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Seit Lukas‘ Familie Föhr verlassen hat, sehnt er sich danach, auf die Insel zurückzukehren. Nach Beendigung seines Studiums und der Zeit als Assistenzarzt ist es endlich soweit: Er zieht bei seiner Großmutter, die in Wyk auf Föhr wohnt, ein. Die Stelle im örtlichen Klinikum hat er Vitamin B zu verdanken: Sein Vater, Chef der Nordkliniken, hat dafür gesorgt, dass sie für ihn freigehalten wird. Alles wäre wunderbar, gäbe es nicht Samir, den Chirurgen, der ihn offenbar nicht ausstehen kann.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Arztromane Vol. 19
1.
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8.
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11.
12.
13.
Epilog – einige Monate später
Arztromane Vol. 19
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos
Korrekturen: Aschure, Dankeschön!
Foto Cover: Depositphotos_4160048_l-2015, shutterstock_143280199
Cover: Lars Rogmann
Kontakt:https://www.sissikaipurgay.de/
Sissi Kaiserlos/Kaipurgay
c/o Autorenservice Karin Rogmann
Kohlmeisenstieg 19
22399 Hamburg
Seit Lukas‘ Familie Föhr verlassen hat, sehnt er sich danach, auf die Insel zurückzukehren. Nach Beendigung seines Studiums und der Zeit als Assistenzarzt ist es endlich soweit: Er zieht bei seiner Großmutter, die in Wyk auf Föhr wohnt, ein. Die Stelle im örtlichen Klinikum hat er Vitamin B zu verdanken: Sein Vater, Chef der Nordkliniken, hat dafür gesorgt, dass sie für ihn freigehalten wird. Alles wäre wunderbar, gäbe es nicht Samir, den Chirurgen, der ihn offenbar nicht ausstehen kann.
Der graue Himmel konnte Lukas‘ Stimmung nicht trüben. Endlich war er am Ziel seiner Reise! Elf Jahre Studium, danach nochmal zwei als Assistenzarzt. lagen hinter ihm. Nun war er auf dem Weg nach Wyk, um im dortigen Klinikum eine Stelle anzutreten.
Seine Kindheit hatte er auf Föhr verbracht. Er war in der dritten Klasse, als seinem Vater ein lukrativer Posten in Husum angeboten wurde. Seine Mutter, seine Geschwister und er blieben, sein alter Herr ging ans Festland. Ein Jahr später folgten sie seinem Vater in die graue Stadt am Meer.
Seitdem war es sein größter Wunsch, wieder auf Föhr zu leben. Na ja, sein zweitgrößter, denn Mediziner zu werden stand ganz oben auf seiner Liste. Den Punkt hatte er abgehakt. Er war nun approbierter Arzt, Fachbereich Anästhesie.
Auch seine Geschwister hatten eine medizinische Laufbahn eingeschlagen. Seine Schwester betrieb eine Zahnarztpraxis und sein Bruder, das Nesthäkchen, studierte noch.
Inzwischen hatte die Fähre den Anleger fast erreicht. Sie drosselte das Tempo. Aus den Lautsprechern dröhnte die Ansage, dass Passagiere, deren Ziel Wyk war, in wenigen Minuten von Bord gehen konnten.
Lukas begab sich zum Unterdeck, wo er sein Gepäck abgestellt hatte. Er war mit einem Trolley unterwegs. Der Rest, den er einem Versanddienstleister übergeben hatte, würde im Laufe der nächsten Tage eintreffen.
Es fanden sich weitere Passagiere ein. Zu dieser Jahreszeit zog es nur Hardcore-Föhr-Fans auf die Insel. Entsprechend hielt sich das Gedränge in Grenzen.
Ein Ruck ging durch den Rumpf. Damit hatte Lukas gerechnet, denn das passierte jedes Mal beim Anlegemanöver. Kurz darauf wurde die Luke, die zum Fahrgastausstieg führte, geöffnet. Er reihte sich in die Schlange ein.
Obwohl er seiner Oma gesagt hatte, dass sie ihn nicht abholen brauchte, entdeckte er sie auf dem Anleger.
Der Wortwechsel, wenn er sie anrief, um seine Ankunftszeit mitzuteilen, war immer gleich: „Oma, du musst nicht wegen mir durch die ganze Stadt rennen“, lautete sein Text und ihrer: „Wenn mich mein Lieblingsenkel besucht, dann nehme ich ihn gebührend in Empfang.“ Es kam ihm vor wie bei Dinner for one.
Irma Lautenschläger war die Mutter seines Vaters. Manchmal behauptete sie im Scherz, dass man ihren Sohn im Krankenhaus vertauscht hatte, weil er null Ähnlichkeit mit ihr oder ihrem – schon vor langer Zeit verstorbenen - Mann aufwies. Damit meinte sie nicht die Äußerlichkeiten, denn da gab es Parallelen, sondern den Charakter.
„So ein Spießer ist niemals aus mir rausgekrochen“, pflegte sie zu scherzen. „Und erzogen hat den auch jemand anderes.“
Sein alter Herr war in der Tat ein bisschen engstirnig und hasste es, wenn man von gesellschaftlichen Normen abwich. Lukas‘ Outing hatte entsprechende Wellen aufgeworfen. Letztendlich musste sich sein Vater damit abfinden, doch nur unter Protest. Seine Mutter hatte es hingegen gelassen aufgenommen. Sie meinte, sie hätte es schon lange geahnt.
Abgesehen davon war sie das genaue Gegenteil seiner Oma: asketisch dünn, stets geschminkt und in eine teure Parfumwolke gehüllt. Oma war herrlich kuschlig, trug nie Makeup und duftete nach ... na ja, eben nach Irma Lautenschläger. Vermutlich eine Mischung aus Waschmittel, Kuchen und Veilchen – ihrem Lieblingsduft.
Er marschierte auf seine Großmutter zu, die bei seinem Anblick anfing zu strahlen. Genau wie er trug sie eine Brille. Ihre weißen Haare hatte sie zu einem Dutt frisiert. Wegen des kühlen Wetters hatte sie sich in einen blauen Wollmantel gehüllt und einen weißen Schal um ihren Hals geschlungen. Ein Stilbruch: Ihre knallgelben Gummistiefel.
„Endlich bist du da“, empfing sie Lukas und drückte ihn an ihren ausladenden Busen. „Ich hab Gugelhupf für dich gebacken.“
Natürlich hatte sie das, wie jedes Mal, wenn er zu ihr kam. Sie war die weltbeste Gugelhupf-Bäckerin. Er liebte ihren Kuchen.
„Mama und Papa haben mir aufgetragen, dich herzlich zu grüßen“, erwiderte er.
Sie hakte sich bei ihm unter. „Erfreulich, dass sie bei all ihren Verpflichtungen dazu gekommen sind, eine Sekunde an mich zu denken.“
Seit dem Umzug nach Husum war er so oft wie möglich bei ihr gewesen. Sowohl seine Eltern als auch seine Geschwister hatten es nicht mal halb so häufig nach Föhr geschafft. Erstere waren immer zu beschäftigt und was seine Schwester und seinen Bruder betraf: Die bevorzugten Urlaub in wärmeren Gefilden.
Sie setzten sich in Bewegung. Hier und da wies seine Oma auf ein neues Geschäft oder eine andere Veränderung hin. Ansonsten fragte sie ihn aus, wie es ihm in den letzten Monaten ergangen war.
Sie hatten sich zuletzt im Juni gesehen. Drei Wochen Sommerferien. Danach war sein Urlaubsanspruch nahezu aufgebraucht gewesen. Sein zweites Jahr als Assistenzarzt hatte er in einer Klinik in Dresden absolviert. Von dort war der Weg zu weit, um mal eben für ein verlängertes Wochenende an die Nordsee zu fahren.
Zu Fuß waren es rund zwanzig Minuten bis zu dem Haus seiner Oma; ein schlichter Rotklinkerbau mit Spitzdach und Gauben auf beiden Seiten. Im Erdgeschoss wohnte sie. Das Obergeschoss vermietete sie an Feriengäste, was nun der Vergangenheit angehörte, denn Lukas zog dort ein.
Das ganze Projekt war von langer Hand geplant. Als vor fünf Jahren der Anästhesist der Klinik Wyk in Rente gegangen war, hatte sein Vater dafür gesorgt, die Stelle nur befristet zu besetzen. Vitamin B auszunutzen, bereitete Lukas kein schlechtes Gewissen. Jeder andere hätte an seiner Stelle genauso gehandelt.
„Ich bin so froh, den Mist los zu sein“, vertraute sie ihm an und schloss die Haustür auf. „Ständig hängt einem das Finanzamt an den Fersen und immer diese Putzerei.“
Sie hatte bis zuletzt die Endreinigung selbst erledigt. Eigentlich hätte sie sich dafür Personal leisten können, aber sie gehörte nun mal zu der Generation, die an jeder Ecke sparte. Na gut, nicht an jeder. Beim Lebensmitteleinkauf achtete sie mehr auf Qualität als den Preis.
Er brachte seinen Trolley ins Obergeschoss und schaute sich kurz um, bevor er sich zu seiner Oma in die Küche gesellte. Es duftete herrlich nach Kuchen. Sie brühte gerade Kaffee auf, mit der Hand statt einer Maschine.
„Was dir an Möbeln nicht gefällt, wirfst du einfach raus.“ Sie streifte ihn mit einem Seitenblick und konzentrierte sich wieder auf den Filter. „Hübscher Pulli.“
„Hat mir Mama geschenkt.“ Er ließ sich am Tisch nieder und strich über den weichen Ärmel. Seine Mutter besaß einen guten und teuren Geschmack. Der Pullover bestand aus einem Woll-Kaschmir-Gemisch und hatte die gleiche Farbe wie seine Augen. Das meinte jedenfalls seine Mutter. Er scherte sich nicht um sowas.
Seine Oma stellte den Wasserkessel beiseite und reichte ihm ein Messer. „Schneide dir selbst ein Stück ab.“ Mit dem Kinn wies sie auf den Gugelhupf, der in der Mitte des Küchentisches stand.
Lukas wertete das als Erlaubnis, sich ein Riesenstück abzuschneiden. Unterdessen nahm seine Oma den Filter von der Kaffeekanne, stellte sie neben den Kuchenteller und nahm ebenfalls Platz.
Während er den ersten Bissen genoss, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Die Einrichtung war noch dieselbe, die er aus Kindertagen kannte. Am liebsten mochte er das alte Buffet, in dem seine Oma das gute Geschirr und allerlei Schnickschnack aufbewahrte. Daneben hing ein Sammelsurium aus gerahmten Bildern an der Wand. Überwiegend zeigten die Fotos seine Geschwister und ihn. Die drei größten waren Babyfotos, die seine Eltern jeweils zur Geburt eines ihrer Kinder an die Familie verschenkt hatten.
Lukas Linus Lautenschläger, 5. Juli 1993, 2.900 Gramm, 48 cm, stand unter dem geröteten Gesicht eines der Säuglinge. Seine Schwester, Lara Lucina Lautenschläger, hatte viel hübscher ausgesehen und tat es heute noch. Auch sein Bruder, Lars Lasse Lautenschläger, war ein schönerer Anblick.
Bei der Namensgebung hatten seine Eltern wohl bei jedem Kind vorher einen Clown gefrühstückt. In der Schule waren sie häufig 3-L genannt worden. Ihn hatten seine Klassenkameraden auch als Föhrer Landei verspottet. Glücklicherweise war er damals noch nicht out gewesen, sonst hätten sie sich bestimmt etwas richtig Fieses ausgedacht.
„Du warst so ein süßes Baby“, schwärmte seine Oma, die seinen Blick bemerkt hatte. „Und du bist heute noch süß.“
Süße Brillenschlange hatte ihn sein letzter One-Night-Stand genannt und danach gründlich durch die Matratze genagelt. Leider schienen süße Brillenschlangen vorwiegend auf dem Speiseplan von Dumpfbacken zu stehen. Anders konnte er sich nicht erklären, wieso er immer nur bei solchen Typen Erfolg hatte.
„Guck nicht so angesäuert.“ Sie streckte den Arm aus und streichelte seine Wange. „Ich mein’s doch nicht böse.“
„Weiß ich doch“, brummelte er, goss Kaffee in seinen Becher und fügte Milch hinzu.
„Und du bist intelligent. Intelligenz ist sexy.“
„Geld ist sexy“, korrigierte er sie.
Sie winkte ab. „Geld hat gewissen Reiz, nutzt sich aber schnell ab. Ein kluger Kopf hingegen hält ein Leben lang.“
Lukas schob sich ein weiteres Stückchen Kuchen in den Mund, zückte sein Handy und nuschelte kauend: „Um halb vier musch ich in der Klinik schein.“
„Ich komme mit.“
Entgeisterte starrte er seine Oma an.
„Ich wollte eh Kuchen dort vorbeibringen. Seit Doktor Cherif meinen Finger wieder angenäht hat, bringe ich regelmäßig welchen hin.“
Sein Blick huschte zu ihren Händen. Er schluckte den Bissen runter. „Finger wieder angenäht?“
„Letzten Monat hatte ich ein Malheur mit der Rosenschere. Ich bin gleich rüber zur Klinik und die haben mich liebevoll versorgt. Ich musste nicht mal warten.“
„Dein Finger war ab?“, vergewisserte er sich, immer noch auf ihre Hände fixiert.
„Nein, nur zur Hälfte.“ Sie zeigte ihm ihre Daumenkuppe, an der man eine Narbe erkannte. „Das hat ganz schön geblutet. Meine Lieblingslatzhose ist hinüber. Die Flecken hab ich nicht wieder rausbekommen.“
„Warum hast du mich nicht angerufen?“
„Wegen der Flecken?“
„Wegen dem Finger!“
„Ich brauchte keine Dröhnung, sondern jemanden, der mit Nadel und Faden umgehen kann.“
„Du hättest dir eine Blutvergiftung holen können!“
Sie verdrehte die Augen gen Himmel. „Nun übertreib mal nicht.“
„Ich möchte trotzdem, dass du mich anrufst, wenn sowas passiert.“
„Da du nun bei mir wohnst, werde ich einfach bei dir klopfen, wenn ich mir das nächste Mal was abschneide.“
„Du schneidest dir bitte nichts mehr ab!“
Sie seufzte. „Du bist schlimmer als dein Vater.“
„Ach, Oma ...“ Er griff über den Tisch nach ihrer unverletzten Hand. „Ich möchte dich noch möglichst lange und in einem Stück behalten.“
Sie schenkte ihm ein liebevolles Lächeln. „Ich gebe mein Bestes.“
Das Krankenhausgebäude hatte sich im Laufe der Jahre stark verändert. Ein Teil war abgerissen und neu gebaut, der Rest modernisiert worden.
Mit achtzehn Betten gehörte die Klinik zu den kleinsten in Deutschland. Das besaß, neben der Lage, für Lukas besonderen Reiz. Er mochte eine familiäre Atmosphäre und hasste Hektik. Natürlich konnte er stressige Situationen aushalten, aber auf Dauer würde er daran kaputtgehen.
Im Empfangsbereich saß Jutta Mommsen, eine Nachbarin seiner Oma, hinterm Tresen. Sie begrüßte ihn mit einem herzlichen Lächeln. „Willkommen, Lukas. Ich freu mich, dass du wieder da bist.“
Angeblich hatten sie zur gleichen Zeit die Grundschule besucht. Er erinnerte sich nicht daran. „Moin Jutta. Magst du Herrn Specht Bescheid geben, dass ich da bin?“
Bei seines letzten Inselaufenthalt im Juni hatte er mit Michael Specht, dem Leiter der Klinik, gesprochen und vereinbart, dass er sich blicken ließ, sobald er auf Föhr eingetroffen war.
Jutta griff zum Telefonhörer.
Seine Oma, die einen Weidenkorb mit den Resten des Kuchens trug, flüsterte ihm zu: „Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz.“
Von ihr hatte er das schon x-mal gehört, von seinen Eltern noch nie. Wahrscheinlich hielten sie es für selbstverständlich, dass er gute Leistungen brachte, genau wie seine Geschwister.
Eine Frau in blauem Kasack und gleichfarbiger Hose durchquerte die Lobby, entdeckte sie und steuerte auf sie zu. „Irma! Wie schön, dich zu sehen!“
„Hallo Bianca. Kennst du schon meinen Enkel?“, erwiderte seine Oma. „Lukas fängt bald bei euch an.“
Bianca, schätzungsweise in seinem Alter, besaß ein sympathisches Gesicht und Lächeln. „Hi. Ich hab schon von dir gehört.“
„Eilt mir mein schlechter Ruf voraus?“, witzelte er.
Sie lachte. „Eher dein guter und natürlich der deines Vaters.“
Ernst Friedrich Lautenschläger arbeitete seit zwanzig Jahren nicht mehr auf Föhr, war aber wohl allen ein Begriff.
„Ich habe Kuchen mitgebracht“, mischte sich seine Oma ein.
Ein Glück, denn er wusste nicht, was er erwidern sollte.
„Wow! Dankeschön!“ Bianca spähte in den Korb. „Gugelhupf?“
Seine Oma nickte. „Und ein paar Kekse.“
„Herr Specht holt Sie gleich ab“, meldete sich Jutta zu Wort.
„Ich bringe den Kuchen ins Schwesternzimmer“, verkündete seine Oma und schloss sich Bianca, die vorausging, an.
Lukas beäugte unschlüssig die Sitzgelegenheiten, entschied sich, stehenzubleiben und betrachtete die Bilder an den Wänden. Schwarzweiß Fotografien der Insel. Strandhafer, dahinter ein Strandkorb. Der Leuchtturm, der im Wyker Hafen stand, durfte natürlich nicht fehlen.
Nach einem Weilchen tauchte Michael Specht, ein gutaussehender Grauhaariger im grauen Anzug, auf. Sie schüttelten einander die Hände.
„Ich freue mich, Sie endlich begrüßen zu dürfen“, sagte Specht. „Wir haben Sie schon sehnsüchtig erwartet.“
Sie begann in die Richtung, in der seine Oma entschwunden war, zu spazieren. Specht erzählte von den jüngsten Veränderungen im Kollegium und Klinikbetrieb. Lukas lauschte nur mit halbem Ohr. Gedanklich war er in der Zeit, in der er seinen Vater auf der Arbeitsstelle besucht hatte, und hielt nach etwas Vertrautem Ausschau. Er entdeckte ein Bild, das noch immer an der gleichen Stelle hing, und eine Vase, die er schon damals hässlich gefunden hatte.
„Ich stelle Sie mal einigen Kollegen vor“, beendete Specht den Monolog und führte ihn in ein Schwesternzimmer, von dem eine Tür in einen Aufenthaltsraum führte.
Neben Bianca und seiner Großmutter waren dort vier Personen versammelt. Specht machte sie miteinander bekannt und bat: „Bewahrt mir ein Stück Kuchen auf.“
Anschließend begaben sie sich in Spechts Büro. Der Raum lag im 1. Stock. Durch die bodentiefen Fenster sah man auf das angrenzende Waldstück.
„Ich trete mit einer großen Bitte an Sie heran“, sagte Specht, der sich hinterm Schreibtisch niedergelassen hatte. „Ihr Vorgänger würde gern so bald wie möglich die Insel verlassen. Wären Sie bereit, vor Ihrem offiziellen Dienstantritt die Übergabe zu machen und seinen Bereitschaftsdienst zu übernehmen?“
„Natürlich. Ich stehe zur Verfügung.“
Specht seufzte erleichtert. „Vielen Dank.“
Sie erledigten noch ein paar Formalitäten, wie die Aushändigung eines Generalschlüssels sowie seines Dienstplanes und -handys. Danach erhob sich Specht und geleitete ihn zur Tür. „Kommen Sie mit zur Kuchenschlacht?“
Lukas schüttelte den Kopf. „Meine Großmutter hat mich bereits gemästet, bevor wir aufgebrochen sind.“
Specht lachte. „Das kann ich mir vorstellen. Nochmals vielen Dank, dass Sie einspringen.“
Er winkte ab. „Das ist doch selbstverständlich.“
„Finden Sie den Weg, oder soll ich Sie zum Ausgang bringen?“
Abermals winkte er ab. „Das schaffe ich allein.“
Am Fuß der Treppe trennten sich ihre Wege. Specht eilte in die eine Richtung davon, er schlenderte in die andere. Vor dem Bild, das er vorhin entdeckt hatte, blieb er stehen. Es handelte sich um ein Aquarell. Ein reetgedecktes Haus stand hinter einer üppigen Blumenrabatte.