Arztromane Vol. 16 - Sissi Kaipurgay - E-Book

Arztromane Vol. 16 E-Book

Sissi Kaipurgay

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Beschreibung

Stanislaus, Chirurg in der Klinik St. Georg, hat schon vieles gesehen. Wenn man über zwei Jahrhunderte auf dem Buckel hat, ist einem fast nichts mehr fremd. Als ein Patient in die Notaufnahme geliefert wird, erlebt er jedoch eine Überraschung. Der eigenartige Duft, der Nazar umgibt, lässt ihn nicht mehr los. Was hat es damit auf sich? Ist es nur ein Aphrodisiakum oder hat es tiefere Bedeutung?

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Arztromane Vol. 16 - Der Ruf des Blutes

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

Epilog – einige Monate später

Arztromane Vol. 16 - Der Ruf des Blutes

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Knochenbrüche werden heutzutage ja leider nur noch nach Terminabsprache operiert. Aus dramaturgischen Gründen wurde die Realität ein wenig angepasst.

Copyright Texte: Sissi Kaipurgay/Kaiserlos

Fotos: Cover: Shutterstock 1183315885, Vampir: Depositphotos_44132967_l-2015

Cover-Design: Lars Rogmann

Korrektur: Aschure, dankeschön!

Kontakt:http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/, https://www.sissikaipurgay.de/

Sissi Kaiserlos/Kaipurgay

c/o Karin Rogmann

Kohlmeisenstieg 19

22399 Hamburg

Arztromane Vol. 16 - Der Ruf des Blutes

Stanislaus, Chirurg in der Klinik St. Georg, hat schon vieles gesehen. Wenn man über zwei Jahrhunderte auf dem Buckel hat, ist einem fast nichts mehr fremd. Als ein Patient in die Notaufnahme geliefert wird, erlebt er jedoch eine Überraschung. Der eigenartige Duft, der Nazar umgibt, lässt ihn nicht mehr los. Was hat es damit auf sich? Ist es nur ein Aphrodisiakum oder hat es tiefere Bedeutung?

Prolog

Tagsüber hatte die Sonne geschienen. Nun, im Schatten des Abends, war die Temperatur bis auf 0 Grad gefallen.

Nazar hockte auf einer Bank an der Außenalster, die Beine angezogen und Arme darum geschlungen. Ihm war arschkalt. Ein Dauerzustand. Nur im Hochsommer gab es Tage, an denen er nicht fror. Vermutlich ein Erbe seines Vaters, laut seiner Mutter ein Marokkaner. Er war das Ergebnis eines Urlaubsflirts. Ein Vierteljahr später, schwanger mit ihm, war sie erneut hingereist und enttäuscht wieder abgeflogen. Sein Erzeuger wollte nichts von ihr und noch weniger von ihm wissen.

Ein Pärchen schlenderte Hand in Hand vorbei. Die zwei hatten nur Augen füreinander. Nazar guckte ihnen hinterher und versuchte, sich dagegen zu wehren, von plötzlich aufkeimender Einsamkeit verschlungen zu werden. In letzter Zeit reagierte er verweichlicht auf solchen Anblick.

Eigentlich war er von klein auf ans Alleinsein gewöhnt. Seine Mutter, eine versoffene Egomanin, hatte ihn nur mit dem Nötigsten versorgt, nämlich Nahrung und Kleidung. Ansonsten war er ihr egal gewesen. Es hatte ihn trotzdem geschockt, sie eines Morgens leblos in ihrem Bett vorzufinden. Es stimmte wohl, dass man sagte: Lieber eine schlechte Mutter, als gar keine Mutter.

Damals war er fünfzehn gewesen und in eine Jugendwohneinrichtung gesteckt worden. Drei Jahre hatte er es dort ausgehalten, bis ihm einer der Erzieher an die Wäsche ging. Weil er wusste, dass man ihm keinen Glauben schenken würde, hatte er seine Sachen gepackt und lebte seitdem auf der Straße.

Nazar trank nicht, seine Mutter als schlechtes Beispiel vor Augen. Zu Haschisch sagte er jedoch nicht nein. Wenn er die Gelegenheit bekam, verschaffte er sich damit gern ein paar Stunden Vergessen. Einmal, als er in Köln bei einem Sugardaddy untergekommen war, hatte er auch Koks und ein paar andere Drogen probiert. Teufelszeug. Daran würde er sich nie wieder vergreifen.

Schritte knirschten auf dem Sandweg. Die Frau, die eben mit ihrem Freund vorbeigegangen war, kam auf ihn zu.

Mit einem schüchternen Lächeln hielt sie ihm einen Schein hin. „Damit du dir was Warmes zu essen kaufen kannst.“

„Danke“, entgegnete er überrascht, schnappte sich das Geld und stopfte es in seine Jackentasche.

Sie hastete davon, zu dem Typen, der in einer Entfernung wartete.

Wow! Zwanzig Euro! Vielleicht fand er jemanden, der ihm einen Joint verkaufte. Er brauchte dringend ein bisschen rosarote Traumwelt.

1.

Stanislaus sperrte seinen Monitor, verließ den Raum und schaute sich nach allen Seiten um. Niemand zu sehen. Moorhühner abzuballern, hatte ihn hungrig gemacht. Ihm stand der Sinn nach einem Mitternachtssnack.

Leisen Schrittes eilte er durch den Korridor und nahm den Lift ins Untergeschoss. Dort war nur die Notbeleuchtung an. Dennoch blieb er wachsam, als er zu der Tür ging, hinter der sich die Blutbank befand.

Normalerweise bediente er sich aus moralischen Grundsätzen nicht an den Blutkonserven der Klinik. Da er aber nun mal wegen Bereitschaftsdienst hier festsaß, blieb ihm keine andere Wahl. Die Alternative, ein nachtaktives Tier aufzutreiben und auszusaugen, gab es im Innenstadtbereich nicht. Ratten lebten zwar überall, doch diese Viecher mied er wie die Pest. Von deren Blut bekam er Sodbrennen. Alternative zwei, einen Passanten zu überfallen, war vor vielen Jahren vom Ethikrat verboten worden.

Stanislaus trank einen Beutel 0 Rhesus negativ und liebäugelte damit, einen weiteren mit der Blutgruppe AB Rhesus positiv - seine Lieblingssorte - zu konsumieren, da piepte sein Sender.

„Mist“, brummelte er, nahm das Gerät von seinem Gürtel und guckte aufs Display. Die Notaufnahme verlangte nach ihm.

Er stopfte den leeren Blutbeutel in seine Kitteltasche, löschte das Licht, verschloss die Tür und eilte zum Fahrstuhl.

Der eingelieferte Notfallpatient befand sich bereits in Vorbereitung für den OP. Ein Pfleger setzte Stanislaus über die erste Bestandsaufnahme in Kenntnis. Fraktur des Oberschenkels, der Rippen und eines Armes. Zwei Kollegen waren dabei, den Mann aus den Klamotten zu schneiden und oberflächlich zu reinigen.

„Der arme Tropf ist unter ein Fahrzeug geraten“, berichtete der Pfleger. „Vermutlich lag er schon eine Weile am Straßenrand, bevor ein Passant die Polizei informiert hat.“

Dem ersten Eindruck zufolge, handelte es sich um einen Obdachlosen. Der verwahrloste Zustand der Kleidung sowie Geruch sprachen dafür.

„Bringt ihn in OP2, wenn ihr mit ihm fertig seid“, bat Stanislaus.

Er begab sich in den Hygieneraum, wo er seine Hände gründlich schrubbte, ehe er in einen sterilen Kittel schlüpfte. Schwester Stefanie, seine Lieblings-OP-Assistentin, gesellte sich zu ihm.

„Womit haben wir es zu tun?“, erkundigte sie sich, als sie seinen Platz am Waschbecken einnahm.

„Ein paar kaputte Gräten.“ Er zwinkerte ihr zu. „Die schrauben wir ratzfatz wieder zusammen.“

Sie gähnte. „Und bitte schnell. Ich hab gerade was Schönes geträumt und würde gern die Fortsetzung sehen.“

Das versprach er ihr lieber nicht. Der junge Mann hatte ganz schön eingedellt gewirkt. Vermutlich würden sie viel Zeit damit verbringen, Knochensplitter aus dem Fleisch zu sammeln.

Während sie auf die Ankunft des Patienten warteten, bereitete Stefanie die Gerätschaften vor. Stanislaus checkte derweil die benötigten Apparate. Er mochte die blinkenden Lämpchen. Vielleicht eine Folge seiner lange zurückliegenden Kindheit, die er in gefühlt ständiger Dunkelheit verbracht hatte.

Ein Pfleger, flankiert vom Anästhesisten, rollte den Patienten in den OP. Stanislaus musterte den Burschen. Ungefähr zwanzig bis Mitte zwanzig. Vermutlich kam ein Elternteil aus dem afrikanischen Raum, denn die Haut schimmerte in einem hübschen Olivton. Er hatte schon immer eine Schwäche für Mischlinge gehabt.

„Ich gebe dem nur eine leichte Dosis“, teilte der Anästhesist mit. „Der ist eh schon völlig ausgeknockt.“

Während der Kollege das Unfallopfer ins Land der Träume schickte, betrachtete Stanislaus die eilig angefertigten Röntgenaufnahmen. Beim Oberschenkelknochen handelte es sich um eine saubere Fraktur, beim Arm hingegen nicht. Die drei lädierten Rippen würden von allein heilen. Da war kein Eingriff notwendig.

Als er sich über den Patienten beugte, stieg ihm ein eigenartiger Duft in die Nase. Unauffällig atmete er das Aroma tiefer ein. Es stellte merkwürdige Dinge mit ihm an. Seine Herzfrequenz beschleunigte sich und sowohl in seinem Bauch als auch tiefer entstand ein Kribbeln. Seit wann geilte er sich an bewusstlosen Männern auf? Und warum nahm er den Geruch, trotz Mund-Nasen-Schutz, derart intensiv wahr?

„Wir wären dann soweit“, meldete sich Stefanie zu Wort.

Sonst fragte er an dieser Stelle stets, warum sie über sich in der dritten Person redete, doch er war zu abgelenkt. Der Duft vereinnahmte ihn völlig. Es kostete ihn Kraft, sich wieder aufzurichten und zu seiner Professionalität zurückzufinden.

„Stanislaus? Alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich.

„Gib mir mal eine zweite Maske. Der Gestank lenkt mich sonst ab.“

„Ich rieche nichts“, erwiderte sie, als sie ihm das Gewünschte reichte.

Die Oberschenkelfraktur war rasch repariert. Beim Arm sah das anders aus. Stück für Stück klaubte er Splitter aus der Wunde. Ein Puzzle-Fan hätte sein wahres Vergnügen an der Aufgabe gehabt, daraus das zertrümmerte Knochenstück zu rekonstruieren.

Manchmal hasste er es, dass der Ethikrat ebenfalls verboten hatte, Menschen durch einen Biss zu heilen. Na gut, man würde sie dabei wandeln, was ein Argument darstellte, trotzdem ... Neulich, als ein kleines Mädchen unter seinen Händen starb, hatte er kurz davor gestanden, die Regeln zu brechen. Es war ungerecht, dass so manches Arschloch ewig lebte und ein derart junger Mensch früh gehen musste.

Endlich hatte er auch den Arm zusammengeflickt. Erleichtert wich er von dem Patienten zurück. „Der Herr kann abgeholt werden“, informierte er Stefanie.

„Ich sag Bescheid.“

Während sie den Transportdienst und die Station kontaktierte, betrachtete er den Patienten. Warum sonderte der Mann diesen sinnverwirrenden Duft ab? War etwas mit dessen Drüsen nicht in Ordnung? Und warum roch Stefanie nichts? Das Aroma waberte doch im ganzen Raum.

Sein Blick wanderte an dem Mann runter und blieb an der Mitte hängen. Dort wucherte Schamhaar. In dem Nest lag ein ausnehmend wohlgeformter Schwanz. Vollkommen unangemessen für die Situation mehrte sich sein Speichelfluss. Wahrscheinlich bestand ein Zusammenhang zwischen dem Geruch und seiner Reaktion.

„Unser Kunde wird gleich wegtransportiert“, gab Stefanie bekannt und begann aufzuräumen.

Stanislaus ging in den Hygieneraum, stellte sich ans Waschbecken und studierte sein Spiegelbild. Glücklicherweise war die vampirische Eigenschaft, nicht reflektiert zu werden, vor einigen Jahrzehnten verschwunden. Es hätte ihn sonst in arge Erklärungsnot gebracht.

Sein Gesicht sah normal aus, abgesehen von den blutdurstig funkelnden Augen. Operationen stellten eine Herausforderung dar. Sobald ein Tropfen Blut aus einer Wunde trat, sprang sein Magen an. Vor zwei Jahrhunderten, als junger Vampir, hätte er sich nicht im Zaum halten können. Mittlerweile hatte er seine Reaktionen im Griff ... abgesehen von der auf diesen eigentümlichen Duft.

Was hatte es damit bloß auf sich? Handelte es sich um eine Art Lockstoff? War der Patient ein Werwolf, die ja bekanntermaßen ihre Seelengefährten auf diese oder ähnliche Weise an sich banden und verwechselte ihn mit seinesgleichen? Nein, das artverwandte Wesen hätte er gespürt. Oder befand sich unter seinen Ahnen ein Werwolf?

Während er seine Hände schrubbte, ging er im Geiste seinen Stammbaum durch. Seine Eltern, einfache Bauern, stammten von Bauern ab und die wiederum von Bauern. Es sprach allerdings nichts dagegen, dass einer davon ein Werwolf gewesen war; einen, der Felder bestellte, konnte er sich aber beim besten Willen nicht vorstellen.

Er hatte sich gerade umgezogen, da kam Stefanie herein. „Brauchst du mich noch?“

Stanislaus schüttelte den Kopf. „Du darfst wieder träumen gehen.“

Sie seufzte. „Ich fürchte, der Traum hatte keine Lust länger zu warten und ist Kaffee trinken gegangen.“

Dazu fiel ihm keine witzige Erwiderung ein. Ein Anzeichen für seinen desolaten Geisteszustand. „Schlaf gut“, entgegnete er lahm und verließ den Raum.

Im Bereitschaftszimmer setzte er sich vor den PC und starrte ins Leere. In seinem Körper hallte noch die Reaktion auf den Duft wider. Der Drang, sich wieder in den Dunstkreis des Patienten zu bewegen, war überwältigend. Es schien, als hätte er einen Teil von sich bei dem Mann verloren. Gab es Drogen, die man über die Atemwege aufnahm, die sowas bewirkten? Dann hätte Stefanie doch auch eine Dosis davon abbekommen. Es schien also einen direkten Zusammenhang mit seiner Person zu haben.

Sein Sender piepte. Der Empfang bat um Rückruf. Er griff nach dem Telefon. „Was gibt’s?“

„Ich bräuchte Ihre Unterschrift wegen John Doe, Herr Doktor.“

Namenlose Patienten wurden in der Klinik, in Anlehnung an die englische Sitte, Jane beziehungsweise John Doe genannt.

„Ich komme runter“, antwortete er, legte auf und begab sich zum Lift.

Am Empfangstresen der Notaufnahme leiste er seine Unterschrift, reichte der Kollegin das Klemmbrett zurück und fragte: „Hatte der Patient denn gar nichts bei sich?“

Mit gerümpfter Nase wies sie auf einen Rucksack, der hinter ihr in einer Ecke lag. „Doch, aber da drin hab ich nichts gefunden.“

Das Ding sah schmuddelig aus. Er bezweifelte, dass sich seine Kollegin ihre Finger schmutzig gemacht hatte. Es widerstrebte auch Stanislaus, es anzufassen, doch wie sollte er sonst rausfinden, mit wem er es zu tun hatte?

Er ging vor dem Rucksack in die Hocke und begann, dessen Inhalt auf den Boden zu leeren. Ein gammliger Schlafsack, zwei Paar Strümpfe, eine Pants, ein Handtuch, Rasierzeug, Zahnbürste und -pasta, ein Stück Seife. Ganz unten fand er ein Lederetui, in dem das Passfoto einer Frau in mittleren Jahren und ein paar Kinderbilder steckten. Wahrscheinlich handelte es sich um den Patienten, denn der Kleine wies die gleiche hübsche Hautfarbe auf.

„Wo ist seine Kleidung?“, wandte er sich an die Kollegin.

„In dem blauen Müllsack da vorn.“ Sie zeigte in Richtung Eingang.

Auch in den Klamotten fand er keine weiteren Hinweise auf die Identität des Mannes. Anschließend wusch er seine Hände gründlich, bevor er in den Bereitschaftsraum zurückkehrte und sich an den Schreibtisch setzte.

Um die Personalien des Patienten würde sich die Polizei kümmern. Weil er mit den Bullen nichts zu tun haben wollte, mischte er sich da nicht ein. Wichtig war nur, dass er den Patienten im Auge behielt. Irgendwie war ihr Schicksal verknüpft, das hatte er im Gefühl.

Zwei Stunden später endete sein Bereitschaftsdienst ohne weitere Vorkommnisse. Im Umkleideraum schlüpfte er in seine Freizeitkleidung und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Wie von Geisterhand wurden seine Schritte umgelenkt. Anstatt im Foyer, fand er sich auf der Station wieder, auf die John Doe verlegt worden war.

„In welchem Zimmer liegt der Neuzugang?“, wandte er sich an eine Schwester, die den Gang entlang eilte.

„112“, warf sie ihm im Vorbeigehen zu.

Vor der Tür zögerte er. Was wollte er eigentlich hier? Darauf wusste er keine Antwort.

Nachdem er angeklopft hatte, trat er in das Zweibettzimmer. In dem am Fenster lag John Doe, in dem anderen schlief ein alter Herr. Der Patient war wach und blinzelte ihn aus schokobraunen Augen an.

„Guten Morgen. Ich bin Doktor Bethelman und habe Sie zusammengeflickt“, stellte sich Stanislaus vor.

„Hallo“, krächzte der Patient.

Er zog einen Stuhl heran und nahm neben dem Bett Platz. „Wissen Sie, wie Sie heißen?“

„Natürlich!“

Als nichts weiter kam, hob er fragend die Augenbrauen.

„Nazar Kuhlmann.“ Der Patient guckte den Plastikbecher, der auf dem Nachtschrank stand, begehrlich an. „Mögen Sie mir den geben?“

Ein Arm war bandagiert, in dem anderen steckte eine Infusion. Denkbar schlechte Voraussetzungen, um einen Becher zu halten. Das übernahm daher Stanislaus und setzte ihn an Nazars Lippen.

„Wissen Sie auch, wie Sie in diese Lage gekommen sind?“, erkundigte er sich, als er den Becher zurück auf den Nachtschrank gestellt hatte.

„Das letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass ich über eine Straße wollte.“

„Vermutlich hat jemand Sie angefahren und Fahrerflucht begangen. Ein Passant hat Sie gefunden und den Rettungswagen alarmiert.“

„Was für eine Scheiße“, murmelte Nazar.

„Gibt es jemanden, den wir informieren sollen?“

Vorsichtig bewegte Nazar den Kopf hin und her.

„Die Polizei wird Sie wahrscheinlich im Laufe des Tages besuchen, um Ihre Personalien festzustellen.“

„Ich hab keine Krankenversicherung.“

„Darum kümmern wir uns.“ Er stand auf. „Ich schaue heute Abend wieder bei Ihnen rein.“

2.

Es war schön, in einem sauberen, warmen Bett zu liegen. Weniger schön waren die Schmerzen. Sogar zu atmen, verursachte welche.

Vergeblich suchte er das Zimmer mit Blicken nach seinem Rucksack ab. Hatte er den vor dem Unfall verloren oder war er geklaut worden? Ihm wurde schlecht. Darin war doch alles, was er besaß. Er hätte den Doktor ... wie hieß der noch? Irgendwas mit beten ... danach fragen sollen.

Eine Krankenschwester kam herein, kontrollierte die Infusion und lächelte ihn an. „Sie sind ja wach.“

„Wo ist mein Rucksack?“, platzte er heraus.

„Das weiß ich nicht. Ich frage gleich mal im Empfang nach.“ Erneut schenkte sie ihm ein Lächeln und verließ den Raum.

Ungeduldig wartete er auf ihre Rückkehr. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich wieder auftauchte, seinen Rucksack in der Hand. Nachdem sie sein Gepäck auf die Fensterbank gestellt hatte, eilte sie davon.

Erleichtert betrachtete er sein einziges Hab und Gut. Darin befand sich nichts Wertvolles, ausgenommen der Fotos, aber er hing daran. Je weniger man besaß, desto mehr wusste man es zu schätzen. Apropos: Wo waren seine Klamotten?

---ENDE DER LESEPROBE---