Das schlafwandelnde Land - Mia Couto - E-Book

Das schlafwandelnde Land E-Book

Mia Couto

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Beschreibung

In einem ausgebrannten Autobus quer zur Straße richten sich der alte Tuahir und der junge Muidinga ein. Die beiden erzählen einander ihre Erlebnisse, und Muidinga liest dem Alten aus dem Tagebuch vor, das sie im Gepäck eines Toten am Straßenrand fanden. Zwischen Tuahir, Muidinga und dem Schreiber entfaltet sich ein Geschichtenzyklus voller Wunder und Überraschungen. Inmitten von Grausamkeit und Zerfall haben sie sich ihre Träume, ihre Zärtlichkeit und Liebe bewahrt.

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Seitenzahl: 325

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Über dieses Buch

In einem ausgebrannten Autobus richten sich der alte Tuahir und der junge Muidinga ein. Die beiden erzählen einander ihre Erlebnisse, und Muidinga liest dem Alten aus dem Tagebuch vor, das sie im Gepäck eines Toten fanden. Zwischen Tuahir, Muidinga und dem Schreiber entfaltet sich ein Geschichtenzyklus voller Wunder und Überraschungen.

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Mia Couto (*1955) gehört zu den herausragenden Schriftstellern des portugiesischsprachigen Afrika. Mehrere Jahre war er als Journalist und Chefredakteur tätig. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2013 mit dem Prémio Camões und mit dem renommierten Neustadt-Literaturpreis 2014.

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Karin von Schweder-Schreiner (*1943) hat in Deutschland und Portugal studiert und mehrere Jahre in Brasilien gelebt. Zu den von ihr übersetzten Autoren aus dem portugiesischen Sprachraum zählen Jorge Amado, Antonio Callado, Bernardo Carvalho, Mia Couto, Rubem Fonseca, Lídia Jorge und Moacyr Scliar.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Mia Couto

Das schlafwandelnde Land

Roman

Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel Terra sonâmbula bei Editorial Caminho, Alfragide.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1994 im Verlag dipa, Frankfurt am Main.

Die Übersetzung wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.

Originaltitel: Terra sonâmbula (1992)

Die erste Ausgabe dieses Werks im Unionsverlag erschien am 20.2.2014

© by Mia Couto 1992

Vermittelt durch die Literarische Agentur Mertin, Inh. Nicole Witt

© by Unionsverlag, Zürich 2019

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: zabalotta

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30834-3

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 10.02.2019, 23:09h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

Unsere Angebote für Sie

Inhaltsverzeichnis

DAS SCHLAFWANDELNDE LAND

1 Die tote Straße

Kindzus erstes Heft Die Zeit, als die Welt unser Alter hatte

2 Die Buchstaben des Traums

Kindzus zweites Heft Ein Grab im Dach der Welt

3 Der bittere Geschmack des Manioks

Kindzus drittes Heft Matimati, das Land des Wassers

4 Siqueletos Lehre

Kindzus viertes Heft Die Tochter des Himmels

5 Der Flussmacher

Kindzus fünftes Heft Schwüre, Versprechen, Täuschungen

6 Die alten Schänderinnen

Kindzus sechstes Heft Rückkehr nach Matimati

7 Frauen erträumende Hände

Kindzus siebtes Heft Ein betrunkener Führer

8 Das Seufzen der Züge

Kindzus achtes Heft Quintinos Erinnerungen

9 Trugbilder der Einsamkeit

Kindzus neuntes Heft Virgínia wird vorgestellt

10 Die Sumpfkrankheit

Kindzus zehntes Heft Im Lager des Todes

11 Wellen, die Geschichten schreiben

Kindzus letztes Heft Die Schriftseiten der Erde

Worterklärungen

Mehr über dieses Buch

Über Mia Couto

Henning Mankell: Die Formel der Träume

Über Karin von Schweder-Schreiner

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Es hieß, dieses Land wandle im Schlaf.

Denn während die Menschen schliefen,

bewegte sich das Land

durch Raum und Zeit.

Beim Aufwachen erblickten seine Bewohner

das neue Antlitz der Landschaft

und wussten, dass in dieser Nacht

die Traumfantasie bei ihnen gewesen war.

Volksglaube der Bevölkerung von Matimati

Was bringt die Straße in Bewegung? Der Traum.

Während wir träumen, bleibt die Straße lebendig.

Dazu sind die Wege da,

dass wir der Zukunft verwandt werden.

Ausspruch von Tuahir

Es gibt drei Arten von Menschen:

Lebende, Tote und solche, die auf dem Meer wandeln.

Platon

1 Die tote Straße

An dieser Stelle hatte der Krieg der Straße das Leben genommen. Nur die Hyänen schlichen über die Wege, schnüffelten in Asche und Staub. Die Landschaft hatte sich mit einer nie gekannten Freudlosigkeit vermengt, in Farben, die sich an den Mund hefteten. Schmutzige Farben waren es, so schmutzig, dass sie jede Leichtigkeit verloren hatten und nichts mehr von dem Wagnis wussten, sich ins Blau hinaufzuschwingen. Hier war kein Himmel mehr möglich. Und den Lebenden war in ergebener Gewöhnung an den Tod der Erdboden vertraut geworden.

Die Straße, die sich jetzt vor unseren Augen dehnt, kreuzt nicht eine einzige andere. Sie zieht sich länger hin als die Jahrhunderte, nimmt allein die ganze Entfernung auf sich. An den Rändern verrotten ausgebrannte Autos, Überreste von Plünderungen. Einzig die Affenbrotbäume in der Savanne ringsum blicken auf die verdorrende Welt.

Ein alter Mann und ein Junge ziehen die Straße entlang. Sie bewegen sich wankend, als wären sie schon zeit ihres Lebens unterwegs. Sie gehen irgendwohin von nirgendwoher, nehmen den zurückgelegten Weg als nicht gegangen, warten auf Kommendes. Sie fliehen vor dem Krieg, diesem Krieg, der ihr ganzes Land verseucht hat. In der trügerischen Hoffnung, weiter vorn gäbe es eine friedliche Zuflucht. Sie wandern barfuß, ihre Kleidung hat die gleiche Farbe wie der Weg. Der Alte heißt Tuahir. Er ist mager, wirkt wie körperlos. Der Junge heißt Muidinga. Seit er das Flüchtlingslager verlassen hat, geht er voraus. Ein leichtes Hinken fällt bei ihm auf, ein Bein braucht länger für den Schritt. Eine letzte Spur der Krankheit, die ihn noch vor Kurzem fast in den Tod gerissen hätte. Der alte Tuahir hatte sich seiner angenommen, als alle anderen ihn aufgegeben hatten. Der Junge war schon nicht mehr bei sich, eitriger Schleim lief ihm nicht aus der Nase, sondern aus dem ganzen Kopf. Der Alte musste ihm alles neu beibringen: Gehen, Sprechen, Denken. Muidinga hatte sich wieder verkindlicht. Diese zweite Kindheit jedoch war durch die Gebote des Überlebenskampfs verkürzt. Als sie sich auf den Weg machten, war ihm das Singen schon Gewohnheit, und er erfand gelegentlich vergnügte Spiele. Doch in der ständigen Einsamkeit zog der Gesang schließlich eigene Wege. Die beiden Wanderer waren ein Abbild der Straße, matt und aller Hoffnung beraubt wie sie.

Muidinga und Tuahir bleiben vor einem ausgebrannten Autobus stehen. Sie diskutieren, sind sich nicht einig. Der Junge wirft seinen Beutel auf die Erde, weckt den Staub.

Der Alte knurrt: »Und ich sage dir, Junge – wir richten uns hier ein.«

»Hier? In einem ausgebrannten Bus?«

»Du weißt ja nichts, Kleiner. Was verbrannt ist, brennt kein zweites Mal.«

Muidinga ist noch nicht überzeugt. Er schaut in die Weite, alles wirkt leblos. In dieser Gegend, in der so gar nichts leuchtet, ist die Lust vergangen, recht zu haben. Also gibt er nach. Er geht um den Bus herum. Der Bus ist von der Straße abgekommen und steht fast quer zur Piste. Vorn ist er vom Aufprall gegen einen riesigen Affenbrotbaum zerbeult. Muidinga lehnt sich an den Baumstamm und fragt: »Ist es auf der Straße nicht zu gefährlich, Tuahir? Sollten wir uns nicht lieber im Busch verstecken?«

»Ach was. Hier können wir sehen, wer vorbeikommt. Kapiert?«

»Du musst es wissen, Tuahir.«

»Jammern hilft nicht. Bist selbst schuld, oder willst nicht du deine Eltern suchen?«

»Doch. Aber auf der Straße kommen nur die Banden vorbei.«

»Wenn die kommen, stellen wir uns tot. Als ob wir mit dem ganzen Bus umgekommen sind.«

Sie steigen in den Bus. Überall im Gang und auf den Sitzen liegen noch verkohlte Leichen. Muidinga weigert sich weiterzugehen. Der Alte bewegt sich den Gang entlang, sieht sich in allen Ecken um.

»Die haben ordentlich gebrannt. Sieh mal, wie klein sie geworden sind. Als ob das Feuer uns wie Kinder haben will.« Tuahir lässt sich in der letzten Reihe nieder, die vom Feuer verschont geblieben ist. Der Junge ist noch immer ängstlich, wagt sich nicht vor. Der Alte redet ihm zu: »Na los, die Toten sind von den Flammen gereinigt.«

Muidinga nähert sich mit übervorsichtigen Schritten. Dieser Ort ist vom Tod befleckt. Tausend Zeremonien wären nötig, den Bus davon zu säubern.

»Mach nicht so ein Gesicht, Junge. Die Toten sind beleidigt, wenn wir uns vor ihnen ekeln.«

Muidinga legt seinen Beutel auf eine Bank. Er setzt sich und sieht sich die unversehrte Ecke an. Dach, Sitze, Lehnen sind da.

Der Alte hat sich schon unerschrocken zum Ausruhen hingelegt. Mit geschlossenen Augen sagt er träge: »So ein bisschen Schatten tut gut. Seit wir aus dem Lager geflohen sind, hab ich mich nicht ausgeruht. Willst du nicht den Schatten nutzen?«

»Komm, Tuahir, wir tragen die Leichen raus.«

»Und warum? Stinken sie?«

Der Junge antwortet nicht gleich. Er sitzt zum zerbrochenen Fenster gewandt. Der Alte drängt, er solle sich ausruhen. Seit dem Aufbruch aus dem Vertriebenenlager haben sie keine Rast gemacht. Muidinga dreht sich nicht um. Nur sein Atem ist zu hören, fast geht er in Schluchzen über. Dann flüstert er noch einmal flehentlich – dieser Zufluchtsort solle gereinigt werden. »Bitte, Onkel Tuahir. Ich hab es satt, unter Toten zu leben.«

Der Alte verbessert sofort: »Ich bin nicht dein Onkel!« Und droht: »Nimm dir keine Vertraulichkeiten heraus, Junge.«

»Aber das ist doch nur die Anrede nach alter Tradition«, erwidert Muidinga.

»Bei dir gefällt mir das nicht.«

»Ich sag es nie wieder.«

»Und noch was – warum willst du eigentlich deine Eltern finden?«

»Das hab ich schon so oft erklärt.«

»Ich versteh es aber nicht. Ich will dir was sagen – deine Eltern wollen gar nicht wissen, dass du lebst.«

»Warum nicht?«

»In Kriegszeiten, da sind Kinder viel zu lästig.«

Sie gehen die Toten beerdigen. Nicht weit weg. Sie schaufeln ein einziges Grab, um Kraft zu sparen. Auf dem Rückweg finden sie noch einen Toten. Er liegt am Straßenrand, auf dem Bauch. Er ist nicht verbrannt. Er ist erschossen worden. Sein Hemd ist von Blut durchtränkt, die ursprüngliche Farbe nicht zu erkennen. Neben ihm liegt verschlossen und unangetastet ein Koffer. Tuahir stößt den Toten mit dem Fuß an. Durchsucht seine Taschen, erfolglos, die hat schon jemand geleert. »Nanu, der Kerl stinkt gar nicht. Sie haben den Bus erst vor Kurzem überfallen.«

Der Junge zuckt zusammen. Die Tragödie ist also nicht so lange her, wie er gedacht hat. Die Geister der Toten schwirren noch in der Nähe. Aber Tuahir scheint von solcher Nachbarschaft unbeeindruckt. Sie begraben den letzten Leichnam. Sein Gesicht bekommen sie nicht zu sehen, sie schleifen ihn weg, wie er da liegt, seine Zähne ziehen Furchen in die Erde. Nachdem sie das Loch zugeschüttet haben, zerrt der Alte den Koffer in den Bus. Er versucht, das Fundstück zu öffnen, es geht nicht. Er ruft Muidinga zu Hilfe. »Mach auf, mal sehen, was drin ist.«

Ungeduldig brechen sie das Schloss auf. Im Koffer ist Wäsche, eine Schachtel mit Essbarem. Obenauf verteilt liegen Schulhefte, in unsicherer Schrift vollgekritzelt. Der Alte greift nach der Schachtel mit dem Proviant. Muidinga sieht sich die Hefte an. »Hier, Tuahir. Das sind Briefe.«

»Mich interessiert das Essen.«

Der Junge untersucht den Rest. Seine neugierigen Hände tasten den ganzen Koffer ab. Der Alte weist ihn zurecht, er soll alles lassen, wie es war, und den Kofferdeckel schließen. »Nimm nur das Papierzeug raus. Damit können wir Feuer machen.«

Der Junge nimmt die Hefte heraus. Er legt sie unter seinen Sitz. Anscheinend will er die Papiere nicht zum Feueranzünden opfern. Gedankenverloren bleibt er sitzen. Währenddessen versinkt draußen alles in Nacht. Es herrscht urwüchsige, blinde Finsternis. Muidinga blickt in die Dunkelheit und erschauert. Es ist eine Schwärze, die selbst die Raben nicht schlucken. Als wären sämtliche Schattengeister zur Erde herabgekommen. Die Angst lässt ihre Fühler über die Brust des Jungen wandern, der sich eingerollt wie ein Tausendfüßler hinlegt. Im Bus kehrt Stille ein, alles ist düsteres Schweigen.

Später erhebt sich ein anhaltendes, fast nicht wahrnehmbares Wimmern. Es ist Muidinga, er weint.

Der Alte steht auf und schimpft: »Hör auf zu weinen!«

»Aber mir ist traurig zumute …«

»Wenn du so weinst, rufst du die Geister. Sei still, oder ich treib dir die Traurigkeit mit Prügeln aus.«

»Wir kommen nie mehr von hier weg.«

»Doch, ganz bestimmt. Irgendwann passiert irgendwas. Und der Krieg hört auf. Dann wird die Straße gleich voll mit Menschen, mit Lastwagen. Wie in der alten Zeit.« Jetzt friedlicher, legt der Alte dem Jungen den Arm um die zitternden Schultern und fragt: »Hast du Angst vor der Dunkelheit?« Muidinga nickt. »Dann mach draußen ein Feuer.«

Der Junge steht auf und blättert in den Papieren, er scheut sich, ein beschriebenes Blatt zu zerreißen. Schließlich reißt er von einem Heft den Deckel ab. Damit zündet er das Feuer an. Dann setzt er sich neben die Feuerstelle, legt die Hefte zurecht und fängt an zu lesen. Stotternd tastet er sich Buchstabe für Buchstabe an den ungelenken Linien voran. Er lächelt zufrieden wie über eine Eroberung. Er liest sich ein, wird gewandter.

»Was machst du, Junge?«

»Ich lese.«

»Stimmt, hatte ich vergessen. Du kannst lesen. Dann lies laut, damit ich einschlafen kann.«

Der Junge liest vor. Seine Augen strengen sich mehr an als seine Stimme, die langsam und sorgfältig die Buchstaben zu Lauten formt. Dass er früher lesen konnte, daran erinnert er sich erst jetzt. Diese Fähigkeit hatte der alte Tuahir, der die Buchstaben nicht kennt, in ihm nicht wiedererweckt.

Der Mond geht auf, wie von Muidingas Stimme gerufen. Das Mondlicht breitet sich über all die Dunkelheit. Silbrig lauscht die Straße der Geschichte, die aus den Heften dringt: »Ich will berichten von den Zeiten …«

Kindzus erstes Heft Die Zeit, als die Welt unser Alter hatte

Ich will berichten von den Zeiten in ihrer ruhigen Ordnung, entsprechend den Erwartungen und dem Erlittenen. Aber die Erinnerungen fügen sich nicht, wollen nichts sein oder möchten mich der Gegenwart rauben. Lasse ich die Geschichte angehen, lösche ich mich selbst aus. Am Ende dieser Aufzeichnungen werde ich wieder ein Schatten ohne Stimme sein.

Ich heiße Kindzu. So nennt man die kleinen dünnen Palmen, jene, die sich an den Stränden biegen. Wer kennt sie nicht, mit ihrer Reue, dass sie gewachsen sind, ihrem Sehnen nach dem flachen Erdboden? Mein Vater hat mich für diesen Namen ausgesucht, zu Ehren seiner einzigen Vorliebe – Sura trinken, den Wein der Palmen. So war der alte Taímo, ein einsiedlerischer Fischer. Anfangs wartete er noch ab, bis die Zeit den Schnaps bearbeitet hatte, betrieb sorgfältig das verbotene Gären und Brennen. Später nicht mal das – da schnitt er einfach die Palmschösslinge, lag mit offen gespitztem Mund und ließ die Tropfen in die Lippenmuschel fallen. Auf diese Weise würde kein Cipaio ihm die Kehle würgen – er brannte nie Sura. Schön ist das Leben, hieß sein Rat, wenn du die Mango lutschst, ohne die Frucht zu schälen.

Zwischendurch rief er uns, damit wir seinen ausgefallenen Einfällen lauschten. Seine Geschichten ließen unseren Erdenwinkel wachsen, bis er größer als die ganze Welt war. Keine Erzählung hatte ein Ende, der Schlaf brachte seinen Mund vor dem Schluss zum Verstummen. Dann nahmen wir uns seines schlafschweren Körpers an. Wir legten ihn nicht ins Haus, ein gemachtes Bett hatte er immer abgelehnt. Seine Vorstellung war, dass der Tod uns holt, wenn wir auf der weichen Matte liegen. Sein Lager war der nackte Boden, wo auch der Regen sich gern niederlässt. Wir legten ihn einfach an die Hauswand. Dort blieb er bis zum Morgen. Dann war er von Ameisen übersät. Anscheinend mochten die Insekten den süßlichen Schweiß des alten Taímo. Das Kribbeln des Ameisenvolks auf seiner Haut spürte er gar nicht.

»Pfui Teufel! Ich schwitz schlimmer als eine Palme!«

Beim Aufwachen redete er unsinniges Zeug. Wir schüttelten die unermüdlichen Ameisen von ihm ab. Taímo schüttelte uns ab, ihn störte, dass wir uns um ihn kümmerten.

Mein Vater litt an Träumen, lief nachts mit überwachem Blick umher. Da er draußen schlief, merkten wir nichts. Am nächsten Morgen rief meine Mutter uns zusammen: »Kommt her, Papa hat einen Traum gehabt!«

Und wir versammelten uns, keiner fehlte, um die Wahrheiten zu hören, die ihm offenbart worden waren. Taímo erhielt über die Ahnen Nachricht aus der Zukunft. Er machte so viele Weissagungen, dass die Zeit nicht reichte, auch nur eine sich bewahrheiten zu lassen. Ich fragte mich, ob der Alte wirklich solche Gesichte hatte, er war doch so ein Geschichtenerzähler.

»Dass ihr nicht dran zweifelt«, warnte Mama ahnungsvoll.

So verlief unser Kinderdasein lange Zeit. In diesen Jahren hatte noch alles Sinn – der Grund für diese Welt lag in einer anderen unerklärlichen Welt. Die Ältesten bildeten die Brücke zwischen den beiden Welten. Ich erinnere mich, dass mein Vater uns eines Tages rief. Als ginge es wieder um so eine Versammlung, wo er von den Farben und Ausmaßen seiner Träume erzählte. Aber nein. Dieses Mal hatte der Alte Krawatte, Anzug und Schuhe mit Sohle angezogen. Seine Stimme fantasierte nicht in Wahnvorstellungen. Er verkündete eine Tatsache – die Unabhängigkeit des Landes. Damals wussten wir gar nicht, was diese Mitteilung wirklich bedeutete. Aber in der Stimme des Alten lag eine so tiefe Ergriffenheit, als hätten sich all seine Träume erfüllt. Er rief meine Mutter, fasste an ihren vollmondrunden Bauch und sagte: »Dieses Kind soll Vinticinco de Junho heißen.«

Vinticinco de Junho, Fünfundzwanzigster Juni, das war als Name zu viel. Schließlich wurde aus dem Jungen nur Junho. Oder, in verkleinerter Form, Junhito. Meine Mutter bekam keine Kinder mehr. Junhito war das letzte in ihrem Leib.

Die Zeit trottete in sanfter Trägheit dahin, als der Krieg kam. Mein Vater sagte, die Wirren kämen von außerhalb, von jenen, die ihre Privilegien verloren hatten. Anfangs hörten wir nur vage, was sich in der Ferne zugetragen hatte. Dann kamen die Schießereien immer näher, und das Blut breitete sich in unseren Ängsten aus. Der Krieg ist eine Schlange, die uns mit unseren eigenen Zähnen beißt. Ihr Gift floss jetzt in allen Strömen unserer Seele. Tags gingen wir nicht mehr hinaus, nachts träumten wir nicht. Der Traum ist das Auge des Lebens. Wir waren erblindet.

Allmählich merkte ich, dass unsere Familie wie ein auf den Boden geworfener Tonkrug zerbrach. Dort, wo ich immer Zuflucht gefunden hatte, war nichts mehr. Wir waren ärmer denn je. Junhito traten die Knie aus den Beinen hervor, schon das Atmen machte ihn müde. Wir konnten kein Feld mehr bestellen. Meine Mutter ging frühmorgens mit der Hacke los, begab sich aber zu keinem Stück Land. Sie blieb diesseits der Micaias, die den Hof säumten. Blickte von dort auf das Früher. Ihr Körper magerte ab, ihr Schatten wuchs. Bald würde dieser Schatten so groß werden wie das ganze Land.

Selbst für uns, die wir etwas besaßen, verfiel das Leben elendiglich. Wir alle verloren den Mut, nur mein Vater nicht. Er begrüßte unsere Lage mit den Worten: Armut ist unsere beste Verteidigung. Als wäre das Elend der neue Herr, für den wir arbeiteten. Zum Lohn erhielten wir Schutz vor bösen Absichten der Banditen. Der Alte verkündete zufrieden: »Das ist gut so! Wer nichts hat, weckt nirgends Neid. Keine Türen zu haben ist die beste Wache.«

Meine Mutter schüttelte den Kopf. Sie lehrte uns, Schatten zu sein, mit keiner anderen Hoffnung, als vom Körper zur Erde zu gelangen. Es war eine stumme Lehre, sie saß nur da mit angewinkelten Beinen, ein Knie auf dem anderen.

Nach und nach wurden wir anders, unkenntlich. Wie sehr wir uns verändert hatten, das merkte ich, als sie den kleinsten Bruder aus dem Haus verbannten. In der Nacht davor hatte mein Vater einen seiner Wahnträume gehabt. Dieses Mal jedoch hatten wir alles miterlebt, ihn vom Fenster aus wie von Sinnen durch den Wald laufen sehen. Sein Schreien hallte im Zimmer, die Dunkelheit verstärkte das Brüllen noch. Nur Junhito lag zusammengerollt auf seiner Matte und kam nicht ans Fenster. Und wir taten, als glaubten wir dem Kleinen, als er sagte: »Das ist nicht der Vater, das sind die schrecklichen Tiere.« Wir gingen wieder zu Bett, fanden keinen Schlaf mehr.

Am Morgen rief uns Mutter. Ernst setzten wir uns. Meinem Vater hing der Kopf auf die Brust. Schlief er noch? So saß er eine Weile, als wartete er auf die Wörter. Als er uns endlich ansah, erkannten wir seine Stimme kaum.

»Einer von uns wird sterben.« Und er brachte sogleich Gründe vor – unsere Familie hatte noch keinen Blutstropfen im Krieg vergossen. Nun waren wir bald an der Reihe. »Der Tod wird hier Rast machen, das weiß ich ganz gewiss«, verkündete der alte Taímo. »Und entrichten wird diesen Blutzoll einer von euch, meine Kinder.« Er blickte mit seinen roten Augen in die Runde, auf unsere geduckten Schultern. »Der da. Der da wird sterben!« Er wies auf Junhito, unseren kleinsten Bruder. Wir zuckten alle zusammen, mein Brüderchen hatte nicht verstanden, wovon die Rede war. Seit er fast ertrunken war, hörte er nicht mehr gut. Wasser war ihm tief in die Ohren gelaufen, sodass sie nie wieder frei wurden. Er hatte sich geschüttelt, die Ohren getrocknet – nichts. Das Wasser blieb drin, wir hörten es in seinem Kopf gluckern. Ich musste die Worte meines Vaters für ihn wiederholen. Junho verkroch sich angstzitternd in meinen Armen. Mit erhobenem Stock gebot der Alte dem allgemeinen Jammer Einhalt. »Still! Ich will keine Heulduselei. Ich hab schon über das ganze Problem nachgedacht. Ab jetzt lebt Junhito im Hühnerstall!«

Er ließ seinem Befehl Anordnungen folgen: Der Kleine sollte an Leib und Seele einem Huhn ähnlich werden. Wenn die Banden kamen, würden sie ihn nicht mitnehmen. Ein Huhn war ein Tier, das keine brutalen Grausamkeiten auslöste. Meine Mutter hatte noch einen Einwand – Berichte von Einbrüchen in Hühnerställen gab es genug. Mein Vater schnalzte gereizt mit der Zunge und machte kurzen Prozess – das sei die einzige Möglichkeit, Vinticinco de Junho zu retten.

Von diesem Tag an lebte mein kleiner Bruder nicht mehr im Haus. Mein Alter machte ihm einen Platz im Hühnerstall zurecht. Ganz früh morgens brachte er dem Kleinen bei, wie die Hähne zu krähen. Es dauerte, bis er den Ton traf. So mancher Morgen verging, dann krähte Junhito perfekt, in einen Federsack gehüllt, den meine Mutter ihm genäht hatte. Anscheinend passte er zu dem Gefieder, er war mit Flöhen übersät.

An den folgenden Abenden erzählte mein Vater keine Geschichten mehr. Zu uns ins Haus drangen nur Nachrichten über Kugeln, Dolche, Feuer. Gemeinsam verzehrten wir uns in kaltem Schweigen.

Mein Vater fragte: »Die Reste – habt ihr sie ihm hingestellt?« Die Frage galt der Mahlzeit für Junhito. Aber Reste, welche Reste kann es von kärglichen Krumen geben? Und doch gab es Reste. Auch wenn unsere Bäuche sich kneifend wanden, von dem Nichts auf unseren Tellern blieb immer noch eine Kleinigkeit übrig.

Junhito geriet uns allmählich aus den Augen, uns war ja verboten, auch nur zu erwähnen, dass es ihn gab. Meine Mutter, selbst sie, fand sich scheinbar ab. Doch ich wusste, dass sie den Hühnerstall heimlich besuchte. Das machte sie in tiefer Nacht. Setzte sich im Dunkeln und sang ein Schlaflied, dasselbe, das uns alle in Schlaf gewiegt hatte. Anfangs sang Junhito mit. Bei seiner Stimme wurden wir traurig, senkten den Blick. Später konnte Junhito die Menschenwörter nicht mehr sprechen. Er kreischte ein paarmal Kikeriii und schob den Kopf unter den Arm. Und so schlief er ein.

Eines Morgens erwachte der Hühnerstall ohne ihn. Für immer fort, Junhito. War er gestorben, weggelaufen, verendet? Niemand erriet es. Die Nachbarn sagten, es sei mein Vater gewesen, er habe im Vollrausch den Hals eines echten Hühnertiers mit dem des Jungen aus seiner eigenen Brut verwechselt. Andere sagten, die Banden hätten den Hühnerstall raubgeplündert, um ihren Hunger zu stillen. Meine Mutter verbarg hinter ihrem Grübelschweigen andere Versionen. Wer weiß, vielleicht hatte sie den Maschendrahtschlag geöffnet und ihren Jungen freigelassen, damit er draußen picken konnte, irgendwo anders?

Das Verschwinden meines Bruders brachte unser ganzes Haus um den Verstand. Am meisten veränderte sich mein Vater. Mit der Zeit gab er alles andere auf, begann und beendete den Tag mit Trinkerei. Sein Boot ruhte in der Düne, das umgekippte Segel sehnte sich nach dem Wind. Mein Alter lehnte am Boot und betrank sich. Als warteten sie beide, Boot und Fischer, auf eine Reise, zu der es nie kam. Sein Körper schrumpfte, bis er kleiner als kläglich war – kraushaarig, schnapsheiß der Atem. Palmwein war sein einziger Inhalt. Eines Tages fanden wir ihn ganz und gar betrunken, er sprach nicht mehr. Rote Schaumblasen quollen ihm aus dem Mund, der Nase, den Ohren. Er entleerte sich wie ein geplatzter Sack, und als er nur noch Haut war, fiel er einem Blatt gleich sanft auf die Erde.

Die Bestattungszeremonie fand auf dem Wasser statt, die Beisetzung in den Wellen. Am nächsten Tag geschah, was kein Mensch sich vorzustellen wagt – das Meer trocknete aus, das ganze Wasser verschwand im Bruchteil eines Augenblicks. Wo vorher das Blau sich dehnte, lag eine Ebene voller Palmen. An jeder einzelnen wölbten sich verführerisch dicke lichtglänzende Früchte. Keine richtigen Früchte, scheinbar waren es goldene Kalebassen, jede tausend Reichtümer schwer. Die Männer stürzten sich in das Tal, liefen mit dem Buschmesser in der Hand voller Vorfreude auf die Himmelsgabe. Da hörte man eine Stimme, die sich in vielfachem Echo erhob, als spräche jede Palme mit unzähligen Mündern. Die Männer hielten noch kurze Augenblicke inne. Erschien ihnen diese Stimme vielleicht im Traum? Für mich gab es keinen Zweifel – das war die Stimme meines Vaters. Die Männer sollten bedenken, dies seien hochheilige Früchte. Seine Stimme bat flehentlich, sie möchten die Bäume verschonen, das Schicksal unserer Welt hänge an zarten Fäden. Wenn nur einer dieser Fäden durchschnitten werde, gerate alles in Unordnung, und es geschehe ein Unheil nach dem anderen. Da fragte der erste Mann den Baum: Warum bist du so unmenschlich? Nur die Stille antwortete. Keine Stimme erklang mehr. Von Neuem warf sich die Menge auf die Palmen. Als aber die erste Frucht geschnitten wurde, brauste die Wasserflut von dem Schlag auf, in Sturzgüssen füllte sich das Meer wieder und begrub alles unter sich.

An diese Überschwemmung denke ich nur im Schlaf zurück. Wie an die vielen anderen Erinnerungen, die mir nur im Traum erscheinen. Als ob meine Vergangenheit und ich abwechselnd schlafen, der eine rastet, während der andere seinen Weg fortsetzt.

Gewiss ist, dass meine Mutter sich nach der Verwitwung düster wie ein dunkler Winkel zurückzog. Wir befragten den Zauberkundigen nach Genauem über den Tod meines Vaters. Womöglich war sein Verscheiden ohne Gültigkeit, so eins, das besonders gebührende Zeremonien verlangt? Der Zauberkundige bestätigte das Seltsame an diesem Tod. Er riet ihr, sie solle ein Haus bauen, weit weg. In diese einsame Wohnstatt müsse sie das alte Boot meines Vaters setzen, mitsamt seinem Mast, seinem trübsinnigen Segel. Von ihm gesagt, von uns getan. Alle vereint, schoben wir den Nachen. Das schwerste Gewicht, das ich je erlebt habe. Das Schieben des Bootes dauerte den ganzen Tag. Mein ältester Onkel dirigierte mit seiner fülligen Stimme den Gesang. Frühabends am Feuer erklärten sie mir die Tradition. Der Grund für das Boot im Haus – mein Vater könnte vom Meer her zurückkehren. Also brachte ich von nun an jeden Abend einen Topf voller Essen zu dem einsamen Häuschen. Am nächsten Tag war der Topf ratzekahl leer.

Manchmal hörte ich, wenn ich mit der Mahlzeit für den Toten durch die Dunkelheit ging, die Hyänen kreischen. Von Angst geschüttelt, kam mir ein Verdacht – waren es vielleicht die Quizumbas, die sich an den Töpfen gütlich taten? Oder trat er, der Verstorbene, als Tier auf, um sich den Bauch zu füllen? Eines Abends, als die Hyänen schrien, sah ich eine Gestalt aus der Hütte kommen. Mein Blick erhaschte nur einen Arm, ganz mit roten Tüchern umwickelt und voller Armbänder mit Amuletten. Ich lief meine Mutter holen. Vor allem wollte ich ihr zeigen, dass es ein anderes Wesen gab, einen anderen Esser ihrer Gerichte. Dass mein Vater ganz gegangen war, das zu beweisen war für mich ein Sieg. Ich trat in das Licht auf dem Hof, hörte meine Mutter leise ein Lied singen. Ich hatte noch nichts gesagt, da kam sie mir schon zuvor: »Das war er! Dein Vater …«

Wusste sie also auch von der seltsamen Gestalt? Bestimmt hatte sie schon vor vielen Nächten gemerkt, dass sie dort umging. Sie jedoch wünschte sich, die Erscheinung sei ihr verstorbener Mann und er habe die Arme voller Bänder. Ich meinerseits gab nicht nach: »Nein, Mutter, das war nicht er!«

Sie summte wieder das Lied. Ich zögerte, lohnte es sich? Die Alte würde meine Zweifel nie gelten lassen. Wer in dieser Welt gibt etwas auf ein Kind? Und ich beließ es dabei. Wenn es eine andere Wahrheit gab, meine Mutter würde es nie bestätigen. Mein Wunsch, die Rückkehr des Verstorbenen zu widerlegen, war wie Regen, der hoch oben auf dem Gipfel der Wolken hängen bleibt. Schließlich hatte meine Mutter sich zu Lebzeiten des Alten ganz in seine Abwesenheit ergeben. Jetzt, nach seinem Tod, sorgte sie weiterhin für den nicht Vorhandenen und kochte für seinen unsichtbaren Hunger. Ich dachte an das Leben dieser Frau, was mir von ihr in Erinnerung war – immer sehr mütterlich Mutter, ewig schwanger, Kind draußen, Kind drinnen. Ferne Erinnerungen, wie sie rote Erde aß, um das Blut im Körper zu halten. Sie trug den Sand in einem kleinen Tontopf, hin und wieder blieb sie stehen und stopfte sich mit vollen Händen Erde in den Mund. Nun benetzten die Tränen auf ihrem Gesicht – dunkle Fenster in ihrem Leben – ihre Worte: »So viele Kinder habe ich gehabt, so viele, viele. Alle sind fort, nur du bist übrig, Kindzu. Ausgerechnet du, der Schlimmste.«

Es stimmte – dass ich geblieben war, brachte ihr nur Leid, Sehnsucht nach den anderen Kindern. Gutwillig hielt ich mich immer fern von ihr, machte es ihr leichter mit mir, der Krankheit ihrer Erinnerungen. Den Tag verbummelte ich, streifte mit den Füßen durch die Wellen, die über den Strand streiften. Früher ging ich gewöhnlich noch zum Pastor Afonso, las seine Bücher, lauschte seinem Unterricht. Aber jetzt mied ich den klugen Lehrer. Meine Seele war ein stehender Fluss, kein Wind beleuchtete das Segel meiner Träume mit Mondschein. Seit dem Tod meines Vaters stehe ich allein, bin verwaist wie eine Welle, Bruder alles Namenlosen.

Während ich ziellos umhertrödelte, hörte ich, wie die Leute sagten: Dieser Kindzu hat die Walkrankheit. Sie sprachen von dem großen Wal, dessen Seufzer den Ozean steigen und sinken lässt. Meine Ähnlichkeiten mit dem Tier weckten Erinnerungen an früher – wir als kleine Kinder, in den Dünen sitzend. Wir lauschten dem Meerrauschen der Wellen am Knick des Horizonts und hofften, den Wal zu sehen. Denn dort erschien er, wenn die Sonne sich auf den Leib der Welt senkte. Plötzlich ließ uns ein lärmendes Geräusch erschauern – das Riesentier begann, das Wasser aufzusaugen! Es schlürfte, bis das ganze Meer geleert war. Wir hörten den Wal, sahen ihn aber nicht. Bis einmal so ein Seegetier riesengroß auf den Strand geschwemmt wurde. Es kam zum Sterben auf den Sand. Atmete mühsam, als schleppte es die Welt auf seinen Rippen. Der Wal lag sterbend, todesschmerzverzerrt. Die Leute liefen herbei, um Fleisch aus ihm zu schneiden, Scheibe um Scheibe kiloschwer. Er war noch nicht tot, da leuchteten schon seine Knochen in der Sonne.

Jetzt war mein Land für mich wie ein solcher Wal, der zum Todeskampf an den Strand kommt. Der Tod war noch nicht eingetreten, und schon raubten die Messer ihm Stücke, jeder wollte das meiste für sich. Als wäre dies das letzte Tier, die allerletzte Gelegenheit, einen Teil abzubekommen. Zeitweilig ist mir, als hörte ich noch ein Seufzen des Riesen, wie er Welle um Welle schluckt und die Hoffnung verebben lässt. Denn ich bin in einer Zeit geboren, in der die Zeit nicht stattfindet. Das Leben, Freunde, verweigert mir den Zutritt. Ich bin zu einem unabänderlichen Ort verdammt, wie der Wal, der am Strand verendet. Falls ich mich eines Tages an einen anderen Ort wage, werde ich die Straße mitnehmen müssen, die mich nicht aus mir fortgehen lässt. So wie es steht, bin ich noch mehr verloren als mein Bruder Junhito.

Der Krieg weitete sich aus und trieb die meisten Menschen von dort fort. Selbst die Zementhäuser in der Kleinstadt, dem Sitz der Distriktsverwaltung, standen jetzt leer. Die von Kugeln durchlöcherten Wände ähnelten der Haut von Leprakranken. Die Banden schossen auf die Häuser, als weckten diese in ihnen Zorn. Womöglich meinten sie nicht die Häuser, sondern die Zeit, diese Zeit, die den Zement und die Wohnhäuser gebracht hatte, die das Leben der Menschen überdauerten. In den Straßen wuchsen Büsche, aus den Fenstern spross Gras. Als holte sich der Urwald jetzt das Gelände, das er allein beherrscht hatte. Man hatte mir immer gesagt, die Stadt stehe dank früherer Mächte, aus der Ferne gekommener Mächte. Ein Haus baut nicht, wer es errichtet, sondern wer es bewohnt. Und jetzt, ohne Bewohner, verrotteten die Zementhäuser wie das aus einem Tier geschnittene Gerippe.

Ein einziger Händler war im Ort geblieben: Surendra Valá, Inder nach Herkunft und Überzeugung. Gern besuchte ich ihn, lauschte seinen Worten, kostete die Düfte in seinem Haus. Er servierte mir sehr kräftige Speisen, solche, bei denen das Auge den Speichel auf die Zunge treibt. Seine Frau Assma hatte die Last der Welt nicht ertragen können. Den ganzen Tag saß sie im Düstern hinter dem Ladentresen, den Kopf an ein Radio gedrückt. Und horchte worauf? Sie hörte Geräusche, keinerlei klare Töne. Aber für sie war hinter diesem Gelärm Musik aus ihrem Indien, Melodien, die ihr Heimweh nach dem Orient stillten. Von den Räucherstäbchen stiegen Rauchwolken auf. Assmas Augen blickten den ziellos tanzenden Düften nach. Eingelullt von den Geräuschen, schlief sie ein. Surendra schaltete am Ende des Tages das Radio aus, auf Fingerspitzen, um seine Frau nicht zu wecken. Der Ladengehilfe Antoninho war mir giftig gesonnen. Er war ein junger dickleibiger Schwarzer mit dunkler Haut. So manches Mal belog er mich an der Tür und sagte, der Chef sei weggegangen. Als neidete er mir, wie ich bei den Indern aufgenommen wurde. Auch meine Familie wollte nicht, dass ich den Laden betrat. »Der ist ein Monhé«, sagten sie, als hätte ich nicht gemerkt, dass er Inder war. Und fügten hinzu: »Ein Monhé kennt keinen schwarzen Freund.«

Jahrelang hatte dieser Mann das genaue Gegenteil bewiesen. Kaum kam ich aus der Schule, lief ich zu seinem Laden. Es war, als träte ich in ein anderes Leben. Da meine Welt so klein war, konnte ich mir keine anderen Ausflüge als diese unerlaubten Besuche vorstellen. Im Laden saß ich zwischen den Waren und vergaß die Zeit, während Surendras lange Hände leicht über die Stoffe strichen. Der Inder schickte mich auf den Weg, wenn ich zu lange blieb. Surendra wusste, dass meine Familie mir diesen Umgang nicht verzieh. Aber er konnte nicht verstehen, warum. Das Problem war nicht er, auch nicht seine Rasse. Das Problem war ich. Meine Familie fürchtete, ich könnte mich von meiner Herkunft abwenden. Sie hatten ihre Gründe. Der erste war die Schule. Oder vielmehr meine Freundschaft zu meinem Lehrer, dem Pastor Afonso. Sein Unterricht ging auch nach der Schule weiter. Von ihm lernte ich anderes Wissen, Zauberwerk der Weißen, wie mein Vater es nannte. Durch ihn wurde meine Liebe zur Schrift geweckt, ich kritzelte Blätter voll, als könnten auf ihnen jene Zaubereien lebendig werden, von denen der alte Taímo sprach. Aber das war ein sogar erwünschtes Übel. Gut sprechen, sehr gut schreiben und vor allem noch besser erzählen. Diese Fertigkeiten sollte ich mir für eine gute Zukunft aneignen. Schlimmer, viel schlimmer war Surendra Valá. Durch den Inder konnte sich meine Seele zu einer minderwertigen Mischung mulattisieren. Das war eine echte Gefahr. So manches Mal ließ ich mich auf Surendras Gefühle ein, erlernte ein neues Herz. Das geschah, wenn der Tag sich neigte und wir, auf der Terrasse sitzend, zusahen, wie die Sonne versank.

»Siehst du, Kindzu? Auf der anderen Seite liegt meine Heimat.«

Und er lehrte mich einen Gedanken: Wir von der Küste seien nicht Bewohner eines Kontinents, sondern eines Ozeans. Surendra und ich hatten eine gemeinsame Heimat, den Indischen Ozean. Und es war, als liefen durch dieses unermessliche Meer die Fäden der Geschichte von uralten Knäueln, in denen unser Blut sich vermischt hatte. Deshalb blickten wir immer in Verehrung auf das Meer – dort befanden sich unsere gemeinsamen Ahnen, trieben hin und und her ohne Grenzen. Hier lag die Wurzel für die Begeisterung, mit der ich in Surendra Valás Laden heimisch wurde.

»Wir sind von derselben Rasse, Kindzu, wir sind Indisch-Ozeanier!«

Er wiederholte lachend: nicht Inder, sondern Indisch-Ozeanier. Ich tat, als fände ich es witzig, lachte aber nur aus Behagen. Solange wir dort saßen und rein gar nichts taten, fühlte ich mich höher geachtet. Über unseren Belanglosigkeiten vergaß Surendra, seine Kunden zu bedienen. Das stärkte mich – noch nie hatte jemand meinetwegen etwas anderesvergessen.

Es geschah eines Nachmittags – der Verwalter eines Nachbardorfs kam. Er stöberte im Laden, die Augen gingen ihm über. Ich sah als Einziger, dass er stahl. Ich gab Surendra Bescheid, der seinerseits den Dieb zur Rede stellte. Der Mann wurde bösbockig, verlegte sich aufs Streiten. Antoninho, der dicke Gehilfe, log und sagte, der Mann sei unschuldig. Er wollte keinen seiner eigenen Rasse verraten, keinem mit anderer Hautfarbe recht geben. Die Gemüter erhitzten sich. Die Glut schürte der Kunde. Surendra blieb ungerührt, verlangte lediglich die Ware zurück. Nun richtete sich der Zorn des Kunden verstärkt und verschärft gegen mich. Der Fremde gab Antoninho Order, er solle mich hinaussetzen, oder die Sache werde nicht mit Reden, sondern mit Schlägen geregelt. Antoninho gehorchte flink und versuchte, mich von hinten zu greifen. Aber Surendra griff ein und machte sich zum Herrn der Lage. Er befahl dem Gehilfen, den unechten Käufer hinauszuwerfen. Antoninho kratzte sich unschlüssig an den Fingern. Der Eindringling ging auf den Inder zu, blähte die Brust bis zum Hals und brüllte Wut und Galle. Spannte Adern und Nerven, dann spuckte er Surendra ins Gesicht. Der Inder blieb erstarrt stehen, der Speichel rann. Obwohl bespien, wirkte er nicht gedemütigt.