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Mit neun Jahren hat Silas das letzte Mal im Garten gespielt. Er und seine vier Geschwister werden seitdem von ihrem Vater im Keller gefangen gehalten. Mit neunzehn gelingt es ihm, zu flüchten und Hilfe zu holen. Ein völlig neues Leben, mit Unterstützung des Jugendamtes, beginnt. Andererseits ist es nicht völlig neu, weil die Kinder unter einem Deckmantel leben müssen. Würde die Presse sie in die Finger bekommen, wäre das eine Katastrophe. Eigentlich hat Silas bloß ein Gefängnis gegen ein weiteres ausgetauscht. In seiner Einsamkeit hängt er sein Herz an den nächstbesten, nämlich seinen Betreuer.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Silas, Kellerkind
Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
Epilog - sechs Wochen später
Arztromane Vol. 13: Silas, Kellerkind
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Sämtliche Gegebenheiten sind frei erfunden. Die Vorgänge im Jugendamt und Krankenhaus sind nach bestem Wissen und Gewissen geschildert.
Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos
Fotos: Cover: Shutterstock Stockfoto-Nummer: 224159836 Von images.etc, Ornamente: Depositphotos_5797970_l-2015
Cover-Design: Lars Rogmann
Korrektur: Aschure, dankeschön!
Kontakt:http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/, https://www.sissikaipurgay.de/
Sissi Kaiserlos/Kaipurgay
c/o Karin Rogmann
Kohlmeisenstieg 19
22399 Hamburg
Mit neun Jahren hat Silas das letzte Mal im Garten gespielt. Er und seine vier Geschwister werden seitdem von ihrem Vater im Keller gefangen gehalten. Mit neunzehn gelingt es ihm, zu flüchten und Hilfe zu holen. Ein völlig neues Leben, mit Unterstützung des Jugendamtes, beginnt. Andererseits ist es nicht völlig neu, weil die Kinder unter einem Deckmantel leben müssen. Würde die Presse sie in die Finger bekommen, wäre das eine Katastrophe. Eigentlich hat Silas bloß ein Gefängnis gegen ein weiteres ausgetauscht. In seiner Einsamkeit hängt er sein Herz an den nächstbesten, nämlich seinen Betreuer.
Fünf Kinder jahrelang vom Vater im Keller eingesperrt, lautete die Schlagzeile der Blah-Zeitung am Mittwochmorgen. Gähnend griff Laurenz nach seinem Kaffeebecher und leerte ihn in kleinen Schlucken, wobei er den Artikel überflog. Unglaublich, zu welchen Taten Menschen fähig waren. Vom eigenen Vater gefangen gehalten und das über vermutlich zehn Jahre.
Der Vorfall erinnerte ihn an den Irren, der in Österreich die eigene Tochter in einem Verlies inhaftiert und mehrfach geschwängert hatte. Was ging in den Köpfen solcher Leute vor? Ach, nein, das wollte er lieber nicht wissen. Bestimmt wurde man verrückt, wenn man sich zu tief in die Abgründe solcher Psyche hineindachte.
„Morgen“, grüßte seine Kollegin Mechthild und nahm am Schreibtisch gegenüber Platz.
„Moin. Hast du das schon gelesen?“ Er wedelte mit der Zeitung.
„Was genau?“
„Na, von dem Typen, der die eigenen Kinder weggesperrt hat.“
„Ich sag’s ja immer wieder: Werdende Eltern sollten einen Kinderführerschein machen. Wer bei der Prüfung durchfällt, muss das Baby in fähigere Hände abgegeben.“
Mit dieser reaktionären Ansicht spiegelte sie zwar in etwa Laurenz‘ Meinung, dennoch fand er sie etwas zu hart. Schließlich gab es viele Eltern, die mit etwas Hilfe die Erziehung ihrer Brut ganz gut hinbekamen.
„Angeblich handelt es sich um ein Mitglied dieser Mun-Sekte“, erzählte er. „Die reden ja ständig vom Weltuntergang.“
„Tun das nicht alle Sekten?“
„Keine Ahnung. Ich kenne nicht sonderlich viele.“
„Ich auch nicht, aber mit irgendetwas muss man seine Anhänger ja ködern. Ein Weltuntergang ist ein super Lockmittel, wenn man seinen Jüngern ein Weiterleben bei unbedingter Treue und Ergebenheit verspricht.“
„Werde ich mir merken, für den Fall, dass ich mal eine Sekte gründe.“ Laurenz wandte sich wieder dem Artikel zu.
Die Sache war aufgeflogen, weil das älteste der Geschwister geflohen und die Polizei alarmiert hatte. Auf den Schwarzweißfotos sah man ein großes Anwesen mit Gewächshäusern und einem Wohngebäude. Eine zweite, erwachsene Person soll beteiligt gewesen sein. Man fahndete nach dem Mann, der sich vermutlich in Richtung Asien abgesetzt hatte.
Fotos der Kinder gab es keine. Das enttäuschte Laurenz sensationsgeile Verstandeshälfte. Die andere war darüber froh, denn so manches Opfer wurde durch zu viel Presseaufmerksamkeit im Nachhinein ein zweites Mal traumatisiert. Dafür gab es ein Bild des Vaters, eines verhärmt wirkenden Mittfünfzigers. Der Typ machte den Eindruck, als hätte er den Scheiß mit dem Weltuntergang wirklich geglaubt. Das war trotzdem kein Grund, jemanden einzusperren und schon gar nicht Kinder.
„Gib mir mal das Käseblatt“, bat Mechthild, woraufhin er die Zeitung faltete und ihr zuwarf. „Danke.“
Laurenz musste eh los. Er hatte einen Ortstermin bei einer Familie in einem sozialen Brennpunkt.
Mit neun sah Silas das letzte Mal Tageslicht. Das wusste er so genau, weil er eine Woche vor ihrem Umzug in die Kellerräume Geburtstag gefeiert hatte. Damals behauptete ihr Vater, sie vor drohender Gefahr beschützen zu müssen. Er und seine Geschwister waren derart eingeschüchtert, dass sie sich in der ersten Zeit nur flüsternd unterhielten.
Ihr Tagesablauf sah folgendermaßen aus: Frühstück, dann Unterricht bei ihrem Vater oder Gunther, einem Freund der Familie. Ihre Mutter war ein Jahr nach der Geburt von Silas‘ jüngstem Bruder gestorben. Kurz danach tauchte Gunther auf und wohnte seitdem bei ihnen.
Die Zubereitung des Mittagessens oblag ihm und seinen Geschwistern. Da Silas von klein auf seiner Mutter in der Küche geholfen hatte, funktionierte das einigermaßen. Außerdem bot es wenigstens ein bisschen Abwechslung in dem ansonsten tristen Alltag.
Je älter Silas wurde, desto öfter hinterfragte er die Absichten seines Vaters. Im Fernsehen wurde nie etwas über irgendeine Katastrophe berichtet. Draußen schien also alles normal weiterzulaufen. Wann immer er seinen Vater darauf ansprach, wurde er zurechtgewiesen.
„Ich weiß schon, was gut für euch ist“, lautete die Standardantwort. „Schließlich bin ich euer Vater.“
Silas‘ Zweifel wurden immer lauter. Die Zwillinge Anton und Geraldine, drei Jahre jünger als er, waren ebenfalls zunehmend unzufrieden. So manches Mal hockte sie beieinander und besprachen flüsternd, damit die anderen Geschwister nichts mitbekamen, wie sie ihren Vater umstimmen könnten.
Kurz vor Silas‘ neunzehntem Geburtstag wagten sie den offenen Aufstand. Beim Abendessen verlangten sie von ihrem Vater, den Keller verlassen zu dürfen. Die Folge: Zwei Tage sperrte ihr Vater sie zu dritt in ein Zimmer. Für ihre Notdurft gab es nur einen Eimer, zum Schlafen eine große Matratze. Ansonsten war das Zimmer leer. Ihre Mahlzeiten, die Gunther durch einen Türspalt hereinreichte, bestanden aus Wasser und je einer Schüssel Haferbrei.
Der Arrest bewirkte, dass sie erstmal den Mund hielten. Die Unzufriedenheit blieb jedoch.
Drei Wochen nach diesem Vorfall beschlossen Silas und die Zwillinge, dass einer von ihnen Hilfe holen musste. Der günstigste Zeitpunkt für eine Flucht war abends, wenn die Glotze lief und ihr Vater mit Gunther oben im Haus hockte. Häufig kam er erst gegen zehn wieder in den Keller, um sie ins Bett zu stecken. Das bot ein ausreichend großes Zeitfenster, um das Grundstück zu verlassen und jemanden zu alarmieren.
Silas wusste noch, dass es ungefähr zwanzig Minuten von seinem etwas abgelegenen Elternhaus zum nächsten Nachbarn dauerte. Als Schulkind hatte er diesen Weg regelmäßig mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurückgelegt. Bis zum Dorf brachte man eine halbe Stunde, sofern man schnell ging. Das wäre im Notfall auch zu schaffen.
Einige Tage nach diesem Entschluss ergab sich eine günstige Gelegenheit. Ihr Vater zog die Kellertür bloß ins Schloss, anstatt sie zu verriegeln. Das geschah in regelmäßigen Abständen und gehörte zu ihrem Plan. Mithilfe eines spitzen Küchenmessers gelang es Silas und Anton, die Tür zu öffnen. Danach gab es kein Zurück mehr, denn die Spuren. die sie dabei hinterließen, waren nicht zu übersehen.
„Viel Glück“, wünschten Anton und Geraldine.
Stumm nickte Silas den beiden zu. Mehr war nicht drin. Ihm klopfte nämlich das Herz bis zum Hals. Wenn er es vermasselte, drohte ihnen garantiert ewig langer Arrest. Vielleicht bis zum Ende seines Lebens.
Mit weichen Knien schlich er die Treppe hoch und atmete auf, als er die zweite Tür nur angelehnt vorfand. Er spähte in den Flur und lauschte angestrengt. Stille. Anscheinend waren Gunther und sein Vater nicht im Haus.
Auf Zehenspitzen begab er sich in die Küche, um durch die Hintertür in den Garten zu gelangen. Ihm blieb fast das Herz stehen, als er plötzlich das Klimpern eines Schlüsselbunds vernahm. Im nächsten Moment hörte er Schritte im Flur und die Stimme seines Vaters. Hektisch riss er die Tür auf, schlüpfte hindurch und drückte sie so leise wie möglich wieder zu.
Durch die Scheibe sah er Gunther, der die Küche betrat und etwas aus dem Kühlschrank holte. Dann verschwand der Mann wieder. Erneut atmete Silas auf.
Während er tief Luft holte, orientierte er sich nach allen Seiten. Früher war ihm das Grundstück riesengroß vorgekommen. Es schien geschrumpft zu sein. Der Zaun, der es zur Straße hin abgrenzte, lag nur wenige Schritte entfernt.
Büsche boten Deckung, als er seinen Standort verließ und den Gartenzaun ansteuerte. Selbiger bestand nur aus Holzlatten, über die es sich leicht hinwegsteigen ließ. In gebückter Haltung bewegte sich Silas an der Grundstücksgrenze entlang, bis zum Ende, an das sich ein Wäldchen anschloss.
Kaum hatte er die Bäume im Rücken, begann er zu laufen. Seine Kondition war eher mangelhaft, was ihm rasch Seitenstiche bescherte. Trotz seiner Bemühungen, fit zu bleiben, mangelte es im Keller eben an Bewegungsmöglichkeiten. Da halfen seine morgendlichen Liegestütze und Situps nur wenig.
Wie veranschlagt benötigte er zum nächsten Nachbarn, der Familie Bornhöft, falls diese noch dort wohnte, rund zwanzig Minuten. Leider waren alle Fenster dunkel und auf sein Läuten hin passierte nichts. Vor Enttäuschung kamen ihm die Tränen. Genervt wischte er sich übers Gesicht und setzte seinen Weg fort. Dann musste er eben bis zum Dorf laufen.
Zweimal fuhren Wagen an ihm vorbei, was ihn dazu veranlasste, in den Graben zu springen und sich zu ducken. Die Sorge, dass bereits Gunther oder sein Vater nach ihm suchte, war riesengroß.
Endlich, nach einer Ewigkeit, erreichte er das Ortsschild, auf dem Nahe prangte. Beflügelt von der Aussicht, gleich Menschen zu treffen, beschleunigte er seine Schritte. Die Straßen waren jedoch wie leergefegt. Vermutlich saßen alle vor der Glotze. Dazu, einfach irgendwo zu läuten, fehlte ihm der Mut. Wer weiß, auf was für Menschen er bei solcher Aktion stieß.
Schließlich, drei Häuser weiter, entdeckte er ein Lokal, dessen Neonreklame anheimelnd leuchtete. Er hielt darauf zu und musste sich vor der Tür selbst Mut zusprechen, um sie aufzustoßen und einzutreten. Gefühlt hundert Augenpaare richteten sich auf ihn.
„Ich ... ich brauche Hilfe. Meine Geschwister und ich werden gefangen gehalten“, brachte er stammelnd hervor.
Ungläubigkeit auf den Gesichtern.
„Bi-bitte! Bitte rufen Sie die Polizei.“
„Wie heißt du?“, wollte einer der Anwesenden wissen.
„Silas ... Silas Martinek.“
„Martinek? Das ist doch dieses Anwesen da draußen“, meldete sich ein anderer Gast zu Wort. „Da hab ich noch nie Kinder gesehen.“
Rund eine Stunde später saß Silas in einem Polizeiwagen, der den Weg, den er zu Fuß zurückgelegt hatte, innerhalb weniger Minuten schaffte. Die beiden Beamten begleiteten ihn zum Haus. Auf ihr Läuten hin dauerte es, bis sein Vater die Tür öffnete und bei seinem Anblick die Augen aufriss.
„Herr Martinek?“, fragte einer der Beamten.
Silas‘ Vater nickte.
„Wir würden uns gern davon überzeugen, dass es Ihrer Familie gutgeht.“
„Es sind alle wohlauf“, erwiderte Silas‘ Vater mit ungewohnt dünner Stimme.
„Wer ist denn da?“, ertönte Gunthers Organ.
„Die Polizei!“, rief Silas‘ Vater über die Schulter.
„Dürfen wir reinkommen?“, erkundigte sich der Beamte.
Eine weitere Stunde später saß Silas wieder in einem Wagen, diesmal in einem größeren, zusammen mit seinen Geschwistern. Man karrte sie zur Polizeistation, wo ihre Personalien aufgenommen wurden. Anschließend holte eine Frau sie ab und brachte sie zu einem Gasthof, in dem sie auf Zimmer verteilt wurden. Als die Dame versuchte, Malte und Merle in getrennte Räume zu stecken, protestierten die beiden. Silas‘ jüngste Geschwister waren deutlich verängstigt und es überhaupt nicht gewohnt, voneinander getrennt zu sein. Die beiden bekamen also ein Doppelzimmer. Geraldine hingegen freute sich, als man ihr einen eigenen Raum zuwies, genau wie Anton und Silas.
Nachdem sie sich mit ihrer spärlichen Habe eingerichtet hatten, trafen sie sich im Gastraum wieder.
„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Silas die Dame, die mit einem Glas Tee auf sie gewartet hatte. „Was passiert mit unserem Vater?“
„Vermutlich wird man ihn erstmal in Haft nehmen. Schließlich hat er sich der Freiheitsberaubung schuldig gemacht.“
Merle schniefte.
Begütigend tätschelte die Frau Merles Hand. „Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“
Silas konnte es gar nicht erwarten, in einem Zimmer mit Tageslicht aufzuwachen. Im Keller hatte es zwar Kasematten gegeben, doch das war ein Unterschied zu direkter Sonneneinstrahlung. Bestimmt sah er aus wie eine wandelnde Leiche, genau wie seine Geschwister. Alle waren totenbleich, besonders Merle.
„Morgen überlegen wir gemeinsam, wie es weitergehen soll. Es gibt verschiedene Möglichkeiten“, fuhr die Frau fort. „Wenn ihr zusammenbleiben wollt, finden wir eine Lösung. Ansonsten könnten die jüngeren in einen Pflegefamilie gehen und die älteren ...“
„Will nicht in eine Pflegefamilie!“, fiel Merle ihr ins Wort.
„Wir bleiben zusammen“, entschied Silas für seine Geschwister.
„Schlaft einmal drüber“, bat die Dame, leerte ihr Glas und schaute unauffällig auf die Uhr, die über dem Tresen hing. „Es ist schon spät. Da fällt man besser keine so weitreichenden Entscheidungen.“
„Ich lass euch nicht allein“, wandte sich Silas an Merle und Anton, die ihn mit riesengroßen Augen anstarrten.
„Genau. Wir bleiben zusammen“, bekräftige Anton, wozu Geraldine nickte.
Am folgenden Morgen wurden sie erneut woandershin gebracht. Die Frau vom Vortag begleitete sie und übergab sie an einen Mann, der sich ihnen als Peer Wagner vorstellte.
„Ich bin zuständig für eure Betreuung und euren Schutz“, teilte Peer ihnen mit. „Wir wollen vor allem verhindern, dass eure Gesichter in der Zeitung erscheinen.“
Das war Silas recht. Er fand es schwierig genug, mit der realen Welt außerhalb des Kellers klarzukommen. Einen Ansturm der Presse auf seine Geschwister und sich brauchte er gerade so nötig wie ein Loch im Kopf.
In den folgenden Wochen gab es unzählige bürokratische Dinge, um die sich Peer kümmerte, genau wie um eine Wohnung. Er und seine Geschwister mussten medizinische und psychologische Untersuchungen über sich ergehen lassen. Die Ärzte kamen zu dem Schluss, dass sie dauerhaft Hilfe benötigten, vor allem die jüngeren.
Das hätte Silas den werten Doktoren auch ohne den ganzen Scheiß sagen können. Sie mussten unheimlich viel lernen, auch wenn sie durchs Fernsehen nicht ganz weltfremd waren. Soziale Interaktion mit Fremden kannte er zumindest noch aus den Jahren, in denen er aktiv am Leben draußen teilgenommen hatte. Seine Geschwister hingegen, insbesondere Merle, waren diesbezüglich vollkommen unerfahren.
Damit sie niemand mit dem Vorfall in Verbindung brachte, hatte man sie in eine Großstadt, Hamburg, verfrachtet. Das war einerseits aufregend, andererseits ein kultureller Schock. Wenn Silas mit Peer und einem anderen seiner Geschwister - sie gingen nie alle zusammen raus, wegen der Tarnung - unterwegs war, staunte er über das lebhafte Treiben in den Straßen und Überangebot in den Läden.
Aufgrund seines Alters kam für ihn nicht mehr infrage, eine normale Schule zu besuchen. Sowieso strebte Peer für alle Geschwister eine andere Lösung an. Anton und Merle wollte er bei einer Waldorfschule anmelden. Die beiden hatten, gemessen am Alter, den besten Bildungsstand von ihnen. Der Rest sollte erstmal Privatunterricht bekommen, bis ein gewisses Niveau erreicht war. Anschließend schwebte Peer für Silas eine Erwachsenenbildungseinrichtung vor und für Geraldine und Anton vielleicht auch. Je nachdem, wie sich die beiden entwickelten.
Ihr Vater saß derweil in Untersuchungshaft. Gunther war auf der Flucht. Nach ihm wurde international gefahndet. Häufig fragten Anton und Merle nach ihrem Vater und baten, ihn besuchen zu dürfen. Dafür hatte Silas zwar Verständnis, schließlich war ihr Erzeuger ihre engste Bezugsperson, aber anschließen würde er sich ihnen nicht. Im Nachhinein war ihm unbegreiflich, was ihr Vater ihnen angetan hatte. Sicher, da war die religiöse Überzeugung, doch rechtfertigte das, anderen Menschen ihr Leben wegzunehmen?
In seinen Therapiestunden arbeitete er vieles auf. Die dreimal wöchentlich von Gunther abgehaltenen Gottesdienste und Gebete vor jeder Mahlzeit ähnelten einer Gehirnwäsche. Man hatte ihnen eingebläut, dass der Kontakt zu anderen Menschen schädlich sei. Man könnte sich dabei mit einem tödlichen Virus infizieren. Dieser würde schon lange unter der Bevölkerung wüten, nur hielte man das vor der Öffentlichkeit geheim.
Anfangs hatte er alles geglaubt. Später hatte er die Behauptungen mehr und mehr infrage gestellt. Wäre er eher isoliert worden, wie seine kleinen Geschwister, hätte er vermutlich alles für bare Münze genommen. Gerade die beiden jüngsten hatten arge Probleme, sich von dem Irrglauben zu lösen.
An einem Montagmorgen wurde Laurenz zu seinem Vorgesetzten Mark beordert. Er hasste es, wenn die Woche auf diese Weise begann. Sowas bedeutete immer, dass man ihm einen neuen Fall unterschob. Als ob er nicht schon einen vollen Schreibtisch hätte.
„Setz dich“, bat Mark, als er das Büro betrat.
Laurenz nahm auf dem Besucherstuhl Platz.
„Es geht um fünf Kinder. Mutter tot, Vater in U-Haft.“ Mark schob eine Akte über den Tisch. „Vielleicht hast du von dem Fall gehört. Ist allerdings vier Monate her.“
Stirnrunzelnd nahm er den Hefter an sich und schlug ihn auf. Familie Martinek ... da klingelte was bei ihm. Das war doch diese Sache mit dem Irren, der seine Kinder eingesperrt hatte. Er blätterte in der Akte. Zwei Mädchen, drei Jungs im Alter von zwölf bis neunzehn. Von den Fotos sahen ihm ernste Gesichter entgegen.
„Bisher hatte Peer diesen Fall“, erzählte Mark. „Leider muss er die Familie abgeben, weil sich einer seiner Schützlinge emotional zu stark an ihn gebunden hat.“
„Schade.“ Laurenz klappte den Hefter wieder zu. „Wie soll ich die Kinder in meinem ohnehin straffen Zeitplan unterbringen?“
„Mechthild nimmt dir zwei Fälle ab. Ich hab sie schon entsprechend instruiert.“
„Okay. Ich geh dann mal zu Peer.“
„Hals und Beinbruch“, wünschte Mark mit einem aufmunternden Lächeln.
Mit seinem Vorgesetzten hatte Laurenz echt Glück. Im Amt gab es andere Kaliber, denen es gleichgültig war, wie viele Überstunden ihre Untergebenen schoben. Hauptsache, sie konnte zum Quartalsende beim Chef mit möglichst hohen Betreuungsquoten punkten.
Laurenz besorgte sich einen Kaffee, bevor er sich zu Peer begab. Der Kollege war Anfang dreißig, blond, blauäugig, groß und besaß ein sympathisches Gesicht. Kein Wunder, dass eines der Mädchen auf ihn flog.
Sie gingen die Akte durch, dann legte Laurenz sie beiseite und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Erzähl mir doch bitte etwas zu jedem der Kinder.“
Peer machte es sich ebenfalls bequem. „Die beiden Jüngsten wirken auf mich, als ob sie am liebsten wieder in den Keller wollen. Sie sind sehr ängstlich und haben kaum Selbstvertrauen. Ich denke aber, dass sich das mit der Zeit geben wird.“
„Und die Zwillinge?“
„In meinen Augen haben sie die Gefangenschaft am besten verkraftet. Vielleicht dadurch, dass ihre Verbindung sehr stark ist.“
„Gehe ich recht in der Annahme, dass es Geraldine war, die dich zum Rücktritt veranlasst hat?“
Peer schüttelte den Kopf. „Es war Silas.“
Laurenz staunte. Damit hätte er niemals gerechnet. Er griff nach der Akte und studierte das Foto des Jungen. Hübsche, braune Augen guckten ernst in die Kamera. Die ebenfalls braunen Haare waren modisch verstrubbelt, der Teint sehr blass.
„Er hat mich sehr direkt angebaggert. Als ich mit ihm darüber gesprochen habe meinte er, in mich verliebt zu sein. Ich denke aber, dass es ihm nur um Sex ging. Er macht auf mich den Eindruck eines vor Hormonen strotzenden Burschen. Kein Wunder, war er doch während seiner Pubertät eingesperrt und musste sich bestimmt wegen seiner Geschwister zurücknehmen.“
„Also ein Nachholbedürfnis?“
Peer nickte. „Genau. Ich meine, stell dir doch nur vor, man hätte dich in deiner Sturm- und Drangphase weggesperrt.“
„Lieber nicht.“ Seufzend legte Laurenz die Akte wieder weg. „Ich glaube, ich wäre an meinem Bewegungsdrang erstickt.“
Peer lüpfte eine Augenbraue. „Bewegungsdrang?“
„Die blumige Umschreibung für eine nicht jugendfreie Sportart.“
Sein Gegenüber grinste. „Das werde ich mir merken.“
„Dann will ich dich nicht länger aufhalten und mal in mein Büro zurückgehen, um mir Mechthilds Gemecker anzuhören.“
„Ziegen, die meckern, beißen nicht.“
„Da kennst du Mechthild schlecht. Die kann beides.“ Feixend schnappte er sich die Akte und seinen Kaffeebecher.
Seine Kollegin erwartete ihn mit neugieriger Miene. „Was hast du denn für einen Fall bekommen, dass ich gleich zwei von deinen übernehmen muss?“
„Erinnerst du dich an die Story mit den Kindern, die vom Vater im Keller gehalten worden sind?“
„Sag bloß, man hat dir Peers Fall übertragen.“
Laurenz nickte, ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und nippte am Kaffee. Das Zeug war inzwischen lauwarm und schmeckte eklig. „Er musste ihn abgeben.“
„Ist der Grund ein Geheimnis?