Der Kartograf des Vergessens - Mia Couto - E-Book

Der Kartograf des Vergessens E-Book

Mia Couto

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Beschreibung

Der Dichter Diogo Santiago kehrt in seine Heimatstadt Beira zurück. Alle verehren ihn, doch als er Einsicht erhält in alte Akten der Geheimpolizei, gerät seine Welt ins Wanken. Während der Zyklon Idai drohend über Beira aufzieht, stürzen neue Wahrheiten auf ihn ein. Sein Vater, auch ein Poet, versuchte, im Geheimen die Verbrechen der Kolonialtruppen zu dokumentieren. Sein Cousin, der eines Tages plötzlich verschwand, war nie der, für den ihn alle hielten. Und was steckt hinter der tragischen Legende des schwarzen Jungen und des weißen Mädchens, die den Tod wählten, weil ihre Liebe verboten war? Die junge Frau, mit der sich Diogo rätselhaft verbunden fühlt, scheint Teil dieser Geschichten zu sein. Gemeinsam gehen sie auf die Suche nach Antworten, die unter dem Tosen des hereinbrechenden Sturms alle Gewissheiten vernichten.

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Seitenzahl: 382

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Über dieses Buch

Während ein Zyklon auf die Stadt zurollt, stürzen neue Wahrheiten auf Diogo Santiago ein. Akten der Geheimpolizei berichten von vertuschten Kolonialverbrechen, von der tragischen Legende zweier Liebender und den Geheimnissen seiner eigenen Familie. Unter dem Tosen des nahenden Sturms sucht Diogo nach Antworten, die alle Gewissheiten vernichten.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Mia Couto (*1955) gehört zu den herausragenden Schriftstellern des portugiesischsprachigen Afrika. Mehrere Jahre war er als Journalist und Chefredakteur tätig. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Prémio Camões, dem Neustadt-Literaturpreis und dem Jan-Michalski-Preis.

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Karin von Schweder-Schreiner (*1943) hat in Deutschland und Portugal studiert und mehrere Jahre in Brasilien gelebt. Zu den von ihr übersetzten Autoren aus dem portugiesischen Sprachraum zählen Jorge Amado, Antonio Callado, Bernardo Carvalho, Mia Couto, Rubem Fonseca, Lídia Jorge und Moacyr Scliar.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Mia Couto

Der Kartograf des Vergessens

Roman

Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 2020 bei Editorial Caminho, Alfragide.

Die Übersetzung wurde gefördert durch DGLAB/Cultura und das Instituto Camões, IP - Portugal.

Die Arbeit der Übersetzerin wurde mit Mitteln der VG Wort, des Programms Neustart Kultur und des BKM gefördert.

Originaltitel: O Mapeador de Ausências

© by Mia Couto 2020

Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit der Literarischen Agentur Mertin, Inh. Nicole Witt e. K., Frankfurt am Main

Das Zitat von Fernando Pessao wurde übernommen aus Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares in der Übersetzung von Inés Koebel. © by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2003.

© by Unionsverlag, Zürich 2023

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Mike Goldwater (Alamy Stock Foto)

Umschlaggestaltung: Sven Schrape

ISBN 978-3-293-31117-6

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Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 23.08.2023, 18:11h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

DER KARTOGRAF DES VERGESSENS

VorbemerkungDie mit den Schatten sprechen — Beira, 6. März 2019Das entgleiste Universum — Die Dokumente des PIDE-AgentenAuf Tüchern schreiben — Beira, 7. März 2019Schwüre, Versprechen und andere Lügen — Die Dokumente des PIDE-AgentenEine durchlöcherte Seele — Beira, 7. März 2019Der Körper als Friedhof — Die Dokumente des PIDE-AgentenIn Camila steckt Blei — Beira, 8. März 2019Die Nachrichten — Die Dokumente des PIDE-AgentenDas Schicksal austricksen — Beira, 8. März 2019Warten auf den Weltuntergang — Die Dokumente des PIDE-AgentenDas Chaos bezwingen — Beira und Búzi, 9. März 2019Wenn die Toten nicht sterben, wer gebietet dann über die Vergangenheit? — Die Dokumente des PIDE-AgentenDie Wunderbezähmer — Búzi, 10. März 2019Mit einer Rasse Geborene — Dokumente des PIDE-AgentenEin Wundmal auf der Haut der Zeit — Beira, 11. März 2019Der Abstieg in den Himmel — Die Dokumente des PIDE-AgentenDie das Pulver hören — Inhaminga, 12. März 2019Der Boden des Körpers — Die Dokumente des PIDE-AgentenLange Arme, schmale Schultern — Inhaminga, 13. März 2019Die Schuld der Unschuldigen — Die Dokumente des PIDE-AgentenGestrandete Wolken — Inhaminga, 13. März 2019Die Liebe und andere Lügen — Die Dokumente des PIDE-AgentenDer Zyklon — Beira, 14. März 2019Das letzte Verhör — Beira, 14. März 2019

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Über Karin von Schweder-Schreiner

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Vorbemerkung

Dies ist die Geschichte eines arglosen portugiesischen Dichters und Journalisten, der Beweise für ein Massaker erhält, das die portugiesischen Truppen 1973 in Mosambik verübt haben. Dieser gute, arglose Mann war mein Vater. Zum damaligen Zeitpunkt hatte der Befreiungskrieg die Tore unserer Stadt Beira erreicht. In manchen weißen Vierteln verfielen die Menschen dem Wahnsinn. Damals wurde mir klar, dass Krankheit mitunter das einzige Heilmittel ist. Manche mussten vergessen können, was geschah, um Zukunft zu ermöglichen. Für andere war das, was geschah, schon die Zukunft.

Diese fiktive Erzählung ist durch reale Personen und Ereignisse inspiriert. Mit anderen Worten: Weder die Menschen noch die Daten, noch die Orte in diesem Buch beanspruchen, etwas anderes zu sein als Fiktion.

Ist das Licht, das dort verglimmt, ein Imperium oder ein Glühwürmchen?

Jorge Luís Borges

Die mit den Schatten sprechen

Beira, 6. März 2019

Mein ganzes Leben war eine Vorübung auf das, was niemals eingetroffen ist.

Adriano Santiago

Wir alle haben zwei Schatten. Nur einer ist sichtbar. Aber es gibt Leute, die sprechen mit ihrem zweiten Schatten. Das sind die Dichter. Sie sind so einer, der mit seinem Schatten spricht.«

Das sagt zu mir der Portier am Eingang zum Festsaal. Er wedelt mit einem Gedichtband und bittet mich um eine Widmung. Ich hebe höflich abwehrend die Hände: »Das kann ich nicht, das Buch hat mein Vater geschrieben.«

Der Mann zuckt die Achseln, lächelt und sagt: »Dann sind Sie der Autor.«

Ich schreibe die Widmung, mache mich zu einer Art posthumem Autor. Es sind meine Hände, aber die Schrift ist die meines verstorbenen Vaters. Am liebsten würde ich den Portier umarmen, beherrsche mich aber und gehe zwischen den geschmückten Tischen in den Saal hinein. Einige Leute stehen auf, um mich zu begrüßen. An der Wand hinten im Raum ein Plakat, darauf in riesigen Lettern: Willkommen in Ihrer Stadt, Dichter Diogo Santiago!

Ich denke an die Worte meines Vaters. Ehrungen in kleinen Orten sind wie Ringe an Fingern armer Leute: Der Glanz schürt tödlichen Neid.

Eine schöne Frau kommt auf mich zu.

»Ich heiße Liana Campos, ich moderiere den heutigen Abend.« In ihrer Stimme klingt zaghafte Furcht mit, als machte sie die Nennung ihres Namens wehrlos.

Ich bin in Beira, meiner Geburtsstadt, zu Besuch; auf Einladung einer Universität. Seit meiner Ankunft besuche ich Schulen, treffe mich mit Lehrern und Schülern und spreche mit ihnen über das, was mich am meisten interessiert: Poesie. Ich bin Literaturprofessor, mein Universum ist klein und doch grenzenlos. Poesie ist keine literarische Gattung, sondern etwas Vorsprachliches. Das sage ich in jeder Diskussionsrunde.

In diesen Tagen bewege ich mich in den Orten meiner Kindheit wie durch einen Sumpf – äußerst behutsam. Ein falscher Schritt, und ich riskiere, in dunklen Abgründen zu versinken. Das ist meine Krankheit: Mir sind keine Erinnerungen geblieben, ich habe nur Träume. Ich bin Erfinder von Vergessenem.

Und nun befinde ich mich hier, in diesem Provinz-Festsaal, ein zurückhaltender, schüchterner Mann, Opfer einer öffentlichen Ehrung. Die Wände sind mit Plastikblumen geschmückt, die Säulen mit großen bunten Papierschleifen. Am Kopfende des zentralen Tischs hat man mir einen Stuhl mit hoher Rückenlehne zugedacht, eine Art grotesken Thron. Zu beiden Seiten des Tisches streng hierarchisch platziert, mustern mich die Würdenträger mit einer Mischung aus herablassender Freundlichkeit und räuberischer Neugier.

Nichts ermüdet mich mehr als feierliche Veranstaltungen mit ihren endlosen steifen Gesprächen. Ich gehe auf die Bühne, um meine Rede vorzutragen. Die beiden Seiten vorzulesen, bereitet mir mehr Mühe, als ich beim Niederschreiben hatte. Ich habe den Text rund zwanzigmal umgeschrieben. Nicht, weil ich die richtigen Worte nicht fand. Sondern weil ich mich selbst nicht fand. Und jetzt entschließe ich mich, frei zu sprechen. Ich bin krank, ich bin ein Schriftsteller, dem die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, abhandengekommen ist. Mir ist in dieser Situation danach, diese Schwäche einzugestehen.

Nach den Reden und weiteren Formalitäten beginnt das Tanzen. Liana fordert mich auf, ich verweigere mich entschieden. Bei der ersten Gelegenheit verdrücke ich mich zum Ausgang und gebe vor, zu telefonieren. Der Portier spricht mich an und reibt sich die Hände, als mache er sich Mut.

»Haben Sie gesehen, werter Dichter?«, fragt er. »Unsere Frauen mit afrikanischen Tüchern um den Kopf?«

»Sieht schön aus«, bemerke ich.

»Nur verbergen sich unter diesen afrikanischen Tüchern leider chinesische Perücken. Oder wohl eher indische.«

Ich lehne mich an die Tür, schließe kurz die Augen und seufze. Der Portier kommt zu mir herüber, freundlich wie eine Katze. Um die laute Musik zu übertönen, spricht er dicht an meinem Ohr.

»Müde, werter Dichter?«, fragt er. »Was soll ich dann erst sagen, der ich seit über vierzig Jahren hier arbeite? Ich verrate Ihnen etwas: Diese Feste sind genauso wie die Feste der Kolonialherren früher …«

»Für Sie hat sich nichts geändert?«

»Für mich?«, der Portier verdreht die Augen, als suche er die Antwort im Dunkeln. »Eines hat sich geändert: Früher existierte ich nicht; heute bin ich unsichtbar.«

»Sie ahnen nicht, mein Guter, wie sehr ich Sie um diese Unsichtbarkeit beneide.«

Liana kommt zum Rauchen auf den Vorplatz und schließt sich der Unterhaltung an. Sie sieht schön aus. Der Portier zieht sich so diskret zurück, dass er sich gar nicht zu bewegen scheint. Liana lädt mich ein, woanders etwas trinken zu gehen.

»Ich kann nicht«, sage ich. »Ich bin ein Mann von ungewissem Alter.«

Sie erklärt lachend, sie liebe Ungewissheiten. Liana zufolge müsste sich dieses Land »Ungewissheit« nennen. Schließlich gehe ich auf ihren Vorschlag ein. Bitte sie lediglich, allein voranzugehen, um keinen Verdacht zu wecken. Ich warte ein paar Minuten ab, ehe ich den Vorplatz überquere. Der Portier begleitet mich noch ein paar Schritte.

»Ich mische mich nicht gern ein«, flüstert er, »aber seien Sie bitte vorsichtig mit der Dame.«

»Warum?«

»Sie ist sozusagen etwas eigenartig«, sagt er, den Blick auf die Schuhe gerichtet.

»Inwiefern eigenartig?«

»Es gibt Dinge, die wir nicht erklären können«, antwortet er zögerlich. »Sie, Senhor, der Sie Dichter sind, können Sie die Poesie erklären?«

Ich verabschiede mich und will schon gehen, da empfiehlt der Portier mir, die Straßenseite zu wechseln. Auf dieser Seite liege ein toter Vogel.

»Merkwürdig«, sagt er und schiebt den Vogel mit der Schuhspitze hin und her. »Das ist ein Kondo. Das sind Vögel, die Unheil ankündigen. Das bedeutet, dass der Sturm von jemandem bestellt wurde.«

»Welcher Sturm?«, frage ich.

»Es soll ein Zyklon kommen. Das sagen sie im Radio.«

Die Unwetterwarnung mag recht haben, aber der Portier täuscht sich. Auf der Straße befindet sich nicht nur ein toter Vogel. Rund ein Dutzend der Vögel, die ich unter dem Namen Hammerkopf kenne, liegen auf dem Pflaster. Eine seltsame Brise haucht ihnen Leben ein, ihre dunklen Federn wirbeln über den Asphalt.

Der Platz, auf dem Liana ihren Wagen geparkt hat, ist jetzt menschenleer. Sie lehnt sich an die Autotür und richtet einen vorwurfsvollen Finger auf meine Brust: »Sie haben meine Aufforderung zum Tanz abgelehnt. Sie haben gesagt, Sie könnten nicht tanzen. Ich wette, Sie sind so einer, der nur vorgibt, unbeholfen zu sein, um auf sich aufmerksam zu machen. Kommen Sie, jetzt tanzen wir, wir haben Musik, es ist dunkel, wir haben uns.«

Sie lehnt sich an mich, umfängt meine Taille mit ihren langen, schlanken Armen.

»Was ist?«, fragt sie erstaunt, weil ich mich nicht rühre. »Sagen Sie nicht, Sie hätten keine Beine, ausgerechnet Sie, der die Wörter so zum Tanzen bringt? Entspannen Sie sich, Professor, das Geheimnis des Tanzes ist, sich vom Körper zu lösen.«

»Man beobachtet uns«, sage ich.

Liana wiegt die Hüften im Rhythmus der Musik, die aus dem Saal dringt. Ihre Lippen streifen mein Gesicht, während sie leise verrät: »Ich bin schwarz, ich bin tanzend zur Welt gekommen.«

»Schwarz?«, sage ich ungläubig lachend.

»Das glauben Sie nicht?«, fragt Liana. »Geben Sie mir Ihre Hand.«

Widerstrebend füge ich mich, sie führt meine Finger in ihr Haar. Etwas beschämt ziehe ich meine Hand zurück.

»Fühlen Sie es?«, fragt Liana. »Merken Sie sich eins: Die Rasse zeigt sich im Haar.«

Die Rasse zeigt sich im Kopf, möchte ich eigentlich erwidern, sage aber nichts. Ich hatte schon keinen Körper mehr, es fehlte noch, dass ich auch die Sprache verlor. Nach einer Weile finde ich den rettenden Satz: »Ich bin müde, Liana. Bitte setzen Sie mich bei meinem Hotel ab.«

»Fürchten Sie sich vor dem Sturm?«, fragt sie in ironischem Ton. »Seien Sie unbesorgt. Stürme, die als so gefährlich angekündigt werden, treten nie ein.«

Noch am späten Abend wird mir überraschend ein Karton ins Hotelzimmer gebracht. Ich öffne ihn auf dem Bett. Getippte Dokumente, Fotografien, alte Papiere voller Notizen. Ganz obenauf liegt ein farbiges Blatt, ein Brief an mich.

Verehrter Professor,

mein Großvater war jener Inspektor der PIDE, der vor über vierzig Jahren Ihren Vater verhaftet hat. Die Dokumente in diesem Karton sind Unterlagen über den Vorgang. Sie können sie behalten, diese Vergangenheit gehört nicht mir. Mein Großvater hat die Papiere über all die Zeit aufbewahrt, als wären sie der einzige lebendige Teil seines Lebens. Am Ende seiner Tage hat er mich gebeten, mich darum zu kümmern. Wie Sie wissen, wurden die Archive der PIDE in Mosambik gleich nach dem Sturz des Kolonialregimes verbrannt. Diese Dokumente sind kostbare Relikte jener so traurigen Zeit. Passen Sie gut darauf auf. Ich hoffe, sie sind Ihnen nützlich.

Ihre Bewunderin

Liana Campos

Ich sortiere die Unterlagen auf der Bettdecke, lege als Erstes die offiziellen Dokumente der PIDE (Berichte, Briefe, Aussagen-Protokolle, Telegramme) auf einen Haufen. Dann auf einen anderen die persönlichen Schriften (Tagebücher verschiedener Angehöriger, Aufzeichnungen und Gedichte meines Vaters). Auf das Kissen lege ich Briefe und andere von mir geschriebene Texte.

Wie gern würde ich vor den Erinnerungen fliehen, aber jetzt liegt die Vergangenheit vor mir ausgebreitet auf meinem Bett.

Im Laufe der Nacht lese ich meine alten Briefe. Ich sehe, wie die Schrift sich verändert hat, und denke: Die Schrift ist Teil des Körpers, die Buchstaben haben mit den Jahren Falten bekommen. Da ich nicht schlafen kann, setze ich mich an den Computer und stelle fest, dass Liana online ist. Meine Finger sind Geister, die schläfrige Tasten wecken.

Ich: »Noch wach?«

Liana: »Ich kann nicht schlafen. Ich könnte mir vorstellen, das Paket, das ich Ihnen geschickt habe, raubt auch Ihnen den Schlaf. Haben Sie es schon geöffnet?«

Ich: »Das Problem wird sein, es wieder zu schließen.«

Liana: »Ich gestehe, dass ich gezögert habe, Ihnen das alles zu geben. Diese Dokumente waren meinem Großvater heilig.«

Ich: »Lebt er noch?«

Liana: »Ich glaube, er hat nie gelebt. Ich bin seine einzige Enkelin. Ich habe gelernt, mich dieser Vergangenheit zu schämen, denn da es seine ist, ist sie auch Teil von mir. Es ist ungerecht, eine Vergangenheit zu erben. Als würde uns die Zeit an den Füßen festgebunden. Wie oft habe ich daran gedacht, diese Papiere zu verbrennen.«

Ich: »Zum Glück haben Sie es nicht getan. Dieses Material wird in mein nächstes Buch eingehen.«

Liana: »Haben Sie mich um Erlaubnis gefragt?«

Ich: »Sie haben mir nur zurückgegeben, was mir gehört.«

Liana: »Ich muss noch etwas gestehen: Ich habe Ihnen nicht alles gegeben, was mein Großvater hinterlassen hat.«

Ich: »Und warum?«

Liana: »Weil ich fürchte, dass Sie mich dann nicht mehr sehen wollen. Kleiner Spaß. Aber im Ernst: Sie behaupten, die Vergangenheit sei immer erfunden. Kommen Ihnen keine Zweifel an der Echtheit dieser Papiere?«

Ich: »Die Dokumente der Polizei sind auf amtlichem Papier getippt. Und was meine eigenen Aufzeichnungen betrifft, an denen ist nicht zu rütteln …«

Liana: »Sie ahnen gar nicht, was man heute alles fälschen kann.«

Ich: »Glauben Sie, ich würde meine eigene Schrift nicht wiedererkennen? Es ist meine, aber tatsächlich habe ich häufig Mühe, das Geschriebene zu entziffern. Die meisten Papiere haben unter der Feuchtigkeit gelitten …«

Liana: »Keine Sorge, ich habe von allem Kopien gemacht. Und die Kopien sind besser lesbar als die Originale. Ich schlage Ihnen etwas vor: Sie wählen die Seiten aus, ich tippe sie ab, und Sie bekommen alles digital.«

Ich: »Ich wage nicht, einen solchen Aufwand von Ihnen zu erbitten.«

Liana: »Ich mache das gern. Ich möchte Schriftstellerin werden. Ich habe Sie schon einmal gefragt, aber Sie haben nicht geantwortet: Warum sind Sie in Ihre alte Heimat gekommen?«

Ich: »Mein Arzt hat gesagt, dieser Besuch würde meine Erinnerungen erträglicher machen. Ich muss um meine Eltern trauern.«

Liana: »Da kann ich helfen.«

Ich: »Wie das?«

Liana: »Das erfahren Sie dann. Eine letzte Frage: Sind Sie verheiratet?«

Ich: »Das weiß ich nicht.«

Liana: »Wieso wissen Sie das nicht?«

Ich: »Ich bin vor Monaten ausgezogen, habe meine Frau verlassen. Ich bin bei einem Freund untergekommen, er ist Arzt. Am nächsten Tag weckte mich der Freund mit den Worten: ›Ich mache mir Sorgen, Diogo. Ausgezogen bist nicht du, sondern deine Frau. Sie hat dich verlassen. Du bist krank, Diogo‹, sagte er. ›Sehr krank.‹«

Ich schalte den Computer aus und nehme ein kleines Buch mit dem Titel Ein Porträt auf der Suche nach Gesichtszügen aus dem Karton. Es sind Gedichte meines verstorbenen Vaters. Ich halte mir das Buch an die Wange, atme den Geruch des Papiers ein, rieche an der Zeit, wie man an der Kleidung Abwesender riecht. Ich denke an den Tag zurück, an dem die faschistische Polizei in unser Haus kam und ebendieses Buch konfiszierte. Ich war wohl sieben Jahre alt, als es klopfte. Draußen standen zwei Männer in Anzug und Krawatte und wedelten mit ihren Hüten wie Fächer.

»Polizei. Wir müssen den Dichter sprechen.«

»Polizei?«, fragte meine Mutter. »Warum sind Sie nicht in Uniform?«

Der eine machte Anstalten, einen Ausweis zu zeigen, doch der andere – offenbar der Chef – hielt ihn davon ab und wiederholte in gemessenem Ton: »Wir sind von der Polizei. Ist Ihr Mann da?«

»Er ist im Arbeitszimmer und hält seinen Mittagsschlaf«, erklärte meine Mutter. »Aber Sie können hineingehen.«

»Wir sollen ihn wecken?«

»Ja, das ist besser. Bei mir bekommt er sehr schlechte Laune.«

Die beiden Männer traten ein und gingen den bis an die Decke mit Bücherregalen bestückten Flur entlang. Hinter ihnen hatte sich bereits eine Prozession von Neugierigen gebildet. Zuerst meine Mutter, dann folgten meine Großmutter, mein Cousin Sandro und ich. Den Abschluss bildete Benedito, der junge Schwarze, der hinten in unserem Haus wohnte und den wir immer als unseren Hausboy vorstellten.

Auf dem großen Sofa im Arbeitszimmer lag bäuchlings schlafend mein Vater. Der Inspektor ging im Raum herum, blieb dann stehen und betrachtete ausführlich das Regal. Er zog mehrere Bücher sowie ein paar Vinylplatten heraus und sagte: »Die gehen mit!« Vom Tisch nahm er ein weiteres Buch in die Hand und las den Titel laut vor: »Ein Porträt auf der Suche nach Gesichtszügen. Das nehmen wir auch mit. Mir ist jetzt nach Gedichten.«

»Dieses Buch bleibt hier!«, protestierte mein Vater, immer noch liegend und mit geschlossenen Augen.

»Das Buch kommt mit, und Sie auch.«

Sie führten meinen Vater in seinem verschlissenen gestreiften Pyjama durch den Flur zur Tür. Dahinter als jammerndes Gefolge meine Familie. Und meine Mutter, eher neugierig als bedrückt: »Sie nehmen ihn mit? Lassen Sie ihn wenigstens anständige Sandalen anziehen.«

Als letzten Versuch, inzwischen auf der Türschwelle, rief Dona Virgínia, bemüht, nicht unhöflich zu klingen: »Das alles wegen einem Buch? Vielleicht geht es nur um Druckfehler?«

Die Raben krächzen schon seit einiger Zeit in den Kokospalmen vor dem Hotel. Wenn alle Vögel Botschaften überbringen, dann überbringen diese Raben Botschaften von jemandem, der sehr erbost über die Menschheit ist. Ich gebe vor, sie nicht zu hören, während ich Lianas Papiere auf dem Tisch ordne. Dann, zu meiner eigenen Überraschung, mache ich das Bett, wobei ich teils mit den Laken, teils mit meiner Müdigkeit kämpfe. Meine Mutter hat zur Erklärung der Schlafstörungen meines Vaters eine Theorie aufgestellt. »Euer Vater«, sagte sie, »kann nicht schlafen, weil er sein Bett nicht macht und die Laken weder wäscht noch auf die Leine hängt. Das ist nicht seine Schuld, verdorben hat ihn seine Mutter.« Dann fügte sie stets an: »Was kann reizvoll daran sein, sich in ein Bett zu legen, das fremde Hände gemacht haben?«

Ich lege mich wieder hin, rolle mich zusammen wie ein Pangolin, so nehme ich jedes Lager in Beschlag. Ich denke an die Nacht zurück, in der mein Vater starb. Er war gerade ins Krankenhaus eingeliefert worden, und als ich mich zu ihm ins Bett legte, wo er mit dem Tod rang, öffnete er die Augen zu einem Spalt, lächelte und schloss sie wieder. Mit hauchdünner Stimme fragte er: »Hast du Angst?« »Nein«, antwortete ich. Nach einer Weile glaubte ich, er sei eingeschlafen, und machte Anstalten, mich zurückzuziehen. »Geh nicht«, sagte er mit geschlossenen Lidern, »bleib noch ein bisschen.« Er streckte die Hand nach mir aus, drückte mir seine Finger in den Arm. Es war, als ginge seine Haut in meine über. Als er starb, wusste ich nicht, welche seine Finger waren und welche meine. Nun beherrschen seine Gesten die Hände, die ich, einer Illusion erlegen, für meine eigenen halte. Wegen dieser nicht möglichen Abwesenheit habe ich nie gelernt, ihn zu vermissen. Anders gesagt, ich vermisse meinen Vater lediglich dann, wenn ich mir selbst abhandenkomme.

Ich werfe einen Blick durch die Vorhänge und verliere die Lust, hinauszugehen. Vom Fenster aus höre ich die Muschel- und Fischverkäuferinnen ihre Ware anpreisen. In der Nähe hat sich eine Gruppe Muslime vor einer Moschee versammelt. Zu meiner Zeit gab es in dieser Gegend keine Muslime. Einer sieht mich am Fenster und winkt freundlich. Ich winke zurück, dann ziehe ich die Gardinen vor. Traurige Ironie: Ich bin hierhergereist, um die Erinnerungen an meine Stadt aufzufrischen, bleibe aber im Hotel, womöglich aus Angst, feststellen zu müssen, dass mein Leben auf falschen Annahmen beruht. Mich lähmt die Befürchtung, meine Vergangenheit nicht wiederzufinden, vor allem aber die Vorstellung, eine Stadt zu erleben, die ich letztlich überhaupt nicht kenne.

Ich nehme eine Tablette, gehe an den Schreibtisch, ordne die Papiere, werfe einen Blick in den Computer, kehre zurück ans Fenster. Jemand hat einmal geschrieben: Wenn wir nicht mehr wissen, was wir mit uns selbst anfangen sollen, sind wir alt. Wieder sehe ich nach, ob Liana online ist. Das ist sie nicht, aber sie hat eine E-Mail geschickt:

Verehrter Professor,

heute frühmorgens habe ich die Liste der Papiere erhalten, die Sie ausgesucht haben, und inzwischen bin ich mit dem Abtippen schon recht weit. Die ersten fünf Dateien schicke ich Ihnen noch heute. Die von Ihnen handschriftlich vorgenommene Nummerierung und die Titel habe ich beibehalten.

Jetzt muss ich diese Arbeit unterbrechen und zur Universität fahren. In der heutigen Veranstaltung geht es um Erinnerung und Literatur. Ihre Definition des Schriftstellers als Erfinder von Vergessenem gefällt mir. Aber ich möchte sie nicht auf mein Leben anwenden. Ich bin knapp über vierzig, ich fühle mich noch jung; die Vergangenheit bedeutet mir mehr als die Zukunft. Es mag befremdlich wirken, dass alte Dinge mir lieber sind, aber wir, Menschen meiner Generation, leben in einer Zeit ohne Zeit. Verstehen Sie? Es ist wie zurückblicken, aber keinen Boden sehen. Ich brauche Ihre Geschichten, Ihre Erinnerungen, um sie zu meiner Vergangenheit zu machen. Dass sie erfunden sind, spielt keine Rolle. So ein Traumbild ist immer besser als eine leere Zeit, die ich geerbt habe wie eine Krankheit. Deshalb, verehrter Professor, setzen Sie bitte Ihre Maulwurfsarbeit fort und graben Tunnel in den Erdboden der Zeit. Ich werde die unterirdischen Gänge bereisen. Ich bin als Waise bei Pflegeeltern aufgewachsen. Sie haben mich so gut behandelt, wie sie konnten. Aber das Wichtigste haben sie mir nicht mitgegeben: Geschichten. Ich bin auf der Suche nach diesen Geschichten wie eine Blinde auf der Suche nach dem Abbild ihres Körpers.

Herzliche Grüße

Liana Campos

PS: Wenn Sie eine Stadtführerin brauchen, sagen Sie Bescheid. Ich kenne diese Stadt gut. Leider kennt auch die Stadt mich gut.

PPS: Sie haben gesagt, dass Sie den Begriff »E-Mail« nicht mögen. Dass Ihnen der Begriff »Brief« lieber ist. Für Sie braucht die Post die langsame Bewegung der Hände auf dem Umschlag, die feuchten Lippen auf der Briefmarke. Schreiben ist, ich zitiere Sie, wie Kleider nähen. Man braucht Zeit, die Zeit für runde Bewegungen. Entschuldigen Sie, aber das ist Dichter-Geschwätz. Und es ist schade, dass Sie nicht mit mir getanzt haben. Ich vermute, weil Sie damit die Worte Ihres Vaters beherzigt haben, die größte Kunst des Dichters bestehe darin, Gelegenheiten ungenutzt verstreichen zu lassen.

Es ist frühmorgens, und ich kann nicht schlafen. Ich öffne die Vorhänge mit einem Ruck. Auf die Schreibtischplatte fällt ein Schatten, der einem aufgeschlagenen Buch ähnelt. Ein riesiger Nachtfalter hat sich draußen auf der Fensterscheibe niedergelassen. Ich sehe ihn mir etwas näher an. Mich fasziniert, wie dieses Lebewesen erschaffen wurde, um die Dunkelheit auszutricksen, seine nächtlichen Farben, der Gleichmut einer Kreatur, die in derselben Nacht entsteht und stirbt. Vielleicht weiß dieser Falter nicht, dass sein Leben über Nacht aus ihm entwichen ist.

Und ich denke: Er leistet mir in meiner Schlaflosigkeit Gesellschaft. Dann schalte ich den Computer ein, um auf Liana Campos’ letzte Nachricht zu antworten.

Liebe Liana,

ich habe gerade Ihre Nachricht gelesen, noch halb verschlafen, aber schon vom Krächzen der Raben gereizt. Allmählich glaube ich, Sie brauchen nicht Schriftstellerin zu werden, Sie sind es schon. Und mit der Maulwurf-Metapher hatten Sie eine Eingebung. Die Polizei der Kolonialmacht nannte die Gruppe von Intellektuellen und Dichtern, die sich in unserem Haus trafen, »Weiße Maulwürfe«. Sie heckten fantasievolle Pläne aus, um das Regime zu stürzen. Mein Vater war sehr stolz auf diesen Namen: Die Weißen Maulwürfe.

Eines Tages wurde im Stadtteil Manga im Garten einer befreundeten Familie Jagd auf echte Maulwürfe gemacht. Männer durchwühlten mit Stöcken die Erde, wo die Maulwürfe an der Oberfläche ihre Spuren hinterlassen hatten. Sie schwangen die Stöcke wie Lanzen und stießen dabei wildes Kriegsgeschrei aus. Das alles war gespielt, bis auf die für sie selbst überraschende Rage. Sie richtete sich nicht gegen die kleinen Tiere. Ihre Wut entsprang ihrer eigenen Ohnmacht gegenüber einer dunklen Welt, die sich unterhalb ihrer Füße regte.

Seitdem kommen mir die Maulwürfe immer wieder in den Sinn. Diese unsichtbaren Bergarbeiter sind die Kehrseite eines Spiegels, sie brauchen die Dunkelheit zum Sehen, und wenn sie den nahenden Tod spüren, kommen sie an die Oberfläche. Es ist das Licht, das sie begräbt. Die Maulwürfe verwirklichen den Traum der Toten: auf ewig dem Grab entsteigen.

Ich bin nicht nur auf der Suche nach der Vergangenheit in meine Stadt zurückgekehrt. Ich bin auf der Suche nach einem Mittel gegen meine Depression. Vielleicht hatte mein Vater recht. Zu meiner Zeit, sagte er, nannte man eine Depression Unglücklichsein.

»Fahr in deine Heimatstadt«, hat mein Arzt gesagt. »Fahr dahin zurück, um dich von den Gespenstern deiner Kindheit zu befreien.«

»Und woher weiß ich, dass ich befreit bin?«, habe ich gefragt.

»Wenn du spürst, dass es keine Rückkehr mehr gibt.«

Als Kind, sagte mein Vater, verabschieden wir uns nicht von den Orten. Wir denken, dass wir immer wieder zurückkommen. Dass es niemals das letzte Mal ist. Orte sind wie Bücher – sie existieren erst, wenn wir sie zum zweiten Mal lesen.

Herzlich,

Diogo Santiago

Das Zimmermädchen möchte mein Zimmer aufräumen. Ich frage, ob es stört, wenn ich solange im Raum bleibe. Sie antwortet mit einem schüchternen Lächeln und ordnet das Chaos im Zimmer, während ich feststelle, dass Liana mir schon die ersten Dateien geschickt hat. Sie hat, meinem Vorschlag entsprechend, mit der Fahrt nach Inhaminga angefangen, über die ich als Jugendlicher in meinem Tagebuch berichtet habe. Wir schrieben den Monat Februar 1973, und mein Vater hatte gerade einen Brief von seinem portugiesischen Freund Faustino Pacheco erhalten, der sich selbst als »in der Wolle gefärbter Kommunist« bezeichnete. Überbracht wurde der Brief von unserem alten Hausangestellten, der so langsam ging, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, er könnte in seinen Hosentaschen revolutionäre Handlungsanweisungen für meinen Vater, den Dichter Adriano Santiago, verbergen.

Und jetzt blickt mich hier diese ganze Vergangenheit an. Ich sitze am Schreibtisch, den Computer vor mir. Meine Augen leuchten, sind aber leer. Es wird Mittag, und ich sitze immer noch vor dem Bildschirm.

Das entgleiste Universum

Die Dokumente des PIDE-Agenten

Die größte Ignoranz besteht nicht darin, nicht lesen, erzählen oder schreiben zu können. Sondern darin, nicht zu wissen, warum wir am Leben sind.

Adriano Santiago

Dokument Nr. 1

Brief des Genossen Faustino Pacheco an meinen Vater

Beira, 16. Februar 1973

Genosse Adriano Santiago,

ich begrüße deinen Mut, in einer so turbulenten Zeit nach Inhaminga zu fahren. In der vergangenen Woche haben dort in der Gegend Guerilleros der Frente de Libertação einen Zug der Trans-Zambezia-Railways überfallen. Für uns portugiesische Kommunisten, solidarisch mit dem Kampf für die Unabhängigkeit von Mosambik, war der Überfall ein bedeutender Erfolg. Mein Hausboy gab dazu folgenden Kommentar ab: Die Welt ist ein Zug, der in Inhaminga entgleist ist. Und er hat vollkommen recht.

Uns erreichen Berichte, dass vom Militär der Kolonialmacht zur Vergeltung entsetzliche Gräueltaten an der schwarzen Bevölkerung verübt werden. Diese Verbrechen müssen nachgewiesen und entsprechend angeprangert werden. Du bist ein erfahrener Journalist. Du musst die barbarischen Taten in Wort und Bild dokumentieren. Gemeinsam werden wir Mittel finden, die grausige Nachricht im Ausland zu verbreiten, da dies im portugiesischen Einflussbereich ja nicht möglich ist. Das ist fraglos die wichtigste und riskanteste Aufgabe, die wir zu erfüllen haben. Vorwärts, mein lieber Genosse! Ich weiß, dass du nicht als militanter Parteigenosse behandelt werden möchtest, dein Kampfmittel ist die Dichtung. Aber lass mich dir sagen, dass die Portugiesische Kommunistische Partei dir für diese wertvolle Hilfe auf ewig dankbar sein wird.

Die in Inhaminga ansässigen holländischen Missionare werden dir die Türen zur Wahrheit öffnen. Diese Priester sind unentbehrlich, aber lass dich nicht täuschen: Priester sind Priester, die sind ganz anderen Anliegen verpflichtet als wir. Sie sprechen im Namen der leidenden kleinen Leute, gaukeln ihnen aber etwas vor, indem sie ihnen das himmlische Paradies versprechen. Ich bin der Sohn von Republikanern, ich habe eine unverbesserliche antiklerikale Ader geerbt.

Hier ein paar Ratschläge: Erstens, lass dich nicht einschüchtern. Die führenden Militärs sprechen, als gehöre ihnen die Welt. Ich habe schon Kriegsschauplätze gesehen, ich weiß, wie das abläuft. Die militärischen Einsätze sind auf den Millimeter genau geplant, damit sie nie wie geplant stattfinden. Mach deshalb aus Journalismus eine militärische Operation: Bring den fernen Ort – wo alles geschehen kann, ohne dass jemand davon erfährt – in die Stadt, wo man alles weiß, vor allem das, was nie geschehen ist.

Ich weiß, dass du deinen Sohn Diogo mitnehmen willst. Das ist, versteht sich, deine ganz persönliche Entscheidung. Wir jedoch haben beschlossen, dass auch dein Hausboy, dieser Benedito, mitfahren soll, als dein Dolmetscher. Denn da in der Gegend sprechen nicht viele Portugiesisch.

Geh keine unnötigen Risiken ein, lieber Genosse. Ich bin es leid, dir zu sagen: Dein größter Feind sind nicht die anderen. Was dir im Wege steht, ist deine poetische Ader. Ich weiß schon jetzt, dass du dich in Tagträumen und kleinbürgerlicher Rührseligkeit verlieren wirst. Lass die Poesie beiseite. Davon werden alle profitieren. Zuallererst die Poesie.

Sei fest umarmt von deinem Genossen

Faustino Pacheco

PS: Zusammen mit dieser Nachricht schicke ich dir den Entwurf des privaten Manuskripts, an dem ich, wie du weißt, seit Monaten sitze. Bitte nutz deine freien Stunden, um meinen Text zu kommentieren und zu bereichern. Ich weiß, dass es düster anmuten kann, aber es ist mein Wunsch, meine eigene Grabrede schriftlich zu hinterlassen. Das Leben eines Kommunisten ist in dieser leidvollen Zeit wie ein Faden, der jeden Augenblick reißen kann. Mich treibt keinerlei Eitelkeit. Aber wenn schon mein Leben mir nie gehört hat, möchte ich zumindest Herr über meinen Tod sein. Hast nicht du diesen Satz geschrieben?

Dokument Nr. 2

Die Fahrt nach Inhaminga (Auszug aus meinem Tagebuch)

Beira, 18. Februar 1973

Am frühen Morgen riss mein Vater mich abrupt aus dem Schlaf: »Beeil dich, ich will noch bei Tageslicht ankommen!« Er zog mich eilig an und schob mich zum Auto, wo auf dem Rücksitz unser Hausboy Benedito Fungai mit einem Koffer auf dem Schoß wartete.

»Da sind deine Sachen«, sagte mein Vater.

»Verabschieden wir uns nicht von Mutter?«

»Wer sich von deiner Mutter verabschiedet, riskiert, dass er nie loskommt«, antwortete mein Vater, während er sich mit Kennermiene über den Motor beugte.

Er tat, als inspiziere er das Auto. Alle wussten, dass mein Vater nicht nur ein miserabler Fahrer war, sondern auch keine Ahnung von Mechanik hatte. Aber da stand er in männlicher Pose, in der Hoffnung, dass die Nachbarn ihn nun ein wenig mehr respektierten.

»Mutter bittet, wir sollen nach Cousin Sandro suchen«, erklärte ich Benedito, der offenbar nicht verstand, was vor sich ging.

»Wir fahren in ein Kriegsgebiet«, sagte mein Vater. »Nicht dass ihr denkt, das hier wäre ein gemütlicher Ausflug.«

Und dann brachen wir auf zu einem Ziel, das von den drei Insassen des Autos nur ich nicht kannte. Wir ließen die Stadtteile Esturro, Manga und Munhava hinter uns und dann die Viertel, deren Namen die Stadt nicht kennt. Benedito betrachtete die Landschaft, während ich aus Sorge wegen der Fahrkünste meines Vaters die Straße fest im Blick behielt. Erst als wir die Brücke über den Punguè passierten, wurde unser Ziel verkündet.

»Wir fahren nach Inhaminga!«, teilte mein Vater mit.

Es klang, als seien wir auf dem Weg zum Ende der Welt. Er drehte sich zu uns um und forderte Benedito auf, noch einmal zu erklären, was der Ortsname bedeute. »Hast du nicht gestern gesagt, Inhaminga bedeute Stadt der Stachel? Das kann aber nicht sein, mein Lieber. Eine Stadt ist wie eine Frau, und die sind zum Umarmen gemacht.« Benedito bestand auf seiner Erklärung, sprach aber so leise, dass nur ich ihn hören konnte: »Der Ort, zu dem wir fahren, besteht nur aus Stacheln. Nicht einmal Tiere legen sich da hin.« Da er Beneditos Bemerkung nicht gehört hatte, sagte mein Vater in fast kindlichem Ton: »Inhaminga, Inhaminga! Weißt du noch, Diogo, wie unser Sandro als Kind bockig war?«

Ja, ich erinnerte mich gut an die resolute Ankündigung meines Cousins: »Ich hau ab, nach Inhaminga!« Damit drohte er immer, wenn ihm etwas nicht passte. Sandro war Vollwaise und lebte bei uns wie ein älterer Bruder. Ihn umgab ein Geheimnis, das ich nie lüften konnte. Sandro hatte keine Vergangenheit, alles löste sich auf in einem fernen, vagen Autounfall, bei dem seine Eltern ihr Leben verloren hatten. Sandro teilte das Zimmer mit mir, aber er war still wie ein Schatten.

»Armer Sandro, weiter weg hätte es ihn wohl nicht verschlagen können«, klagte mein Vater. »Und jetzt steckt der arme Kerl in einer Uniform im Busch von Inhaminga und weiß nicht, wohin sie ihn bringen und ob er jemals wieder zurückkommt.«

In Afrika gibt es keine Entfernungen. Nur Tiefe, tief im Land. So dachte mein Vater. »Inhaminga ist nicht weit weg«, erklärte er beim Fahren. »Nur tief im Land, sehr tief.«

Inhaminga ist Beneditos Geburtsort. Er hatte uns noch überreden wollen, seinen Bruder mitzunehmen, der vor einem Jahr mit ihm nach Beira geflohen war. Sie waren aus den geschlossenen Siedlungen entkommen, die von den portugiesischen Behörden gebaut worden waren. In der Stadt arbeitete Beneditos Bruder Jerónimo als Hausboy bei unseren Nachbarn, den Sarmentos.

Am Morgen hatten sich die beiden Brüder, jeder mit einem kleinen Bündel, schon vor den ersten Sonnenstrahlen vor unserem Haus eingefunden. Mein Vater weigerte sich, Beneditos Bruder mitzunehmen, und brachte zur Begründung eine rätselhafte Erklärung vor: »Das hier ist kein Ausflug, es ist eine Mission.«

Unser Hausboy wollte seinen Bruder dabeihaben, weil die Fahrt ihm Angst machte. Ginge es nach ihm, würde er nie mehr einen Fuß in seinen vom Krieg so verwüsteten Geburtsort setzen.

Vielleicht lag es an dieser Angst, dass er die ganze Fahrt über schwieg. Er betrachtete die Landschaft, als wäre sie Teil seiner Vergangenheit. Sobald wir die Brücke über den Rio Punguè passiert hatten, begann mein Vater, laut Gedichte aufzusagen. Dabei schwenkte er einen Arm, denn ihm zufolge trugen wir alle die Stimme in den Händen. »Das ist alles, was ich deiner Mutter bieten kann, Worte und Verse«, murmelte er verlegen. »Aber deine Mutter versteht das nicht, sie ist viel zu praktisch.« Und zu mir gewandt, bat er: »Du musst mit deiner Mutter mal darüber sprechen.«

Den Kopf auf Beneditos Bein gebettet, schlief ich ein. Tiefe Entfernungen glitten vorüber, tausend Verse lösten sich aus den Armen meines Vaters, bis ich vom Zuschlagen der Autotür aufwachte. Ich sah mich um, wir standen mitten in der Wildnis. Der Motor schwieg, das Auto war kaputt. Ich betrachtete die Sandpiste bis über den Horizont hinaus, als zerteilte sie den Himmel in zwei Hälften. Mein Vater hatte die Motorhaube geöffnet und starrte mit unwissenden Augen auf die Eingeweide des Autos. Ab und zu klopfte er mit einem Stein auf ein beliebiges Teil. Er wusste, wie nutzlos das war. Weit und breit war niemand, den er hätte beeindrucken können. Er stieg wieder ein und rief Benedito, der die Piste nach Spuren absuchte. Im Auto waren wir sicherer.

»Haben wir Angst vor Tieren oder vor Menschen?«, fragte ich.

»Tiere oder Menschen, das macht hier keinen Unterschied«, antwortete Benedito.

Wir saßen eine Ewigkeit still und schweigsam da, bis mein Vater die nervösen Hände auf das Lenkrad legte und feststellte, das sei keine Panne. Der Motor wolle nur etwas ausruhen. Sehr bald wären wir wieder unterwegs. Alle hatten ihn kritisiert, als er den Gebrauchtwagen gekauft hatte. Aber er hatte das Auto gern, denn es führte ihn, wie er sagte, durch die Stadt, wie man einen Hund spazieren führt. Das Auto sollte ihm nicht dienen, sondern Gesellschaft leisten.

»Und mein Freund«, sagte er und streichelte erneut das Lenkrad, »hat mich noch nie im Stich gelassen.«

Inzwischen wurde es so heiß, dass uns selbst das Atmen anstrengte. Wir dämmerten langsam weg, als eine Detonation uns wieder aufschreckte. Mein Vater war so aufgeregt, dass er entgegen seinem eigenen Rat aus dem Auto stieg und, die Hände schützend auf den Ohren, die Straße hinab- und wieder hinauflief. »Das ist der Krieg, der verdammte Krieg«, schimpfte er unablässig. Benedito erklärte, die Detonation komme von dem Steinbruch bei Muanza. Aber mein Vater hörte nicht zu. »Ich bin mitten in den Krieg gefahren, wo hatte ich bloß meinen Kopf?«, brüllte er. »Die wollen, dass ich eine Reportage mache? Ich bin ein Mann der Bücher, meine besten Reportagen habe ich gemacht, ohne das Haus zu verlassen, ohne irgendwo hinzugehen, ohne mit jemandem zu sprechen. Das ist alles ganz falsch, diese Trottel!«, schrie mein Vater.

Mir kam der Verdacht, sein Geist habe unter der Hitze gelitten. Ich wartete ab, bis er wieder einstieg, bevor ich ihn vorsichtig ansprach.

»Ist das der Krebs, Vater?«

»Welcher Krebs?«

»Deine Krankheit, Vater.«

»Ach, dieser Krebs«, er lachte, »der Krebs, den gab es nur in meinem Kopf.«

»In deinem Kopf, Vater?«

»Damit meine ich, den habe ich mir ausgedacht.«

Vor einem Monat hatte er die furchtbare Krankheit verkündet. Wie in so vielen anderen Nächten wartete meine Mutter darauf, dass er nach Hause kam. Um zwei Uhr nachts hörten mein Cousin Sandro und ich Geschrei und liefen zur Küche. Durch einen Türspalt sahen wir meine Mutter, die wütend gestikulierte.

»Herrje, Adriano, schämst du dich denn überhaupt nicht mehr, um diese Zeit nach Hause zu kommen«, schimpfte sie. »Ganz zu schweigen davon, dass du nicht zur Arbeit gehst, vom Parfüm in deinen Kleidern und noch anderes, was ich mich schäme auszusprechen.«

Der kurzsichtige Blick meines Vaters suchte einen Spalt in der Decke. Dann strich er mit den Fingern über die Tischplatte, als müsste er seinen Mut zusammennehmen.

»Du hast recht, Virgínia«, sagte er. Und fügte mit gesenktem Kopf hinzu: »Es gibt etwas, das ich vor dir verheimliche.« Meine Mutter sah ihn streng an: »Dann wirst du es mir sagen, und zwar alles und jetzt. Wenn es das ist, was ich denke, wirst du noch heute ausziehen. Und wenn du es nicht sagst, siehst du mich nie wieder. Du hast die Wahl.«

Mein Vater hob die Arme, als suchte er nach den richtigen Worten. Schließlich verkündete er mit einem tiefen Seufzer: »Ich habe Krebs, Virgínia.«

»Krebs?«, stammelte meine Mutter ungläubig.

Mein Vater ließ die Arme langsam sinken und erklärte: »Ja, und in weit fortgeschrittenem Stadium.« Meine Mutter schüttelte den Kopf, den Blick zu Boden gerichtet. Es sah aus, als wollte mein Vater sie berühren, es sich dann aber doch anders überlegte.

»Ich wette, es ist Lungenkrebs«, sagte meine Mutter.

»Ich gebe das Rauchen auf, Virgínia. Noch heute höre ich auf.«

Tränen tropften auf den Tisch. Mein Vater wischte sie ebenso sorgfältig weg wie sonst die Wasserränder der Gläser.

»Was du machst, Adriano, das ist nicht rauchen«, schluchzte meine Mutter. »Du rauchst so gierig, dass man den Rauch gar nicht sieht. Du rauchst nicht, du wirst von der Zigarette geraucht. Gierig wie ein Teenager.«

Plötzlich weinte mein Vater zusammen mit seiner Frau, als finge er allmählich an, seine eigene Lüge zu glauben. Und er hustete die ganze Nacht, während meine Mutter zum heiligen Blasius betete, dem Schutzheiligen der Brustkrankheiten. Seit dieser Nacht rauchte er nicht mehr.

Während wir da mitten auf der Landstraße standen, grinste mein Vater und zwinkerte mir kaum merklich zu. »Den Krebs habe ich mir ausgedacht, mein Sohn«, sagte er noch einmal verlegen.

Im selben Augenblick bewahrheitete sich seine Prophezeiung: Der Motor sprang wieder an. Mein Vater verstand nichts von Mechanik, aber er verstand die Launen seines alten Autos. Zu unserem Unglück begann er wieder mit dem Deklamieren von Gedichten. »Dieses Auto braucht Gedichte als Antrieb«, erklärte er. Am Lenkrad der Dichtung spüre er weder die Hitze noch die Erschöpfung, wie er im Brustton der Überzeugung eines Propheten erklärte. Der Dichter Adriano Santiago war ein glücklicher Mann, so glücklich, dass er nicht einmal wusste, dass er lebte.

Dokument Nr. 3

Internes Schreiben der PIDE/DGS

Beira, 19. Februar 1973

An den

Brigadeleiter Gorgulho,

Unterabteilung Inhaminga

Veranlassen Sie unverzüglich, die speziellen Verfahren zur Kommunikation mit Pater Januário Fungai, unserem Informanten bei der Mission der holländischen Pater, zu aktivieren. Wir haben erfahren, dass der Journalist Adriano Santiago Beira verlassen hat und Kontakt zur Kirche in Inhaminga aufnehmen wird. Unser Agent Pater Januário soll sämtliche Bewegungen beobachten und berichten, was ihm merkwürdig vorkommt, und vor allem, was ihm nicht merkwürdig vorkommt.

Sämtliche Telefonate der holländischen Missionare werden von unserem Agenten bei der Post der Stadt Beira abgehört. Handlungsanweisungen wurden an das Heer übermittelt, damit in diesen Tagen die Operation »Hungriger Schakal« fortgesetzt wird, jedoch in wesentlich gemäßigterer Form.

Und lassen Sie vorübergehend Häuptling Capitine frei. Er ist Vater des Hausboys vom Journalisten und Bruder von Pater Januário. Für uns ist von Nutzen, dass der Journalist Kontakt zu dem Häuptling hat, diesem wirren Burschen, der völlig schamlos mal uns, mal dem Feind zu Diensten ist. Wir werden vorgehen wie beim Angeln: Wir geben dem Fisch Leine, damit er den ganzen Köder schluckt.

Leiter der Unterabteilung Beira

Inspektor Óscar Campos

Dokument Nr. 4

Die Fahrt nach Inhaminga (Auszug aus meinem Tagebuch)

Beira, 18. Februar 1973

Der Soldat stand mitten auf der Landstraße, die Waffe hoch über den Kopf erhoben. Mein Vater hielt respektvoll an und drehte das Seitenfenster herunter.

Der Soldat schob den Kopf durch die Öffnung und blickte ins Wageninnere. Über sein Gesicht perlten dicke Schweißtropfen. Er knurrte: »Mit dem Jungen da fahren Sie in Inhaminga besser nicht über den Dorfplatz.«

»Und warum nicht?«, fragte mein Vater.

»Es gibt Sachen, die sollte ein Junge in dem Alter nicht sehen.«

»Ich habe zwei Jungen im Auto.«

»Ihre Entscheidung. Aber sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«

Er trat zurück und gab den Weg frei. Ein Fahrzeug mit einem Lautsprecher auf dem Dach kam an uns vorbei und rief »die weißen Portugiesen« zu einer Demonstration vor dem Posten auf. Längs der Bahnlinie saßen schwarze und weiße Soldaten, alle mit den Waffen auf den Knien. Auf den Schienen saßen auch weiße Frauen mit Sonnenschirmen in der Hand. Mein Vater erklärte: Das sind Ehefrauen der streikenden Angestellten der Trans-Zambezia-Railways. Sie haben aus Protest die Gleise besetzt.

Mein Vater fuhr langsam weiter, parallel zur Bahnlinie. Laut Benedito würde uns dieser Weg zur Zementfabrik von Muanza führen. »Das alles gehört Champalimaud«, bemerkte mein Vater. Der Unternehmer besaß die Minen, die Fabrik, die Plantagen, die Sägereien. Alles in der Hand eines einzigen Mannes. Und laut meinem Vater war unschwer zu erkennen: Mit dem Bau des Staudamms von Cabora Bassa fügten sich alle diese Unternehmen wie die russischen Puppen zu einem Ganzen ineinander.

»Ein ganzer Haufen an Unternehmen«, sagte mein Vater. »Ein Haufen Scheiße!«

Benedito hielt sich die Hände vors Gesicht, um sein Grinsen zu verbergen. Der Patrão war offenbar außer sich, dass ihm so ein unanständiges Wort rausrutschte.