Unter dem Frangipanibaum - Mia Couto - E-Book

Unter dem Frangipanibaum E-Book

Mia Couto

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Beschreibung

In Mosambik stoßen verschiedene Welten aufeinander: die politische Vergangenheit des ehemaligen Koloniallandes, die Konflikte der Gegenwart und zeitlose, mythische und magische Geschichten. In einem Altersheim in der Provinz, wo ein Todesfall aufgeklärt werden soll, versucht Inspektor Izidine Naíta, Klarheit in dem Gespinst der geheimnisvollen Aussagen der Bewohner zu gewinnen. Im Schatten des Frangipanibaums auf der Terrasse über dem Meer lauscht er allabendlich ihren merkwürdigen Geschichten. Dabei taucht er immer tiefer in ihre fantastische Welt ein und sieht sich zugleich auch mit der politischen Vergangenheit des Landes konfrontiert.

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Über dieses Buch

In einem Altersheim in der Provinz Mosambiks versucht Inspektor Izidine Naíta, einen Todesfall aufzuklären. Dabei taucht er immer tiefer in die fantastische Welt der Bewohner ein. Mia Coutos sprachgewaltiger und poetischer Roman über Afrikas Mythen und deren Bedrohung in einer modernen Welt nimmt den Leser in faszinierende Bilderwelten mit.

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Mia Couto (*1955) gehört zu den herausragenden Schriftstellern des portugiesischsprachigen Afrika. Mehrere Jahre war er als Journalist und Chefredakteur tätig. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Prémio Camões, dem Neustadt-Literaturpreis und dem Jan-Michalski-Preis.

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Karin von Schweder-Schreiner (*1943) hat in Deutschland und Portugal studiert und mehrere Jahre in Brasilien gelebt. Zu den von ihr übersetzten Autoren aus dem portugiesischen Sprachraum zählen Jorge Amado, Antonio Callado, Bernardo Carvalho, Mia Couto, Rubem Fonseca, Lídia Jorge und Moacyr Scliar.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Mia Couto

Unter dem Frangipanibaum

Roman

Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel A Varanda do Frangipani bei Editorial Caminho, S.A., Lissabon.

Die Übersetzung wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.

Originaltitel: A varanda do frangipani (1996)

© by Editorial Caminho, S.A., Lissabon 1996

Vorwort: © by Henning Mankell 2007

Vermittelt durch die Literarische Agentur Mertin, Frankfurt a. M.

Die Übernahme der Übersetzung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags, Reinbek.

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Bili Bidjocka

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30540-3

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Version vom 02.06.2022, 11:18h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

UNTER DEM FRANGIPANIBAUM

Erstes Kapitel — Der Traum des TotenZweites Kapitel — Erste Begegnung mit den LebendenDrittes Kapitel — Navaias GeständnisViertes Kapitel — Zweiter Tag bei den LebendenFünftes Kapitel — Das Geständnis des alten PortugiesenSechstes Kapitel — Dritter Tag bei den LebendenSiebtes Kapitel — Nhonhosos GeständnisAchtes Kapitel — Vierter Tag bei den LebendenNeuntes Kapitel — Nãozinhas GeständnisZehntes Kapitel — Fünfter Tag bei den LebendenElftes Kapitel — Ernestinas BriefZwölftes Kapitel — Zurück im HimmelDreizehntes Kapitel — Martas GeständnisVierzehntes Kapitel — Die EnthüllungFünfzehntes Kapitel — Der letzte TraumWorterklärungen

Mehr über dieses Buch

Über Mia Couto

Henning Mankell: Die Formel der Träume

Über Karin von Schweder-Schreiner

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Erstes Kapitel

Der Traum des Toten

Ich bin der Tote. Hätte ich ein Kreuz oder eine Marmorplatte, dann stünde darauf: Ermelindo Mucanga. Aber vor fast zwei Jahrzehnten bin ich zusammen mit meinem Namen gestorben. Jahrelang war ich ein Lebender mit Zertifikat, von amtlich beglaubigter Rasse. So recht und redlich ich auch gelebt haben mochte, im Tod wurde ich entrühmt. Meinem Begräbnis fehlte es an Zeremoniell und Tradition. Nicht einmal einen, der mir die Knie winkelte, hatte ich. Der Mensch soll so aus der Welt gehen, wie er sie betreten hat, platzsparend zusammengerollt. Die Toten, sie sollen Rücksicht nehmen und wenig Erde beanspruchen, doch mir blieb ein kleines Grab verwehrt. Meine Grabstätte erstreckte sich über meine ganze Größe, vom Ende bis ans Äußerste. Niemand öffnete mir die Hände, bevor mein Körper erkaltet war. Ich ging, Fluch über die Lebenden bringend, mit geballten Fäusten hinüber. Und mehr noch: Niemand hatte mir das Gesicht zu den Nkuluvumba-Bergen hin gewendet. Wir, die Mucangas, haben Pflichten gegenüber den Einstmaligen. Unsere Toten blicken zu dem Ort, wo die erste Frau, gerundet an Leib und Seele, den Mond übersprang.

Nicht nur ein gebührendes Begräbnis blieb mir versagt. Die Liste der Mängel ging noch weiter: Da ich nichts anderes besaß, begruben sie mich mit meiner Säge und dem Hammer. Das hätten sie nicht tun sollen. In ein Grab legt man niemals Metall hinein. Werkzeuge aus Eisen verrotten langsamer als die Knochen des Verstorbenen. Und schlimmer noch: Alles, was glänzt, zieht den Fluch an. Deshalb besteht die Gefahr, daß ich zu einem jener Toten werde, die der Welt Unheil bringen.

All das geschah, weil ich nicht dort starb, wo ich hingehörte. Ich arbeitete fern von meinem Heimatdorf als Zimmermann bei der Instandsetzung einer Festung der Portugiesen in São Nicolau. Aus der Welt ging ich am Vorabend der Befreiung meines Landes. Ein schlechter Scherz: Mein Land wird geboren, in Fahnen gekleidet, und ich gehe unter die Erde, aus dem Licht verbannt. Vielleicht war das gut, so mußte ich Krieg und Elend nicht miterleben.

Da es keine Begräbniszeremonie gab, blieb ich im Zustand der xipocos, der Seelen, die von Ort zu Unort irren, ich wurde zu einem Toten, der seinen Tod nicht findet. Niemals werde ich in die Sphäre der xicuembos aufsteigen, der endgültig Toten, denen es zusteht, daß die Lebenden sie anrufen und lieben. Ich zähle zu den Verstorbenen, denen man die Abnabelschnur nicht durchtrennt hat, deren keiner gedenkt. Aber ich treibe kein Ungeisterwesen unter den Lebenden. Ich habe das Gefängnis des Grabes akzeptiert und hüte die Ruhe, wie es sich für Verstorbene gehört.

Geholfen hat mir dabei, daß ich neben einem Baum liege. In meiner Heimat nehmen sie einen Canhoeiro oder eine Mafurreira. Aber hier, im Umkreis der Festung, gibt es nichts als einen mickrigen Frangipanibaum. Neben dem haben sie mich beerdigt. Die duftenden Blüten des Frangipani fallen auf mich herab. So oft und so viele, daß ich schon nach ihnen rieche. Lohnt es, mich so zu versüßen? Denn jetzt schnuppert nur noch der Wind an mir. Damit habe ich mich längst abgefunden. Selbst jene, die regelmäßig den Friedhof besuchen, was wissen sie von den Toten? Ängste, Geister und Schatten. Sogar ich, ein altgedienter Toter, kann meine Weisheiten an einer Hand abzählen. Tote träumen nicht, das sage ich euch. Nur in Regennächten. Bestenfalls werden sie geträumt. Und ich, ohne einen Menschen, der je meiner gedachte, von wem werde ich geträumt? Von dem Baum. Nur der Frangipani widmet mir nächtliche Gedanken.

Der Frangipanibaum steht auf der Terrasse einer Kolonialfestung. Diese Terrasse hat viel Geschichte erlebt. Sklaven, Elfenbein und Stoffe sind über sie hinweggegangen. Von ihren Steinen aus haben lusitanische Kanonen auf holländische Schiffe gefeuert. In den letzten Tagen der Kolonialzeit beschloß man, in der Festung Aufständische gefangenzuhalten, die gegen die Portugiesen kämpften. Nach der Unabhängigkeit wurde hier notdürftig ein Altersheim eingerichtet. Mit den Alten verwahrloste das Gebäude. Dann kam der Krieg und grub Totenäcker; doch die Schüsse fielen fern der Festung. Bei Kriegsende blieb das Altersheim als Niemandserbe übrig. Die Zeiten verblichen, alles war durchtränkt von Schweigen und Abwesenheit. Während dieser Unzeit schickte ich mich, ähnlich dem Schatten einer Schlange, in mein Los, daß ich kein Vorfahre war.

Bis eines Tages Schläge und Erschütterungen mich weckten: Jemand machte sich an meinem Grab zu schaffen. Ich dachte erst, es wäre mein Nachbar, der Maulwurf, der ja blind geworden ist, damit er im Dunkeln sehen kann. Doch es war nicht das Wühltier. Schaufeln und Hacken entweihten den heiligen Ort. Wonach stocherten diese Leute, warum belebten sie meinen Tod? Ich horchte ins Gewirr der Stimmen hinein und verstand: Die Regierenden wollten mich zu einem Nationalhelden küren. Sie hüllten mich in Ruhm. Hatten schon in Umlauf gesetzt, ich wäre im Kampf gegen die Kolonialmacht gefallen. Nun wollten sie meine sterblichen Überreste. Vielmehr meine unsterblichen Überreste. Sie brauchten einen Helden, aber keinen beliebigen. Sie benötigten einen von meiner Hautfarbe, meinem Volk und meiner Region. Um Zwietracht zu befrieden, Verbitterung auszugleichen. Sie wollten den Stamm zur Schau stellen, wollten die Schale abschaben, um die Frucht zu zeigen. Die Nation brauchte eine Inszenierung. Oder war es vielleicht umgekehrt? Vom Entbehrenden wurde ich zum Unentbehrlichen. Deshalb öffneten sie mein Grab tief unten im Hof der Festung. Als ich es begriff, war ich ganz verwirrt.

Ich war nie ein Mann vieler Gedanken, bin aber auch kein Toter, der sich auf die Zunge beißt. Diesen Irrtum mußte ich aufklären, andernfalls hätte ich nie mehr Ruhe gefunden. Gestorben war ich, damit ich ein einsamer Geist wurde. Nicht für Feste, Pomp und Tamtam. Außerdem ist ein Held wie ein Heiliger: Niemand liebt ihn wirklich. Man erinnert sich seiner in persönlicher Not und nationaler Bedrängnis. Zu Lebzeiten war ich nicht geliebt worden. Jetzt konnte ich auf solchen Schwindel verzichten.

Die Sache mit dem Chamäleon fiel mir ein. Alle kennen die Sage: Gott schickte das Chamäleon als Boten der Ewigkeit. Das Chamäleon aber trödelte, bevor es den Menschen das Geheimnis des ewigen Lebens brachte. Es trödelte so lange, daß Gott genug Zeit blieb, zu bereuen und einen zweiten Boten mit dem Widerruf zu schicken. Ich bin ein Bote in umgekehrter Richtung: Ich überbringe den Göttern Botschaft von den Menschen. Aber ich bin lange unterwegs. Wenn ich bei den Göttern eintreffe, werden sie das gegenteilige Wort eines anderen schon erhalten haben.

Fest stand, daß ich kein Verlangen nach posthumem Heldentum hatte. Die Auszeichnung mußte verhindert werden, auch wenn es mich Kopf und Ehre kostete. Was konnte ich tun, ein Geist ohne Ansehen und Recht? Erst kam mir der Gedanke, ich könnte in meinem Körper von früher wiedererscheinen, der Zeit, als ich noch lebte und jung und glücklich war. Durch den Nabel zurückkehren und auf der anderen Seite hervorkommen, als leiblicher Geist mit einer Stimme unter den Sterblichen. Doch ein xipoco, der wieder in seinen früheren Körper eintritt, begibt sich in tödlichste Gefahren: Ihn berühren oder von ihm berührt werden genügt, um Herzen zum Überschlagen zu bringen und Unheil zu säen.

Ich bat meinen Gefährten, den Halakavuma, um Rat. Gibt es jemanden, der nichts von den Kräften unseres Pangolin weiß? Dieser Säuger lebt bei den Toten. Zur Zeit des großen Regens kommt er vom Himmel herab. Fällt zur Erde und überbringt der Welt Botschaften von den Ursprüngen des Künftigen. Ich habe einen Pangolin, so wie ich zu Lebzeiten einen Hund hatte. Er rollt sich zu meinen Füßen zusammen, und ich benutze ihn als Kissen. Ich fragte meinen Halakavuma, was ich tun solle.

»Du willst kein Held sein?«

Aber Held wovon, geliebt von wem? Nun, da das Land ein Ruinenacker war, riefen sie nach mir, einem kleinen Zimmermann?

»Hast du denn keine Lust, wieder lebendig zu werden?«

»Nein. Nicht bei dem Zustand, in dem mein Land ist.«

Der Halakavuma drehte sich um sich selbst. Wollte er sein Schwanzende fangen, oder übte er seine Stimme, damit ich ihn besser verstehen konnte? Ein Schuppentier spricht nämlich nicht mit jedem. Er stellte sich auf die Hinterbeine, wie die Leute, die mich bedrängten. Er wies zum Innenhof der Festung:

»Sieh dich um, Ermelindo. Selbst in diesem Schutt wachsen wilde Blumen.«

»Ich will nicht dahin zurück.«

»Aber dies wird für alle Zeit dein Garten sein, zwischen geschundenem Stein und wilden Blumen.«

Die Abschweifungen des Schuppigen verstimmten mich. Ich erinnerte ihn daran, daß ich einen Rat suchte, einen Ausweg. Der Halakavuma wurde ernst und sagte:

»Du, Ermelindo, du mußt erneut sterben.«

Noch einmal? Wo es doch schon beim ersten Mal nicht leicht gewesen war, aus dem Leben zu gehen! Nach der Tradition meiner Familie war das nicht einmal vorstellbar. Mein Großvater zum Beispiel lebte endlos. Bestimmt war er immer noch nicht tot. Er schlief ständig, ein Bein vom Körper weggestreckt, neben gefährlichem Gebüsch. Auf diese Weise gab er sich den Bissen der Schlangen preis. Gift in kleinen Mengen schenkt uns ein längeres Leben. So sprach er. Und wie es schien, gab das Leben ihm recht: Ständig nahm er an Eigenart und Gestalt zu.

Der Halakavuma glich meinem Großvater, beharrlich wie ein Pendel. Er bedrängte mich:

»Such dir einen, der kurz vorm Ende ist.«

Wäre der sicherste Platz nicht im Nest der Mamba? Ich sollte in einen Körper umsiedeln, der dem Sterben nahe war. Mich in den fremden Tod mitnehmen lassen und so vergehen. Das schien nicht schwierig. Im Altersheim gab es bestimmt einige, die bald sterben würden.

»Du meinst, ich soll mich in einen anderen vergeistern?«

»Du wirst dich als xipoco üben.«

»Darüber muß ich nachdenken«, sagte ich.

Im Grunde war die Entscheidung schon gefallen. Ich tat nur, als wäre ich Herr meines Willens. Noch in derselben Nacht ging ich in einen xipoco über. Mit anderen Worten, ich verwandelte mich in einen »Nachtgänger«, bewegte mich in der Gestalt eines Fremden. Hätte ich meinen eigenen Körper wieder in Besitz genommen, wäre ich nur von vorn sichtbar gewesen. Von hinten hätte man nicht mehr als einen Hohlraum gesehen, eine unbelebte Leere. Von dem Gefängnis des Grabes wechselte ich also über in das Gefängnis eines fremden Körpers. Mir war verboten, das Leben zu berühren, den Hauch der Winde zu spüren. Von meinem Unterschlupf aus würde ich, unsichtbar, die Welt durchscheinen sehen. Mein einziger Vorteil wäre die Zeit. Für die Toten kommt die Zeit in den Fußstapfen des Vortages, für sie gibt es keine Überraschungen.

Anfangs hegte ich noch Zweifel: Sprach dieser Halakavuma die Wahrheit? Oder dachte er, so lange schon fern der Welt, sich das etwa aus? Seit Jahren war er nicht auf die Erde herabgekommen, seine Krallen bogen sich schon zu mehrfachen Windungen. Wenn selbst seine Tatzen sich nach dem Erdboden sehnten, warum sollte sein Kopf nicht Unsinn fabulieren? Doch dann überließ ich mich der Aussicht, in die Welt der Lebenden zu reisen.

So sehr beschäftigte mich dieser Wunsch, daß ich sogar träumte, obwohl weder Regen fiel noch Nacht war. Was ich träumte? Ich träumte, daß man mich beerdigte, wie es unser Glaube verlangt. Ich starb im Sitzen, das Kinn auf dem Balkon der Knie. In dieser Haltung wurde ich in die Erde gesenkt, mein Körper setzte auf Sand auf, den man von einem Termitenhügel geholt hatte. Lebendiger Sand, voller Kommen und Gehen. Dann warfen sie Erde auf mich, so sanft, als kleideten sie ein Kind. Nicht mit Schaufeln. Allein mit den Händen. Als mir der Sand bis zu den Augen reichte, hielten sie inne. Dann steckten sie rings um mich Akazienzweige. Alle kurz vor der Blüte. Und um den Regen zu rufen, bedeckten sie mich mit nasser Erde. So lernte ich über mich: Ein Lebender tritt auf die Erde, ein Toter wird von der Erde getreten.

Und ich träumte weiter: Nach meinem Tod schliefen alle Frauen der Welt im Freien. Nicht nur der Witwe war ein Dach über dem Kopf verboten, wie unser Glaube es gebietet. Nein. Es war, als hätten sämtliche Frauen in mir ihren Mann verloren. Alle waren sie durch meinen Tod befleckt. Die Trauer legte sich wie dichter Nebeldunst über jedes Dorf. Laternen beleuchteten den Mais, zitternde Hände trugen einen Gluttiegel durch die Felder. Sie wurden vom bösen Blick gesäubert.

Am nächsten Tag winkte ich, kaum daß ich wach war, den Halakavuma heran. Ich wollte wissen, welche Person ich in Besitz nehmen würde.

»Es ist einer, der noch kommt.«

»Was für einer?«

»Einer von auswärts. Er kommt morgen an.« Dann setzte er nach: »Schade, daß mir das nicht vorher eingefallen ist. Eine Woche früher, und alles wäre schon erledigt. Vor ein paar Tagen ist im Altersheim ein hohes Tier umgebracht worden.«

»Welches hohe Tier?«

»Der Direktor. Er wurde erschossen.«

Wegen dieses Mordfalls sollte ein Vertreter der Polizei aus der Hauptstadt kommen. Ich müßte nur in den Körper des Inspektors schlüpfen, dann würde ich mit Sicherheit sterben.

»Du trittst in den Polizisten ein. Alles andere überlaß mir.«

»Wie lange bleibe ich da, bei den Lebenden?«

»Sechs Tage. Dann wird der Polizist getötet.«

Es war das erste Mal, daß ich den Tod verlassen sollte. Zum allerersten Mal würde ich die Menschenstimmen aus dem Heim ohne den Erdfilter vernehmen. Die Alten hören, ohne daß sie mich je bemerken würden. Was aber, wenn ich am Dasein als »Nachtgänger« Gefallen fand? Wenn ich, sobald ich zum zweiten Mal sterben sollte, inzwischen von der anderen Seite begeistert wäre? Schließlich war ich ein einsamer Toter, war immer nur ein Vor-Vorfahr geblieben. Mich wunderte, daß ich keine Erinnerungen an meine Lebenszeit besaß. Lediglich einzelne Momente waren mir im Gedächtnis, allerdings nur Äußerliches. Vor allem der Duft der Erde, wenn es regnete. Beim Anblick des strömenden Januarregens hatte ich mich immer gefragt: Woher wissen wir, daß dieser Geruch von der Erde kommt und nicht vom Himmel? Auf persönlich Erlebtes konnte ich mich jedoch überhaupt nicht besinnen. Ob dies immer so war? Hatten auch die anderen Toten ihr Gedächtnis verloren? Wer weiß. Mich jedenfalls verlangte es nach Zugang zu meinen persönlichen Erlebnissen. Woran ich mich ganz besonders erinnern wollte, waren die Frauen, die ich geliebt hatte. Diesen Wunsch gestand ich dem Halakavuma. Da riet er mir:

»Sowie du im Leben bist, verbrennst du ein paar Kürbiskerne.«

»Wozu das?«

»Weißt du das nicht? Verbrannte Kerne bringen die Erinnerung an vergessene Geliebte zurück.«

Am nächsten Tag dachte ich noch einmal über meinen Ausflug ins Leben nach. Dieser Halakavuma war schon verbraucht. Konnte ich überhaupt noch auf seine Kräfte vertrauen? Sein Körper quietschte wie Verbogenes. Seine Erschöpfung rührte vom Gewicht seines Panzers her. Das Schuppentier ähnelt der Schildkröte – beide tragen ihr Haus mit sich. Daher ihre ungeheure Ermüdung.

Ich rief den Halakavuma und sagte ihm, ich wolle doch nicht auf die Seite des Lebens überwechseln. Er müsse das verstehen: Das Krokodil sei stark im Wasser, und ich sei stark fern den Lebenden. Selbst lebend hätte ich mich nie aufs Leben verstanden. Verborgen in fremdem Fleisch, würde ich mich selbst zerfleischen.

»Ach was, Ermelindo. Du gehst, das Wetter dort ist jetzt schön, befeuchtet von hübschen Regengüssen.«

Ich sollte gehen und meine Seele in frisches Grün hüllen. Wer weiß, vielleicht würde ich einer Frau begegnen und in die Liebe stolpern. Der Halakavuma sprach immer schmeichelnder und rollte mit den Augen. Er wußte, so einfach war es nicht. Ich hatte Angst, fürchtete mich genauso wie die Lebenden, wenn sie ans Sterben denken. Der Pangolin versprach mir eine mehr-als-vollendete Zukunft. Alles würde sich hier abspielen, auf genau dieser Terrasse, unter dem Baum, neben dem ich begraben lag. Ich sah zum Frangipani und verspürte vorweggewährte Sehnsucht nach ihm. Der Baum und ich glichen einander. Wer hatte je unsere Wurzeln gewässert? Beide waren wir vom Nebeldunst genährte Geschöpfe. Auch der Halakavuma verdankte dem Frangipani einiges. Er wies auf die Terrasse und sagte:

»Dies ist der Platz, wohin die Götter zum Beten kommen.«

Zweites Kapitel

Erste Begegnung mit den Lebenden

Der Mann, in den ich eingetreten bin, ist ein gewisser Izidine Naíta, Inspektor der Polizei. Bedingt durch seinen Beruf, ähnelt er einem Hund: Wo Blut fließt, wittert er Schuld. Ich stecke in einem Winkel seiner Seele und beäuge ihn vorsichtig, damit ich sein Inneres nicht verstöre. Denn dieser Izidine bin jetzt ich. Ich gehe mit ihm, gehe in ihm, gehe ihn. Spreche, mit wem er spricht. Begehre, wen er begehrt. Träume, von wem er träumt.

In diesem Augenblick fliege ich im Auftrag des Staates in einem Hubschrauber. Mein Gastgeber will Wahrheiten darüber aufspüren, wer Vasto Excelêncio getötet hat, den Mulatten, dem das Altersheim São Nicolau unterstand. Izidines Weg wird durch Labyrinthe und über Hürden führen. Mit ihm zusammen reise ich in das Schattenreich der Geistergestalten, Täuschungen und Lügen.

Ich blicke aus den Wolken, in überschwindelnder Höhe. Dort unten, dem Meer zugewandt, steht die alte Kolonialfestung. In ihr befindet sich das Altersheim, wo ich begraben liege. Lustig, daß ich aus den Tiefen direkt zu den Wolken aufgestiegen bin. São Nicolau erscheint als winziger Fleck, für den ein kleines Stückchen Welt genügt. Mein Grab, das ist gar nicht zu erkennen. Von oben betrachtet ist die Festung eher eine Brüchelung, wie ein Gerippe hängt sie über der Böschung am felsigen Strand. Dieses Bauwerk, das die Kolonialherren in Schönheit verewigen wollten, verkam und verfiel. Meine schönen Holzarbeiten, die ich gezimmert hatte, siechten faulend dahin, Wetter und Gischt schutzlos ausgesetzt.