen in Ihrem Fach liegen, weiter nichts. Ich melde mich dann wieder bei Ihnen.‘

Keine Unterschrift.

Conrady ließ den Brief sinken und lehnte seinen Kopf an die Nackenstütze. Als er die Augen schloss, begann sich alles zu drehen.

"Das glaub' ich nicht", flüsterte er, "das glaub' ich nicht!", schrie er und las den Brief ein zweites Mal. "Schweinerei!" Er knüllte den Brief zusammen und warf ihn in den Fußraum vor dem Beifahrersitz. Dann stieg er aus und begann unruhig und mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen neben seinem Wagen auf und ab zu laufen.

,Grillabend‘, ,Spätsommer‘ - natürlich erinnerte er sich. Das heißt - er hatte die Erinnerung daran erfolgreich ausradiert. Hatte er jedenfalls gedacht, bis eben, bis zu diesem dreimal verfluchten Brief. Seit sie vor einem halben Jahr nach München an die Uniklinik gegangen war, hatte er so gut wie nie an Carola gedacht.

Carola ... Sie war OP-Schwester im Marien-Krankenhaus gewesen, und sie hatten sich immer gut verstanden. Und sie war hübsch, ja, das war sie, und an jenem Abend, an diesem Grillabend - sie hatte Bereitschaftsdienst, und er hatte verdammt viel Bier intus gehabt - da waren sie sich ohne Wort einig geworden. Und er war ihr ins Bereitschaftszimmer gefolgt ...

Conrady riss die Autotür auf und warf sich in den Fahrersitz. Es war ein Ausrutscher gewesen, ein einmaliger Ausrutscher, verdammt noch mal!

Wieder las er den Brief. Er war auf irgendeinem Tintenstrahldrucker gedruckt worden, mit einer Standardschrift. Eine Freundin von Carola? Eine Kollegin, bei der sie angegeben hatte, weil sie sich einen Arzt ins Bett geholt hatte?

Egal - Carla durfte nichts davon erfahren! Sie war so eifersüchtig wie eine römische Filmdiva. Sie würde ihn sofort aus dem Schlafzimmer ausquartieren. Und zuvor würde sie sämtliches Geschirr aus den Schränken räumen und auf dem Boden zertrümmern. Oder ihm an den Kopf werfen. Und am nächsten Tag würde sie beim Anwalt sitzen. Ja, Conrady kannte seine Frau, und - er liebte seine Frau. Kein Wort durfte sie erfahren.

Er zerriss den Brief in tausend kleine Stücke, stieg aus und ließ die Schnipsel durch das Eisenrost eines Gullis in die dunkle Tiefe segeln. Dann ging er zurück und startete sein Auto.

Gut, jetzt war erst einmal Segeln angesagt, und möglichst gute Miene. Vielleicht sollte er gar nicht reagieren. Vielleicht würde dieser Erpresser, dieses Schwein, den Mut verlieren. Mal sehen.

Conrady versuchte wieder zu pfeifen, wie eben noch, als er durch den Krankenhausgarten zum Parkplatz gegangen war. Welches Lied hatte er gleich auf den Lippen gehabt? Mist - er hatte es vergessen ...

4

Hagen Sudhoff war ein Einzelgänger. Im Zirkusteam pflegte er kaum private Kontakte, und ein harter, abweisender Zug um seinen Mund ließ bei den Menschen, die mit ihm zu tun hatten, gar nicht erst das Bedürfnis nach Kontakt mit ihm aufkommen. Jedenfalls bei den meisten nicht.

Aber man kann auch nicht sagen, dass er ein übler Kerl gewesen war. Nein, manche Kollegen im Zirkus schätzten ihn sogar. Die Liliputaner etwa heulten sich regelmäßig bei ihm aus, wenn der Direktor sie wieder einmal zur Schnecke gemacht hatte, weil ihre Clown-Nummer danebengegangen war. Und der Direktor war relativ häufig der Meinung, dass sie daneben ging.

Auch Ikarelli fand den Sudhoff eigentlich ganz in Ordnung. Das sagte er sogar später noch, danach, als alles vorbei war.

Sudhoff blieb vor dem Wagen des Direktors stehen und klopfte. Der Bass seines Chefs forderte zum Eintreten auf.

"Tag, Herr Markos." Sudhoff schloss die Wagentür hinter sich. Der Direktor saß vor seinem PC und sah nicht einmal auf. Er rechnete. Das tat er meistens, rechnen. Auch wenn die Saison überdurchschnittlich gut gelaufen war bisher, sah Hektor Markos seinen kleinen Zirkus am Rande des Bankrotts. Er sah ihn immer am Rande des Bankrotts. Und deswegen rechnete er ständig.

"Was gibt's, Hagen?"

"Ich muss Sie sprechen, Chef."

"Schießen Sie los!" Er drehte sich um und sah seinem strohblonden, knapp dreißigjährigem Drahtseilartisten in die Augen. Der Blick des Direktors sagte: Du hast genau fünf Minuten Zeit, fass dich kurz!

"Ich will ins Hauptprogramm", ohne Umschweife kam Hagen auf den Punkt. Der Direktor liebte es direkt und unverblümt.

"Verstehe ich. Womit?"

"Mit der Motorradnummer. Ich hab' sie jetzt drauf. Ich fahr' ohne Netz, hin und zurück."

Markos musterte ihn mit seinen dunklen, hellwachen Augen. Es waren diese alles durchdringenden Augen, die jeder der Artisten fürchtete. Augen eines Kindes und eines Greises zugleich. Niemand wusste das exakte Alter des Zirkusdirektors. Lilli, die Frau mit den Gummigliedern, die regelmäßig mit ihm schlief, war davon überzeugt, dass der Direktor Anfang vierzig war. Hagen hielt ihn für über fünfzig.

"Hören Sie, Hagen, ich habe Sie heute Morgen beim Training beobachtet. Sie sind noch unsicher. Und dann gleich ohne Netz - viel zu gefährlich."

"Und zu teuer!" Hagen platzte der Kragen. "Sagen Sie's doch, Sie wollen den zusätzlichen Tausender nicht locker machen!"

Markos stand auf und kam langsam auf den Jüngeren zu. Keinen Augenblick zog er seinen bohrenden Blick aus Hagens Augen. Einen fast körperlich spürbaren Schmerz empfand Hagen. Er verfluchte sich für die Idee, bereits zum dritten Mal in dieser Saison wegen der gleichen Sache vorzusprechen.

"Sie wissen genau, dass ich für eine gute Nummer tiefer in die Tasche greife, als meinem Steuerberater lieb ist. Das bringt Publicity und Publikum. Aber ich bin auch verantwortlich für die Sicherheit meiner Leute. Deswegen noch einmal: Nein."

"Und der Ikarelli zieht schon die dritte Saison die gleiche Nummer ab. Er bringt nichts Neues mehr und kriegt vermutlich zwei Tausender mehr als die meisten hier." Hagen war laut geworden.

Markos musterte ihn schweigend bevor er langsam nickte.

"Hüten Sie sich, Hagen! Eifersucht und Neid kosten nur Kraft und Konzentration. Salvatore ist fünf Jahre älter als Sie. Er hatte entsprechend länger Zeit, an sich zu arbeiten und zu dem zu werden, was er ist: Unsere Hauptattraktion." Der Direktor drehte sich von Sudhoff weg und ging zu seinem Schreibtisch zurück. "Ohne ihn würden wir gar nicht mehr aus den roten Zahlen kommen. Keine Diskussion also über Salvatore Ikarelli." Er nahm vor seinem Computer Platz und griff nach der Maus. "Bis heute Abend, Hagen."

Vor dem Wagen des Direktors zündete Hagen Sudhoff sich eine Zigarillo an. Fluchend spuckte er aus. Markos war ein Mann wie ein Granitblock. Er hätte es wissen müssen. Mit schwerem Schritt ging er auf das Zirkuszelt zu.

Von hinten hörte er Schritte. Der Jongleur sprach ihn.

"Hagen, kannst du mir fünfzig Mark leihen?" Er musste wirklich arg in Schwierigkeiten stecken, wenn er es sogar wagte, Hagen Sudhoff anzupumpen.

"Geh' zum Teufel", knurrte Sudhoff.

Die beiden Liliputaner standen an der offenen Seitenplane, starrten zur Kuppel hoch und schüttelten die Köpfe.

"Wahnsinn."

Über dem Netz trainierte Salvatore Ikarelli. Er hatte sein Trapez so kraftvoll in Schwung gebracht, dass es aussah, als würden seine Fersen jeden Moment das Kuppeldach berühren. Lisa, seine Partnerin, stand auf dem Absprung und hielt das zweite Trapez fest. Jetzt - Ikarelli kehrte gerade vom äußersten Punkt seines Aufschwungs zurück - schickte sie es ihm entgegen. Ikarelli ließ sein Trapez los, stieg, sich dreimal überschlagend, zur Kuppel empor, und griff im Fallen das auf ihn zuschwingende Trapez seiner Partnerin.

Die Liliputaner hatten den Atem angehalten. Nun brachen sie in begeisterten Beifall aus.

"Bravo, Salvatore, fantastisch!"

Hagen Sudhoff wusste, dass Ikarelli diese Nummer heute Abend ohne Netz präsentieren würde. Er wusste, dass die Zuschauer ihm tosenden Beifall spenden würden. Er wusste, dass Ikarelli der Beste war. Und er wusste, dass er Ikarelli hasste.

5

Zunächst hatte er den Besuch bei seinem Vater hinter sich gebracht. Der alte Herr war davon überzeugt, dass sein Sohn in einigen Wochen wieder nach Köln gehen würde, um sein Jurastudium fortzusetzen. Rainer hatte es nicht über das Herz gebracht, ihm die Wahrheit zu sagen. Nun gut, das nächste Mal. Das nächste Mal würde er die Karten auf den Tisch legen. Das nächste Mal würde er ihm sagen, dass er gar nicht daran dachte, Jurist zu werden und die väterliche Praxis zu übernehmen. Nein, er brauchte etwas Handfestes, eine Arbeit, bei der man sieht, was man produziert hat. Vielleicht sogar ein Handwerk. Aber wie sollte er das seinem Vater beibringen?

Keine Panik, Rainer, es wird sich alles ergeben.

Danach war er zu Tania gegangen und bis zum Abend bei ihr geblieben. Sie war anders gewesen als sonst. Vorwürfe hatte sie ihm gemacht. Wegen der vielen Zeit, die er im Fitness-Studio mit Body-Building zubrachte. Und wegen der häufigen Kneipentouren mit seinen Kumpels.

"Du hast dich an mich gewöhnt", hatte sie gejammert. "Seit wir den Hochzeitstermin festgelegt haben, scheinst du zu glauben, du hättest mich ein für allemal in der Tasche."

Das hatte ihn getroffen, ehrlich. Er hatte Besserung gelobt, ihr die Sterne vom Himmel versprochen, und schließlich hatten sie sich geliebt. Aber es war anders als sonst. Er schob es einfach weg. Wird sich schon wieder einrenken.

Er hatte dann seinen ganzen Charme aufbieten müssen, um ihr klar zu machen, dass er heute Abend nicht bei ihr bleiben konnte. Freiheit nach vierzehn Tagen Bau - das muss doch gefeiert werden. Mit den Kumpels, versprochen ist versprochen. Natürlich war sie sauer, aber darum würde er sich morgen kümmern.

Er parkte vor der alten Stammkneipe seiner Clique. Die meisten seiner Freunde waren schon da. Es gab ein großes ,Hallo‘, und die erste Runde ging selbstverständlich auf seine Kosten. Rainer erzählte von seiner einsamen Zeit im Gefängnistrakt der Kaserne, und einer bestellte die nächste Runde. Seine Kumpels wollten genau wissen, wie es zu dieser Strafe gekommen war. Erwartungsvoll und mit leuchtenden Augen sahen sie ihn an. Neben seiner ehrlichen, humorvollen Art war es sein Erzähltalent, dass ihn so beliebt machte im Bekanntenkreis. Stundenlang konnte er die steifsten Gesellschaften unterhalten.

"Ich sitz' also im Leo, ja?" Er rückte seinen Stuhl ein wenig vom Tisch weg und verwandelte ihn mit ein paar Gesten in den Geschützstand eines Panzers. "Neben mir der Feldwebel, Gesicht unterm Helm wie ein Daimler nach der Schrottpresse. Hinter mir der Kommandant, vor mir der Bildschirm mit der Zielatrappe. ,Feindliches Ziel erfasst‘, meld' ich und nehm' den alten Panzer ins Fadenkreuz." Rainer saß angespannt auf seinem Stuhl, ließ seine Finger über unsichtbare Armaturen gleiten und starrte auf einen imaginären Bildschirm. Die Freunde um ihn hingen atemlos an seinen Lippen.

",Ziel im Fadenkreuz‘, melde ich, und der Feldwebel sagt: ,Feuer!‘ Mein Gott, stinkt der wieder aus dem Maul, denke ich und zieh' ab." Mit der Rechten ergriff er einen imaginären Hebel. "Der Offizier macht die Klappe auf und hängt sich mit dem Feldstecher auf den Panzerturm. Und ich seh' auf dem Bildschirm, wie die Milan auf den Zielpanzer zurauscht. War natürlich nicht scharf, die Rakete, Übungsmunition, mit Mehl gefüllt. Und dann ..." Rainer unterbrach sich und hob beide Arme, als wollte er sich entschuldigen. "Dann kam es über mich. Dieser Feldwebel, dieses größte Arschloch zwischen Rhein und Oder, der ist eigentlich schuld, wie der mir das Leben zur Hölle gemacht hat! Dir zeig' ich's jetzt, denk' ich, und reiße plötzlich die Rakete 'rum", er griff wieder nach seinem nicht vorhandenen Steuerhebel, "sie zieht eine Kurve und kommt zurück. Ich seh' aus den Augenwinkeln, wie der Feldwebel zusammenzuckt und die Nase fast auf den Radarschirm presst. ,Die Milan kommt ja zurück!‘, brüllt er. Im selben Augenblick fällt ihm von oben ein Feldstecher auf den Helm, der Kommandant rutscht die Leiter herab und schreit ,Deckung!‘, hat aber vergessen den Deckel zu schließen. Und dann macht‘s auch schon rumms!"

Mit offenen Mündern starrten ihn seine Kumpels an.

"Das gibt's gar nicht!", flüsterte einer. Und dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. Die nächste Runde wurde bestellt.

"Alles war weiß", jubelte Rainer, "der Feldwebel und der Offizier sahen aus wie Schneemänner. Und der Leo erst - habt ihr schon mal einen schneeweißen Panzer gesehen?" Sie schlugen sich auf die Schenkel vor Lachen, und das Bier floss in Strömen.

"Du bist schon ein lustiger Vogel, Hahn", einer seiner Kumpels klopfte ihm auf die Schulter, "wirst deinen Humor ja auch gut brauchen können jetzt, wo deine Perle sich abgesetzt hat."

Das Lachen gefror in Rainers Gesicht.

"Tania? Wieso abgesetzt?"

Plötzlich wurden alle still. Sie wichen seinem Blick aus und machten betretene Gesichter.

"Ja, weißt du es denn noch nicht? Sie geht doch seit zwei Wochen mit dem Haller. Der ganze Ort spricht davon. Wir dachten ..."

Es war als würde jemand ohne Vorwarnung das Licht ausmachen. Rainer starrte sein leeres Bierglas an. Irgendetwas in seiner Brust begann anzuschwellen, alles in ihm wurde zu Stein.

6

Es war reiner Zufall, dass Britta an diesem Freitagabend Nachtdienst hatte. Assisa, die Stationsschwester, hatte sie kurz vor Antritt des Spätdienstes angerufen und gefragt, ob sie für eine erkrankte Kollegin einspringen würde. Und Britta hatte genau das getan, was alle von ihr gewohnt waren. Sie hatte ohne lange nachzudenken zugesagt.

Nicht, dass Britta nicht nein sagen konnte, keineswegs. Davon wussten vor allem etliche Männer unter dem Personal des Marien-Krankenhauses ein Lied zu singen. Angefangen von einigen Zivis bis hin zu so manchem jungen Assistenzarzt. Die zierliche Schwester mit den kurzen, blonden Locken, die wesentlich jünger als siebenundzwanzig aussah, konnte sich über einen Mangel an einschlägigen Anfragen nicht beklagen.

Und auch wenn es drum ging, der Krankenhausverwaltung die Zähne zu zeigen, war Britta in der Regel an vorderster Front mit dabei. Nicht umsonst hatte sie die Personalversammlung zur stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden gewählt. Doch wenn die Kolleginnen von der chirurgischen Station sie um einen zusätzlichen Dienst oder um eine Stellvertretung baten, sagte sie meistens ja. Deswegen wurde sie auch immer als Erste gefragt.

Diese Art Bittas war nicht etwa reine Hilfsbereitschaft oder Menschenfreundlichkeit. Sie war einfach flexibler, als die meisten ihrer Kolleginnen, und sie liebte die Abwechslung, das Unvorhergesehene. Und sie brauchte Geld. Denn Britta König hatte Zukunftspläne. Teure Zukunftspläne.

Sie betrat also an diesem Freitagabend, an den sie in ihrem späteren Leben noch oft denken sollte, das Dienstzimmer und stellte einen großen, schwarzen Koffer unter den Schreibtisch.

"Hi, Britta", grüßte Assisa, "wir sind so froh, dass du eingesprungen bist, danke." Ihr Blick fiel auf den Koffer. "Nanu - dein Akkordeon? Willst du unsere Patienten wachhalten?"

Britta grinste.

"Nein, nein - ich habe dem alten Herrn Plötzer ein Ständchen versprochen. Und heute ist doch der zweite Todestag seiner Frau."

"Ach!", staunte Assisa. "Was du alles weißt, und was willst du ihm spielen?"

",Ade zur guten Nacht‘ - hat er sich gewünscht." Britta nahm das Diensttagebuch aus dem Fach über dem Schreibtisch. "Und? Was machen unsere Patienten?"

Nach der Übergabe erledigte Britta die dringendsten Aufgaben: Infusionen wechseln, verschiedene Medikamente austeilen, die Frischoperierten besuchen - und ging dann mit ihrem Akkordeon zu Herrn Plötzer. Der alte Herr war bei der Kirschernte von der Leiter gefallen und lag die sechste Woche mit einem Oberschenkelhalsbruch auf der Chirurgie.

Britta spielte das Abendlied, und der alte Mann lauschte mit feuchten Augen. Als der letzte Akkord verklungen war, sagte er lange nichts. Er starrte in das immer noch strahlende Blau des Juliabends. Tränen liefen ihm über die zerfurchten Wangen.

Britta schnallte ihr Instrument ab und ging an sein Bett. Sie nahm seine Hand und zog ein Papiertuch aus der Tasche, um ihm die Tränen zu trocknen. Dann strich sie ihm über das schüttere Weißhaar. Er sah sie an.

"Es war schön", flüsterte er, "so schön, wie das Leben mit meiner Frau." Er begann zu erzählen.

Das Meiste hatte Britta schon mindestens zweimal gehört. Trotzdem hörte sie geduldig zu. Nicht aus Höflichkeit, sondern weil sie wusste, wie wichtig dieser Tag für den Mann war. Und weil sie an einem solchen Trauertag auch nicht allein sein wollen würde. Und weil sie neugierig war. Neugierig auf alles, was Menschen erleben können.

Nach einer Viertelstunde ertönte der Schwesternruf.

"Ich muss jetzt gehen, Herr Plötzer, irgendjemand wartet auf mich. Ich schaue nachher noch einmal nach Ihnen."

Der Greis lächelte sie dankbar an.

"Ich glaube, Krankenschwester ist genau der richtige Beruf für Sie, Schwester Britta."

"I wo", Britta winkte ab, "es gibt noch ein paar andere Berufe, die mich interessieren. Fast wäre ich KFZ-Mechanikerin geworden." Sie lachte. "Aber jetzt bleibe ich erst einmal noch mindestens zwei Jahre lang Krankenschwester."

"Und dann?", neugierig hob der alte Plötzer seinen Kopf und sah der Schwester nach. Sie war schon an der Tür.

"Dann gehe ich auf Reisen." Sie winkte ihm zu. "Bis nachher."

Zwei Schwesternrufe blinkten. Es war nichts Wichtiges. Zehn Minuten später verstaute sie ihr Akkordeon wieder im Koffer. Nachdenklich schaute sie hinaus in die Abenddämmerung. Der alte Plötzer und seine verstorbene Frau schienen wohl glücklich verheiratet gewesen zu sein. Über fünfzig Jahre. Britta schüttelte den Kopf. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Aus ihrer Verwandtschaft und ihrem Bekanntenkreis hätte sie spontan ein gutes Dutzend Beispiele für zerbrochene Beziehungen nennen können. Die Ehe ihrer eigenen Eltern war gescheitert, als sie zwölf gewesen war. Und sie selbst? Britta seufzte und nahm das Tablett mit den Schlaf- und Schmerzmitteln. Genug jetzt! Das Thema Männer war erledigt für sie. Sie hatte sich auf ein eigenständiges Leben eingerichtet, frei und ohne Bindung. Und sie war überzeugt davon, dass dies der einzig richtige Weg für sie war.

Nur manchmal kamen ihr Zweifel. Zum Beispiel dann, wenn ein alter Mann weinte und behauptete, es sei schön gewesen ...

7

Die Ablösung kam wie ausgemacht eine halbe Stunde früher.

"Guten Abend, Frau Heinze." Dr. Armin Scherer, ein niedergelassener Internist, der in Vertretung für Dr. Stellmacher Nachtdienst machte, begrüßte gut gelaunt die Notärztin und ihre beiden Sanitäter. "Oh, die Herren stehen ja schon in den Startlöchern!"

Tatsächlich saß Jupp Friederichs bereits in einem leichten Sommerjacket am Tisch. Auch Ewald Zühlke hatte die Dienstkleidung schon gewechselt. Er stand vor seinem Spind und war gerade damit beschäftigt, sich einen Schlips umzubinden.

"Ja, was sagen wir denn dazu?!" Scherer stellte sich staunend vor ihm auf. "Herr Zühlke mit Krawatte! Man erkennt Sie ja kaum wieder!"

"Ich weiß eben, was ich einer Chefin schuldig bin, die mich zum Essen einlädt", er warf einen säuerlichen Blick auf Friederichs, "anders als gewisse Kollegen."

"Neidhammel!", konterte der. "Ich hab' mein schönstes T-Shirt angelegt."

Alexandra lachte.

"Meine Herren, ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie sich so in Schale werfen." Sie wandte sich an Scherer. "Herr Miller und Herr Burgholz sind übrigens schon da. Sie sind im Wagen. Deswegen treffen Sie uns ausgehbereit an."

"Wunderbar", der sympathische Arzt rieb sich die Hände, "hoffentlich haben Sie uns noch ein bisschen Arbeit übrig gelassen."

"Es war relativ ruhig", Alexandra drückte ihm das Dienstprotokoll in die Hand, "ein Bienenstich auf einer Kinderzunge, ein diabetisches Koma, und zwei Fehlfahrten. Wenn Sie Glück haben, passieren die großen Dinge heute Nacht."

"Wie schön, dass Sie mir das gönnen, Frau Kollegin", grinste Dr. Scherer. Alexandra mochte den korpulenten und etwas untersetzten Mann. Er verfügte über einen gesunden Humor.

"Also, meine Herren, ich bin soweit", sie nickte dem Arzt zu und verließ vor ihren beiden Sanitätern das Notarztzimmer. "Bleibt es dabei, dass wir mit meinem Wagen fahren? Mein Angebot gilt."

"Aber nur, wenn der Zühlke hinten sitzen muss", tönte Friederichs.

"Ich habe meinen Wagen gar nicht mitgenommen", erklärte Zühlke. "Meine Frau und die Gattin dieses Sanitöters kommen damit ins Restaurant." Er zog eine Streichholzschachtel heraus. "Wir losen."

Während Alexandra das Auto aufschloss, zogen die beiden Männer Streichhölzer. Friederichs verlor, und Zühlke durfte vorne sitzen.

"Welch ein gutes Gefühl, mit Ihnen einmal ohne Blaulicht auszufahren." Zühlke drehte sich zu Friederichs um. "Und mit dir natürlich auch."

"Ich weiß nicht", Friederichs zuckte mit den Schultern, "ich find's komisch. Ich meine immer, das Funkgerät müsste jeden Moment losdudeln."

"Aber meine Herren, Sie werden sich gleich daran gewöhnt haben. Und wenn nicht", Alexandra sah ihre beiden Sanitäter vergnügt an, "vielleicht kann ich's ja arrangieren, dass ich mich beim Essen in den Finger schneide, dann können Sie mich versorgen."

Die beiden Männer lachten herzhaft.

"Aber die Chefin versorge ich!", drohte Friederichs von hinten. "Das wäre ja unverantwortlich, dich da ran zu lassen!"

Zühlke hatte irgendeinen groben Scherz parat, und Alexandra amüsierte sich die ganze Fahrt über köstlich wegen der Kabbeleien ihrer Sanitäter.

Sie fuhren ein Stück an der Mosel entlang. Das Ausflugslokal, das sie für ihren ,Betriebsabend‘ gewählt hatten, die ,Corona D'Oro‘, lag in Richtung Bad Ems an einer Moselbrücke. Es wurde von einem italienischen Inhaber geführt und war bekannt für sein gutes Essen.

Zehn Minuten später überquerten sie die Mosel und parkten auf dem geräumigen Waldparkplatz. Werner saß bereits an dem reservierten Tisch im Garten des Restaurants. Die Frauen der beiden Sanitäter trafen kurz darauf ein.

Vor zwei Jahren hatten sie in gleicher Zusammensetzung schon einmal gemeinsam gegessen, und im vergangenen Herbst hatte sich das Notarztteam mit Partnern zu einem Kegelabend getroffen. Man kannte sich also schon und musste nicht erst die berüchtigte und manchmal etwas verkrampfte Schnupperphase hinter sich bringen.

Die Stimmung wurde schnell ziemlich ausgelassen. Der unscheinbare Zühlke mit seinem trockenen Humor entpuppte sich mal wieder als glänzender Unterhalter, und selbst der sonst eher zurückhaltende Werner Heinze taute rasch auf und gab einige lustige Anekdoten zum Besten. Es hätte ein schöner Abend werden können ...

8

Er hörte schweigend zu. Schweigend und trinkend. Die Kumpels waren so erschrocken über den offensichtlichen Schock, den sie bei Rainer hervorgerufen hatten, dass sie ihm ein Bier nach dem anderen bestellten. Einige redeten auf ihn ein.

"Ehrlich, wir dachten, du hättest längst mit ihr gesprochen, weil doch der Haller schon im ganzen Ort 'rumerzählt, dass er zu ihr zieht." Und ein anderer hatte den Arm um Rainers Schulter gelegt und sagte: "Komm Junge, trink' dir einen und vergiss die Frau. Wenn die dich so behandelt, ist's sowieso besser, sie zieht ab. Hat dich doch gar nicht verdient ..."

Je mehr sie redeten, desto mehr versteinerte sich sein Gesicht. Und je deutlicher ihnen dieser harte, gefühllose Ausdruck in seinen Zügen bewusst wurde, desto heftiger redeten sie auf ihn ein.

Irgendwann stand er einfach auf. Er hielt sich einen Augenblick an der Tischkante fest und ging dann schwankend an die Theke.

"Telefonieren."

Der Wirt, verwundert über die Einsilbigkeit seines beliebten Gastes, deutete auf den Apparat am Ende der Theke. Rainer schob sich an der Theke entlang auf das Telefon zu. Er wählte Tanias Nummer.

"Billinger?"

"Rainer. Was ist mit dem Haller?" Schweigen am anderen Ende der Leitung. "Was ist mit dem Haller!?", brüllte Rainer.

Der Wirt sah von seiner Arbeit auf. An dem Tisch, an dem Rainers Kumpels saßen, hatte sich betretenes Schweigen breitgemacht. Alle starrten sie auf den mittelgroßen Mann mit den kurz geschnittenen dunklen Haaren, dessen Gesichtszüge keine Spur der gewohnten Jungenhaftigkeit mehr aufwiesen. Eine zornige, steile Falte stand zwischen den schwarzen Brauen über den braunen, mandelförmigen Augen.

"Antworte!"

Der Wirt trocknete sich die Hände ab und bewegte sich langsam auf Rainer zu.

"Ich, ich ...", stammelte Tania, "... ich geh' mit ihm ..."

"Warum sagst du mir das erst jetzt?!" Rainer schrie, als würde er Zuhause neben seiner laufenden Stereoanlage telefonieren. Der Wirt legte die noch feuchte Hand auf seinen Arm. An fast allen Tischen waren die Unterhaltungen verstummt. Das ganze Lokal schaute auf den jungen Mann am Telefon. Und die nah genug saßen, konnten die geschwollenen Adern an seiner Schläfe und seinem Hals erkennen.

"Ist das nicht der Sohn vom Dr. Hahn?", murmelte jemand, und an einigen Tischen wurde genickt.

"Mein Gott", jammerte Tania, "ich hab' mich halt nicht getraut ..."

"Du steigst mit mir ins Bett und gehst längst mit dem Haller!" Rainer war außer sich. Der Wirt griff mit beiden Händen zu.

"Beruhigen Sie sich, Herr Hahn!"

Rainer zitterte am ganzen Körper.

"Du verdammte ...", seine Stimme drohte sich zu überschlagen.

Der Wirt entwand ihm den Hörer.

"Genug jetzt, Herr Hahn!"

Rainer verstummte, sah ihn an, sah in seinem Blick die Blicke sämtlicher Gäste und drehte sich um. Zahllose Augenpaare musterten ihn. Es verschlug ihm schier den Atem. Er stürzte aus dem Lokal, riss noch auf der Treppe den Autoschlüssel aus der Hosentasche und warf sich in seinen Golf. Mit quietschenden Reifen fuhr er an. Tausend Bilder schossen ihm durch den Kopf: Die betretenen Gesichter seiner Kumpels, Tanias geheuchelte Freude heute Nachmittag, die ihn anstarrenden Gäste, Haller, dieser Idiot ... er würde ihn umbringen, natürlich, was sonst, er würde sämtliche Flaschen aus Tanias Hausbar auf seinem Schädel zertrümmern, er würde ihm seinen feisten Wanst aufschlitzen und ihn dann durchs geschlossen Fenster auf die Straße werfen. Das würde er tun, und vorher würde er Tania verprügeln, ihr verlogenes Mundwerk stopfen ...

Er tat nichts davon. Stattdessen gab er Gas, raste aus dem Ort, besinnungslos, mit Bildern der Scham und Bildern des Hasses im Kopf, raste an der Mosel entlang, schaltete wie in Trance in den fünften Gang, als eine Brücke heranrauschte, die nach rechts über den Fluss führte, hielt auf die Lücke zwischen Brückengeländer und Leitplanke zu und sah in dieser Lücke das Abendlicht sich im dunklen Wasser des Flusses spiegeln.

Es war wie im Film. Er war nicht in sich, nicht einmal seinen Namen hätte er in dem Augenblick nennen können, als sein Golf sich plötzlich links anhob, weil er über die Leitplanke scheuerte.

Das bin nicht ich, dachte er, als der Wagen wie eine beschleunigte Rakete abhob und auf den Fluss zuschoss. Oder nein, eigentlich war es kein Gedanke, eigentlich war es ein Gefühl, das seinen Körper durchzuckte wie ein kalter Strom. Er spürte nichts, als der Wagen am Ufer aufprallte. Er spürte nicht, wie der Sicherheitsgurt einige seiner Rippen zerquetschte. Er spürte nicht, wie sein rechter Arm aus dem Schultergelenk sprang und zerbrach. Der Wagen schleuderte seitlich ins Wasser, überschlug sich einmal und schlug mit den Rädern nach unten auf der Wasseroberfläche auf. Als er langsam zu sinken begann, füllte sich Rainers leeres Hirn mit einem fast kindlichen Staunen, und wenn er in diesem Augenblick hätte denken können, hätte er gedacht: Komisch, sterben tut gar nicht weh ...

9

"Meine Herren", Alexandra Heinze hob ihr Glas, "auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit!" Sie stießen an und tranken von dem trockenen Rotwein.

"Auf Sie, Frau Dr. Heinze", sagte Jupp Friederichs, "mit einer Ärztin wie Ihnen kann die Zusammenarbeit gar nicht anders als gut sein."

"Danke, Herr Friederichs", Alexandra wurde direkt ein wenig verlegen, "aber stellen Sie Ihr Licht nicht immer so unter den Scheffel." Sie wandte sich an die Frauen von Friederichs und Zühlke. "Ich muss Ihnen sagen, dass Ihre Männer die besten Sanitäter sind, die ich bisher kennenlernte." Wieder stießen sie an und Zühlke meinte grinsend zu Friederichs: "Scheinbar bist du doch kein so'n hoffnungsloser Fall, wie ich immer dachte."

Der Kellner trug der gut gelaunten Gruppe das Essen auf, und sie hatten eben den ersten Bissen zu sich genommen, als das scheuernde Geräusch von übereinander reibendem Metall durch die Abenddämmerung kreischte. Schlagartig verstummten sämtliche Tischgespräche im Garten des Restaurants, und alle Köpfe fuhren hoch. Dann ein dumpfer Aufschlag, noch einer und noch einer, und schließlich ein undeutliches Rauschen.

"Es kam vom Fluss!" Friederichs warf Messer und Gabel auf den Tisch und sprang auf. Auch andere Gäste rannten zur Straße und dann auf die Brücke zu.

"Scheiße!", brummte Zühlke und warf seiner Chefin einen resignierten Blick zu. Er schnitt sich noch ein großes Stück von seiner Pizza ab und lief dann hinter Werner her, der sich bereits an Friederichs Fersen geheftet hatte.

"Schnell, Polizei und Unfallrettung", rief Alexandra dem Kellner zu, der im Eingang des Lokals stand. Auch sie war aufgestanden und machte sich auf den Weg zur Brücke.

Friederichs kam als Erster dort an. Am jenseitigen Ufer sah er den vorderen Teil eines roten Wagens im Fluss -etwa fünf Meter vom Ufer entfernt. Die verbogenen Kühlerhaube stand seltsam schräg nach oben. Die Front des Fahrzeugs zeigte zum Ufer. Sein Heck war schon nicht mehr zu sehen.

"Ein Fahrzeug im Fluss! Es sinkt!" Er brüllte es heraus und spurtete los. Am Ende des Brückengeländers registrierte er die völlig plattgedrückte Leitplanke, die die hier sehr ufernahe Bundesstraße von der Flussböschung trennte. Er sprang die flache Böschung hinab und warf sein Jacket von sich. Der Wagen war schon bis fast unter die Brücke abgetrieben und ragte nur noch mit der Schnauze und der abstehenden Kühlerhaube aus dem Wasser.

Friederichs dachte nicht nach, als er sich die Schuhe von den Füßen riss. Er handelte vollkommen instinktiv. Obwohl er schon von dem Spurt über die Brücke außer Atem war, stürzte er sich in den Fluss und kraulte auf das versinkende Fahrzeug zu.

"Jupp! Jupp! Sei vorsichtig!" Er hörte die Stimme über sich auf der Brücke nicht. Er erinnerte sich auch nicht daran, als seine Frau ihm später erzählte, wie sie schreiend vor Angst auf der Brücke gestanden hatte. Immer seinen Namen schreiend. Die ganze Zeit, als er unter Wasser verschwunden war.

10

Plötzlich riss der Film, und Rainer Karl Hahn wusste wieder, dass dies alles Wirklichkeit war: sein Körper, das Auto in dem sein Körper sich krümmte, der Fluss, der sein Auto umarmte, und das Wasser des Flusses, das langsam und gurgelnd die Seitenfenster heraufkroch und sie mit grünlich waberndem Schwarz verdunkelte. Und er wusste auch, dass das Wasser, das vom Motorraum her in den Fußraum schoss und seine Hosenbeine heraufkletterte, Wirklichkeit war. Und er wusste vor allem eines: Er wollte leben. Er wusste das in diesem Augenblick mit einer geradezu schmerzhaften Klarheit. Nie mehr würde er es vergessen können. Es war in erster Linie die Angst, es könnte keine Gelegenheit mehr geben, sich an diese Erkenntnis zu erinnern, es war die Angst, es könnte zu spät sein, die ihn in den nächsten Sekunden genau das Richtige tun ließ.

Instinktiv wollte er mit der rechten Hand den Sicherheitsgurt öffnen. Er schrie vor Schmerz auf. Arm und Schulter ließen sich nicht bewegen und schienen wie eingezwängt in einen glühenden Schraubstock. Er tastete mit der Linken nach dem Schloss, und während der Wagen sich mehr und mehr nach hinten absenkte, und die gurgelnde Dunkelheit auf die obere Fensterkante zukroch, gelang es ihm, den Gurt zu öffnen. Erst als der Gurt über seine schmerzende Brust rutschte, merkte er, dass er ihn unter Wasser geöffnet hatte. Die kühle Feuchtigkeit kroch ihm schon über den Bauchnabel.

An den Seitenfenstern war der Abendhimmel noch eine Handbreit zu sehen. Er erkannte die Brücke über sich, und er sah Menschen auf der Brücke. Dann holte er ein paar Mal tief Luft und kurbelte die Seitenfenster herunter. Er wusste in diesem Augenblick nicht, in welchem Film er gesehen hatte, in welchem Buch er gelesen hatte, dass dies die einzige Chance war, in einem sinkenden Wagen die Tür zu öffnen.

Er kurbelte und kurbelte. Und unterdrückte die auflodernde Panik, als der Wagen spürbar schneller sank und das Wasser seinen Hals umspülte. Und die sich bleischwer auf ihn legende Frage, was denn wäre, wenn die Fahrertür verklemmt sein würde, schob er energisch beiseite.

Jetzt wurde es vollkommen dunkel um ihn. Seine Linke suchte den Türgriff. Er holte noch einmal tief Luft, und dann drang das Wasser in seine Nasenlöcher. Da! Der Türgriff! Er umklammerte ihn, riss an ihm - "du schaffst es, Hahn, du schaffst es" - er drückte mit der schmerzenden Schulter dagegen, stieß sich mit den Beinen vom Armaturenbrett, von der Beifahrertür ab - "und wenn du das geschafft hast, wirst du nichts mehr fürchten, nichts mehr..." - langsam gab die Tür nach, sank nach außen in die Dunkelheit und er fiel und schwebte. Er ruderte mit dem linken Arm um sich und tastete plötzlich eine fremde Bewegung, eine kraftvolle Bewegung, und etwas schloss sich um sein Handgelenk. Er spürte, wie er aufhörte zu fallen, zu sinken und zu schweben. Die Kraft an seinem Handgelenk zog ihn nach oben. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, sah einen Schatten, und antwortete mit Ruderbewegungen seines linken Armes und seiner Beine, als es ihm wie ein stummer Schrei durchs Hirn schoss: Du bist gerettet.

Sein Kopf durchstieß die Wasseroberfläche, und er schrie tatsächlich. Schrie keuchend und gurgelnd. Eine fremde Hand legte sich unter sein Kinn, unter seinen Beinen spürte er die Schwimmbewegungen fremder Beine. Dann fühlte er Uferschlamm an seinen Fersen, und als Sekunden später zwei kräftiger Hände unter seine Achseln griffen, um ihn aus dem Wasser zu ziehen, explodierte der Schmerz in seiner Schulter und schoss glühend durch seinen ganzen Körper. Er verlor das Bewusstsein.

11

Schwester Britta König stand an Herrn Plötzers Bett, als sie im Dienstzimmer das Telefon läuten hörte. Fast eine halbe Stunde lang hatte sie dem alten Herrn zugehört. Er konnte nicht schlafen.

"Ich muss gehen, Herr Plötzer, ich wünsche ihnen eine gute Nacht." Britta hatte eine Art siebenten Sinn entwickelt, mit dem sie meistens richtig erfasste, ob ein Anruf dringend war oder nicht. Auf dem Weg zum Dienstzimmer beschlich sie das Gefühl, dass dieser Anruf für sie eine arbeitsreiche Nacht bedeuten würde. Sie sollte recht behalten.

Es war die Pforte.

"Nabend Schwesta Britta, Büttner hier. Der Notarztwagen bringt'n Zugang, Vakehrsunfall. Ob Se schon ma'n Bett richten?"

"Ist das was für den OP?"

"Weeß ik nich, Schwesta."

"Alles klar, Herr Büttner." Britta war nicht der Typ Krankenschwester, für den ein guter Nachtdienst notwendig ein ruhiger Nachtdienst sein musste. Im Gegenteil - sie mochte das prickelnde Gefühl leichter Anspannung, mit dem sie nach Büttners Anruf zu Zimmer 212 ging. Ein Bett in dem Zweibettzimmer war frei. Der Patient - ein junger Mann mit einer Operation nach Leistenbruch sollte in den nächsten Tagen entlassen werden. Sie zog das freie Bett heraus und schob es zum Dienstzimmer. Zwanzig Minuten später rief Schwester Sonia von der Ambulanz an.

"Hi Britta, hast du schon wieder Nachtdienst? Wir haben Arbeit für dich."

"Ich warte schon drauf."

"Sehr gut. Also: Junger Mann, Ende zwanzig, stinkbesoffen, ist in die Mosel gefahren."

"Ach, du Schande!"

"Ja, nicht? Der Jupp hat ihn 'rausgeholt. Schulterfraktur, Schulterluxation, Oberarmfraktur und zwei, drei Rippen." Sonia holte Luft und machte eine Pause, um Brittas Reaktion abzuwarten. Die sagte aber nichts.

"Er soll in einer halben Stunde in den OP", fuhr Sonia fort. "Dr. Meurer operiert. Der Hintergrunddienst ist informiert. Frage: Könntest du den Mann für den OP vorbereiten? Waschen, Spritze, Hemd, Desinfektion und so weiter? Wir haben noch drei ambulante Patienten hier sitzen und liegen."

"Kein Problem, Sonia. Können die Sanis ihn hochbringen?"

"Glaub' schon. Vielen Dank, Britta, bist o.k."

Nach diesen Informationen wusste Britta, wie sie das Bett vorbereiten musste: Gummi, Galgen - so sagten die Schwestern zu der Haltestange am Kopfende - Infusionsständer und Sandsäcke zur Lagerung von Arm und Schulter. Eine mögliche Schiene wurde in der Regel erst nach der Operation verordnet. Britta war gerade dabei, die Spritzen aufzuziehen, die den Patienten vor einer Operation noch auf der Station verabreicht werden mussten, als die Sanitäter den Verletzten auf einer Trage vor das Dienstzimmer schoben.

Karl Miller kam herein und drückte ihr die Aufnahmepapiere in die Hand.

"Wir haben Herrn Hahn gebracht, Oberarmfraktur ..."

"Weiß schon Bescheid", unterbrach Britta. Sie ging mit nach draußen und begrüßte den Mann. "Ich bin Schwester Britta." Er stank nach Bier. Und seine Trage vibrierte. "Er zittert ja am ganzen Körper!", rief Britta mit einem vorwurfsvollen Unterton.

"Hat lange in den nassen Klamotten gesteckt." Miller zuckte mit den Schultern.

"Und dann diesen hier ..." Bruno Borgholz, der sich außerhalb des Blickfelds des Patienten glaubte, mimte das Herunterkippen eines Schnapses. Rainer Hahn sah die Geste trotzdem.

"Davon friert man doch nicht", krächzte er zitternd.

"Leider doch, Herr Hahn." Britta bemerkte seinen Unwillen und die Scham, die sich dahinter verbarg sofort. "Alkohol stellt die Gefäße weit. So verliert man Wärme." Sie wandte sich an die Sanitäter. "Ich übernehme ihn jetzt, tschüss."

Sie schob ihren Patienten in eines der beiden Behandlungszimmer und breitete als Erstes eine Heizdecke über ihm aus. Nach kurzer Zeit hörte Rainer Hahn auf zu zittern.

"Bo, tut das gut", dankbar sah er die Schwester an. "Stellen Sie sich vor, ich wollte mich umbringen, ich Idiot!" Er lachte trocken auf und verzog sofort sein Gesicht vor Schmerzen. "Einfach mein Leben wegwerfen ... und soll ich Ihnen sagen, warum?"

Britta stand mit den aufgezogenen Spritzen vor ihm. Skeptisch blinzelte der Mann zu ihr hoch. "Ich sag's Ihnen lieber nicht. Was haben Sie denn da?"

"Spritzen für Sie. Davon werden Sie ruhig und entspannt." Sie drückte eine Luftblase aus der Spritze. "Manche sagen auch ,Leck-mich-am-Arsch-Spritze‘ dazu, weil einem danach alles egal ist."

"Also gut, ich habe mir ja vorgenommen vor nichts mehr Angst zu haben", brummte er, "dann geben Sie mir den Stoff schon."

Eine halbe Stunde später fuhr Britta ihren Patienten in den OP hinunter.