Arztromane 7 - 9 - Sissi Kaipurgay - E-Book

Arztromane 7 - 9 E-Book

Sissi Kaipurgay

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Beschreibung

Harte Schale, harter Kern? Mikael lässt sich als ‚Leibarzt‘ für den Sohn des reichen Ford Beckinsale engagieren. Für ein halbes Jahr geht es in die Schweiz. Zum einen reizt ihn der erholsame Aufenthalt in Zürich, zum anderen mag er Milo, den Jungen. Dessen Vater allerdings weniger. Ekelpaket? Das mit dem Sabbatical hatte einigermaßen geklappt. Nur für ein paar sehr wichtige Privatpatienten musste Isaac trotzdem da sein. Ausgerechnet der Sohn eines schwerreichen Arschlochs wurde innerhalb der sechs Monate eingeliefert. Alte Liebe rostet nicht Marcus, Allgemeinmediziner, ist seit vier Jahren Single. Davor war er lange mit Kim, Heilpraktiker, fest liiert. Die ganze Zeit hat er es geschafft, seinem Ex aus dem Weg zu gehen, doch dann treffen sie unerwartet wieder aufeinander. Heilsame Nordseeluft? George hat für die Sommerferien das Appartement auf Amrum gebucht, von dem Kim und Marcus so geschwärmt haben. Zwei Wochen mit Daniel an der Nordsee. Das würde ihr angespanntes Verhältnis vielleicht verbessern. Leider ist Daniel von der Idee - gelinde gesagt - wenig begeistert. Urologen sind definitiv keine Herzspezialisten Daniel, Urologe aus Hamburg, hat eine Stelle in einer Praxis auf Mallorca angenommen. Erstmal ist diese befristet auf ein Jahr, mit Option auf Verlängerung. Er musste raus aus der Kälte und mal etwas anderes sehen, nachdem seine On-Off-Beziehung mit George vorüber war. … und Physiotherapeuten sind auch nicht besser Bryan ist Daniel, der eine Auszeit auf Malle nimmt, gefolgt. Leider verläuft ihr Wiedersehen ganz anders als erhofft. Das - und eine ohnehin negative Grundstimmung - sind schuld, dass Bryan etwas den Boden unter den Füßen verliert.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Harte Schale, harter Kern?

1.

2.

3. Zürich Flughafen, 15. Februar

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

Epilog – 15. August, Hamburg-Bergstedt

Ekelpaket?

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

Epilog – einige Monate später

Alte Liebe rostet nicht

1.

2.

3. - Freitag, 20. Februar

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

Epilog - sechs Wochen später - Hochzeitsparty

Heilsame Nordseeluft?

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Epilog, einige Wochen später

Urologen sind definitiv keine Herzspezialisten

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

Epilog - einen Monat später

… und Physiotherapeuten sind auch nicht besser

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

Epilog - eine Woche später

Arztromane 7 - 9

Sammelband

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Ebooks sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!

Text: Sissi Kaiserlos/ Kaipurgay

Foto: shutterstock_143280199, Depositphotos_4160048_l-2015

Coverdesign: Lars Rogmann

Kontakt: https://www.sissikaipurgay.de/

Sissi Kaiserlos/Kaipurgay

c/o Autorenservice Karin Rogmann

Kohlmeisenstieg 19

22399 Hamburg

Harte Schale, harter Kern?

Mikael lässt sich als ‚Leibarzt‘ für den Sohn des reichen Ford Beckinsale engagieren. Für ein halbes Jahr geht es in die Schweiz. Zum einen reizt ihn der erholsame Aufenthalt in Zürich, zum anderen mag er Milo, den Jungen. Dessen Vater allerdings weniger. Der scheint ein arrogantes Arschloch zu sein, wie alle Geldsäcke.

1.

Die Tür seines Sprechzimmers klappte hinter der kleinen Magdalene und deren Mutter zu. Mikael tippte ein paar Notizen, rief das Stammdatenblatt des nächsten Patienten auf und runzelte die Stirn. Milo Beckinsale war erst in der letzten Woche mit einer Erkältung bei ihm gewesen. Entweder hatte sich der Junge noch nicht davon erholt oder schon wieder etwas Neues eingefangen. Diesbezüglich war Milo ein armer Wicht. Egal welche Infektion gerade grassierte, der Kleine nahm sie fast alle mit.

Er erhob sich aus seinem schweren Ledersessel, ging zum Wartezimmer und spähte hinein. „Milo? Du bist dran.“

Das Kerlchen rutschte von dem Schoß einer Grauhaarigen, Roswitha Kuhl, Milos Kindermädchen, von dem Kleinen stets Tante Rosi genannt. Den Vater hatte er bisher bloß einmal gesehen, bei einem der ersten Besuche. Ein Mann mit schwarzen Haaren und unterkühltem Blick. Ansonsten wurde Milo ab und zu von einem anderen Angestellten begleitet, an dessen Namen er sich momentan nicht erinnerte. Nur daran, dass der Kleine Ernie zu dem Typ sagte. Na ja, es reichte wohl, wenn die genaueren Bezeichnungen der Begleitpersonen in Milos Akte standen. Schließlich war er kein wandelndes Adressbuch.

An der Hand von Tante Rosi folgte Milo ihm über den Flur ins Sprechzimmer. Während er hinterm Schreibtisch Platz nahm, setzte sie sich auf den davor stehenden Stuhl und hievte Milo erneut auf ihren Schoß.

„Ist die Erkältung von letzter Woche noch nicht abgeklungen?“, erkundigte sich Mikael.

„Eigentlich ging es Milo besser, aber gestern hatte er Halsschmerzen. Ich habe ihm einige Lutschtabletten gegeben. Heute Morgen tat ihm der Hals so weh, dass er nichts essen wollte. Wahrscheinlich sind es mal wieder die Mandeln.“

Angina war eine von Milos Dauerkrankheiten. Zweimal pro Jahr suchte den Jungen dieses Leiden garantiert heim, manchmal sogar dreimal. Eigentlich müssten die Dinger raus, doch bisher hatte sich Mikael davor gescheut das zu veranlassen. Zum einen wegen Milos Alter, der Junge war erst fünf, zum anderen barg eine Operation gewisse Risiken.

„Ich guck mir das mal an.“ Als er aufstand, glitt Milo von Tante Rosis Beinen, ging zur Untersuchungsliege und kletterte mithilfe eines Tritthockers auf die Sitzfläche.

Der süße Blondschopf war ein mustergültiger Patient. Nie klagte der Kleine, zeigte irgendwelche Launen oder verweigerte sich einer Untersuchung. Lediglich aufgerissene blaue Kinderaugen verrieten, dass Milo der anstehenden Inspektion der Mandeln mit etwas Angst entgegensah. Entsprechend verfolgten sie jede seiner Bewegungen: Dem Überziehen von Latexhandschuhen, dem Griff nach einem Holzspatel, seinen Schritten zur Liege.

Während er sich vorbeugte, sperrte Milo gehorsam den Mund auf. Sanft umfasste er das Kinn des Jungen, um dessen Mundhöhle ins optimale Licht zu rücken. Anschließend drückte er vorsichtig Milos Zunge mit dem Spatel nieder. Wie vermutet handelte es sich um eine Angina tonsillaris, also eitrige Mandelentzündung.

Er warf den Spatel in eine Nierenschale, die Handschuhe in den Mülleimer, hob den leichtgewichtigen Milo von der Liege und stellte ihn auf dem Boden ab. „Die gute Nachricht ist, dass du in nächster Zeit ganz viel Pudding und Eis essen darfst.“

„Und die schlechte?“, mischte sich Tante Rosi ein, bevor der Junge reagieren konnte.

„Er muss Antibiotika nehmen. Außerdem möchte ich ihn Ende der Woche noch mal sehen.“ Mikael ging zurück zu seinem Schreibtischsessel, ließ sich hineinplumpsen und begann auf der Tastatur zu tippen.

„Mein armer Spatz“, hörte er Tante Rosi gurren. „Auf dem Heimweg kaufen wir ganz viel Wackelpudding für dich.“

„Grünen?“, vernahm er Milos mühsames Krächzen und die schleppenden Schritte, mit denen der Junge zu der Frau ging und sich gegen deren Bein lehnte.

Als Kind hatte er auch die Sorte Waldmeister, seine Schwester Kara hingegen Himbeere bevorzugt. Oft war darüber Streit ausgebrochen. Letztendlich hatte ihre Mutter stets zwei Sorten Pudding zum Nachtisch gekocht, um dem Einhalt zu gebieten.

Er zog ein Rezept aus dem Drucker, unterschrieb die Verordnung und notierte auf einem Zettel den Termin für Freitag. Beides schob er zu Tante Rosi rüber.

„Dann wünsche ich dir gute Besserung“, verabschiedete er sich von Milo und von dessen Begleitung mit den Worten: „Wir sehen uns am Freitag.“

Die beiden verließen den Raum. Armes Kind reicher Eltern. Milos Mutter war kurz nach der Geburt gestorben. Laut Auskunft von Tante Rosi ein Verkehrsunfall. Seitdem kümmerte sie sich um den Kleinen. Mikael verstand nicht, warum Milos Vater keine jüngere Frau engagiert hatte. Tante Rosi ging gut und gerne als Oma durch, aber als Mutterersatz taugte sie wohl kaum.

Am Freitag saß zu seinem Erstaunen, neben Milo und Tante Rosi, auch der Vater im Wartezimmer. Auf seine Aufforderung hin folgten ihm die drei ins Sprechzimmer.

Während der Untersuchung blieb Milos Vater stumm und meldete sich erst zu Wort, nachdem er seine Zufriedenheit über den Genesungsverlauf verkündet hatte.

„Ich würde Sie gern kurz unter vier Augen sprechen“, bat Beckinsale.

Noch bevor er seine Einwilligung geben konnte, griff Tante Rosi nach Milos Hand und führte den Jungen aus dem Raum. Die Tür fiel hinter den beiden zu. Mikael begab sich hinter den Schreibtisch und nahm im Sessel Platz.

Um seine Ungeduld zu demonstrieren, warf er einen auffälligen Blick auf seine Armbanduhr und fragte in kühler Tonlage: „Was kann ich für Sie tun?“

„Ich muss für ein halbes Jahr nach Zürich. Milo wird mich begleiten, daher brauche ich einen Arzt, der sich mit seinen Wehwehchen auskennt.“

Typisch für den rohen Kerl, Milos Krankheiten derart verharmlosend zu bezeichnen. „Ich kann mich gern mal umhören, ob einer der Kollegen Kontakt zu einem verlässlichen Schweizer Mediziner hat.“

„Sie verstehen mich falsch. Ich möchte, dass Sie sich um Milo kümmern.“

„Das ist ja wohl ein Scherz. Zum einen kann ich meine Praxis nicht so einfach im Stich lassen, zum anderen stehe ich für private Engagements nicht zur Verfügung.“

„Die Praxis können doch Ihre Kollegen weiterführen und was das andere angeht ...“ Beckinsale schlug ein Bein über das andere und zog arrogant eine Augenbraue hoch. „...dürfte das ja wohl nur eine Frage des Preises sein.“

Was für ein Arschloch! Mikael war kurz davor aufzuspringen und den Kerl rauszuwerfen. Allerdings wäre das geschäftsschädigend. In Anbetracht des Darlehens, das er für sein Haus aufgenommen hatte, sollte er sich besser zusammenreißen. Angespannt ballte er seine Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen.

„Überlegen Sie es sich. Ich zahle Ihnen das dreifache von dem, was Sie normalerweise verdienen, dazu freie Kost und Logis.“ Lässig fischte Beckinsale eine Visitenkarte aus der Innentasche des Sakkos und warf sie auf den Schreibtisch. „Das Angebot gilt eine Woche. Ich stehe ein bisschen unter Druck, sonst würde ich Ihnen längere Bedenkzeit einräumen. Es soll nämlich bereits in einem Monat losgehen.“

Es drängte ihm den Kerl ein ‚Leck mich‘ entgegenzuschleudern. Stattdessen setzte er ein professionelles Lächeln auf. „Sie werden sicher einen kompetenten anderen Arzt finden, der interessiert ist.“

„Milo möchte keinen anderen. Diesbezüglich kann mein Sohn ziemlich stur sein.“

Der erste sympathische Wesenszug an Beckinsale. „Entschuldigen Sie, aber meine Patienten warten. Ich muss daher unsere Unterhaltung beenden.“

„Es ist eh alles gesagt“, gab Beckinsale zurück, stand auf, ging zur Tür und verabschiedete sich im Hinausgehen: „Ich erwarte Ihren Anruf.“

„Da kannst du warten, bis du schwarz wirst“, murmelte Mikael, sobald der Mann außer Hörweite war, schnappte sich die Visitenkarte und schleuderte sie in den Papierkorb.

Es dauerte ein paar Momente, bis sich sein Puls soweit beruhigt hatte, dass er den nächsten Patienten empfangen konnte.

Um eins war das Wartezimmer leer. Wie üblich hatte Mikael noch einen Haufen Papierkram zu erledigen. Im Laufe der nächsten halben Stunde wünschten ihm die Sprechstundenhilfen nacheinander ein schönes Wochenende, bis nur noch er und die beiden Kollegen übrig waren.

Martin, der ältere der zwei, schlenderte gegen zwei in sein Sprechzimmer und ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder. „Ich hau gleich ab. Meine Frau hat ein Wellnesswochenende an der Ostsee gebucht. Sie steht schon in den Startlöchern.“

„Bei diesem Wetter? Na, viel Spaß.“ Draußen regnete es Bindfäden bei Temperaturen um den Gefrierpunkt.

„Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung.“

„Ha, ha! Klar! Also wirst du im Astronautenanzug an der Ostseeküste spazieren gehen?“

„Vermutlich werde ich die meiste Zeit zwischen Sauna und Schwimmbad pendeln. Ein paar Massagen, vielleicht eine Fangopackung. Du solltest auch mal ausspannen. Siehst ganz schön fertig aus.“

„Zugegeben, diese Renoviererei schlaucht mächtig. Hab letztes Wochenende im Obergeschoss Tapeten abgekratzt.“ Mikael seufzte. „Irgendwie hatte ich mir das alles leichter vorgestellt.“

„Mach mal Pause. Die Arbeit läuft nicht weg.“

„Apropos!“ Er angelte mit ausgestrecktem Arm Beckinsales Visitenkarte aus dem Papierkorb und wedelte damit herum. „Der Vater eines Patienten sucht einen Kinderarzt in Zürich. Kennst du da einen Kollegen?“

„Ist das deine neue Ablagemethode?“, erkundigte sich Martin amüsiert.

„Der Typ hat mich so geärgert, dass ich meinen Zorn an irgendetwas auslassen musste.“

„Zeig mal.“ Martin nahm ihm die Karte aus der Hand. „Ach, das ist doch der Vater von dem niedlichen Milo.“

In Krankheits- und Urlaubszeiten vertrat ihn stets Dr. Martin Weinlaub und kannte daher einige seiner Patienten. „Richtig. Ein Riesenarschloch. Der wollte mich doch echt mit Geld überreden, ein halbes Jahr für Milo den Leibarzt zu spielen.“

„Klingt doch ganz lukrativ. Wie gesagt: Ein bisschen ausspannen würde dir guttun. Dazu noch am Zürichsee. Nette Gegend.“

„Und wer soll meine Arbeit erledigen?“

„Also, Angus und ich können das natürlich nicht über einen so langen Zeitraum abfangen. Eine Vertretung müsstest du schon besorgen. Du hast doch gerade erst die Uni verlassen. Da kennst du bestimmt noch den einen oder anderen Kommilitonen, der vielleicht händeringend eine Stelle sucht.“

Gerade erst bedeutete: Vor sechs Jahren. Aus Martins Sicht, im Alter von 59, eine kurze Spanne, aus seiner eine Ewigkeit.

„Na ja, ich muss dann mal los. Anja wartet.“ Martin schnippte ihm die Visitenkarte zu, stand auf und wünschte im Hinausgehen: „Schönes Wochenende.“

„Ebenso“, murmelte Mikael abwesend.

Im Grunde hatte Martin Recht: Er musste unbedingt mal raus. Die letzten sechs Jahre hatte er eisern mit seinen Einkünften gehaushaltet, um seinen Eltern die Schulden für den Erwerb eines Miteigentumsanteils an der Praxis zurückzuzahlen. Inzwischen war die Summe getilgt, dafür lastete ein neuer Kredit fürs Haus auf seinen Schultern. Urlaub konnte er sich somit erst in ferner Zukunft leisten.

Seufzend griff er nach der Karte und drehte sie in seinen Händen. Hier bot sich wirklich eine einmalige Chance, zugleich Geld zu verdienen und ein bisschen Energie zu tanken. Außerdem mochte er Milo sehr gern. Tja. Blieb aber immer noch die Frage, wer ihn für ein halbes Jahr ersetzen sollte.

Übers Wochenende manifestierte sich das Bedürfnis Beckinsales Angebot anzunehmen. Er merkte, dass seine Batterien allmählich ausgepowert waren. Seine Nachbarn, Kurt und Philip, halfen ihm zwar am Samstag die restlichen Tapeten im oberen Stockwerk zu entfernen, aber er fühlte sich ausgelaugt und empfand keinerlei Euphorie über den Arbeitsfortschritt.

Beim gemeinsamen Abendessen, das er den beiden für den Einsatz spendierte, kam die Sache zur Sprache. Sie kannten sich erst seit Silvester, dennoch herrschte zwischen ihnen eine Vertrautheit, als wären sie alte Kumpel.

„So ein Angebot möchte ich auch mal bekommen“, klagte Kurt. „Scheiße! Ich glaube, ich sattele noch mal um. Wie lange muss ich studieren, bis ich Kinderarzt bin?“

„Nur schlappe elf Jahre.“

„Okay. Ich bleibe lieber bei meinen Pflanzen.“ Kopfschüttelnd nahm Kurt das nächste Viertel Pizza aus dem Karton. „Das ist mir doch etwas zu happig.“

„Der Vater des Jungen ist ein Snob. Wie soll ich das bloß aushalten?“, lenkte Mikael aufs Thema zurück. „Zudem hab ich keinen Schimmer, wer mich vertreten soll.“

„Gibt’s keine Jobbörse für arbeitssuchende Ärzte?“, fragte Philip.

„Schon, aber es geht ja nur um sechs Monate.“

„Du kennst doch einen ganzen Studiengang angehender Kinderärzte. Da muss doch jemand darunter sein, der verfügbar ist.“ Kurt spähte in Philips Pizzakarton. „Darf ich ein Stück haben?“

„Nur zu“, willigte der ein und an Mikael gewandt: „Um deine Post können wir uns jedenfalls kümmern. Damit wäre doch schon mal ein Punkt abgehakt.“

„Das ist eine große Hilfe. Danke.“ Er schenkte Philip ein Lächeln, biss in sein Pizzastück und ging in Gedanken sämtliche Kommilitonen durch.

Einige waren weggezogen und schieden schon deshalb aus. Von dem Rest würde er die eine Hälfte niemals auf seine Patienten loslassen, die andere befand sich in Lohn und Brot. Zwei Wunschkandidaten gäbe es allerdings schon. Zum einen Isaac, der an der Universitätsklink Eppendorf arbeitete, zum anderen Thilo, im Klinikum Heidberg tätig. Er nahm sich vor, die beiden später anzurufen.

„Was genau sollst du denn eigentlich tun? Nur rumsitzen, bis das Kind krank wird?“, wollte Philip wissen.

„Das muss ich noch klären. Vielleicht erwartet Mr. Riesenarschloch, dass ich für das Kind eine Art Entertainer spiele.“

„Sieht das Arschloch denn wenigstens gut aus?“ Kurt zwinkerte ihm verschmitzt zu.

„Sofern er die Klappe hält, ist er durchaus ein ansehnlicher Typ“, gab Mikael widerstrebend zu.

Ehrlich gesagt war Ford Beckinsale höllisch attraktiv. Witziger Weise machte gerade die arrogante Art den Mann besonders interessant. Na ja, wer träumte nicht davon, unter einer rauen Schale einen weichen Kern zu entdecken? In Beckinsales Fall dürfte es sich allerdings eher um einen aus Kruppstahl handeln.

Wenig später verabschiedeten sich seine Nachbarn. Was die zwei mit dem Rest des Abends vorhatten, erkannte er an den lüsternen Blicken, mit denen sie einander bedachten.

Etwas wehmütig schloss er die Tür hinter den beiden. In seiner Studienzeit hatte er es tüchtig krachen lassen, doch seitdem herrschte Ebbe in seinem Sexualleben. Nur äußerst selten suchte er zum Druckausgleich einschlägige Clubs auf, ansonsten nahm er vorlieb mit seiner eigenen Hand und Spielzeugen. Das war weniger anstrengend, als sich in irgendwelchen Etablissements wie ein Ladenhüter anzupreisen. Außerdem hatte er anonyme Ficks eh satt.

Bei einer Flasche Pils, gemütlich auf die Couch gefläzt, setzte er sein Vorhaben in die Tat um. Als erstes rief er bei Thilo an und landete auf der Mailbox.

Isaac hingegen nahm das Gespräch sofort an: „Hi Alter. Du warst ja ewig nicht beim Stammtisch. Hab mir schon Sorgen gemacht.“

An jedem ersten Mittwoch des Monats fand im Schachcafé Barmbek ein Treffen der Ehemaligen statt. Anfangs war er regelmäßig hingegangen, aber im Laufe der Zeit hatte er die Lust verloren. Es kam eh nur noch der harte Kern, der größtenteils aus Pappnasen bestand.

„Vielleicht bin ich nächstes Mal wieder dabei. Wie läuft es bei dir?“

Isaac stöhnte. „Puh! Frag lieber nicht! Die beschissenen Schichtdienste bringen mich um. Und selbst?“

„Beruflich kann ich nicht klagen. Hab mich nur privat mit einem alten Haus etwas übernommen.“

„Ja, ja. Immer dieselbe Leier. Beim Kauf sparen und hinterher große Augen machen“, neckte Isaac ihn. „Gibt’s einen besonderen Anlass für deinen Anruf?“

„Ich bräuchte kurzfristig eine Vertretung für ein halbes Jahr. Interesse?“

„Ach? Und was machst du während dieser Zeit?“

„Man hat mir ein privates Engagement angeboten.“

„Du Glückspilz. Also: Generell bin ich natürlich interessiert. Wie es der Zufall so will, hab ich gerade Urlaub und könnte Anfang nächster Woche mal in deiner Praxis reinschauen. Wir müssen doch erstmal gucken, ob es überhaupt passt. Falls ja, werde ich mit der Personalabteilung reden. Mein Arbeitgeber bietet ein Sabbatical an. Vielleicht kann ich es so deichseln, dass ich die erforderliche Summe hinterher anspare.“

So einfach war das? Einen Moment war Mikael sprachlos.

„Hallo? Alles klar bei dir?“, drang Isaacs Stimme besorgt an sein Ohr.

„Ich bin bloß platt. Hätte eigentlich niemals damit gerechnet ... egal. Kommst du gleich Montag vorbei? Mittags, kurz vor Sprechstundenende, gegen zwölf? Dann könnte ich dir die Kollegen vorstellen und hinterher gehen wir was essen.“

„Abgemacht. Freue mich, deine zerknitterte Visage mal wiederzusehen. Bis Montag.“ Isaac beendete die Verbindung.

Grinsend legte er ebenfalls auf. Von allen Kommilitonen war ihm Isaac, mit der burschikosen Art, am liebsten. Thilo rangierte gleich dahinter. Beide hatten das Studium, genau wie er, glorreich abgeschlossen und besaßen bei Kindern ein geschicktes Händchen. Das konnte man leider nicht von allen Studenten des Fachs behaupten.

2.

Ford unterhielt in der Hafencity ein Büro mit kleiner Mannschaft. Das Personal bestand nur aus seiner Assistentin, einer Empfangsdame sowie fünf Programmierern. Letztere arbeiteten ihm zu und bedienten die Hotline.

Mit seiner ERP-Software für private Bankhäuser hatte er sich am Markt behaupten können und zählte einiger der namhaftesten zu seinen Kunden. Als er, während seines Informatikstudiums, an den ersten Modulen bastelte, hätte er von solchem Erfolg niemals zu träumen gewagt. Vier Jahre nach dem Master-Abschluss erreichte sein Umsatz erstmals Millionenhöhe und stieg seitdem kontinuierlich.

Er hatte kein Interesse daran ein riesiges Unternehmen zu leiten, daher hielt er den Mitarbeiterstamm möglichst klein, allerdings ohne den Einzelnen auszubeuten. Für ihn zählte ein gutes Betriebsklima sowie optimale Auslastung zu äußerst wichtigen Faktoren, da das die Leute motivierte. Entsprechend gab es Gleitzeit, flexible Arbeitszeitkonten, 30 Urlaubstage, Getränke und Obst umsonst.

Nervös trommelte er mit den Fingerspitzen auf die blankpolierte Fläche seines Schreibtisches. Heute lief das Ultimatum, das er Doktor Kirchhoff gestellt hatte, ab. Er konnte zwar auf zwei weitere Kandidaten zurückgreifen, aber mit denen war Milo nicht einverstanden. Überhaupt entwickelte sein Sohn, was diesen Arzt anging, einen ganz schönen Dickkopf. Ziemlich ungewöhnlich für Milo, der sonst ziemlich leicht zu lenken war.

Zum wiederholten Male ärgerte er sich, nur den Tag, jedoch keine Uhrzeit genannt zu haben. Vielleicht rief der verdammte Doktor erst kurz vor Mitternacht an. Dem widerspenstigen Kerl würde er das durchaus zutrauen. Allerdings wäre ihm das immer noch lieber, als Milos stummen Vorwurf zu ertragen, falls das nicht geschah. Diesbezüglich kam sein Sohn ein bisschen nach der Mutter. Belinda hatte ihn zur Strafe aber stets komplett ignoriert, anstatt ihn schweigend mit leidender Miene anzustarren.

„Chef? Ich geh raus und hol mir was zu essen. Soll ich dir was mitbringen?“, rief Katja, seine Assistentin, durch die offenstehende Tür des Vorzimmers.

„Danke, nein. Ich geh später selbst.“

„Okay. Bis gleich.“

Er hörte ihre hohen Absätze auf den Dielen in Richtung Empfang davonklappern. Das erinnerte ihn erneut an Belinda. Seine verstorbene Gattin hatte ständig Highheels getragen, egal ob im Winter oder Sommer.

Bis zum heutigen Tag war die genaue Unfallursache ungeklärt. Fest stand nur, dass sie, mit überhöhter Geschwindigkeit, erst einen Laternenmast gestreift und anschließend einen Baum gerammt hatte. Sie starb noch am Unfallort. Man hatte sie aus dem Wrack schneiden müssen und der Bestatter ihm geraten, auf einen letzten Blick in den Sarg zu verzichten.

Ford ging fest davon aus, dass Belinda absichtlich in den Tod gerast war. Das entsprach ihrer Art, ihm auf destruktive Weise Schuldkomplexe einzuimpfen. Davor war ihr das nicht gelungen, weder mit wochenlanger Funkstille, noch einer provokativ offenen Affäre. Aus dieser stammte Milo.

Letztendlich hatte sie mit ihrem Suizid das angestrebte Ziel erreicht. Seit eine Leiche auf seinem Gewissen lastete, war seine Lebensfreude gedämpft. Manchmal kam er sich vor wie ein Roboter, der programmierte Muster abspulte. Nur wenn er irgendeinen Kerl fickte, kehrte ein bisschen des alten Gefühls zurück, um sich gleich danach wieder in Luft aufzulösen. Vermutlich war er ein Fall für den Seelenklempner, doch sein Misstrauen in diese Berufssparte zu groß, als dass er sich deren Gehirnmanipulationen ausliefern würde.

Er hatte Belinda eigentlich nur geheiratet, weil das für aus seiner damaligen Sicht zu einem erfolgreichen Unternehmerstatus dazugehörte. Eine schöne Frau an seiner Seite, wenn er Geschäftsfreunde zum Essen traf, nach Hause einlud oder auf Empfängen Smalltalk betrieb. Aus dem ursprünglichen Übereinkommen, ihre Ehe in platonischer Freundschaft zu führen, war Belinda nach einem Jahr klammheimlich ausgestiegen. Ihr genügte der luxuriöse Lebensstil wohl nicht mehr. Sie wollte plötzlich eine Familie gründen und versuchte ihn zum Hetero zu bekehren.

Mit Schaudern erinnerte er sich an die Gelegenheiten, bei denen sie ihm auf die Pelle gerückt war. Auf seine Verweigerung hatte sie jedes Mal mit Beleidigungen aus dem untersten Regal reagiert. Es folgte stets eine Schweigephase, bis sie das Spielchen von neuem begann.

Das Vibrieren seines Smartphones riss ihn aus den Erinnerungen. Die Nummer auf dem Display war ihm unbekannt.

„Ja?“, meldete er sich.

„Hier Mikael Kirchhoff. Spreche ich mit Ford Beckinsale?“

„Richtig.“

„Bevor ich Ihnen eine Zusage gebe, benötige ich nähere Details und – vor allem – einen schriftlichen Vertrag.“

Er sackte gegen die Sessellehne und unterdrückte einen erleichterten Stoßseufzer. Kirchhoff brauchte nicht zu wissen, wie wichtig die Sache für ihn war.

„Ich hab schon etwas aufsetzen lassen. Können wir uns treffen, um den Rest zu besprechen?“

„In etwa einer Stunde kann ich hier weg. Vorschlag für einen Treffpunkt?“

„An der Bar im Hotel das Smolka? Das ist nicht weit von Ihrer Praxis.“

„Öhm ... Geht’s ein bisschen weniger steif?“, bat Kirchhoff.

„Etwa bei McDonalds oder was schwebt Ihnen vor?“

„Sie müssen nicht gleich von einem Extrem ins nächste verfallen. Wie wär’s mit dem Bistro Uno? Das ist in der Nähe der U-Bahnstation.“

„Einverstanden. Also um zwei im Bistro Uno.“

„Bis nachher“, verabschiedete sich Kirchhoff und legte auf.

Frohlockend holte Ford den vorbereiteten Vertrag auf den Bildschirm und druckte diesen aus. Anschließend rief er die Homepage des Bistros auf, um dort einen Tisch zu reservieren und speicherte die Adresse auch gleich in seinem Navi.

Um Viertel vor zwei betrat er das Lokal, eine Ledermappe, in der sein Notebook und die Vertragsunterlagen steckten, unter dem Arm. Ein Kellner wies ihm den Weg zu einem Zweiertisch am Fenster, dem einzigen freien Platz. Ohne seine Reservierung hätte er mit Kirchhoff die umliegenden Restaurants abklappern müssen.

Er bat um ein stilles Wasser, legte seine Mappe auf die Fensterbank und guckte nach draußen. Vorm Bürgersteig reihte sich Blechkarosse an Blechkarosse. An jeder verfügbaren Möglichkeit ein Fahrradschloss anzubringen standen Drahtesel. An vielen Stellen war der Gehweg von den Wurzeln der Straßenbäume hochgewölbt.

Kaum zu glauben, dass Leute freiwillig in dieser Gegend wohnten. Ford fühlte sich von den hohen Häuserfronten, die um diese Jahreszeit beständige Schatten warfen, förmlich erdrückt. Außerdem hasste er es, bei jedem Schritt auf Hundekot oder etwaige Stolpersteine achten zu müssen.

Eine Gestalt in brauner Lederjacke geriet in sein Sichtfeld. Beim Näherkommen erkannte er Kirchhoff, der, den Blick gesenkt, auf das Lokal zumarschierte. Von den drei Kandidaten war der Mann nicht nur Milos erste Wahl, sondern, ehrlich gesagt, auch seine. Zum einen sah Kirchhof gut aus, zum anderen schien der Typ Grips zu besitzen. Also: Intelligenz, die über das beim Studium erworbene Wissen hinausging.

Kirchhoff betrat das Bistro, schaute sich suchend um, entdeckte ihn und schlängelte sich zwischen den besetzten Tischen hindurch. Vom Wind waren die braunen Locken zerzaust, was dem attraktiven Gesicht einen lausbübischen Touch verlieh.

Bei ihm angekommen, nahm Kirchhoff auf dem freien Stuhl Platz und wischte sich ein paar Strähnen aus der Stirn. „Hi. Bin ich zu spät oder Sie zu früh?“

„Wir sind beide zu früh“, erwiderte er nach einem Blick auf die Uhr, die über dem Eingang hing. „Ich hatte noch kein Mittagessen. Wäre es okay, wenn ich mir eine Kleinigkeit bestelle?“

„Ich könnte auch etwas vertragen.“ Kirchhoff streifte sich die Jacke ab, hängte sie über die Stuhllehne und griff nach der Speisekarte, die der Kellner zusammen mit dem Mineralwasser gebracht hatte.

Es handelte sich bloß um ein laminiertes Blatt Papier, mit einer überschaubaren Anzahl an Speisen. Nach kurzem Überfliegen reichte Kirchhoff ihm die Karte.

„Ich nehme die Kichererbsen Pfannkuchen mit Lachs und Spinat. Die kann ich sehr empfehlen.“

„Sie sind also öfter hier?“, stellte Ford fest.

„Ab und zu, wenn ich mal mit den Kollegen mittags rausgehe.“

Ein auftauchender Ober unterbrach ihr Geplänkel. Nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, zog der Bedienstete mit der Speisekarte wieder ab.

„Würden Sie mich bitte über den genaueren Inhalt meiner Aufgabe aufklären? Soll ich nur anwesend sein, falls Milo erkrankt oder auch Kindermädchen spielen?“, verlangte Kirchhoff zu wissen.

„Im Prinzip reicht Ihre Anwesenheit. Frau Kuhl ist mit von der Partie, außerdem habe ich Milo für vormittags in einem Kindergarten angemeldet. Es wäre aber schön, wenn Sie ihn zu ein bisschen Sport ermutigen. So sehr ich Frau Kuhl auch schätze, behütet sie Milo einfach zu sehr.“

„Kann er schwimmen?“

„Leider nein.“ Oft hatte er mit Roswitha deswegen gestritten, doch sie beharrte auf dem Standpunkt, dass die Keime im Schwimmbad für Milo schädlich wären.

„Also bin ich eine Art Sportlehrer und Arzt in einer Person“, konstatierte Kirchhoff.

„Gut erkannt. Und? Kommen wir ins Geschäft?“

Erneut sorgte der Kellner für eine kurze Gesprächspause, servierte Kirchhoffs Getränk, ebenfalls ein Wasser, und verschwand nach einem angedeuteten Diener.

„Sieht ganz so aus. Sofern wir uns finanziell einigen und ...“ Kirchhoff prostete ihm zu. „... über die Unterbringung gesprochen haben.“

Ford hob auch sein Glas. „Da sehe ich keine Probleme.“

In den folgenden Minuten schilderte er Lage und Ausstattung der Villa, die er für den Aufenthalt angemietet hatte. Kirchhoff lauschte aufmerksam, die Augenbrauen konzentriert zusammengezogen.

Das Gebäude befand sich in Küssnacht, nahe Zürich, in Hanglage mit Ausblick auf den Zürichsee. Die Räume im Souterrain waren dem Personal vorbehalten. Im Erdgeschoss fand das Gemeinschaftsleben statt. Neben dem Salon, Esszimmer und den Wirtschaftsräumen gab es zwei Gäste-WCs und eine Bibliothek. Bei Erwähnung derselben schlug er vor, dass Kirchhoff das vorhandene Material für leichte Vorschulübungen verwenden könnte.

Im 1. Stock befanden sich fünf Schlafzimmer mit eigenem Bad. Jedes verfügte über Zugang zu den Balkonen, die sich über Front und Rückseite des Hauses zogen. Zwei nebeneinanderliegende Räume waren für Frau Kuhl und Milo reserviert, den gegenüber plante Ford zu bewohnen. So blieben zwei, von denen sich Kirchhoff einen aussuchen durfte.

Nahezu zeitgleich mit dem Ende seines Berichts, brachte der Kellner ihre Speisen. Eine Weile aßen sie schweigend, wobei Kirchhoff sehr nachdenklich wirkte.

Schließlich meldete sich jener zu Wort: „Warum betreiben Sie so viel Aufwand, obwohl Sie, wie ich vermute, die meiste Zeit eh nicht anwesend sein werden? Sie könnten Milo doch genauso gut zu Hause lassen.“

Eine berechtigte Frage. Unter der Woche bekam er seinen Sohn manchmal gar nicht zu Gesicht, wenn er länger im Büro blieb oder auswärts essen ging. Ansonsten verbrachte er meist nur eine Stunde mit Milo, bis der um sieben von Roswitha ins Bett gesteckt wurde. Lediglich an den Wochenenden war mehr Zeit, um miteinander etwas zu unternehmen. Er könnte also durchaus freitags heim fliegen und sonntags zurück nach Zürich. Dennoch widerstrebte ihm der Gedanke. Immerhin war Milo, wenn auch nur ein adoptiertes Kuckuckskind, sein Sohn.

„Möchten Sie mir durch die Blume sagen, dass ich ein Rabenvater bin?“

„Na ja, das war wohl eher sehr direkt.“ Ein schelmisches Grinsen auf den Lippen, stopfte sich Kirchhoff einen Bissen in den Mund.

„Es mag für Sie so aussehen, als ob mir nichts an Milo liegt, aber das stimmt nicht. Ich bin nur eben kein Typ, der mit Kindern sonderlich gut kann.“

„So, so“, murmelte sein Gegenüber kauend, eine Augenbraue skeptisch hochgezogen.

Etwas eingeschnappt blieb Ford während der nächsten Minuten, in denen sie ihre Teller leerten, stumm. Was bildete sich der feine Herr Doktor eigentlich ein? Über ihn richten zu dürfen? Wer hatte denn, bitteschön, urplötzlich ein Baby an der Backe gehabt, ohne darum gebeten zu haben?

Belindas Schwangerschaft war erst drei Monate vor der Geburt offensichtlich geworden. Danach ging alles total schnell. Milos Erzeuger wollte das Kind nicht und distanzierte sich von Belinda. Es war ihm also gar nichts anders übrig geblieben, als dem armen Würmchen ein Zuhause zu bieten.

In Windeseile hatten sie ein Kinderzimmer eingerichtet und darüber ein bisschen zur Harmonie ihres ersten Ehejahres zurückgefunden. Er war sogar dabei gewesen, als der schrumpelige Säugling zur Welt kam. Auch in den ersten Wochen danach gaben sie eine perfekte Version von Vater-Mutter-Kind ab. Mit dem Wiedererlangen der alten Figur und der Rückkehr von Belindas Libido begann jedoch das alte Spiel.

Im zarten Alter von drei Monaten wurde Milo zur Halbwaise und er zum alleinerziehenden Vater. Glücklicherweise hatte er zu dem Zeitpunkt kein neues Projekt am Start, so dass er eine gewisse Auszeit nehmen konnte.

Nacht für Nacht war er aufgestanden, um ein Fläschchen zuzubereiten oder vollgeschissene Windeln zu wechseln; hatte in dem Schaukelstuhl neben Milos Wiege gesessen, das schreiende Baby auf dem Arm und versucht es zu beruhigen.

Als er endlich Roswitha Kuhl einstellte, die 20te Bewerberin auf den Posten als Kindermädchen und in seine Augen die einzige fähige Person, war er nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen. Ständiger Schlafmangel sowie sein Unvermögen, dem Kind gerecht zu werden, hatten ihn völlig erledigt. In Grunde verdankte er ihr, dass sowohl Milo als auch er noch am Leben waren. Ein paar Wochen länger und er hätte das Kind ertränkt und sich selbst gleich hinterher. Okay, das war vielleicht etwas drastisch ausgedrückt, doch damals kroch er wirklich auf dem Zahnfleisch.

„Entschuldigung. Das war vermessen von mir.“ Kirchhoff tupfte sich den Mund mit der Serviette ab, trank einen Schluck Wasser und suchte Blickkontakt. „Es geht mich auch gar nichts an.“

„Sie haben keine Ahnung von den näheren Umständen.“

„Wie ich bereits sagte: Es war unangemessen von mir Sie zu kritisieren.“ In den blauen Augen lag ein ehrlicher Ausdruck.

„Okay. Entschuldigung angenommen. Dann sollten wir wohl mal die finanziellen Punkte klären, sobald die Teller abgeräumt sind.“

Wie auf Kommando erschien ein Kellner, sammelte das Geschirr ein und erkundigte sich nach weiteren Wünschen. Sie bestellten beide einen Latte Macchiato. Anschließend zog Ford den Vertragsentwurf aus seiner Mappe und legte diesen auf den Tisch.

„Lesen Sie das in Ruhe durch. Es entspricht den Standardarbeitsverträgen meiner Angestellten mit leichten Abwandlungen.“

Kirchhoff griff nach den Blättern und lehnte sich lässig zurück. „In welcher Branche sind Sie überhaupt tätig?“

„Software für private Bankhäuser.“

„Ah so.“ Sein Gegenüber vertiefte sich in die Lektüre.

Er nutzte die Gelegenheit, um Kirchhoff heimlich genauer zu taxieren. Ein Modefreak war der Mann jedenfalls nicht. Zu Jeans trug Kirchhoff eine hellblaue Sweatshirtjacke mit Kapuze, unter der ein weißes T-Shirt hervorblitzte. Allerdings hatte der Mann gar keine heißen Klamotten nötig, um Sexappeal auszustrahlen. Das war Kirchhoff wohl einfach in die Wiege gelegt worden.

Die braunen Locken könnten einen frischen Schnitt vertragen, aber irgendwie passte das zu dem Mann. Es unterstrich Kirchhoffs Natürlichkeit. Genau wie die dichten Augenbrauen, die bestimmt noch nie eine Pinzette gesehen hatten. Darunter verbargen gesenkte, lange Wimpern die himmelblauen Augen. Beim Lesen bewegte Kirchhoff ab und zu die Lippen, wie um einen Satz stumm zu wiederholen und zupfte sich am Kinn.

Bisher war er nicht sicher gewesen, ob sie tatsächlich am selben Ufer fischten. Vermutet hatte er das zwar schon am letzten Freitag, doch die Bestätigung erst bei Kirchhoffs Eintreffen erhalten. Beim Näherkommen war er einer Musterung unterzogen worden, wie es ein Hetero niemals tun würde. Äußerst diskret, dennoch hatte er es bemerkt.

Das eröffnete neue Perspektiven. Vielleicht ließ sich das Engagement ja auf weitere Dienstbarkeiten ausweiten. Schließlich schien Kirchhoff dem Mammon nicht so abgeneigt, wie er anfangs demonstriert hatte.

Innerlich schüttelte Ford über sich selbst den Kopf und richtete den Blick aus dem Fenster. Offenbar musste er mal wieder Druck abbauen, um die schmutzigen Gedanken loszuwerden. Kirchhoff war in sexueller Hinsicht absolut tabu. Am besten betrachtete er den Mann als einen Art Neutrum.

Mittlerweile standen ihre Getränke auf dem Tisch. Vorsichtig nahm er das ziemlich warme Glas und nippte an seinem Latte, wobei er die vorbeigehenden Passanten beobachtete. Dem exklusiven Stadtteil entsprechend handelte es sich überwiegend um gutgekleidete Leute, meist Frauen mit Kinderwagen. Belinda hätte auch gut nach Eppendorf gepasst.

„Scheint soweit alles in Ordnung zu sein“, verkündete Kirchhoff, was seine Aufmerksamkeit zurück auf sein Gegenüber lenkte. „Bis auf die Lücke mit dem Entgelt.“

„Tja. Dann geht jetzt wohl das Feilschen los.“

3. Zürich Flughafen, 15. Februar

Vor zwei Tagen hatte Ernest Havelmann, Beckinsales Faktotum, den Großteil seines Gepäcks abgeholt. Mikael reiste also nur mit einer Tasche, die als Bordgepäck galt. Das ersparte ihm langwieriges Warten in der Ankunftshalle.

Die anderen waren mit dem Wagen nach Küssnacht gefahren, um die ganzen Habseligkeiten zu transportieren. Wegen Milo wollte Beckinsale auf halber Strecke einen Übernachtungsstopp einlegen, daher hatte Mikael seine Koffer schon derart früh bereitstellen müssen.

Vor dem Flughafengebäude stieg er in ein Taxi. Während er mit halbem Auge die vorbeiziehenden Gebäude wahrnahm, dachte er an die vergangenen drei Wochen zurück.

Um die Aufenthaltsbewilligung hatte sich Beckinsale gekümmert. Es blieb jedoch genug anderes, was noch zu erledigen war, mal abgesehen von Isaacs Einarbeitung, der in den ersten vierzehn Tagen nur stundenweise anwesend sein konnte.

Mikael hatte eine zusätzliche Krankenversicherung in der Schweiz abgeschlossen und ein Konto in Zürich eröffnet. Sein Auto war bei seinen Eltern untergebracht, damit die es ab und zu bewegten. Den Nachbarn hatte er Schlüssel gegeben, um den Briefkasten zu leeren und nach dem Rechten zu sehen; im Haus eine mit Zeitschaltuhr gesteuerte Beleuchtung installiert, um Einbrecher fernzuhalten.

Kurzum: Die Zeit war mit etlichen Aktivitäten angefüllt gewesen. Er fühlte sich, als könnte er erstmals wieder richtig durchatmen. Ein bisschen Sorge blieb natürlich, ob Isaac seine Vertretung wirklich schaffte, aber sein Kumpel war diesbezüglich zuversichtlich. Außerdem waren da die Kollegen, die notfalls helfend eingreifen würden.

Beckinsale hatte er seit ihrem Treffen im Bistro Uno nur noch einmal gesehen, zur endgültigen Vertragsunterschrift. Zu diesem Zweck war er in die Hafencity gefahren, dem Firmensitz der Beckinsale GmbH.

Das feudale Büro befand sich in einem Gebäude aus Glas und Stahl, wie es, neben den alten Speichern, für das Viertel typisch war. Im 8ten Stock hatte man einen fantastischen Blick über die Elbe. Von Beckinsales Schreibtisch aus konnte man das Dock von Blohm & Voss sehen und dahinter die Kräne des Containerterminals. Mikael war froh, an seinem Arbeitsplatz keinen derartigen Ausblick zu haben, sonst würde er den ganzen Tag wohl nur aus dem Fenster gucken.

Beckinsale hatte einen gestressten Eindruck gemacht und ihn, sobald alle Papiere unterschrieben waren, höflich hinauskomplimentiert. Da Mikael ebenfalls unter Druck stand, war ihm das nur recht. Außerdem legte er ohnehin keinen gesteigerten Wert auf Beckinsales Gesellschaft.

Seine Gedanken wanderten zu der Arztausstattung, die er Havelmann anvertraut hatte. Es handelte sich um das nötige Zubehör für Untersuchungen sowie Medikamente, von denen einige verschreibungspflichtige Proben waren. Hoffentlich hatte es an der Grenze deswegen keine Schwierigkeiten gegeben. Das Zeug taugte zwar nicht für einen Rauschzustand, aber Schweizer Beamten sagte man ja nach, besonders penibel zu sein. Ach, es war schon nichts passiert, sonst hätte Beckinsale garantiert angerufen.

Mikael beschloss die Grübelei sein zu lassen und konzentrierte sich lieber auf die Umgebung. Er war erst einmal in der Schweiz gewesen, als kleiner Junge mit seinen Eltern. Damals hatten sie irgendwo im Gebirge Urlaub gemacht. Er erinnerte sich bloß an die hohen Schneeberge und den ständig blauen Himmel.

Das Wetter in Zürichs Umgebung wirkte eher norddeutsch: Graue Wolken und anstelle von weiß überall Pfützen. Die Häuser, an denen sie vorbeifuhren, besaßen hingegen südlichen Charme. Fensterläden, spitze Giebel und vereinzelt Fachwerk. Bestimmt verströmten sie im Sommer, geschmückt mit Blumenkästen voller Geranien, österreichischen Flair.

Nach rund einer halben Stunde Fahrtzeit hielt das Taxi vor einem villenähnlichen Gebäude. Er zahlte, stieg aus und sah an der schneeweißen Front hoch. Genau wie Beckinsale beschrieben hatte, zog sich ein Balkon über die gesamte Vorderseite. Ein Weg führte durch den schmalen Vorgarten zur Haustür.

Auf sein Läuten hin öffnete Havelmann. „Guten Tag, Herr Doktor. Wir haben Sie schon erwartet.“

„Ist irgendetwas mit Milo?“

„Er hustet seit gestern.“

„Zeigen Sie mir bitte mein Zimmer. Ich brauche meine Arzttasche.“

„Sehr wohl.“ Havelmann ließ ihn eintreten, schloss die Haustür und ging voran eine geschwungene Treppe ins Obergeschoss hinauf.

Die Eingangshalle wirkte hochherrschaftlich, mit der hohen Decke und dem Kronleuchter, der von ihr herabhing. Glücklicherweise gab es keine Ahnengemälde an den Wänden, sonst hätte sich Mikael wie im Museum gefühlt.

Er folgte Havelmann, der oben angekommen eine Tür am Ende des Ganges ansteuerte, aufstieß und eine einladende Handbewegung machte. „Bitte sehr. Ihr Gepäck steht schon bereit.“

„Danke.“

„Milo ist unten im Salon.“

„Ich werde mich gleich um ihn kümmern.“

Havelmann nickte ihm zu, kehrte um und marschierte zurück zur Treppe. Der Mann schien sympathisch zu sein, nur ein bisschen steif. Vielleicht wurde man ja mit der Zeit miteinander warm.

Rasch wusch sich Mikael die Hände, nahm seine Arzttasche und begab sich wieder ins Erdgeschoss. Tante Rosis Stimme wies ihm den Weg.

„... viel trinken, sonst wirst du nicht wieder gesund“, hörte er sie schimpfen, woraufhin er die Halle durchquerte und eine offenstehende Doppelflügeltür passierte.

Der Salon entpuppte sich als gemütliches Wohnzimmer mit Kamin. Der Boden war mit dickem Teppich ausgelegt, die Wände cremefarben gestrichen. Hinter der Fensterfront konnte Mikael eine großzügige Terrasse sowie einen gepflegten Garten sehen. Die Einrichtung bestand hauptsächlich aus einem langen Sideboard und zwei weinroten Sofas, die, getrennt durch einen flachen Tisch, einander gegenüber aufgestellt waren. Auf einem davon lag Milo, dick in eine Wolldecke eingemummelt. Neben dem Jungen hockte Tante Rosi, einen Becher, aus dem Dampf aufstieg, in der Hand.

„Hallo zusammen. Habe gehört, hier hat jemand Husten“, begrüßte er die beiden salopp.

„Ach, Herr Doktor. Ich fürchte, Milo ist die Klimaanlage im Wagen nicht bekommen“, erwiderte Tante Rosi.

„Dann lassen Sie mich den Patienten mal ansehen.“

Sie stellte den Becher auf den Couchtisch und räumte ihren Platz. Vertrauensvoll sah Milo ihm entgegen, als er sich auf dem Polster niederließ. Das Gesicht des Jungen war leicht gerötet, der Blick jedoch klar. Also kein Fieber. Vermutlich ein einfacher Reizhusten, von der trockenen Luft ausgelöst.

Vorsichtshalber tastete er trotzdem Milos Lymphknoten auf Schwellungen ab, um eine ernstere Infektion auszuschließen. Anschließend holte er einen Hustensaft aus seiner Tasche und wandte sich an Tante Rosi, die der Untersuchung stumm beigewohnt hatte.

„Haben Sie Milo irgendwelche Medikamente gegeben?“

„Nein.“

„Sehr schön. Wir versuchen es mal mit diesem Saft. Der schmeckt allerdings scheußlich.“ Er lächelte Milo aufmunternd zu. „Eklige Medizin hilft am besten.“

Der Kleine grinste, wurde aber im nächsten Moment von einem Hustenkrampf durchgeschüttelt. Nachdem das Bellen verstummt war, hielt er Milo einen Löffel des Saftes vor die Nase. Brav sperrte der den Mund auf und schluckte das Zeug mit angewiderter Miene.

„Was ist das für ein Tee?“, wandte er sich erneut an Tante Rosi.

„Kamille mit Honig.“

An Milos Naserümpfen erkannte er, dass es sich nicht um dessen Lieblingssorte handelte. „Was magst du denn lieber?“

„Kakao“, kam prompt von Milo.

„Milch ist leider nicht so gut bei Husten. Auf der anderen Seite kannst du ein paar Kalorien vertragen.“

„Ich koche ihm einen Kakao“, mischte sich Tante Rosi resolut ein und eilte davon.

Kaum war sie weg, schlug Milo die Decke zurück, streckte eine Hand nach dem Buch aus, das neben dem Teebecher lag und hielt es ihm hin. „Liest du mir vor?“

Mikael nahm es und las den Titel. ‚Die Olchis und das Schrumpfpulver‘ stand auf dem Einband.

„Das hat Papa mir zu Weihnachten geschenkt“, erklärte Milo und verkroch sich wieder unter der Wolldecke.

„Wo ist dein Papa überhaupt?“

Milo rümpfte wieder die Nase. „Arbeiten.“

„Hätt ich mir auch denken können“, murmelte Mikael, nur für seine Ohren bestimmt, schlug das Buch an der Stelle mit dem Lesezeichen auf und begann zu vorzulesen.

Immer, wenn sich auf einer Seite ein Bild befand, zeigte er dieses Milo, bevor er umblätterte. Die Geschichte fand selbst er, als Erwachsener, ziemlich unterhaltsam.

„Milo! Du kannst doch nicht den Doktor für deine Zwecke einspannen“, riss Tante Rosis Stimme sie nach einem Weilchen aus ihrem Tun. Die Miene ein einziger Vorwurf kam die korpulente Frau mit einem Becher in der Hand näher und zog einen Hocker heran, um sich neben der Couch niederzulassen. „Dr. Kirchhoff ist nur dafür da, um sich um deine Gesundheit zu kümmern.“

„Das tue ich doch. Ich kümmere mich um seine Seele“, widersprach Mikael.

Sie zuckte bloß die Achseln und half Milo, wie einem Schwerkranken, in eine halb aufrechte Position. Anschließend gab sie dem Jungen den Kakao.

„Es ist nicht zufällig einer für mich über?“

„Es ist ein Rest im Topf. Bedienen Sie sich ruhig.“ Vage wies sie mit dem Kinn in Richtung Tür, ihre volle Aufmerksamkeit auf Milo gerichtet.

Mikael ließ das Buch aufgeschlagen auf dem Tisch zurück und ging in die Halle. Nacheinander spähte er in alle Räume. Rechts befand sich ein Gäste-WC, daneben die Küche. Gegenüber lagen die Bibliothek, ein weiteres Gäste-WC und das Esszimmer sowie zwei Wirtschaftsräume. Eine Tür führte in den Keller.

Als er mit dem Rest Schokolade zu den beiden zurückkehrte, las Tante Rosi vor. Er nahm seinen alten Platz wieder ein und lauschte, während er in kleinen Schlucken seinen Becher leerte. Eines musste man der Frau lassen: Sie kochte hervorragenden Kakao.

Leise, um die zwei nicht zu stören, verließ er mit seiner Tasche und dem Becher, den er in der Küche in die Spülmaschine stellte, den Raum und begab sich in sein Zimmer.

Gegen sechs, er hatte die vergangene Stunde mit Auspacken und auf dem Bett relaxen verbracht, klopfte jemand an seine Tür.

„Abendessen, Herr Doktor“, ertönte Havelmanns tiefes Organ.

„Okay. Danke.“

Er klappte das Fachmagazin zu, in dem er geschmökert hatte und prüfte rasch im bodentiefen Spiegel neben dem Kleiderschrank seine Erscheinung, bevor er nach unten ging.

Tante Rosi, Havelmann und Milo saßen bereits am Tisch, als er das Esszimmer betrat. Es gab Wurstaufschnitt, verschiedene Brot- sowie Käsesorten und vorweg eine Suppe.

„Wir essen abends sonst warm“, informierte ihn Tante Rosi, die vor jedem von ihnen eine Suppentasse abstellte und anschließend wieder Platz nahm. „Ford hat eine Köchin engagiert, die aber erst morgen ihren Dienst aufnimmt. Außerdem eine Reinigungskraft, die zweimal pro Woche kommt.“

„Also haben Sie gekocht?“, erkundigte sich Mikael.

„Nein. Das war Ernest.“

Vorsichtig probierte er einen Löffel der dampfenden Suppe. „Alle Achtung! Sehr lecker!“

„Danke“, erwiderte Havelmann und lächelte sogar. „Es ist aber nur eine einfach Kartoffelsuppe.“

„Ich mag das nicht“, jammerte Milo. „Da sind so komische Stücke drin.“

„Das ist bloß Speck“, erklärte Tante Rosi.

„Ich mag keinen Speck.“ Milo verschränkte die Arme vor der Brust und schob die Unterlippe vor.

Seufzend ersetzte Tante Rosi die Suppentasse durch einen Teller. „Dann mach dir ein schönes Butterbrot.“

Schließlich waren alle satt. Tante Rosi brachte Milo zum Händewaschen ins Gäste-WC, während Havelmann begann den Tisch abzuräumen. Mikael fragte nicht lange, sondern half einfach mit, alles in die Küche zu transportieren.

Dafür erntete er erneut ein Lächeln. „Sie scheinen ganz in Ordnung zu sein, Herr Doktor.“

„Meine Mutter hat großen Wert auf eine gute Erziehung gelegt.“

„Ich freu mich, dass die Wahl auf Sie gefallen ist. Milo mag Sie.“

„Ich hab den Burschen auch gern.“ Mikael zwinkerte Havelmann zu. „Er ist ein liebes Kerlchen.“

„Oh ja. Kommt ganz nach seinem Vater.“ Havelmann reichte ihm eine Rolle Frischhaltefolie. „Mögen Sie die Platten abdecken? Ich hole den Rest Geschirr.“

Das erledigte sich allerdings, da Tante Rosi und Milo mit den restlichen Sachen auftauchten. Anschließend scheuchte Havelmann sie alle aus der Küche mit der Begründung, sie würden nur im Weg herumstehen. Mikael folgte den beiden in den Salon, wo eine unbeendete Runde Domino aufgebaut war. Er guckte zu, bis Milo gewann und spielte beim nächsten Mal mit. Die Medizin wirkte offenbar, denn der Kleine hatte bisher noch keinen weiteren Hustenanfall erlitten.

Geräusche aus dem Eingangsbereich ließen Milo aufmerken. Der Junge hob den Kopf, horchte angestrengt und fing an zu strahlen.

„Papa!“ Milo sprang auf und rannte aus dem Raum, um gleich darauf auf Beckinsales Arm wieder hereingetragen zu werden.

4.

„Doktor. Roswitha.“ Ford nickte den beiden zu, strich Milo durchs Haar und musterte prüfend dessen Gesicht. „Geht’s dir besser?“

Sein Sohn nickte eifrig. „Der ekelhafte Saft hat mich heil gemacht.“

Fragend sah er rüber zu Kirchhoff, der schief grinsend erläuterte: „Ich hab behauptet, dass scheußliche Medizin besser hilft als wohlschmeckende. Übrigens: Vorm Schlafengehen sollte Milo noch eine Dosis nehmen.“

„Iiiih!“ Milo schüttelte sich und sah flehend zu ihm hoch. „Muss ich?“

„Wenn der Doktor das sagt: Ja.“ Er küsste seinen Sohn auf die Stirn und setzte ihn auf dem Boden ab. „Ich geh mich kurz frisch machen. Bin gleich wieder da.“

„Willst du noch etwas essen?“, rief ihm Roswitha hinterher, als er sich anschickte den Raum zu verlassen.

„Danke, im Moment nicht. Ich mach mir später was.“

Auf dem Weg ins Obergeschoss lockerte er den Knoten seiner Krawatte. In der Anfangsphase eines Projektes erschien er stets im korrekten Businessoutfit. Später, wenn er mittendrin steckte, lockerte er die Kleiderordnung ein bisschen und verzichtete zumindest auf den Schlips. Je nachdem, wie streng es beim Kunden zuging, erlaubte er sich bei manchen sogar in schwarzer Jeans statt Anzughose zu erscheinen.

In seinem Zimmer tauschte er den Anzug gegen Wohlfühlklamotten, wusch sich im Bad die Hände und bürstete seine Haare. Anschließend begutachtete er sich kritisch im Spiegel. Seine 37 Lenze sah man ihm inzwischen an. In den Augenwinkeln hatten sich winzige Fältchen eingenistet, außerdem war da ein etwas verbitterter Zug um seinen Mund. Dagegen konnte auch seine spezielle Gesichtscreme nichts ausrichten.

Bevor er zurück in den Salon ging, holte er eine Flasche Wasser aus der Küche. Milo war so ins Spiel versunken, dass sein Erscheinen keine neue Begeisterungswelle auslöste. Er ließ sich neben seinem Sohn nieder und genoss, nach der ganzen Aufregung des Tages, die friedliche Stimmung.

„Papa?“ Milo schmiegte sich an ihn. „Welchen Stein soll ich nehmen? Den oder den?“ Nacheinander wies er auf zwei der Steine, von denen der eine den Wert sechs-vier aufwies, der andere sechs-eins.

Da bereits einige Einser lagen, riet er: „Nimm den zweiten.“

Kirchhoff musste passen und einen Stein aufnehmen, Roswitha konnte jedoch anlegen. Schon war Milo wieder dran. Fünf Runden später hatte sein Sohn gewonnen und reckte triumphierend die Arme in die Höhe. Dem erleichterten Blick, den Kirchhoff und Roswitha tauschten, zufolge, war es nicht mit rechten Dingen zugegangen, aber er hätte ebenfalls geschummelt, nur damit sich Milo wie ein Schneekönig freute.

„Das reicht für heute. Jetzt geht’s ab ins Bett.“ Roswithas strenge Tonlage erstickte jeglichen Widerspruch im Keim.

Flehend schaute Milo zu ihm hoch. „Bringst du mich ins Bett?“

„Das kann Roswitha viel besser als ich. Ich lese dir aber noch ein bisschen was vor, wenn du ganz schnell bist.“

„Moment! Erst die Medizin“, stoppte Kirchhoff Milo, als der aufsprang und in Richtung Tür hastete.

„Menno!“ Schmollend kam sein Sohn zurück, stellte sich aber gehorsam vor dem Doktor auf.

Mit Todesverachtung schluckte Milo den Löffel Hustensaft, den Kirchhoff ihm verabreichte. Anschließend zog sein Sohn Roswitha an der Hand aus dem Wohnzimmer.

Schmunzelnd begann Kirchhoff die Spielsteine einzupacken. „Was für ein energischer junger Mann.“

„Wohl wahr.“ Ford setzte die Flasche an seine Lippen und trank ein paar Schlucke. „Hat Ernest Ihnen gesagt, dass Sie den Wagen benutzen können, sofern er nicht anderweitig benötigt wird?“

„Gut zu wissen. Ich wollte mich nach einem Schwimmkurs für Milo umgucken.“

„Denken Sie bitte daran, dass Milo ab Anfang nächster Woche vormittags im Kindergarten ist.“

Kirchhoff schloss die Schachtel, schlug ein Bein übers andere und lehnte sich zurück. „Habe Sie irgendeine Einrichtung ausgewählt oder durfte Milo mitentscheiden.“

„Ich hab die mit den besten Bewertungen genommen. Wieso?“

„Was ist, wenn er sich dort nicht wohlfühlt?“

Siedend heiß fiel Ford ein, dass sich Roswitha in Hamburg um einen Kindergartenplatz gekümmert hatte. Gut, der bürokratische Akt war von ihm erledigt worden, aber der Rest ... Er erinnerte sich, dass sie vor zwei Jahren mit Milo mehrere Einrichtungen besucht hatte.

„Darüber denke ich nach, wenn es soweit ist“, kanzelte er Kirchhoff barsch ab, um sein schlechtes Gewissen nicht zu offenbaren. „Ich geh schon mal nach oben. Falls wir uns nicht mehr sehen: Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, murmelte der Doktor, die Stirn gefurcht und Kälte im Blick.

Während Ford die Treppe hinauflief fragte er sich, warum er überhaupt irgendeinen Wert auf Kirchhoffs Meinung legte. Sollte der Mann ihn doch für einen schlechten Vater halten. Das konnte ihm doch egal sein.

„Milo zieht schon seinen Pyjama an“, rief Roswitha, die ihn wohl hatte heraufkommen hören.

„Alles klar“, gab er zurück, brachte die Flasche in sein Zimmer und ging in das seines Sohnes.

Milo trug einen hellblauen Schlafanzug, auf dessen Oberteil ein Minion prangte. So ein gelber Däumling mit Brille. Roswitha deckte ihn zu, küsste ihn auf beide Wangen und verabschiedete sich für die Nacht. Nachdem sie verschwunden war, ließ sich Ford auf der Bettkante nieder und griff nach dem Buch, das auf dem Nachtschrank lag.

Obwohl Milo die Lektüre schon kannte, schließlich hatten sie die Story nach Weihnachten bereits zweimal gelesen, lauschte sein Sohn andächtig. Außerdem wollte sich Milo stets die Bilder angucken, bevor er weiterblätterte. Es war dem Kleinen aber anzumerken, wie zunehmend Müdigkeit von ihm Besitz ergriff. Schließlich sackten die Augenlider ganz herab und Milo begann regelmäßig zu atmen.

„Schlaf gut, mein Schatz“, flüsterte Ford, gab ihm einen federleichten Kuss auf die Nasenspitze, legte das Buch zurück, schlich aus dem Raum und schloss leise die Tür.

Im Prinzip war er ebenfalls todmüde. Zwei Tage auf der Autobahn und unruhige Nächte in ungewohnten Betten hatten ihn ganz schön geschafft. Dennoch surfte er eine Weile im Internet, besorgte sich aus der Küche einen kleinen Imbiss und verspeiste diesen vor der Glotze. In jedem der Zimmer, bis auf Milos, dort hatte er sie entfernt, befand sich ein kleiner Flachbildfernseher. Um zehn gab er sich geschlagen, kroch in die Falle und schlief nahezu sofort ein.

An den folgenden vier Tagen lief das Abendprogramm ähnlich ab. Am Samstag kroch Milo morgens zu ihm ins Bett. Das passierte ab und zu, wenn sich sein Kleiner unwohl fühlte oder aus anderem Grund besonders anhänglich war. Genüsslich sog er den Duft des Pfirsichshampoos ein, das Roswitha für Milos Haare verwendete. Überhaupt roch sein Schatz unglaublich gut, so unschuldig nach Kind.

„Du, Papa?“, nuschelte Milo gegen sein T-Shirt.

„Mhm?“

Milo linste zu ihm hoch. „Machen wir heute was Schönes?“

„Was möchtest du denn tun?“

„Kekse backen. Oder in den Zoo.“

Das Wetter war für einen längeren Aufenthalt draußen zu ungemütlich, also entschied er sich für das kleinere Übel. „Okay, dann lass uns Kekse backen. Vermutlich müssen wir dafür vorher Einkaufen fahren und können dann gleich mal nach dem nächsten Olchi-Band gucken.“

„Oh ja! Du bist der beste Papa der Welt!“, jubelte Milo, rutschte höher, schlang ihm die Arme um den Hals und küsste ihn schallend auf die Wange. „Ih! Du kratzt!“

„Armer Schatz.“ Zärtlich strich er durch Milos weichen Blondschopf.

Belinda war brünett, er schwarzhaarig. Irgendwann würde sein Sohn fragen, woher dieses helle Weizenblond stammte. Na ja, ein paar Jahren waren bis dahin noch Zeit.

Nach dem Frühstück brach er mit Milo zum Einkaufsbummel auf. Kirchhoff fuhr ebenfalls mit, wollte sich aber in der Stadtmitte von ihnen trennen, ein bisschen Sightseeing betreiben und irgendwann mit dem öffentlichen Nahverkehr nach Hause zurückkehren. Was Ernest und Roswitha betraf: Die hatten am Wochenende stets frei. Roswithas Dienste beanspruchte er nur manchmal Samstagabend, wenn er loszog, um irgendeinen Typen zu vögeln. Das war in letzter Zeit immer seltener geworden.

Kurz vorm Mittagessen trafen sie wieder daheim ein. Aus dem versprochenen einen Olchi-Buch waren zwei geworden, außerdem hatte er Milo eine Badehose gekauft. Natürlich eine mit Minions-Motiven. Momentan ging gar nichts ohne diese gelben Pimpfe. Es grenzte an ein Wunder, dass die Olchis überhaupt eine Chance in Form von Lektüre bekamen.

Die Anschaffung der Badehose war eine Notwendigkeit, da Kirchhoff inzwischen ein Schwimmbad mit Kursen für Kinder in Milos Alter ausfindig gemacht hatte. Es sollte, trotz Roswithas Protest, am Montag losgehen. Es war dem Doktor zu verdanken, dass sie schließlich klein beigab und der Sache ihren Segen erteilte. Kirchhoff hatte ihr rigoros klargemacht, dass ein Schwimmbadbesuch keinerlei nennenswerte Gesundheitsrisiken barg, bis auf eventuellem Fußpilz. Da musste also erst ein Arzt daherkommen, damit sein Sohn schwimmen lernen durfte.

Nach dem Mittagsmahl kuschelte er sich mit Milo auf eine Couch im Salon und las ein bisschen vor. Anschließend starteten sie ihre Backaktion, wobei ihnen Roswitha, die sich wohl um den Zustand der Küche sorgte, half. Dank ihr versank der Raum nicht im Chaos und vier Bleche wohlgebräunter Plätzchen erblickten das Licht der Welt.

Sie waren gerade am Aufräumen, als Kirchhoff zurückkehrte und neugierig in die Küche spähte. „Hier riecht es gut. Darf ich einen Keks probieren?“

„‘Türlich!“, krähte Milo freudestrahlend und suchte ein besonders schönes Exemplar aus, um es dem Doktor mit stolzgeschwellter Brust hinzuhalten.

„Mhm, lecker“, lobte Kirchhoff kauend.

„Willst du noch einen?“

„Lieber nicht. Es gibt ja bald Abendbrot.“ Lächelnd strich der Doktor Milo übers Haar. „Du hast ganz toll gebacken.“

Ford beobachtete gerührt, wie sein Sohn förmlich um ein paar Zentimeter wuchs. „Papa und Tante Rosi haben mir ein bisschen geholfen.“

„Das ist aber lieb von den beiden.“

„Ich hab eine Badehose bekommen. Willst du sie sehen?“ Milo schob die Hand in Kirchhoffs und zog den Mann aus der Küche in Richtung Treppe. „Eine mit Minions drauf. Die ist total cool.“

„So? Da bin ich aber gespannt.“

„Papa hat mir auch neue Olchis gekauft. Gleich zwei“, hörte er Milo noch sagen, bevor sich die Stimme im Obergeschoss verlor.

„Tja. Dann sind wir wohl abgemeldet“, merkte Roswitha trocken an und fuhr fort, die abgekühlten Plätzchen in eine Dose zu schichten.

„Wir sind ja eh nur das Hilfspersonal.“ Grinsend schüttelte Ford den Kopf, schnappte sich einen Lappen und begann, die Mehlreste von der Tischplatte zu wischen.

Das Abendessen fand gemeinsam mit Ernest und Roswitha statt. Die Appartements im Souterrain verfügten zwar über Pantrys, aber sie waren übereingekommen, dass eine dreifache Bevorratung von Lebensmitteln einen sinnlosen Mehraufwand darstellte.

Milo trug während des Mahls die Badehose als Mütze auf dem Kopf. Roswitha missbilligte das offensichtlich, musste sich jedoch der Mehrheit beugen, die darüber amüsiert war. Erstmals fragte sich Ford, wie die Frau auf seine Homosexualität reagieren würde. Vermutlich nicht sonderlich entspannt.

Diesmal war es seine Aufgabe, Milo um sieben ins Bett zu verfrachten. Mit Argusaugen überwachte er das Zähneputzen und half beim Umziehen, indem er die abgelegten Klamotten auf einem Stuhl stapelte. Allerdings verhinderte er, dass Milo die Badehose unterm Pyjama anzog, denn irgendwo kannte selbst er, trotz allem, gewisse Grenzen.

„Oh nein, mein Sohn! Die weihst du bitte erst Montag richtig ein.“

Aus großen Augen sah Milo zu ihm hoch. „Was ist ‚weihst‘?“

„Einweihen bedeutet, etwas zum ersten Mal tragen.“

„Wieso darf ich das nicht heute?“

„Weil ... ähm ... weil du doch bestimmt nicht willst, dass sie vorne ein bisschen gelb ist ... du weißt schon ... wenn du sie im Schwimmbad anziehst.“

Milo, der untenrum nackt auf der Bettkante hockte und sich die Badehose mit beiden Händen gegen die schmale Brust presste, gab nach. Erleichtert schnappte er sich das Streitobjekt, legte es zu den anderen Sachen und hielt seinem Sohn das Pyjamaunterteil hin. Im Nachhinein fand er seinen Einwand plötzlich doof. Mutierte er etwa zum Pedanten?

Zum Glück ließ Milo das Thema ruhen und erfreute sich stattdessen an den zwei Kapiteln aus einem der neuen Olchi-Bücher, die er vorlas. Zum Ende hin schlummerte sein Schatz todmüde ein. Wie ein kleiner Engel lag er da, die Mundwinkel zu einem Lächeln hochgebogen und eine Hand unter die Wange geschoben. Zärtlich strich Ford ein paar verirrte Strähnen aus Milos Stirn.

Obwohl sie keine Blutslinie verband, empfand er tiefe Liebe für seinen Adoptivsohn. Die ersten Stunden, Tage, Wochen von Milos Leben hatten sie fest aneinandergeschweißt, gerade weil sie so beschwerlich gewesen waren. Er wollte sie rückblickend um keinen Preis missen. Damals war ihm klargeworden, dass es Höheres gab als seine eigenen Bedürfnisse, nämlich einen anderen Menschen zu beschützen.

5.

Anfangs hatte sich Milo ängstlich an Mikaels Bein geklammert und nur auf gutes Zureden hin dem Schwimmlehrer Folge geleistet. Inzwischen paddelte der Kleine im Becken herum, mit einem Schwimmbrett in den Händen und den Kopf krampfhaft emporgereckt. Mikael zweifelte aber nicht daran, dass Milo schon bald mit dem nassen Element Freundschaft schließen würde. Kinder waren im allgemeinen Neuem gegenüber aufgeschlossen.

Er saß auf dem Beckenrand und ließ seine Beine ins Wasser hängen. Wenn Milo sein Sohn wäre, hätten sie bereits vor einigen Jahren den ersten Kurs absolviert. Wieso Beckinsale in dieser Hinsicht so nachlässig war ... na ja, wie auch in vielerlei anderer.

„Kurze Pause!“, verkündete der Trainer lauthals, woraufhin die zuvor abwartend dasitzenden Elternteile in seiner Umgebung in Bewegung gerieten.

Die überwiegende Anzahl der Sprösslinge wurde von ihren Müttern begleitet. Mikael hatte den einen oder anderen neugierigen Blick bemerkt. Zwei der Frauen waren sogar offensiv auf ihn zugegangen, um mit ihm zu flirten. Anscheinend wirkte ein Mann mit einem kleinen Kind genauso anziehend, wie einer mit einem Jungtier im Schlepptau. Sonst ließen Frauen ihn nämlich weitestgehend in Ruhe. Nicht, weil er unattraktiv war, sondern weil er keinerlei paarungswillige Signale aussandte.

Mittlerweile war Milo bei ihm angekommen und hielt sich mit einer Hand am Beckenrand fest. „Ich hab Durst.“

„Du hast doch etliche Liter um dich rum.“

„Das schmeckt aber total igitt. Schlimmer als deine Medizin.“

Er half Milo aus dem Wasser und zog den Korb heran, den Tante Rosi für sie gepackt hatte. Neben einer Dose mit geschnittenem Obst, befanden sich Getränke und eine Tüte Plätzchen darin. Nachdem er Milo ein Handtuch um die schmalen Schultern gelegt hatte, holte er ein Trinkpäckchen Apfelschorle hervor und reichte es dem Jungen.

Milo sog kurz am Strohhalm, sah sich nach allen Seiten um, winkte ihn mit dem Finger heran, ein niedlich verschämtes Grinsen auf den Lippen und flüsterte: „Ich hab ins Wasser gepinkelt.“

„Nicht so schlimm. Wahrscheinlich haben die anderen das auch alle getan.“

„Echt?“ Mit großen Augen betrachtete Milo das Wasser. „Ih!“

„Ach, Quatsch. Das Chlor neutralisiert den Harn.“

„Was ist Chlor?“

„Ein chemisches Element, das desinfizierende und bleichende Wirkung besitzt.“

„Was ist desinfi... desinfiziehen?“

Worauf hatte er sich da bloß eingelassen? „Desinfizieren bedeutet, schädliche Keime abzutöten.“

Die Stirn gekraust sog Milo erneut am Strohhalm und gestattete ihm eine kurze Verschnaufpause, bevor die nächste Frage kam. „Was ist ein kemisches Element?“

„Möchtest du ein Stückchen Apfel?“, versuchte er ein Ablenkungsmanöver.

„Lieber einen Keks.“

Rasch fischte er die Tüte aus dem Korb, hielt sie Milo hin und nahm sich anschließend ebenfalls ein Plätzchen. Zum Glück erlöste ihn der Schwimmlehrer aus seiner Bredouille.

„Kinder! Es geht weiter!“, erschallte dessen Lockruf im nächsten Moment.

Milo drückte ihm das leere Trinkpäckchen in die Hand, schnappte sich das Schwimmbrett und glitt vom Beckenrand ins Wasser. Wie eine Schar Entchen paddelten die Kinder auf den Mann zu.

Aufatmend legte er die Kekstüte zurück in den Korb. Er musste unbedingt vorsichtiger mit seinen Antworten sein, sonst geriet er noch in eine fatale Lage. Was hätte er beispielsweise auf die Frage hin erwidern sollen, warum Chlor ungestraft töten durfte?

Während er den Schwimmenden zusah, dachte er an den vergangenen Tag. Bei Milo hatte sich beim Frühstück allmählich Lagerkoller abgezeichnet. Der Junge zappelte und nörgelte herum. Nach einer Woche ohne gleichaltrige Spielkameraden, in einem fremden Haus mit Erwachsenen eingepfercht, absolut kein Wunder.

Beckinsale, scheinbar mit der Situation überfordert, hüllte sich in missmutiges Schweigen und Tante Rosis Bemühungen, Milo zu besänftigen, besaßen gegenteiligen Effekt. Letztendlich hatte sich Mikael den Zappelphilipp geschnappt, in warme Klamotten gesteckt, ebenfalls welche angezogen und den nächsten Spielplatz aufgesucht.

Trotz des miesen Wetters waren ein paar Kinder dort, zu denen Milo rasch Kontakt fand. Zwei Stunden toben, rutschen, schaukeln und in der Sandkiste buddeln sorgten für den nötigen Ausgleich. Mit einem lammfrommen, strahlenden und mit nassem Sand eingekleistertem Milo kehrte er heim.

Da er vom Herumstehen total durchgefroren war, übergab er den Dreckspatz an Beckinsale und stellte sich unter die heiße Dusche. Dabei feixte er noch ein Weilchen, weil Milos Vater, angesichts des vor Schmutz starrenden Sohnes, ziemlich mit den Augen gerollt hatte.