Asche und Sand - Mia Couto - E-Book

Asche und Sand E-Book

Mia Couto

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Beschreibung

Die junge Imani kümmert sich aufopfernd um ihren Geliebten Germano, der sich schwer versehrt in ein abgelegenes Dorf am Flussufer gerettet hat. Währenddessen tobt der Krieg zwischen der portugiesischen Krone und dem mosambikanischen Herrscher Ngungunyane immer erbarmungsloser: Die schwer bewaffneten, aber entmutigten Portugiesen, die weder die Sprache noch das Land verstehen, auf der einen Seite und das riesige Heer des Ngungunyane, der selbst einen Krieg gegen das eigene Volk führt, auf der anderen. Schließlich fasst Imanis Vater einen verzweifelten Entschluss: Er will Imani dem Herrscher zur Frau anbieten – damit sie ihn tötet. Sprachgewaltig lässt Mia Couto ein einschneidendes Kapitel der mosambikanischen Geschichte und portugiesischen Kolonialzeit wiederauferstehen.

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Seitenzahl: 690

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Über dieses Buch

Während sich die junge Imani aufopfernd um den schwer verletzten Soldaten Germano kümmert, tobt der Krieg zwischen der portugiesischen Krone und dem mosambikanischen Herrscher Ngugngunyane immer erbarmungsloser. Schließlich fasst Imanis Vater einen verzweifelten Entschluss: Er will Imani dem Herrscher zur Frau anbieten – damit sie ihn tötet.

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Mia Couto (*1955) gehört zu den herausragenden Schriftstellern des portugiesischsprachigen Afrika. Mehrere Jahre war er als Journalist und Chefredakteur tätig. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Prémio Camões, dem Neustadt-Literaturpreis und dem Jan-Michalski-Preis.

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Karin von Schweder-Schreiner (*1943) hat in Deutschland und Portugal studiert und mehrere Jahre in Brasilien gelebt. Zu den von ihr übersetzten Autoren aus dem portugiesischen Sprachraum zählen Jorge Amado, Antonio Callado, Bernardo Carvalho, Mia Couto, Rubem Fonseca, Lídia Jorge und Moacyr Scliar.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Mia Couto

Asche und Sand

Roman

Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner

Der Imani-Zyklus (2 & 3)

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgaben erschienen 2016 (A Espada e a Azagaia) und 2017 (O Bebedor de Horizontes) bei Editorial Caminho, Alfragide.

Zweiter und dritter Band des Imani-Zyklus.

Die Übersetzung wurde gefördert durch DGLAB/Cultura und das Instituto Camões, IP - Portugal.

Der Auszug aus Fernando Pessoas Meeresode wurde von Inés Koebel ins Deutsche übertragen.

Originaltitel: A Espada e a Azagaia (Band 2) und O Bebedor de Horizontes (Band 3)

© by Mia Couto, 2016 und 2017

Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit der Literarischen Agentur Mertin, Inh. Nicole Witt e. K., Frankfurt am Main

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Gavin Mather (Alamy Stock Foto)

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-30985-2

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 03.06.2022, 16:58h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

ASCHE UND SAND

Band I: »Imani« — Was bisher geschahBand IIDunkles WasserErster Brief des Tenente Ayres de OrnelasEine Kirche unter einer anderen KircheErster Brief des Sargento Germano de MeloTanzende GötterZweiter Brief des Tenente Ayres de OrnelasDie leuchtenden Früchte des NachtbaumsDritter Brief des Tenente Ayres de OrnelasEin zeitloses AlterZweiter Brief des Sargento Germano de MeloDer Raub des MetallwortsDritter Brief des Sargento Germano de MeloZwischen Kugeln und PfeilenVierter Brief des Tenente Ayres de OrnelasFrauen-Männer, Ehemänner-EhefrauenFünfter Brief des Tenente Ayres de OrnelasVierter Brief des Sargento Germano de MeloEine Messe ohne PredigtFünfter Brief des Sargento Germano de MeloDie unsteten Schatten des Santiago da MataSechster Brief des Sargento Germano de MeloEine kopflose HeuschreckeSiebter Brief des Sargento Germano de MeloEine Träne, zwei BetrübnisseAchter Brief des Sargento Germano de MeloEin flüssiges GrabNeunter Brief des Sargento Germano de MeloDas göttliche MissverständnisZehnter Brief des Sargento Germano de MeloSechster Brief des Tenente Ayres de OrnelasEin Krankenhaus in einer kranken WeltSiebter Brief des Tenente Ayres de OrnelasHerrschaftliche MalaisenElfter Brief des Sargento Germano de MeloDer Aasgeier und die SchwalbenZwölfter Brief des Sargento Germano de MeloDie vertagte BrautAchter Brief des Tenente Ayres de OrnelasEin Dach über der Welt bröckeltDreizehnter Brief des Sargento Germano de MeloVier Frauen im Angesicht des WeltuntergangsVierzehnter Brief des Sargento Germano de MeloAlles, was in einen Leib passtFünfzehnter Brief des Sargento Germano de MeloDer allerletzte FlussBand IIIDie Frau, die Flüsse riefEine unbeholfene NachrichtSchlamm und SchneeErster Brief des Sargento Germano de MeloSchwalben und KrokodileZweiter Brief des Sargento Germano de MeloHände und MütterBevor es das Meer gab, gab es ein SchiffDie Handschrift des königlichen AnalphabetenEin weißes Tuch, das die Vergangenheit erhelltBrief von Germano de Melo an Bianca VanziniFußspuren im TauBrief von Álvaro Andrea an ImaniParaden und BegeisterungswahnUnterwürfiger UngehorsamWeder Mähne noch KroneBartolomeu und der Seeweg zum HimmelEin unfreiwilliger FreitodDie vergesslichen VerstorbenenWie viel wiegt eine Träne?Kurz vor dem FestlandDas Licht von LissabonEin Zimmer unter der ErdeEin zerrissener KörperWas das Licht der Welt erblicktZwischen Exil und VerbannungDer Horizonte trinktDie allerletzte SpracheEin neuer Name für ZixaxaDer Schatten der WorteAnhang

Abbildungsverzeichnis

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Über Mia Couto

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Über Karin von Schweder-Schreiner

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Band I: »Imani«

Was bisher geschah

Ende des 19. Jahrhunderts nimmt der Staat Gaza den größten Teil des Südens der portugiesischen Kolonie Mosambik ein. 1895 startet die portugiesische Kolonialregierung eine militärische Offensive, um ihre uneingeschränkte Herrschaft über die auch von anderen europäischen Staaten begehrte Kolonie zu festigen. Der König des Staates Gaza ist zu diesem Zeitpunkt Ngungunyane (den die Portugiesen als Gungunhana kennen).

In dieser Kriegssituation wird der junge portugiesische Sargento Germano de Melo auf einen Militärposten in einem Dorf namens Nkokolani geschickt, das sich in dem Gebiet der VaChopi befindet (ein Volk, das die Portugiesen als Chopes kennen). Die VaChopi haben sich, da sie von den VaNguni unterdrückt und massakriert werden, mit den Portugiesen militärisch verbündet.

In Nkokolani verliebt sich Germano in Imani, eine junge MuChope, die eine katholische Missionsschule der Portugiesen besucht hat, geleitet von dem aus Goa stammenden Priester Rudolfo Fernandes.

Der Krieg führt zu dramatischen Ereignissen in Imanis Familie; innerhalb weniger Monate kommt ihr Bruder Dubula ums Leben, und ihre Mutter erhängt sich am heiligen Baum auf ihrem Grundstück. Zurück bleiben Imanis Vater Katini Nsambe, ein Musiker, und der geistig gestörte Bruder Mwanatu, den Germano aus Mitleid als Wachmann für seinen Militärposten einsetzt.

Um der Einsamkeit zu entfliehen, schreibt der Sargento Germano eine Reihe von Briefen an den Tenente Ayres de Ornelas. Eine gute Bekannte des Sargento, die Italienerin Bianca Vanzini Marini, kommt zu Besuch nach Nkokolani. Wenige Tage später werden Germanos Hände von einem Schuss getroffen, als er sich gegen eine Meute verteidigen will, die, von Imanis geistesschwachem Bruder Mwanatu angeführt, auf den Militärposten zumarschiert. In der äußerst angespannten Situation hat Imani auf den Sargento geschossen, um ihren Bruder zu verteidigen. Imani, ihr Vater Katini, Bianca und Mwanatu transportieren den verletzten Sargento zum Rio Inharrime, an dessen Ufer sich das einzige Krankenhaus der ganzen Region befindet.

Band II

»Verschwinde, du Aasgeier, der du unsere Hennen dezimiert hast«, rief das Volk, als Gungunhana vom portugiesischen Militär gefangen genommen wurde.

Raul Bernardo Manuel Honwana, zitiert von Adelino Timóteo,in: Canal de Moçambique

Der Herrscher

Sie nahmen ihn mit über das Meer,

wo die Körper Korallen gleichen.

So dachte er nicht mehr

an die Knochen, die ihn plagten.

Beim Aufbruch

setzte er keinen Fuß auf den Strand.

Eine Welle wird ihn zurückbringen, sagten sie.

Hilflos erzitterten die einen.

Erleichtert seufzten die anderen.

Sie streuten Salz auf seinen Namen,

damit wir auf sein Andenken spuckten.

Doch der Speichel

blieb in der Kehle stecken.

Mit diesem Verbannten

entfernten wir uns von

dem, der wir waren.

Jener Tote

waren wir.

Und ohne ihn

wären wir

weniger einsam geboren.

Dunkles Wasser

Ich sage nicht,

dass Stille mich erstickt und knebelt.

Ich schweige still, werde stillschweigen,

denn die Sprache, die ich spreche, ist anderer Art.

José Saramago, Poema à boca fechada

An jedem Anfang steht ein Abschied. Diese Geschichte beginnt mit einem Ende: dem Ende meiner Jugend. Mit fünfzehn Jahren ließ ich in einem kleinen Boot mein Dorf und meine Vergangenheit hinter mir. Und doch sagte mir etwas, dass ich erneut auf frühere Sorgen stoßen würde. Das Boot trug mich von Nkokolani fort, brachte mich aber meinen Toten näher.

Vor zwei Tagen waren wir in Nkokolani aufgebrochen, flussaufwärts bis zur Quelle in Richtung von Manjankhazi, das die Portugiesen Manjacaze nannten. Mein Bruder Mwanatu saß im Bug und mein alter Vater im Heck. Außerdem befanden sich Germano de Melo und seine italienische Freundin Bianca Vanzini im Boot.

Die Riemen schlugen ohne Unterlass in den Fluss. Und das musste sein, denn wir brachten Germano de Melo zu dem einzigen Krankenhaus im gesamten Gaza-Gebiet. Dem Sargento waren bei einem Unfall, für den ich verantwortlich war, die Hände zerfetzt worden. Ich hatte auf ihn geschossen, um Mwanatu zu retten, als er eine Menge anführte, die den allein von Germano verteidigten Militärposten stürmen wollte.

Wir mussten unbedingt schnell Manjankhazi erreichen, wo der einzige Arzt in unserem ganzen Land arbeitete, der Missionar Georges Liengme. Die Schweizer Protestanten hatten den Standort für das Krankenhaus klug gewählt: in der Nähe vom Hof des Herrschers Ngungunyane und weit weg von den portugiesischen Staatsvertretern.

Die ganze Fahrt über quälte mich mein Gewissen. Der Schuss hatte die Hände des Sargento fast vollständig zerfetzt, ebenjene Hände, die ich so oft aus seinen Wahnvorstellungen in die Wirklichkeit zurückgeholt hatte. Die Männerfinger, von denen ich so oft geträumt hatte, waren hinüber.

Während der Fahrt ließ ich meine Füße auf dem Boden des Bootes stehen, wo sich das angesammelte Wasser rot verfärbt hatte. Es heißt, dass wir sterben, wenn wir Blut verlieren. Es ist umgekehrt. Wir sterben darin ertrinkend.

Unser Boot glitt mit der gemächlichen Stille eines trägen Krokodils dahin. Das Wasser des Inharrime lag so ruhig, dass es mir einen Moment lang vorkam, als bewegte sich nicht das Boot, sondern der Fluss. Die silbrige Spur, die wir mit dem Kielwasser zogen, schlängelte sich wie ein Riss durch das Gebiet der VaChopi. Ich beugte mich über die Bordwand und betrachtete die flimmernden Reflexe auf dem Sand im Flussbett, ruhelose Lichtfalter.

»Das sind die Schatten des Wassers«, sagte mein Vater und legte sich den Riemen über die Schultern.

Er ruhte seine Arme auf dem improvisierten Balken aus. Mein Bruder Mwanatu tauchte die Hände ins Wasser und gab nuschelnd verschiedene Laute von sich, die ich so übersetzte: »Mein Bruder sagt, dass dieser Fluss Nyadhimi heißt. Aber die Portugiesen haben ihn umbenannt.«

Mein Vater Katini Nsambe lächelte nachsichtig. Er sah die Dinge anders. Die Portugiesen zivilisierten unsere Sprache, sagte er. Außerdem könne man von denen, die dem Wasser Namen geben, keine Klarheit verlangen. Denn selbst wir, die VaChopi, änderten unsere Namen im Laufe des Lebens. So war es auch bei mir, als ich von Layeluane zu Imani wurde. Ganz zu schweigen von meinem Bruder Mwanatu, über den sie heiliges Wasser laufen ließen, um ihn von seinen drei vorherigen Namen reinzuwaschen. Dreimal haben sie ihn getauft: gleich nach der Geburt auf den »Namen der Knochen«, der ihn mit den Vorfahren verband; mit dem »Namen der Beschneidung«, als er die Initiationsriten durchlaufen musste; und mit dem »Namen der Weißen«, den er zum Beginn des Schulbesuchs erhielt.

Mein Vater kam auf das Thema zurück. Da es sich um einen Wasserlauf handelte, warum fiel es uns dann so schwer, den Willen der Portugiesen zu akzeptieren? Für den Rio Inharrime, schloss er, hatten sie zwei Namen gewählt, weil zweierlei Wasser im selben Flussbett lief. Je nach Licht wechselten sie sich ab, ein Tagesfluss und ein Nachtfluss. Aber niemals flossen sie zusammen.

»So war es schon immer, jeder zu seiner Zeit. Jetzt, wegen des Krieges, sind sie durcheinandergeraten.«

Wo der Inharrime und der Nhamuende zusammenfließen, liegt eine kleine Insel voller Bäume und Felsen. Dort machten wir Rast. Mein Vater wies uns an, das Boot zu verlassen. Ich wartete nicht, bis das Boot am Ufer anlegte. Ich sprang in das warme Wasser, ließ mich vom Fluss umfangen und von der Strömung mitreißen. Die Worte meiner verstorbenen Mutter Chikazi Makwakwa kamen mir in den Sinn: »Im Wasser bin ich ein Vogel.«

Man sagt von den Toten, sie würden beerdigt. Aber niemand kann je ihre Stimme begraben. Die Worte meiner Mutter blieben lebendig. Vor wenigen Monaten hatte sie sich von einem Baum gestürzt, sich nur mit dem eigenen Gewicht umgebracht. Dann hing sie an einem Seil, gleichsam im Rhythmus eines ruhig schlagenden Herzens pendelnd.

Die Insel, an der wir anlegten, diente nicht nur als Rastplatz, sondern auch als Zufluchtsort. Um uns herum setzte der Krieg die Welt in Brand. Auf seine italienische Freundin Bianca gestützt, bat der Portugiese um einen Platz im Schatten. Man gab ihm taktvoll zu verstehen, dass die Sonne sich schon vor langer Zeit versteckt habe. Er machte ein paar Schritte, dann fiel er auf die Knie.

»Die da hat mich umgebracht!«, schrie er und wies auf mich. »Die da, dieses Luder.«

Er solle seine Kräfte schonen, sagte man ihm. Die Italienerin gab ihm zu trinken und erfrischte ihm das Gesicht mit etwas Wasser. Zu meiner Überraschung verteidigte Bianca mich. Voller Überzeugung behauptete sie, die unselige Kugel sei nicht von mir, sondern von den Schwarzen abgeschossen worden, die den Posten stürmen wollten. Der Portugiese hielt unbeirrt an seiner Beschuldigung fest – ich hätte es getan, er habe ja direkt vor mir gestanden. Worauf die Italienerin erwiderte: Ja, ich hätte geschossen, doch auf etwas anderes gezielt. Und dann fügte sie hinzu: Hätte ich das nicht getan, wäre der Sargento von der rasenden Menge niedergemetzelt worden und befände sich nun nicht mehr unter den Lebenden. »Imani hat dich gerettet. Du solltest ihr dankbar sein.«

»Es wäre besser gewesen, sie hätten noch einmal geschossen und besser gezielt.«

Gleich darauf wurden seine Worte undeutlich, das Fieber übermannte seine Sinne. Bianca half ihm, sich hinzulegen. Dann gab sie mir ein Zeichen, ihren Platz einzunehmen. Ich zögerte. Doch ich hörte Germano fast kraftlos flehen: »Komm, Imani. Komm her.«

Widerstrebend gehorchte ich, während Bianca sich zurückzog. Der rasselnde Atem des Portugiesen übertönte das Rauschen des Flusses. Ich nahm ein altes Heft aus meinem Beutel und legte es als Kopfkissen auf den Boden. Seit langer Zeit schon benutzte der Sargento kein Kopfkissen. Mal bettete er seinen Kopf auf seine alte zerfledderte Bibel, mal auf herausgerissene Seiten aus dem Heft, das er zum Schreiben nutzte. Jedenfalls bescherte ihm nur ein Stück Papier den Schlaf.

Dieses Mal jedoch lehnte er das improvisierte Kopfkissen ab. Er sah mich befremdet an und knurrte, dass er mich nicht in der Nähe haben wolle. Als ich weggehen wollte, strampelte er mit den Füßen wie ein bockiges Kind. »Bleib bei mir«, bat er. Wieder gehorchte ich. Und dann legte er den Kopf auf meine Beine. Regungslos, fast ohne zu atmen, ließ ich mich von ihm betrachten. Ich spürte, dass sein fiebriger Blick auf meiner Brust, meinem Hals, meinen Lippen ruhte. Schließlich stammelte er fast unverständlich: »Gib mir einen Kuss, Imani. Gib mir einen Kuss, ich will sterben. An deinem Mund sterben.«

Viele Jahre wiederholte sich das immer Gleiche: In der größten Trockenheit säte mein Großvater Maiskörner, immer drei zusammen, in die ausgetrocknete, tote Erde. Meine Großmutter rief ihn zur Vernunft, als könnte es Vernunft geben in einem Leben, das noch karger ist als die Wüste. Ihr Mann antwortete: »Ich säe doch den Regen.«

Mein Vater, ein exzellenter Marimba-Spieler, hatte sich nie mit Feldarbeit angefreundet. Auf der kleinen Insel, auf der wir rasteten, taten seine Finger, was sie immer machten, sie trommelten im Sand, als sehe er in allem Klangtasten. Aber es war eine Melodie, die nur aus Stille bestand, eine verzweifelte Botschaft an jemanden am Flussufer, der die Sprache des Erdbodens verstand.

Doch inzwischen horchte niemand mehr am Erdboden, in der gesamten Region bereiteten sich Portugals und Ngungunyanes Soldaten auf die entscheidende Schlacht vor. Nicht der Sieg war ihr größtes Ziel. Sondern das, was danach folgen würde. Das wie durch Zauber bewirkte Verschwinden derer, die zuvor ihre Feinde gewesen waren, die Berichtigung eines Fehlers im göttlichen Werk. Mein Großvater säte nutzlose Saat. Mein Vater spielte mit den Fingern Wiegenlieder für jene, die in der Erde schlafen.

Dies war die traurige Ironie unserer Zeit: Während wir verzweifelt versuchten, einen weißen Soldaten zu retten, wurde wenige Kilometer von uns entfernt ein Blutbad an Tausenden von Menschen vorbereitet. Wo der blinde Zorn von beiden Seiten aufeinandertraf, waren wir, die VaChopi, am stärksten gefährdet. Ngungunyane hatte geschworen, unser Volk auszurotten, als wären wir Tiere, die Gott bereute, geschaffen zu haben. Wir waren auf den Schutz der Portugiesen angewiesen, aber dieser Schutz hing von befristeten Abkommen zwischen Portugal und den VaNguni ab.

Der Sargento Germano de Melo war einer von jenen, die von der anderen Seite der Welt gekommen waren, um mich zu beschützen. Als Kind glaubte ich, Engel wären weiß und hätten blaue Augen. Die wässrige Färbung bedeutete für uns, dass sie blind waren. Pater Rudolfo, erst vor Kurzem nach Afrika gekommen, hatte zurückhaltend geantwortet, als ich ihn fragte, was er über die himmlischen Wesen wisse. 

»Ich kenne die Engel im Diesseits nicht. Alle behaupten, sie hätten Flügel, aber das sagt nur, wer sie noch nie gesehen hat …«

In einem Punkt war ich mir sicher: Mein Engel wäre weiß und hätte blaue Augen. Wie dieser Sargento, der sich Jahre später auf meinem Schoß abstützte. Die Tücher um seine Arme waren seine zerfetzten Flügel. Er war ein Nachtbote. Nur im Dunkeln fiel ihm wieder ein, welche Botschaft er überbringen sollte. Dieser göttliche Auftrag ruhte nun zwischen seinen Lippen. Ich befolgte seine flehentliche Bitte. Und beugte mich über seinen Mund.

Germano löste sich aus seiner Benommenheit, schien wieder klarer, klagte weniger und flüsterte mir ins Ohr: »Reiß die Blätter aus dem Heft und verteil sie rings um uns. Wir machen uns ein Bett.«

Langsam riss ich einige Seiten heraus, aber als ich Anstalten machte, sie auf dem Erdboden zu verteilen, hielt ich inne: »Und worauf werden Sie die Briefe an Ihre Vorgesetzten schreiben?«

»Ich habe keinen Vorgesetzten. Ich bin der letzte Soldat einer Armee, die nie existiert hat.«

Es sei alles nur Einbildung, angefangen bei dem Posten in Nkokolani. Selbst mein Bruder Mwanatu mit seiner falschen Uniform und seinem falschen Gewehr sei eher ein echter Soldat als er.

»Ich glaube, man hat Sie vergessen«, wollte ich ihn trösten.

»Ich habe schon vor langer Zeit den Befehl erhalten, nach Lourenço Marques zurückzugehen.«

»Und warum sind Sie nicht gegangen?«

»Ich bin nicht in Afrika, weil man mich vergessen hätte«, sagte Germano. »Ich bin hier, weil ich sie vergessen habe.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich bin deinetwegen hier.«

Ich hörte Schritte im Gras. Man suchte nach mir. Und ich hörte, wie mein Vater seine Begleiter wegschickte: »Imani versorgt den Portugiesen, lassen wir sie in Ruhe.«

Stimmen und Lachen entfernten sich und verstummten allmählich in der Dunkelheit.

Schließlich kehrten wir zum Boot zurück, wo man schon auf uns wartete. Bianca tadelte mich mit einem langen, geräuschvollen Seufzer. Dann machten wir uns auf den Weg Richtung Sana Benene. Dieser Ort am Ufer des Inharrime war eigentlich kein Dorf. Seit Beginn des Krieges hatten sich Dutzende von Flüchtlingen rings um die Kirche niedergelassen, die die Portugiesen dort vor langer Zeit gebaut hatten.

An der ersten Flussbiegung ließ ein furchtbarer Schrecken unsere Fahrt beinah scheitern. Mit der Strömung kam uns ein riesiges, glänzendes Ungeheuer entgegen. Das kolossale Ungetüm pflügte geräuschlos und flammend wie ein Stück Sonne durch das Wasser. Langsam näherte es sich, gleich einem metallenen Krokodil, und bannte zuerst unsere Augen und dann unsere Herzen.

»Das ist der Nwamulambu!«, flüsterte unser Vater entsetzt. »Keiner sagt etwas, keiner sieht ihn direkt an!«

Denn wenn man das mythische Wassergeschöpf ansah, bestand die Gefahr, dass die Augen austrockneten und das Gehirn schmolz. Der Gott der Flüsse, der die Erdbeben ruft und den Regen bringt, durfte nicht gestört werden. Mein Bruder bekreuzigte sich, mein Vater ruderte unendlich vorsichtig, um auch noch das geringste Geräusch zu vermeiden.

Früher waren die Flüsse unsere Brüder, sie webten ein Wassernetz, das uns schützte. Nun hatten sie sich mit unseren Feinden verbündet. Sie waren zu Wasserschlangen geworden, zu gewundenen Wegen, auf denen sich Engel und Dämonen bewegten.

Die gespenstische Begegnung war kurz. Doch in mir blieb eine unheilvolle Vorahnung. Zum Glück hatte uns niemand gesehen, unser Boot blieb unbemerkt. Der Sargento lag im Boot, die weiße Bianca schlief unter einer capulana. Sichtbar waren nur wir, die drei Schwarzen. Ich beruhigte mich. Im Zweifelsfall waren wir ein Boot mit Fischern aus der Gegend. Nichts konnte Verdacht wecken, nichts konnte die Flussgeister aufschrecken.

Als ich es wagte, den Blick wieder zu heben, war der Nwamulambu im Nebel verblasst, und wir atmeten auf. Bianca wachte noch rechtzeitig auf, um ihn in der Ferne zu sehen. Sie versuchte zu erkennen, ob an der Reling des seltsamen Flussungeheuers der charismatische Mouzinho de Albuquerque zu erahnen war. Doch das Boot folgte einer Flussbiegung, und die Italienerin lachte laut auf: »Das da, ein Ungeheuer? Das ist ein blocausse.«

Was uns so sehr erschreckt hatte, war nichts anderes als eines der Flöße mit befestigen Aufbauten, wie die Portugiesen sie zum Befahren der Flüsse im Süden benutzten. So erklärte es Bianca. Der Aufbau glänzte so, weil er aus Blechen auf einem Holzgerüst bestand. So schützten sich die weißen Soldaten vor Angriffen der aufständischen Schwarzen aus dem Hinterhalt. Aus ihrem Versteck in der Vegetation am Flussufer schossen die afrikanischen Krieger auf die Boote. Der dichte Wald war für die Portugiesen undurchdringlich. Nur die Einheimischen kannten sich aus im Schlick und zwischen den mächtigen Wurzeln, die wie umgekehrte Aufbauten aus den Baumstämmen ragten. Diese Pfade öffneten sich, wenn die Götter es wollten, und schlossen sich wieder nach jedem Hinterhalt.

Unser Boot durchfurchte nicht die Wasserfläche, sondern durchschnitt eine tiefe Stille. Man hörte nur die Fliegen rings um den Sargento, diese zu früh gekommenen Klageweiber.

Dann sahen wir am Ufer einen Mann die Arme schwenken. Unser Vater zögerte. Es konnte eine Falle sein, in dieser Zeit konnte man niemandem trauen. Der Mann winkte mit einem Briefumschlag in der Hand und rief den Namen des Sargento Germano. Als wir ihn ansprachen, gab er sich zu erkennen. Er war ein Bote vom Militärposten in Chicomo. Und er brachte einen Brief für Germano de Melo.

Erster Brief des Tenente Ayres de Ornelas

Die Waffe – ohne Abzug – über der Schulter, auf der Mauer einer verfallenen Festung, mit einem Zollamt und einem Palast, wo schlechtes und schlecht bezahltes Personal dahinvegetiert, mit verschränkten Armen dem Handel zusehen, den die Fremden treiben und wir nicht treiben können; tagtäglich auf die Angriffe der Schwarzen warten und jederzeit hören, mit welchem Hohn und welcher Verachtung sie über uns alle sprechen, die wir durch Afrika reisen, das, ehrlich gesagt, lohnt sich nicht.

Oliveira Martins,O Brasil e as Colónias Portuguesas, 1880

Militärposten Chicomo, 9. Juli 1895

Werter Sargento

Germano de Melo,

wundern Sie sich nicht, mein werter Sargento, wer Ihnen hier schreibt, ist Tenente Ayres de Ornelas, womit er, wenn auch nicht mit gebührender Pünktlichkeit, der Pflicht nachkommt, auf Ihre zahlreichen Briefe zu antworten. Ich habe erfahren, dass Sie bei einem Attentat auf den Militärposten Nkokolani schwer verletzt wurden. Auch wurde ich darüber informiert, dass man Sie zu der Kirche von Sana Benene transportiert, von wo man Sie vermutlich zu dem Krankenhaus des Schweizers Georges Liengme bringen wird. Sie müssen wissen, dass wir gegenüber diesem Liengme, der eher Arzt als Missionar ist, die größte Abneigung hegen. Dieser Arzt, der vermutlich Ihre Verletzung versorgen wird, hat die Eingeborenen zum Aufruhr angestiftet und hätte schon vor langer Zeit aus dem portugiesischen Afrika ausgewiesen werden müssen.

Vergessen Sie nicht, Sargento: In Sana Benene sind Sie in den Händen der Kaffern, die sich als unsere Freunde ausgeben. Aber Sie sind ein portugiesischer Soldat. Sie hätten zur Kaserne in Chicomo gebracht werden sollen, wo wir über einen Arzt und ein Lazarett verfügen. Jeder andere Vorgesetzte hätte Sie schon längst bestrafen lassen. Ich drücke beide Augen zu, aber nur vorübergehend. Sie werden die richtige Entscheidung über Ihren Verbleib treffen, sowie Sie im Vollbesitz Ihrer Kräfte sind. Ich habe den Überbringer dieses Briefes angewiesen, der Route, die Sie zurückgelegt haben, in umgekehrter Richtung zu folgen, das heißt, von der Quelle bis zur Mündung des Inharrime. Auf diese Weise kann ich dessen gewiss sein, dass mein Schreiben Ihnen direkt und ohne Verzögerung ausgehändigt wird.

Mit diesen wenigen Zeilen will ich Ihnen in erster Linie etwas versprechen: Ich werde dafür sorgen, dass Sie, werter Sargento, so schnell wie möglich ins Vaterland zurückkehren! Sie haben dies verdient – so wie ich verdiene, unter den höchsten Rängen der Militärhierarchie genannt zu werden. Ich bin für Führungsränge bestimmt, und nur eine traurige Verschwörung hat mich von meiner Bestimmung ferngehalten. Andere, wie Paiva Couceiro und Freire de Andrade, wurden unter dem Vorwand befördert, sie hätten lange Afrikaerfahrung. Für António Enes bin ich in Sachen Kriegsführung ein Anfänger. Portugal wird mit dem Ultimatum gedemütigt, unsere Regierung steckt in einem Sumpf aus politischen und Finanzskandalen, und ein erdrückender Alltag lastet auf unserem Volk. Was bedeutete das alles? Das bedeutet, dass Portugal Helden braucht. Ich verstehe nicht, warum man einem, der in seiner kurzen, aber intensiven militärischen Laufbahn bereits so viel Talent bewiesen hat, diese Chance nicht gibt.

Wie gesagt, sobald ich befördert bin, werde ich unverzüglich für Ihre Versetzung nach Portugal sorgen. Doch eines schicke ich voraus: Sie werden allein fahren müssen. Die schwarze Frau, die Sie in Ihren Briefen so preisen, wird in Mosambik bleiben müssen. Unzählige Male habe ich mich schon gefragt, welche Eigenschaften Sie in dieser Kafferin sehen mögen. Doch dies ist eine Randbemerkung, ein Stoßseufzer ohne weitere Folgen. Sie können beruhigt sein, wir werden die Frau nicht fallen lassen. Mit ihren Kenntnissen unserer Sprache kann sie uns sehr nützlich sein. Nach Abschluss der Befriedungskampagnen werden wir sie in unserem Posten in Nkokolani unterbringen. Dort wird sie fraglich weniger Sehnsucht nach Ihnen haben. Denn das Gebäude – halb Ladenkneipe, halb Militärposten – ist ein wenig, wie wir alle sind: Zwitter aus Ente und Pfau. Aber es ist auch so etwas wie eine der steinernen Säulen, die unsere Seefahrer überall an den afrikanischen Küsten aufstellten, als ein Zeichen der Zivilisation in einem Kontinent, auf dem Finsternis herrschte.

Und schließlich möchte ich Ihnen sagen, wie froh ich darüber bin, mit Ihnen, mein werter Sargento, zu korrespondieren. Dieses glückliche Zusammentreffen verdanken wir einer Ironie des Schicksals. Ursprünglich waren Ihre Briefe ja für den Conselheiro José d’Almeida bestimmt. Nun hegt unser Conselheiro eine rigorose Abneigung gegen Briefe und Telegramme. Mit seinen zwei Meter Größe zuckt er die Achseln, kneift die hellen Augen, die mit dem dunklen Bart kontrastieren, zusammen und verkündet: »Ich lese nichts!« Und das rechtfertig er so: »Niemand kann mich überraschen. Aus Lourenço Marques erreichen mich nur Ermahnungen; und aus dem Landesinnern kommt nur ärgerliches Zeug.«

Aus diesem Grund erhielt ich den Auftrag, die an ihn gerichteten Schreiben zu beantworten, auch die Korrespondenz mit dem Königlichen Kommissar, der bis heute glaubt, es sei der Conselheiro Almeida, der auf seine Gesuche antwortet. Und so kam ich durch Zufall in Berührung mit Ihren Briefen, die von so großer Sensibilität sprechen, wie ich sie – Sie entschuldigen meinen unverblümten Kommentar – von einem Sargento aus der tiefen Provinz nicht erwartet hätte. Nach und nach offenbarten Sie sich mir als ein Mensch, mit dem ich den Kummer teilen konnte, mich so fern von meinem Heimatort und meiner geliebten Mutter zu befinden. Unsere Korrespondenz ist kein Versehen. Vielmehr die schicksalhafte Begegnung von zwei Seelenverwandten. Und auf diese Weise habe ich auch Ihre Reisegefährten kennengelernt: Imani, in die Sie verliebt sind, mit ihrer so portugiesischen Seele; den Vater des Mädchens, diesen Katini Nsambe, ein unserer Fahne so getreuer Musiker; Imanis Bruder, von der Natur so wenig bedacht und dennoch der lusitanischen Präsenz so ergeben; und schließlich diese verwunderliche Italienerin Bianca Vanzini, die ungeachtet aller Ethik und der katholischen Sitten unseren Truppen so liebevolle Dienste erwiesen hat. Sie alle leisten mir inzwischen in dieser kargen afrikanischen Steppe Gesellschaft.

Zwar bestehen zwischen uns profunde Unterschiede. Mit meinen neunundzwanzig Jahren bin ich überzeugter Monarchist. Sie sind ein halbes Dutzend Jahre jünger als ich und wurden wegen Ihrer republikanischen Gesinnung nach Afrika verbannt. Kuriose Diskrepanzen: In Afrika liegen wir in denselben Schützengräben; in Portugal stehen wir jeweils auf der anderen Seite der Barrikaden. Ich gestehe Ihnen, mein werter Sargento: Sollte die Republik sich durchsetzen, reiche ich meinen Abschied von der Armee ein und kehre nicht nach Portugal zurück. Sie wurden von der Monarchie ins Exil geschickt. Ich werde dann die Monarchie im Exil sein.

Ich habe jedoch gelernt, dass die Politik nicht der Maßstab für Anfang oder Ende von Freundschaften sein kann. Ich habe in den Reihen meiner Partei Leute, deren ich mich sehr schäme. Und in den gegnerischen Truppen habe ich Menschen kennengelernt, an denen ich gewachsen bin. Die Grenzen zwischen den Menschen sind anderer Natur. Welcher, weiß ich nicht, aber ganz fraglos anderer Art. Tatsache ist, dass wir beide, dank großer Missverständnisse und kleiner Lügen, diese Grenzen überwinden. Unsere Korrespondenz zelebriert den Sieg über die Unterschiede. In einem Land, durch das große Flüsse strömen, ist jeder Brief wie ein Boot, das weite Strecken zurücklegt. Wäre ich ein Dichter, würde ich sagen: Durch das Wort wird das Ufer zum Gestade. Leider klingen alle diese Einfälle für mich affektiert und lassen mich lächerlich wirken.

PS: Ich erwarte Sie hier in Chicomo, sobald es Ihnen möglich ist. Lassen Sie keine Gelegenheit, zu Ihrer Natur, Ihrer Bestimmung zurückzukehren, ungenutzt verstreichen. Etwas liegt in der Luft, in Kürze wird sich etwas Entscheidendes ereignen, und dann wäre es gut, Sie bei mir zu haben. Sie befänden sich fraglos in besserer Gesellschaft als bei dem perfiden Schweizer.

Eine Kirche unter einer anderen Kirche

Geh nicht auf Reisen, denn du wirst nie zurückkommen. Heim kehrt nur, wer schon glücklich war.

Sprichwort aus Sana Benene

Nicht nur Land durchqueren die Flüsse. Dieser Fluss, auf dem wir fuhren, zog sich durch Feuergebiete, geprägt durch Hunger und Blut. Und es gab noch eine andere Entfernung, die unser Boot überwand – während wir zwischen dichten Wäldern dahinfuhren, kam es uns vor, als wäre der Krieg weit weg und hätte mit uns nichts zu tun.

Bis wir schließlich eine kleine Bucht erreichten, wo die Strömung sich beruhigte. Wir befanden uns in Sana Benene. Am Ufer stand eine alte Kirche, deren Mauern im Mittagslicht wirkten, als wären sie aus Wasser. Mühsam im Wasser watend, schob Mwanatu das Boot zu einer Holzplattform. 

Am Saum der Bucht reihten sich Holzstangen, an deren Spitzen Fischernetze hingen. Das Boot hielt schließlich an, und die Bordwand rieb sich quietschend an den Bohlen des morschen Anlegers. Mein Vater lachte; das war kein Geräusch, das war der Anfang einer Melodie. Er streichelte eine Bohle des Anlegers mit der gleichen verträumten Miene, mit der er die Stäbe seiner Marimba liebkoste. »Hörst du das Ächzen der Hölzer, Imani? Das ist der Baum, der nach seinen Kindern ruft.«

Auf seine italienische Freundin gestützt, bemühte sich Sargento Germano de Melo, möglichst schnell aus dem Boot zu steigen. An Land wankte er benommen hin und her, er hatte noch den Fluss und seine Wellen vor Augen. Mutlos betrachtete er den Pfad, der zu den wenigen Häusern führte. Die Kirche, von Wurzeln und Baumstämmen umrahmt, schien noch vor dem Fluss entstanden zu sein. »Hier ist das Krankenhaus?«, fragte der Portugiese mit tonloser Stimme. 

Wir befanden uns noch ziemlich weit weg von Georges Liengmes Hospital in Manjankhazi. Die Nacht sollten wir in den Nebengebäuden der Kirche verbringen und frühmorgens den Weg zu unserem endgültigen Ziel antreten.

Der geschwächte Sargento schleppte sich, von Mwanatu gestützt, den Pfad entlang. Auf halber Höhe des Hügels lagen die Reste dessen verstreut, was einmal die Kirchentreppe gewesen war. Der Regen und die Zeit hatten die Stufen aus dem Gebäude gerissen. Es sah aus, als wollten die Steinplatten zu dem Boden zurückkehren, aus dem man sie herausgeschnitten hatte. Am Kircheneingang klatschten wir in die Hände, wie es sich gehört. Wir klopfen nicht an die Tür, so wie die Weißen. Die Tür ist schon Hausinneres, das Haus fängt an der Grundstücksgrenze an.

Es dauerte nicht lange, da tauchte aus dem Halbdunkel Pater Rudolfo Fernandes auf. Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Meine ganze Kindheit hatte ich bei ihm in der Kirche von Makomani verbracht. Beim Pater hatte ich gelernt, die Sprache der Portugiesen zu sprechen und zu schreiben. Und bei ihm habe ich auch gelernt, kein schwarzes Mädchen vom Volk der VaChopi mehr zu sein.

Rudolfo Fernandes war alt geworden, der Bart weiß, das Haar ergraut, lang und ungekämmt. Er wischte sich die Hände an der zerrissenen, schmutzigen Soutane ab. Als er begriff, wer ich war, blickte er gen Himmel und umarmte mich bewegt: »Gott sei gelobt, Imani, meine Imani! Sieh mal an! Was für eine schöne Frau du geworden bist!«

Nachdem wir in die Kirche hineingegangen waren, stellte ich ihm meine Reisegefährten vor. Der Pater gab jedem einen kräftigen Händedruck, nur meinen Bruder Mwanatu nahm er in den Arm. Als Letzten begrüßte er den Sargento. Germano de Melo war weiß, ein Mann und ein Militär. Er verdiente eine besondere Begrüßung. Rudolfo streckte ihm den Arm entgegen, und da erst stellte er fest, dass der Portugiese es ihm nicht gleichtun konnte.

Germano winkte mit seinen Armstummeln und stammelte: »Hände habe ich nicht mehr.«

Draußen wären die Worte gar nicht zu hören gewesen. Innerhalb der vier Wände klang die schwache Stimme des Sargento kräftig wie ein Echo: »Ich habe sie nicht mehr, meine Hände.«

Der Pater bemühte sich spontan um Trost: »Hierher kommen verwundete Weiße und Schwarze. Man denkt, es sei ein Gotteshaus. Aber es ist ein Krankenhaus.«

Die Kirche roch muffig, die Wände schwitzten klebrig.

»Beim letzten Hochwasser hat das Wasser bis hier gestanden«, sagte der Pater und wies auf einen Schimmelfleck an einem Holzbalken. Und da er unserem Schweigen einen gewissen Vorwurf entnahm, lachte er: »Mir gefällt das, eine Kirche, die vom Fluss gewaschen wird.«

Auf dem Altar standen aus altem Holz geschnitzte Heiligenfiguren. Während er Farbsplitter zerbröselte, die von den Skulpturen abblätterten, erklärte der Pater: »Holz stirbt nie, es bleibt immer lebendig.«

Und mein Vater lächelte zustimmend. Mwanatu verdrehte und wand sich, um sich zu bekreuzigen, wobei er Finger und Hände umständlich ineinanderschlang. Er sprach Gott mit »Ihre Exzellenz« an.

Tauben flatterten zwischen den Dachbalken hin und her, als Pater Rudolfo zur seitlichen Tür hin rief: »Bibliana, komm mal her! Sieh dir an, wer gerade eingetroffen ist!«

Im Vorraum waren gemächliche, schwere Schritte zu hören; die Person, die da kam, war nicht barfuß. Mit einem Ruck öffnete der Pater die Türflügel und verkündete überschwänglich: »Hier ist meine Bibliana! Komm näher, meine Tochter.«

Im Gegenlicht erschien eine große, schlanke schwarze Frau in einem roten Seidenmorgenrock. Militärstiefel machten sie noch imposanter.

»Bibliana ist eine Wunderheilerin, die allerbeste Zauberkundige. Es gibt kein Leiden, das sie nicht behandeln kann.« 

Die Frau ging einmal um den Sargento herum und sprach in einer Mischung aus Portugiesisch, Txitxope und Txishangana. Ihre Stimme war tief, fast männlich: »Dieser Mann kommt mit mir. Er ist gebrochen, sein Herz ist tief gesunken.«

Germano hatte wohl etwas verstanden, denn er folgte ihr taumelnd in den Hinterhof. Ich ging hinterher, um ihn zu stützen und beim Übersetzen zu helfen. Als Bianca gewahrte, dass sie unter den Männern allein bleiben sollte, schloss sie sich uns an.

Draußen auf dem Hof musterte die seltsame Gastgeberin mich von oben bis unten, richtete den Blick auf meine Schuhe und schüttelte den Kopf: »Hältst du dich für eine Weiße?«

Ich antwortete nicht. Bibliana erwartete auch keine Antwort. Auf Txitxope knurrte sie: »Ich habe mal eine Frau in Schuhen gekannt, der haben sie die Füße angezündet.«

Und dann existierte ich nicht mehr, denn sogleich sorgte sie dafür, dass der Portugiese sich in der Hofmitte auf einen Stuhl setzte. Dann strich sie ihm lange mit den Händen über die Schultern und beschnupperte sein Gesicht und seinen Hals. Dabei atmete sie tief ein und spuckte wiederholt aus. Angeekelt drehte Bianca sich weg.

Bibliana nahm Frauenkleider aus einem Beutel und zog sie dem Sargento an. Die Italienerin schüttelte missbilligend den Kopf. Ich fand das Ganze merkwürdig. Anfangs dachte ich, Bibliana wolle den Kranken einfach in weite, leichte Bekleidung stecken. Aber das war es nicht, wie sich Biblianas Worten entnehmen ließ: »Mag sein, dass die Männer über das Land gebieten. Aber über das Blut gebieten die Frauen.« Auf sich selbst und Germano weisend, wiederholte sie: »Wir Frauen.«

Der Sargento nickte schon fast ein, als die Wunderheilerin einige Jungen anwies, zum Fluss zu gehen und das Boot zu holen, mit dem wir gekommen waren. »Das Boot wird das Bett dieses Mannes«, erklärte sie.

Bald darauf wurde Germano de Melo in einer Art Trauerzug in dem Boot in die Kirche hineingetragen. Auf den Schultern der Jungen schwankte das Boot, ein wenig wie ein Sarg.

Entsetzt hob der Portugiese den Kopf, vermutlich hatte ihn die gleiche Beunruhigung erfasst wie mich, denn nahezu kraftlos fragte er: »Holen sie mich schon?«

Sie setzten das Boot auf der Altarplatte ab. Wieder gab die Wunderheilerin den Jungen leise eindringliche Anweisungen. Flinke Hände tasteten die Winkel des Gebäudes ab und trugen aus dem Halbdunkel Kauzfedern zusammen. Damit legte die Frau den Boden des Bootes aus.

»Bring mich von hier weg, Bianca«, flehte Germano. »Ich verblute.«

»Morgen kommst du nach Manjacaze«, sagte die Italienerin beruhigend.

Aber den Sargento konnte nichts mehr beruhigen. Die Ellbogen auf die Bordwand des Bootes gestützt, die Augen weit aufgerissen, als wollten sie eine Dunkelheit durchdringen, die nur er sah, sagte der Portugiese: »Auf diese Weise bringen die Neger unsere Pferde um: Sie schneiden ihnen die Ohren ab und lassen sie über Nacht verbluten.« Erschöpft verstummte er. Er legte sich auf den Boden des Bootes, und so, im Liegen, sprach er weiter: »So töten sie sie, die armen Pferde. Am nächsten Morgen dringen ihnen die Fliegen zu Tausenden in die Ohren, kriechen durch die Adern und fressen sie von innen auf, sodass ein einziger Mann genügt, das Tier wegzuschaffen.«

Die Italienerin fuhr ihm mit den Fingern durch das zerzauste Haar, zupfte den Kragen des Kleides zurecht und flüsterte nah an seinem Gesicht: »Morgen, Germano. Morgen sind wir im Krankenhaus der Schweizer.«

Bibliana sprach höhnisch die Worte der Europäerin nach: »Morgen, morgen, morgen.« Sie lachte verächtlich, hob das Kinn und wies mich an zu übersetzen: »Dieser Weiße bleibt hier, bis er zu Kräften gekommen ist. Dann erst geht er nach Manjankhazi. Der Ort hat einen Blutnamen. Das bedeutet Manjankhazi: die Kraft des Blutes.«

»Sobald es hell wird, machen wir uns auf nach Manjacaze«, widersprach ihr Bianca, und zu mir gewandt, verlangte sie: »Erklär das dieser verrückten Negerin.«

»Vorsicht, Dona Bianca«, bat ich. »Die Frau versteht Portugiesisch.«

»Genau das will ich, dass sie versteht.«

Bibliana tat, als hätte sie nichts gehört. Das Gesicht gen Himmel gewandt, schloss sie die Augen halb und verkündete: »Der Weiße bleibt hier!« Sie stieß die Finger in die Luft, wie Pfeile, die sich in den Boden bohren.

In ihrer Verzweiflung griff Bianca sich in die Haare und wandte ein, ohne das Ende meiner Übersetzung abzuwarten: »Wir sollen ihn hier zurücklassen, ohne geeignetes Essen und ohne ein Mindestmaß an Hygiene?«

»Ich gebe ihm zu essen«, erwiderte Bibliana. »Und wir haben den Fluss, der wäscht alle Wunden.«

»Sag dieser Negerin«, verlangte die Italienerin von mir, »dass ich sie nicht mag. Sag ihr, dass ich keiner Hexe vertraue, die im roten Morgenrock herumläuft. Und sag ihr auch, dass wir morgen sehen werden, wer hier das Sagen hat.«

Doch die Italienerin redete ins Leere. Ungeachtet der Wut der Europäerin beugte die schwarze Bibliana sich über den Sargento und nahm ihm den Verband ab. Vorsichtig ließ sie das Blut in eine weiße Schüssel laufen. Wäre ein einziger Tropfen auf den Boden gefallen, wäre das eine Einladung für den bösen Blick gewesen.

»Es gibt kein fremdes Blut. In jedem, der blutet, bluten wir alle«, murmelte die Wunderheilerin.

Als sich die Schüssel rot färbte, nahm ich den Blutgeruch wahr, einen scharfen Geruch nach Rost. Der Sargento lag mit geschlossenen Augen da, während Bibliana eine Prise Asche mit einer Salbe aus Saft und Öl des Mahagonibaums vermengte. Mit dieser Mischung rieb sie die Wunden des Sargento ein.

Nach der Behandlung riss sie zwei Schlitze in ihren roten Morgenrock, wirbelte durch den großen Raum und trat die Stühle und Bänke aus dem Weg. Als der Raum leer war, ging sie in den Hof, kam mit zwei brennenden Holzscheiten von ihrem Feuer zurück und legte sie auf den Steinfußboden der Kirche.

Erschrocken rief die Italienerin: »Die Frau ist verrückt! Sie steckt die Kirche in Brand!«

Bibliana stellte sich breitbeinig über das Feuer, als wollte sie ihre Eingeweide wärmen. Langsam hob sie die Arme und stimmte eine Melodie an. Ihr Gesang schwoll an, während sie energische Tanzschritte ausführte, die Knie hoch anhob und anschließend kräftig auf den Boden stampfte. Sie zog den Rücken hoch und presste ihn zusammen, als läge sie in den Wehen. Die Hände rieben über den Fußboden, damit Staubwolken aufstiegen. Irgendwann nahm sie aus dem Tuch, das sie um den Kopf trug, eine Handvoll Pulver und warf es in das Feuer. Ihr hartes Gelächter begleitete das Knallen des Pulvers über den Flammen. Dann dehnte sie ihre Stimme, sprach noch heiserer als zuvor: »Dieses giftige Pulver hat sich in der Welt ausgebreitet. Es zerreißt die Kehle, verschlingt die Brust und führt schließlich zum Erblinden der Völker. Und die Blindheit heißt Krieg.«

Die Hände auf den Hüften, den Körper aufgerichtet, den Kopf erhoben, stieß sie kriegerische Befehle aus. Es war klar: Ein Geist war in sie gefahren. Die männliche Stimme, die aus ihr sprach, gehörte einem alten Krieger. Der tote Soldat sprach auf Txitxope, meiner Muttersprache. Aus Biblianas Mund predigte der Tote: »Ich bitte euch, meine Vorfahren: Zeigt mir eure Wunden! Zeigt mir die offene Ader, zeigt mir den gebrochenen Knochen, die zerrissene Seele. Euer Blut ist dasselbe, das sich hier, rot und lebendig, in der Schüssel befindet.«

Und wieder drehte Bibliana sich durch den Raum in einer Mischung aus Tanz und militärischem Marsch. Dann brach sie ihren Tanz ab und trat mit den Stiefeln das Feuer aus. Sie ging an den Altar, versenkte die Finger im Haar des Sargento, drehte sich zu uns um und flüsterte: »Dieser weiße Mann ist fast fertig.«

»Was soll das heißen?«, fragte ich aufgeregt.

»Er verliert schon die Arme, danach wird er die Ohren verlieren und anschließend die Beine. Zum Schluss wird er ein Fisch. Und kehrt dann zu den Booten zurück, die ihn nach Afrika gebracht haben.«

So dachte man über die Portugiesen: Sie seien Fische und aus fernen Meeren gekommen. Alle, die an Land gingen, seien jung, vorausgeschickt von den Älteren, die an Bord blieben. Diejenigen, die zu uns kamen, hätten noch alle Gliedmaßen am Körper. Nach einiger Zeit würden sie erst die Hände, dann die Füße, die Arme und die Beine verlieren. Und dann kehrten sie zum Ozean zurück.

»Mach dich bereit, meine Schwester, schon bald wird dieser Weiße nicht mehr bei dir sein«, sagte sie und kniff mich in den Arm.

Ich schlief ein und träumte, ich sei auch ein Fisch und streife an der Seite von Germano durch endlose Meere. Der Ozean war unser Zuhause. Ich hätte in sanftem Schaukeln aufwachen können. Doch dazu kam es nicht. Aufgeregtes Geschrei riss mich aus dem Bett und rief mich an die Tür. Eine kleine wütende Menschentraube drängte sich neben der Kirche. In ihrer Mitte befand sich ein nackter, gefesselter Mann, den man offenbar geschlagen hatte. »Das ist einer von Ngungunyanes Soldaten«, riefen sie.

Manche behaupteten, er sei ein Spion, aber die Mehrheit versicherte, er sei ein passa-noite, einer der Zauberkundigen, die ihre Dienste verkauften. Der angebliche Zauberkundige war über und über mit rotem Sand beschmiert, er sah aus wie ein Stück Erde in menschlicher Form. Vielleicht tat es mir deshalb weniger leid, wie er mit Fußtritten traktiert wurde.

Der Pater hob die Arme und gebot Einhalt. Dann fragte er den Mann, was er vorgehabt habe. Worauf der Fremde sagte, er sei gekommen, um »Frauen zu sehen«. Lautes Geschrei übertönte den Rest der Erklärung. Wieder hagelte es Schläge und Tritte, und der Unselige hatte keine Kraft mehr, sich zu verteidigen. Nun war er nicht mehr Erde. Nun war er nur noch Staub.

Da erschien Bibliana und nahm die Sache in die Hand. Sie führte den Fremden zum Fluss und gab Anweisung, ihn an einen gefällten Baumstamm zu binden. Der Mann ließ es schweigend geschehen, dass man ihn brutal an den Stamm band wie ein Tier, das gevierteilt werden soll. Er schloss nicht einmal die Lider, obwohl die Sonne ihm ins Gesicht schien. Auf Anweisung der Heilkundigen – die alle Sangoma nannten – wurde der Baumstamm mit dem daran angebundenen Mann ins Wasser geworfen. Als die Strömung ihn mitriss, herrschte tiefe Stille. Dann rief Bibliana: »Du wolltest Frauen sehen? Dann mach im Wasser die Augen gut auf.«

Erster Brief des Sargento Germano de Melo

Gott hat die Menschen nicht erschaffen. Er hat sie lediglich entdeckt. Er hat sie im Wasser gefunden. Alle Lebewesen lebten wie Fische unter Wasser. Gott schloss die Augen, um unter Wasser sehen zu können. Da erblickte Er Geschöpfe, die so alt waren wie Er. Und Er beschloss, sich sämtliche Wasserläufe anzueignen. Also bündelte Er die Flüsse in seinen Adern und barg die kleinen Seen in seiner Brust. Als Er in die Savanne gelangte, befreite Er sich von seiner Last. Männer und Frauen fielen zu Boden. Sie wälzten sich auf der Erde, machten den Mund auf und zu, als wollten sie sprechen, aber die ersten Wörter wären noch nicht erfunden. Außerhalb des Wassers konnten sie nicht atmen. Sie verloren das Bewusstsein. Und träumten. Im Traum lernten sie atmen. Als sie die Lungen zum ersten Mal füllten, brachen sie in Tränen aus. Als wäre ein Teil von ihnen gestorben. Und so war es auch: Ihr Fisch-Teil war gestorben. Sie beweinten die Fluss-Geschöpfe, die sie nicht mehr waren. Und wenn sie nun singen und tanzen, zelebrieren sie diese Sehnsucht. Gesang und Tanz vereinen sie wieder mit dem Fluss.

Sage aus Sana Benene

Sana Benene, 14. Juli 1895

Sehr verehrter Senhor

Tenente Ayres de Ornelas,

als Erstes möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mir zu antworten, und noch dazu einen Boten geschickt haben, der Meilen und Meilen zurückgelegt hat, um mir Ihr so wohltuendes Schreiben auszuhändigen.

Vielleicht ist meine Schrift schlecht lesbar. Ich weiß nicht, wie ich es fertigbringe, diese kläglichen Zeilen zu schreiben. Meine Hände sind verkrüppelt, und ich verfüge über keine Erinnerung an die Qualen, die ich durchlitten habe. Schreiben ist für mich so lebensnotwendig, dass ich meine Schmerzen nicht mehr spüre, wenn ich eine Feder in die Hand nehme. Ich weiß nicht, verehrter Senhor Tenente, woher unser unheilbarer Lebenswille kommt. Ich spreche für mich, denn ich sterbe lediglich aus Taktgefühl nicht.

Um dieses Schreiben zu Papier zu bringen, muss ich mich so anstrengen, dass ich blute, denn wenn es schon im Alltag schwierig ist, die Hände zu benutzen, erweist es sich als praktisch unmöglich, mit verbundenen Händen zu schreiben. Meine Schrift ist miserabel, aber ich musste diese Zeilen ohne fremde Hilfe schreiben. Denn ich möchte persönlich und eigenhändig meinen unendlich großen Dank dafür ausdrücken, dass Sie versprechen, meine Rückkehr nach Portugal zu veranlassen. Meine Freude, das gestehe ich, und bitte sehen Sie mir nach, dass ich es so offen ausspreche, wäre uneingeschränkt, wenn ich meine geliebte Imani mitnehmen könnte. In mir kämpfen zwei Wünsche. Wenn ich ans Leben denke, siegt Imani; wenn ich ans Sterben denke, entscheidet Portugal.

Ich weiß nicht, ob ich ohne diese Frau von hier fortgehen will. Erst wollte ich Ihnen unumwunden, aber nicht brüsk mitteilen: Ohne Imani gehe ich nirgendwohin. Doch jetzt zögere ich. Meine größte Sorge ist nicht, Sie zu kränken, verehrter Senhor Tenente. Es ist vielmehr die Sorge, mir selbst gegenüber nicht wahrhaftig zu sein. Dieses Mädchen ist jetzt mein Schicksal, meine Heimat. Wird sie es aber morgen auch sein? Ist die Liebe dieser Schwarzen zu mir vollkommen uneigennützig? Bin ich für sie womöglich nur ein Freibrief, ihren Platz und ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen? 

Das sind die Fragen, die mich beschäftigen. Es sind meine Dilemmas, und nur ich kann sie lösen. Ich bin davon überzeugt, dass die Auflage, allein zurückzukehren, nicht auf eine Laune oder Mangel an gutem Willen Ihrerseits zurückzuführen ist. Sie können ganz einfach nicht anders handeln. Und ich verstehe das sogar. Wie soll man mitten in einem so grausamen Krieg mit Liebesproblemen umgehen? Wie an die Liebste eines namenlosen Sargento inmitten einer ganzen Armee denken?

Sie fragen sich vielleicht, verehrter Senhor Tenente, wieso ich so sehr an einer jungen Frau hänge, die auf mich geschossen und mich für immer verstümmelt hat. Das kann ich nicht beantworten. Hat sie es wirklich getan? Erinnere ich mich genau daran, was geschehen ist?

Bianca Vanzini will mir unbedingt beweisen, dass Imani unschuldig ist. Die Italienerin war anwesend, und sie versichert, dass die aufständischen Kaffern auf mich geschossen haben. Tatsache ist, dass ich keine deutliche Erinnerung an den tragischen Augenblick habe. Und ich gestehe: Die Wahrheit spielt für mich keine Rolle mehr. Ich akzeptiere gern die Version der Italienerin. Denn ich suche nicht mehr nach Erinnerungen. Mir genügen Geschichten. Vielleicht sind diese Briefe lediglich eine Möglichkeit, auf der anderen Seite des Papiers jemanden zu erfinden, der sich meine einsamen Fantastereien anhört.

Bei so vielen Fieberwahnvorstellungen weiß ich nicht, ob ich mich wirklich erinnere oder es mir einbilde, aber ich meine, dass wir, die schöne Imani und ich, uns unterwegs während einer Rast am Ufer hingelegt haben. Sie sah mich mit ihren großen Augen an, so groß sind sie, dass sie alle Nächte der Welt enthalten. Dann riss ich aus einem alten Heft ein paar Seiten und breitete sie auf der Erde aus. »Komm«, sagte ich, »leg dich auf diese Blätter.« Sie wollte mich davon abhalten, das Heft zu zerreißen. »Worauf wollen Sie dann die Briefe an Ihre Vorgesetzten schreiben?«, fragte sie. Und halb herausfordernd, halb schelmisch flüsterte sie: »Oder bin ich vielleicht wichtiger als Ihre Vorgesetzten?«

Ich kann nicht anders, ich muss Ihnen sagen, wie sehr dieses Mädchen meinem Leben einen Sinn gibt. Vor Kurzem erst musste ich wegen starker Schmerzen in den Händen meinen Brief unterbrechen. Wieder war es Imani, die mir zu Hilfe kam. Bei allem, was sie sagte, hielt sie den Blick gesenkt. Sie streichelte meine verstümmelten Hände und murmelte dabei sanft, aber bestimmt: »Mehr als aus Knochen und Fleisch bestehen Hände aus Leere. Der Raum zwischen den Fingern, die Muschel über der Handfläche, in dieser Leere formt sich die Geste. Hände«, sagte Imani, »sind das, was ihnen fehlt. Gäbe es nicht diese Leere, könnten wir nichts tasten oder anfassen. Wir könnten nicht liebkosen«, fügte sie scheu hinzu. Und fast unhörbar sagte sie zum Schluss: »Jetzt, da Sie nur noch wenige Finger haben, werden Sie die Dinge besser fühlen als vorher mit den unversehrten Händen.«

Beschämt über ihre lange Rede, beeilte sie sich, mir die Handgelenke mit Tüchern zu umwickeln, die vom Fluss gewaschen und von der Sonne gereinigt waren. »Es geht Ihnen viel besser«, sagte sie zu mir. Und ihr jugendlicher Optimismus half mir, meine Hilflosigkeit zu akzeptieren.

Es sind diese kleinen Vorkommnisse, von denen ich Ihnen berichten wollte. Sie mögen für Sie belanglos sein. Für mich bekommen sie nur einen Sinn, wenn jemand daran Anteil nimmt, der auf diese Nachrichten ebenso staunend reagiert, wie ich sie erlebt habe.

PS: Ich möchte den Brief nicht beenden, ohne Ihnen Folgendes zu versichern: Ich kann nicht verhindern, zum Hospital des Schweizers in Manjacaze zu reisen. Betrachten Sie die Angelegenheit von der positiven Seite. Vielleicht ist es für die portugiesischen Interessen nützlich. Ich werde von dem Schweizer Liengme erfahren, was am Hof von Gungunhana vor sich geht. Und natürlich werde ich berichten, was ich gesehen und was ich nicht gesehen habe, was man mir gesagt und was man mir verheimlicht hat.

Tanzende Götter

Am Anfang der Zeit gab es keine Flüsse und kein Meer. Ein paar Lagunen, vergängliche Abkommen des Regens, sprenkelten die Landschaft. Angesichts der dürstenden Pflanzen und Tiere beschloss Gott, den ersten Fluss zu erschaffen. Doch geschah es, dass sein Bett sich weiter als bis zum Ufer ausdehnen wollte. Zum ersten Mal fürchtete Gott, die Schöpfung könnte den Schöpfer herausfordern. Und ihm kam der Verdacht, der Fluss habe zu träumen gelernt. Wer träumt, kostet den Geschmack von Ewigkeit. Doch das ist das alleinige Vorrecht der Gottheiten.

Mit seinen langen Fingern hob Gott den Fluss hoch, dann kürzte er ihm die Gliedmaßen und beschnitt ihn an der Quelle und der Mündung. Väterlich behutsam legte er das Rinnsal in die passende Erdrinne zurück. Ohne Anfang und ohne Ende, schob der Fluss die Ufer auseinander und dehnte sich im Grenzenlosen aus. Die beiden Ufer entfernten sich so weit voneinander, dass sie das Verlangen nach Träumen noch stärker nährten. So wurde das Meer ersonnen, der Fluss aller Flüsse.

Sage aus Nkokolani

Man sagt, das Leben sei ein ewiger Lehrmeister. Mir wurden die großen Lehren durch das erteilt, was ich nicht erlebt habe. Und es waren Einsichten, die nicht dem Denken entsprangen, sondern der Benommenheit beim morgendlichen Aufwachen. Heute weiß ich, dass jedes Erwachen des neuen Tages ein Wunder ist. Die erstaunliche Rückkehr des Lichts, der Duft der Träume, der noch der Schlafstatt anhaftet, all dies belebt in uns einen namenlosen Glauben. Vor zwei Tagen geschah dieses Wunder, in der Gestalt eines weißen Soldaten. Er hieß Germano und wartete auf mich so ergeben wie die Brut der Vögel auf ihre Eltern. In dieser Situation erfüllte ich Mutterpflichten: Ich fütterte ihn mit Maisbrei und einem Püree aus bitteren Blättern. Während ich ihm den Löffel an den Mund führte, wurde mir bewusst, zu welcher Abhängigkeit Germano lebenslang verurteilt war. 

Am Ende der Mahlzeit bat er mich, die Handgelenke vom Verband zu befreien. Er wollte Luft an die Wunden lassen, wie er sagte. Der wahre Grund war ein anderer. Er wollte die Verstümmelung sehen. Als der Verband herunterfiel, verließ mich meine Zuversicht: Er besaß nur noch fünf Finger, vorausgesetzt, dass einige noch gerettet werden konnten. Fünf Finger. Drei an der rechten Hand, zwei an der linken. In dieser Situation stellte er eine etwas unsinnige Frage: »Imani, wie soll ich mich jetzt bekreuzigen?« Dann schlief er ein, so wohlig erschöpft, wie man vom Weinen wird.

Am Nachmittag stürmten ein paar Männer in die Kirche. Sie kamen auf Biblianas Geheiß, und wieder trugen sie den Sargento in dem Boot hinaus. »Setzt mich ab«, verlangte der Portugiese. Aber die Wunderheilerin hatte die Anweisung gegeben, der Kranke dürfe keine Fußspuren auf dem Boden hinterlassen.

»Wohin bringt man mich?«, fragte Germano schlaftrunken, während sie ihn vorsichtig hinunter zum Fluss trugen.

»Es wird eine Messe zelebriert«, antwortete Pater Rudolfo.

»Warum bleiben wir nicht in der Kirche?«, fragte Germano ängstlich.

»Dies ist eine andere Messe«, erklärte der Pater.

Die Männer setzten das Boot in das ruhige Wasser des Inharrime. Der Portugiese saß im Boot und sah mit weit aufgerissenen Augen, dass sich Hunderte von Bauern in weißen Tüchern näherten. Bibliana, Pater Rudolfo und mein Vater nahmen unter der mächtigen Krone eines Feigenbaums auf den wenigen Stühlen Platz, die sie aus der Kirche mitgebracht hatten. Die Italienerin Bianca Vanzini ging ein Stück näher zum Fluss und setzte sich auf eine Stufe der verfallenen Treppe. Während ihres langen Aufmarschs stimmten die Bauern einen wunderschönen Gesang an, den ich aber nicht verstand.

In einer roten Tunika, um die Taille weiße Tücher, kniete Bibliana sich in die Mitte, umrahmt von der Menschenmenge. Als sie die Vorfahren anrief, trat absolute Stille ein. Sie nannte jeden einzeln, eine nicht enden wollende Liste, als empfinge sie Gäste an ihrer Haustür. Mir wurde klar, dass Schwarze und Weiße sich wesentlich darin unterscheiden, wie sie mit den Verstorbenen umgehen. Wir, die Schwarzen, sprechen zu den Toten. Die Weißen sprechen vom Tod. Diesen Unterschied hatte Germano erlebt, als der Ladenwirt Francelino Sardinha begraben wurde. Mit der Abschiedszeremonie wurde der Tod um Erlaubnis gefragt, den Toten zu vergessen.

Nach der ausführlichen Anrufung der Ahnen setzte Bibliana sich eine mit blütenweißen Bändern umwickelte Gipsfigur der Jungfrau auf den Kopf. Die Menschen warfen sich schweigend zu Boden. Bibliana ging den Hang hinunter, hielt die Statuette fest und stieg mit ihr zusammen in den Fluss. Dann warf sie ein Hüfttuch, eine gemusterte capulana, auf das Wasser und verkündete: »Nicht wir waschen uns im Fluss. Es ist umgekehrt: Der Fluss wäscht sich in uns.« Anschließend legte sie dem Portugiesen die nasse capulana um die Schultern. Er schauderte, schien sich dann aber zu entspannen.

Plötzlich bahnte sich die Italienerin barsch einen Weg durch die Menge. Neben dem Priester blieb sie stehen und schrie ihn an, er solle dafür sorgen, dass der »schwarze Karneval« aufhörte. Pater Rudolfo beruhigte sie, die Zeremonie unterscheide sich nicht sehr von den christlichen Riten. Sie möge sich ein wenig gedulden, nachher würde die Zeremonie interessanter. Widerstrebend, in ihrer Muttersprache brummelnd, kehrte Bianca Vanzini auf die zerbrochenen Treppenstufen zurück.

Bibliana kam wieder die Böschung zur Lichtung herauf, wo die schweigende Menge sie erwartete. Die Kleidung klebte ihr am Körper, sie rollte mit den Augen, dann schaukelte ihr Körper hin und her, wie in einem seltsamen Tanz. Ihre Füße traten immer energischer auf, schließlich stampften sie so kräftig wie bei einem militärischen Marsch. Von ihrem Rhythmus angesteckt, fing der Pater an, auf einem dicken Buch zu trommeln.

»Was für ein Buch ist das?«, fragte Bianca.

Ohne sein Trommeln zu unterbrechen, erklärte der Pater, es sei eine Bibel, die von den Schweizern in die Sprachen der Eingeborenen übersetzt worden sei. Die Einheimischen nannten sie »Buku«.

Bianca reagierte so aggressiv, dass ihre Stimme sich überschlug: »Jetzt dient die Heilige Schrift also als Trommel?«

»Musik ist die Muttersprache Gottes«, erwiderte Rudolfo. Und das, fügte er hinzu, hätten weder Katholiken noch Protestanten je begriffen: dass in Afrika die Götter tanzen. Und alle hätten denselben Fehler begangen und die Trommeln verboten. Er, der Pater, bemühe sich seit langer Zeit, den Fehler gutzumachen. Denn wenn man uns nicht auf unsere Trommeln schlagen lasse, würden wir, die Schwarzen, den Körper zur Trommel machen. Oder schlimmer noch, wir würden mit den Füßen auf der Erde trommeln, und dann würden in der ganzen Welt Risse aufbrechen.