Aschenwind und Sommerschnee - Monika Rösinger - E-Book

Aschenwind und Sommerschnee E-Book

Monika Rösinger

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Beschreibung

Wagemutige Wanderschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts Nach einem Vulkanausbruch in Indonesien gelangen Tonnen von Asche nach Europa. Das Klima verändert sich dramatisch, und eine Hungersnot verschärft die ohnehin prekäre Lebenssituation der Bevölkerung. Auch im Toggenburg leiden Menschen. Doch ein Webersohn aus ärmsten Verhältnissen widersetzt sich dem Schicksal. Er bricht auf, nutzt seine Talente und wenigen Möglichkeiten, um sein Glück zu machen. Wenn sich diesem bloss nicht fortwährend ein neues Hindernis in den Weg stellen würde … Ein bewegender Roman über eine wagemutige Wanderschaft und ungewöhnliche Jugend zu Beginn des 19. Jahrhunderts, inspiriert vom Tagebuch «Das Toggenburger Rudeli – eine biographische Skizze aus den letztverflossenen Hungerjahren» von 1825 (Toggenburger Museum, Lichtensteig).

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Monika Rösinger

Aschenwind und Sommerschnee

Roman

orte Verlag

Fremdworte und Mundartbegriffe sind im Glossar (S. 252) erklärt.

Mit Unterstützung von

© 2022 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Brigitte Knöpfel

Umschlagbild: AdobeStock

Gesetzt in Arno Pro Regular

Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn

ISBN 978-3-85830-308-0

ISBN eBook 978-3-85830-309-7

www.orteverlag.ch

Inhalt

Prolog

Tambora

Auf der Schwendi

Ohne Abschied

Auf der Engelschwand

Ins Rheintal

Stadtleben

Vertrieben

Über den Fluss

Bregenz

Im Allgäu

Im «Goldenen Engel»

Ein Rettungsanker

Studentenleben

In Sicherheit

Geborgen

Emerenzia

Gute Tage

Fremdes Zuhause

Festtage

Die Lateinschule

Sehnen

Suche

Umwege

Goldene Sprenkelchen

Rechenschaft

Gottes Wille

Tagein tagaus

Trübe Wochen

Heimlichkeiten

Wieder auf Wanderschaft

Berichte

Sonntagskind

Nobel, nobel

Heimwärts

Wendungen

Verschnaufpause

Über den Pass

Im Roten

Zurück in der Schwendi

Im Weberhaus

Fremd

Im Dorf

Abschied im Guten

Im Moor

Goris

Unverhofft

Gib nicht auf

Auf dem Viehtrieb

Ausgleich

Über den See

Dorette und Elias

Böse Winde, gute Lüfte

Zuversicht

Behäbig

Wiedersehen

Am richtigen Ort

Die Taufe

Glossar

Historische Grundlage

Prolog

In manchen Teilen Europas herrschte Hungersnot. Der Januar 1816 war furchtbar. Das Elend im Tal stieg ins Unermessliche. In den Jahren zuvor war bereits der Tuchhandel zusammengebrochen, die armen Leute hatten keine Reserven. Sie hungerten, und ein böses Nervenfieber raffte Männer und Frauen in den besten Jahren dahin. Reihe um Reihe füllte sich im Gottesacker neben der Kirche. Junge Männer zogen in fremde Kriegsdienste, manche ergaben sich dem Schnaps. Kinder wurden von ihren Eltern auf Betteltour ennet den Ricken oder über die Hulftegg geschickt; viele von ihnen verkamen. Nur einige kehrten zurück, verroht, liederlich und ohne Respekt vor ihren Eltern. Die Obrigkeit beklagte Anarchie und Zügellosigkeit der Bevölkerung. Pfarrer Johann Friedrich getraute sich kaum mehr, zu predigen. Trost boten ihm Briefe von seiner Schwester auf Java.

Tambora

Bencoolen, Mitte April 1816

Mein lieber Bruder

Du weisst, dass ich mich immer über Deine Zeilen freue. Sie lassen die Heimat vor meinem inneren Auge auferstehen, auch wenn sie mir – Dir kann ich es ja sagen – eigentlich kaum fehlt. Nun lebe ich über zwei Jahre in Java. Mein Leben hier ist um vieles angenehmer und leichter als in England oder zu Hause in der Schweiz. Die Herrschaft ist grosszügig. Sir Thomas ist ein Gentleman, ganz der englische Landedelmann eben. Lady Sophie ist freundlich, nie überheblich. Sie sind ein schönes, liebenswürdiges Paar und behandeln mich respektvoll.

Ich muss nie nähen, stricken oder sticken, kochen und waschen – alles Dinge, die ich nie gerne gemacht habe. Das Einzige, was ich hin und wieder vermisse, sind die wechselnden Jahreszeiten. Jetzt, im April, würde ich gerne wieder einmal einen blühenden Apfelbaum sehen. Auch die Schlüsselblumen fehlen mir. Dafür wachsen hier Früchte und Orchideen, die Du Dir gar nicht ausmalen kannst. Ich lege Dir einige Skizzen bei.

Ananas, Mango, Orangen, Papaya, Bananen und Avocados gehören zum täglichen Speiseplan. Auch die Durianfrucht esse ich gerne, obwohl sie übel stinkt. Es ist eigenartig, dass etwas, das so grässlich riecht, derart lecker schmecken kann. Die meisten Früchte sind riesig und wunderbar süss, nicht wie die winzigen Mäuschenoder Schafsbirnen, die wir früher in der Hofstatt des Nachbars stibitzt haben. Den Geschmack mancher Früchte kann ich Dir gar nicht beschreiben, Du müsstest sie selbst kosten. Hier gedeiht alles überbordend. Manchmal wird sie mir fast zu viel, diese Üppigkeit der Natur. In Bencoolen gibt es keine winzigen Leberblümchen, keinen Löwenzahn, keine Weidenkätzchen oder Sumpfdotterblumen wie im lieblichen Thurgau.

Die beiden Mädchen sind reizend. Charlotte ist manchmal launisch, das liegt wohl an ihrem Alter. Ella hat jeden Tag neue Einfälle. Hier dürfen die Kleinen viel länger fröhliche Kinder bleiben als im steifen England. Sie hatten grosses Glück, dass sie nach dem Tod von Sir Thomas’ erster Frau nicht in ein Internat gesteckt wurden und Lady Sophie ihnen eine liebevolle Mutter ist. Ich bin froh für die beiden und natürlich auch für mich, die ich sonst wohl immer noch im nebligen Grossbritannien sässe. Inzwischen lehre ich die Töchter auch Deutsch. Französisch und Englisch stehen sowieso auf dem Stundenplan. Mit dem Personal sprechen Charlotte und Ella Javanisch. Ich bin oft erstaunt, dass die Kinder wie selbstverständlich in vier Sprachen parlieren. Mir bereitet es Freude, dass ich hier heimatliche Laute höre und spreche. Stell Dir vor, an Weihnachten habe ich mit ihnen «Vom Himmel hoch da komm ich her» gesungen und letzte Woche haben wir ein Frühlingslied eingeübt. Die kleine Hausorgel klingt wegen der tropischen Feuchtigkeit immer etwas heiser, aber das stört niemanden. Die Mädchen können sich die Jahreszeiten nicht vorstellen, aber die Bilder mit den blühenden Apfelbäumen und die Zeichnung mit den Haselsträuchern schauen sie gerne an. Johann Friedrich, bei uns regnete es Asche vom Himmel. Alles ist mit einem grauen Schleier überzogen. Die Hausmädchen schimpfen; das Staubwischen gehört nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Aber die Gouvernante – sie ist eine strenge Jungfer aus Schottland – kennt kein Pardon. Ella freute sich an der Staubschicht, denn sie konnte heute Morgen mit dem Finger direkt auf dem Pult schreiben. Mich dagegen kratzt der Hals und kitzelt es in der Nase. Ich weiss nicht, ob von der feinen Asche, die überall eindringt – sogar zwischen die Seiten der Bücher –, oder vom eigenartigen Geruch in der Luft. Zu Hause würden wir sagen, «es seichelet».

Sir Thomas hat mir erklärt, es seien Salpetergase, die starke Winde hergetragen haben. Ein Vulkan ist ausgebrochen, zum Glück weit weg, ungefähr 800 Kilometer westlich von uns. Er heisst Tambora, liegt auf der Insel Sumbawa und hat wohl die ganze Bevölkerung das Leben gekostet. Der Schreiber erreicht den britischen Stützpunkt nicht, die Telegraphenleitung ist tot. Von benachbarten Inseln haben wir gehört, dass eine riesige Flutwelle Tausende ins Meer gerissen hat. All die armen Leute, sie tun mir leid.

Hier haben wir nichts zu befürchten. Die Ländereien des Gouverneurs sind gross. Uns wird es an nichts fehlen. Herr Groothuis, ein holländischer Plantagenbesitzer, hat angeboten, mir auf seiner Plantage Zuflucht zu gewähren, falls es nötig sein sollte. Ha, ich denke nicht daran. Er ist zwar recht gutaussehend und reich dazu, aber ich mag seine herablassende Art nicht. Ausserdem trinkt er zu viel. Und was noch schlimmer ist: Auf seiner Plantage hält er immer noch Sklaven, obwohl Sir Thomas die Sklavenhaltung verboten hat.

Damit will ich schliessen. Bitte überbringe meine Grüsse den Eltern, Bethli und den anderen Schwestern. Ich hoffe, ihr seid alle wohlauf. Falls ihr vom Vulkan hört, macht euch keine Sorgen. Es geht mir bestens.

Liebe Grüsse

Deine Schwester Magdalena

Im Winkel, Herbst 1816

Liebe Magdalena

Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, endlich von Dir zu hören. Dass Du gesund bist und genügend zu essen hast – Gott sei’s gedankt! Mutter hat sich Sorgen gemacht, sie wüsste Dich halt gerne unter der Haube.

Die Zeitungen berichten über den Vulkan und bilden dazu Zeichnungen ab. Im Akademischen Zirkel haben wir darüber gesprochen, und ein Herr Professor Scheidtlin aus St. Gallen hat an einem Sonntagnachmittag im «Hirschensaal» darüber referiertund die Insel auf einer Landkarte gezeigt. Auch wenn wir den Vulkan mit diesem eigenartigen Namen nie gesehen haben, spüren wir seinen Ausbruch jeden Tag.

Der Wind hat Tonnen von Asche nach Europa getragen und den Himmel verdunkelt. Die Sonne vermochte im Sommer nicht richtig zu wärmen. Es regnete oft und war viel kühler als sonst. Jeden Monat, auch im Juli und August, schneite es. Schnee, mitten im Sommer! Das Gras wuchs nicht. Kein Heu, kein Emd, kein Gemüse, alles verregnet und verkommen. Die Kartoffeln gelangten nicht einmal zum Blühen, wo es doch im letzten Jahr schon so mager um die Ernten gestanden hatte. An meinem Spalier konnte ich nur drei winzige Birnen pflücken. Sie waren sauer und holzig. Meine Bienenwaben stehen fast leer. Die meisten Bienen sind erfroren oder verhungert.

Aber ich will mich nicht beklagen. Schliesslich muss ich keine Familie durchbringen. So gerne würde ich meinen Pfarrkindern helfen, doch mein Äckerlein hat kaum etwas hergegeben, und das Säuli im Stall ist mager. Die Eicheln, die ich als Futter im Wald holen wollte, sind schon alle verschwunden. Die Kinder sammeln sie, und ihre Mütter strecken damit das überteuerte Mehl oder rösten sie als Kaffeeersatz. Bethli hat für das Säuli Tannzapfen gekocht. Das heikle Tier hat erst missmutig daran geschnuppert, bevor es den groben Brei übellaunig gefressen hat.

Etwas Besonderes und sogar Schönes hat der Vulkanausbruch dennoch gebracht. Professor Scheidtlin hat es erklärt: Die Veränderung der Gase in der Atmosphäre führt oft zu wunderbaren Sonnenuntergängen. An manchen Tagen erstrahlt der Abendhimmel in Farben, die ich mir nicht ausdenken könnte. Grünblau, Orange, Violettrot, bis hin zu Purpur. Alles schwebt und wabert wie verzaubert. Ich wollte, ich könnte die Farben malen.

In meinen Predigten spreche ich nicht über den schönen Abendhimmel, das wäre der pure Hohn für die darbenden Gläubigen. Die Looserin im Grund – sie hat ein scharfes Mundwerk – würde sonstzu Recht sagen: «Von diesem Hokuspokus am Himmel haben wir nicht gefressen.»

Ich hoffe, dass der Herrgott bald ein Einsehen hat und diese schwere Prüfung vorübergeht. Ich weiss nicht, wie die Menschen im Tal den Winter überstehen werden. Gott sei uns gnädig!

Ich schliesse meinen Brief und umarme Dich.

Dein Bruder

Johann Friedrich

PS: Wir würden die üppigen Früchte gerne essen, uns könnten sie nicht zu gross sein. Bethli hat fast geweint, als ich ihr Deine Zeichnungen gezeigt habe. «Was könnte ich davon wunderbare Marmelade und Kompott kochen», hat sie geseufzt.

Bencoolen, Januar 1817

Lieber Johann Friedrich

Wenn ich euch doch von unserem Überfluss etwas schicken könnte! Ja, der Tambora hat uns zwar Asche geschickt und tausende Menschen auf den weit verstreuten Inseln getötet, aber wir auf Java sind wohlauf. Die Asche hat den Boden sogar noch fruchtbarer gemacht. Es tut mir leid, dass ich euch nicht helfen kann. Im Park wachsen riesige Bäume mit grünen, grossen Kugeln daran. Sie heissen Brotfrucht. Wenn ich euch bloss solche schicken könnte. Der Koch legt sie mitsamt der Schale ins siedende Wasser und schneidet sie nachher auf. Wir essen die Scheiben einfach so oder in Fett gebraten. Die schmecken dann tatsächlich ähnlich wie Brot, nur viel besser. Meistens essen wir Reis. Das ist ein weisses Korn, das selbst wenig Geschmack hat, aber wunderbar zu Fleisch und zu Gemüse passt. Der Koch bereitet die Speisen jeden Tag frisch für uns zu, meistens Hühnchen oder Rindfleisch, manchmal auch Fisch.

Das meiste isst man hier mit Saucen, die aus Kokosnussmilch und allerlei Gewürzen zusammengesetzt sind. Die Nuss ist so gross wie das Köpfchen eines Säuglings. Sie ist aus Holz, und man muss sie mit der Machete aufschlagen, um an das weisse Fruchtfleisch zu gelangen. Es schmeckt wunderbar.

Mein lieber Bruder, was erzähle ich Dir vom Essen, wo ich doch weiss, dass ihr Hunger leidet. Ich habe Sir Thomas von der Not in Deiner Gemeinde erzählt. Er war äusserst erstaunt und betroffen. Ende des Monats reist einer seiner Adjutanten mit der East India Company zurück nach England. Ich darf ihm einen Sack Reis mitgeben. Vielleicht schmeckt euch diese fremde Nahrung nicht besonders. Aber ich hoffe, dass ich euch damit wenigstens ein bisschen helfen kann. Eigentlich wollte Sir Thomas mit der ganzen Familie im Juli nach England reisen. Als Erzieherin der Mädchen hätte ich die Familie begleitet und euch alle besuchen können. Da der Vulkanausbruch in seinem Gouvernement so viel Schaden angerichtet hat, muss er die Reise auf ungewisse Zeit verschieben.

Wie gerne hätte ich Dich, Bethli und die Familie wiedergesehen. Auch mit meinen Freundinnen aus meiner Internatszeit in Lausanne, Dorette und Irmgard, möchte ich wieder einmal lachen und schnattern.

Jeden Abend schliesse ich euch alle in mein Gebet ein, dass Gott euch und die Gemeinde vor dem Hungertod bewahren möge.

Ich umarme Dich.

Deine Schwester Magdalena

Im Winkel, Mai 1817

Liebe Magdalena

Ach, käme der versprochene Sack Reis nur bald an! Die Leute verhungern, die Misere ist unbeschreiblich. Meine Pfarrkinder welken dahin wie Blumen unter der Sichel im Heuet. Es ist kaumauszuhalten. Der Müller vom Taa hat mir erzählt, dass Arme von überall durch die Gänge seiner Mühle schleichen. Sie wischen mit blossen Händen den Mehlstaub vom Boden oder von den Mahlgängen und essen ihn. Im Schweinestall nebenan machen sie den Tieren das Futter streitig.

Wir haben so sehr auf den Frühling gehofft. Der Gemeinderat hat im Welschland weit überteuertes Saatgut eingekauft und an die Bauern verteilt. Aber der kalte Regen liess die Saat nicht einmal aufgehen. Glücklich und voller Hoffnung sahen wir einige zarte Blättchen spriessen. Dann kam wieder Schnee, und sie verschwanden. Ich getraue mich nicht von den wenigen Kartoffeln, die noch da sind, in die Erde zu stecken. Bei dem Dauerregen würden sie verfaulen.

Bethli kocht jetzt jeden Tag eine Brühe aus Wurzeln und reibt Baumrinde hinein. Dazu gibt sie Bartflechten. Die Brühe schmeckt nicht gerade lecker, aber sie füllt den Magen. Die Eltern haben uns einen Sack Gerste und eine Speckseite geschickt. Es war wie Weihnachten. Wir haben uns fast nicht getraut, die gute Suppe zu essen, wo wir doch wissen, dass ganze Familien verhungern. Aber ich muss wenigstens einigermassen bei Kräften bleiben. Wie soll ich sonst meinen Dienst in der weitläufigen Gemeinde tun? Wie ein ehrwürdiger Pfarrer sehe ich nicht mehr aus, eher wie eine Vogelscheuche. So geht es allen. Die Kleidung schlottert an unseren Leibern. Manche verlieren Haare und Zähne. Die Haut ist fahl und schorfig. Die Kinder haben aufgedunsene Hungerbäuche. Manche der Kleinen gehen wie elende Betrunkene, unsicher vor lauter Schwäche. Unsere Augen sind ohne Glanz, die Wangen hohl, und wir sind alle bleich wie der Gevatter Tod.

Der Messmer, der Gute, hat uns letzte Woche einen Fisch geschenkt. Er habe zwei Stück aus dem Necker gezogen, brauche aber nur einen, hat er dabei traurig gesagt. Seine junge Frau ist vor einem halben Jahr im ersten Kindbett gestorben; auch das Neugeborene ist mit ihr in die Ewigkeit gegangen. Ich konnte es, Gott sei Dank, nottaufen.

Bethli hat die geschenkte Äsche in Mehl aus getrockneten Rosskastanien und Eicheln gewendet und gebraten. Schmeckte etwas herb, aber ganz ordentlich. Manchmal fängt der Messmer Mäuse, oder er erwischt eine magere Ratte. Obwohl es Bethli graust, häutet und siedet sie die Tierchen, und wir essen die Fleischbrühe zu dritt. Wir nagen die feinen Knochen blank und schwärmen dabei von Hasen- und Rehbraten. Die abgenagten Knöchelchen kocht Bethli dann nochmals für eine Suppe aus.

Selbst wenn man wildern wollte – die Wälder sind ausgestorben. Kein Eichhörnchen, kein Reh, kein Hase, sogar die Füchse und Dachse sind verschwunden. Kann man es den Menschen verdenken, dass sie sich nicht ans Jagdgesetz halten? Ich glaube, sogar der Messmer würde wildern, damit er uns oder vielmehr dem Bethli hin und wieder Fleisch bringen könnte.

Bethli tut ihm gut. Wer weiss, vielleicht bahnt sich da etwas an. Ich würde unserer Schwester einen guten Mann gönnen. Pfarrköchin zu sein ist auf Dauer nicht das Wahre für eine junge, gesunde Frau. Mein katholischer Amtsbruder, Pfarrer Ochsner, hat zusammen mit bessergestellten Bürgern im Tal eine Hilfsgesellschaft gegründet. Diese Gesellschaft wird ab nächster Woche im oberen Waschhaus beim «Schäfli» Rumfordsuppe an alle Bedürftigen verteilen. Diese Speise wird in der Hauptstadt schon seit einiger Zeit an die Armen abgegeben. Ein englischer Graf Rumford hat das Rezept ausgeklügelt. Die Brühe besteht aus Graupen, Kartoffeln, Erbsen, altem Brot, Sauerbier, Weinessig, Wasser und wird stundenlang zu einem dicken Brei gekocht. Ich habe mir sagen lassen, sie sei ganz annehmbar. Ich bin dankbar, dass diese Speisung der Armen auch in unserer Gemeinde die grösste Not lindern wird.

Ach, Magdalena, so gerne würde ich Dir Angenehmes berichten. Für mich jammere ich gar nicht, aber die Menschen tun mir leid. Am schlechtesten geht es den kleinen Webern. Ihre Stoffe sind nichts mehr wert. Tücher, die früher neunzig Gulden einbrachten, sind heute kaum zwanzig wert. Während die Bauern über etwas Gemüse aus ihrer Selbstversorgung verfügen, besitzen diese armenFamilien in ihren schäbigen Häuschen gar nichts. Viele von ihnen haben in den guten Zeiten die Vorsorge liederlich versäumt. Im Appenzellerland, im Glarnerland und in unserem Tal – überall diese unsägliche Misere. An manchen Tagen möchte ich am liebsten nach Amerika auswandern wie etliche aus unserem Tal. Aber ich werde meine Schäfchen nicht verlassen.

Einige Eltern haben begonnen, ihre Kinder auf Betteltour in andere Gegenden zu schicken, obwohl es die Obrigkeit verbietet. Diese Kinder und Halbwüchsigen ziehen durch die Lande. Dass sie dabei verlottern und oft genug der Unsittlichkeit anheimfallen – wer kann es ihnen verübeln? Zwei Burschen aus unserem Dorf, der Kilian Strässli und der Franz Erb, haben sich für fremden Kriegsdienst anwerben lassen und sind vor einem Monat fortgewandert. Sie wollen lieber für einen Fürsten in der Schlacht sterben, als an Hunger verrecken. Aber ich meine, niemand sollte des Geldes wegen in den Krieg ziehen.

Der Zar von Russland hat der Talobrigkeit einige hundert Gulden geschickt. Unsere Gemeinde hat auch davon erhalten und für fünfundsechzig Gulden Gerste, Roggen und Hafer gekauft. Auch einige Fässer Saatkartoffeln sollen verteilt werden. Gebe Gott, dass diese gedeihen.

Gestern war eine arme Weberin bei mir. Sie wohnt mit ihrer vielköpfigen Familie in der Schwendi in einer elenden Behausung. Ihr Mann leidet schon lange an der Auszehrung und vermag nicht mehr zu arbeiten. Ihre beiden Geissen sind im Winter eingegangen. Die Frau macht sich bittere Vorwürfe, weil sie ihren beiden Mädchen den Jüngsten auf die Betteltour mitgegeben hat. Deswegen war sie allerdings nicht gekommen. Sie wollte einen Rat. Ihr ältester Bub, Ruedi, sei so widerspenstig geworden. Er gehorche dem Vater nicht, und statt am Webstuhl zu arbeiten, verplämpere er die Zeit in der Schule oder stromere durch die Gegend. Dem Vater gegenüber erlaube er sich Frechheiten, und was sie zu ihm sage, berühre ihn überhaupt nicht. Er werfe ihr vor, dass sie nichts Rechtes auf den Tisch bringe. Es sei ein rechtes Kreuz mit ihm. Erhabe sogar gedroht, davonzulaufen. Wie um Gottes Willen sollten sie diese schlimme Zeit überleben, wenn er gar nichts mehr zum Einkommen beitrage, jammerte die Frau. Ach, Magdalena, ich kann der armen Mutter nicht helfen. Ähnlich sieht es in vielen Familien aus. Ich traue mich sonntags kaum, zu predigen, da ich weder Rat noch Trost geben kann.

In der Hoffnung auf bessere Zeiten grüsse ich Dich.

Dein Bruder Johann Friedrich

Auf der Schwendi

Ruedi hielt die Falle mit beiden Händen und drückte die Tür zum Webkeller vorsichtig in das rostige Schloss. Leise tappte er die Treppe hinauf, an der Küchentür vorbei in den Stallgang. Durch das Misttörchen im leeren Ziegenstall verliess er das Haus. Ha, geschafft. Langsam stelzte er durch das nasskalte Gras. Die Holzböden hatte er im Keller gelassen, ihr Klappern hätte ihn verraten. Am nahen Waldrand setzte er sich auf einen Baumstrunk unter einer Tanne, riss Kuckucksklee ab und schob ihn in den Mund. Die sauren Blätter machten ihn noch mürrischer. Wie sollte er am Webstuhl arbeiten, wenn er keine Kraft hatte? Die Arbeit war ihm verhasst, viel lieber hätte er mit Holz etwas gezimmert. Die blöden Tücher waren ohnehin kaum noch etwas wert. Niemand kaufte Stoff in diesen schweren Zeiten. Der Fergger kam nicht mehr ins Haus, alle Weber mussten das Garn im Nachbardorf abholen und ihm die Stoffe nachtragen.

Ja, wenn er sich den Bauch richtig vollschlagen könnte, Kartoffeln oder Hafermus essen, so viel er wollte, oder gar ein Stück Fleisch zwischen die Zähne bekäme wie früher, als sich das Weben gelohnt hatte; ja dann wäre alles gut. Der Vater würde wieder gesund und selbst am Webstuhl sitzen. Das Ruthli würde noch leben und die Mutter nicht den ganzen Tag seufzen und jammern.

Rosa und Zilli hatten es gut, sie waren auf Wanderschaft. Wer weiss, was die ennet dem Ricken bei den Bauern alles ergatterten. Sicher konnten sie sich satt essen. Womöglich hatten sie Brot mit einer Fleischtunke. Dass sie fort waren und den Bertli auch mitgenommen hatten, war in Ordnung. So blieben drei Mäuler weniger zu stopfen. Das hatte Balz am Vortag beim Abendessen gesagt, und die Brüder hatten zustimmend genickt. Der Vater war darüber zornig geworden und fluchend vom Tisch aufgestanden. Die Mutter hatte geweint und geschimpft, es sei unrecht von Balz. Aber Ruedi wusste genau, dass sie dasselbe dachte. Warum sonst hätte sie die beiden Grossen gehen lassen und ihnen den Bertli mitgegeben. Er konnte noch nicht einmal laufen.

Wenn er selbst davon sprach, dass er auf Betteltour gehen wolle, tobte der Vater. Er brauche ihn im Webkeller. Als ältester Bub habe er die Pflicht, an seiner Stelle zu arbeiten, um die Familie durchzubringen.

Ruedi spürte Zorn und Ohnmacht. Wie sollte das gehen? Er war noch ein Bub. Wie sollte er die grosse Familie ernähren? Wütend schlug er die Fersen in den moosigen Waldboden und biss sich in die Faust. Sein Magen rumorte, Tränen schossen aus seinen Augen, doch er wischte sie nicht weg.

Beim Eindunkeln schlich er ins Haus zurück. Er wollte unbemerkt in den Keller gelangen und noch ein gutes Stück weben. Aber auf der Bank sass der Vater und empfing ihn mit groben Worten und harten Hieben.

«Schlägt uns Gott nicht genug mit dem Hunger? Muss Er mich auch noch mit einem faulen Nichtsnutz von Buben strafen? Wie habe ich das verdient?», lamentierte er. «In der Schule unnützes Zeug lernen und faul im Wald herumhocken, statt zu arbeiten, wie es sich für einen Dreizehnjährigen gehört. Das ist jetzt vorbei. Ab morgen bist du den ganzen Tag am Weben. Als ich so alt war wie du, hat mir das auch nicht geschadet.» Er atmete keuchend und drückte die Hand auf die Brust. «Du siehst ja, dass ich es jetzt nicht mehr kann, ich kriege im feuchten Keller kaum mehr Luft. Schluss mit dem Schulfirlefanz, haben wir uns verstanden!»

«Aber der Lehrer sagt, die Kinder müssen in die Schule und dort möglichst viel lernen, um später einen Beruf auszuüben», entgegnete Ruedi trotzig, sich unter den Schlägen windend.

«Was – Beruf ausüben? In unserer Familie wird gewoben. Das bringt gutes Geld. Der Lehrer setzt dir nur dumme Ideen in den Kopf. Diese Studierten haben keine Ahnung, was man fürs Leben braucht. Wir auf der Schwendi sind Weber und damit basta.»

Die Schläge prasselten auf den Rücken des Buben und Wut stieg in ihm hoch wie eine Stichflamme.

«Das Weben lohnt sich nicht mehr, die blöden Fetzen sind ja nichts wert, sagst du doch selbst», schrie Ruedi.

Er riss sich los, gab dem Vater einen Stoss vor die Brust und rannte aus dem Keller. In der Bubenkammer warf er sich auf seinen Laubsack. Sein Kopf schwirrte. Er spürte Zorn und Verzweiflung im Bauch, am liebsten hätte er seinen Vater geschlagen. Dass man so engstirnig und verbohrt sein konnte! Wenn der Vater selbst lesen und schreiben könnte, würde er sicher anders denken.

Ruedis Magen knurrte, seine Därme schienen sich zu drehen. An den Tisch zum Abendbrot brauchte er sich gar nicht erst zu setzen. Die Mutter würde ihm nach diesem Streit nichts von der Ampfersuppe geben. Er krümmte sich zusammen und zog die dünne Decke über sich. Als Balz und Werner später in die Kammer kamen, stellte er sich schlafend. Sein Entschluss stand fest. Er hatte genug, hier würde er nicht bleiben.

Er erinnerte sich, wie der Meinrad in der Schule erzählt hatte, dass die Sennen auf den Alpen immer genügend zu essen hatten. Milch, süssen Rahm und Käse. Die Keller seien voller Speck, Zwiebeln und Kartoffeln, hatte Meinrad geschwärmt.Seine Schwestern hätten es auf der Betteltour erlebt. Die Liese habe einem jungen Sennen schöne Augen gemacht, da habe sie ein Stück Speck und drei Kartoffeln erhalten. Den Sennen schöne Augen machen wollte er nicht, aber vielleicht gab es auf einer Alp Arbeit für ihn.

Ohne Abschied

Ruedi erwachte, Ärger und Trauer stiegen wieder in ihm hoch. Nie mehr in die Schule gehen, im Webkeller hocken und das tägliche Elend mit dem griesgrämigen Vater miterleben; nein, er hielt es nicht länger aus. Lautlos erhob er sich und zog den karierten Bezug vom Kissen. Vom Bord über der Bettstatt nahm er sein zweites Hemd und die dünne Jacke, obwohl sie ihm schon zu klein waren, und legte seine Mütze und zwei grosse Taschentücher von seiner Gotte in den Kissenbezug. Wehmütig blickte er im fahlen Mondlicht auf seine beiden Brüder. Werner, der kleinere, drehte sich und murmelte unverständliche Worte. Der vorlaute Balzli krauste die Nase und schnarchte leise. Traurig strich Ruedi den beiden über die Haare. Nebenan spähte er kurz durch den Türspalt in die Kammer der anderen Brüder. «Adieu Beni und Franz, lebt wohl Kaspar und Alois», flüsterte er und schloss leise die Türe.

Auf Zehenspitzen trippelte er in die Küche, wo er hungrig einen Rest Suppe aus der Pfanne neben dem Herd schlürfte. Er nahm das kleinste Messer aus der Tischlade und steckte es ein. Im Webkeller stopfte er einige Lappen in seine Holzböden und schlich in den Ziegenstall. Mit einem Strick band er den Kissenbezug und die Schuhe zu einem Bündel und schlich aus dem Haus. Im Schatten der Erlen und Eschen am Pöörtchen kam er bald zur Strasse nach Libingen. Die Turmuhr im Dorf schlug viermal, es würde also noch eine gute Weile dauern, bis es hell wurde. Dann würde er schon weit weg sein.

Die Strasse zog sich als helles Band durch die Wiesen und dem Bach entlang. Die Taamühle lag im klaren Mondlicht, weiter unten plätscherte der Wasserfall ins moosige Becken. Der Hund des Müllers schlug an. Ruedi kannte den bösen Kläffer, er wollte ihm nicht begegnen. Niemand durfte ihn sehen. Im Lindenboden und in Hofen rasselten die Ketten der Kühe in ihren Ställen; da und dort blinkte schon eine Laterne. Bald senkte sich die Strasse durch ein Waldstück. Ruedi trabte weiter. Unheimliche Schatten schienen ihn zur Umkehr zu mahnen.

Im Dörfchen, unterhalb der Kirche, zog ihm der wunderbare Duft frischen Brotes entgegen. Verlangend blieb er stehen und blickte verstohlen durch ein Fenster in die Backstube. Der Bäcker zog mit der riesigen Holzschaufel einige Laibe aus dem Ofen und legte sie in eine Chräze. Dem Buben lief das Wasser im Munde zusammen. Erschrocken fuhr er auf, die Tür zur Backstube öffnete sich. Der Bäcker stellte die Chräze neben den Türpfosten auf eine Bank und verschwand. Ruedi kämpfte mit sich. Du sollst nicht stehlen, hiess es in der Bibel. Zugleich fiel ihm Matthäus 6, Vers 26 ein: Seht die Vögel des Himmels, sie säen nicht und ernten nicht und Gott der Vater im Himmel ernährt sie doch. Das schien ihm ein Wink des Himmels. Er packte ein Brot und rannte davon. Ausser Atem kroch er in der Talsenke hinter dem Dorf in ein Gebüsch am Bach, wo er gierig ein Stück vom knusprigen Laib riss und verschlang. Dann schöpfte er mit der hohlen Hand Wasser aus dem Bächlein und spülte seine trockene Kehle. Wann hatte er zum letzten Mal Brot gegessen; er wusste es nicht.

Satt und zufrieden spähte er durch die Büsche. Der Mond war verschwunden, die Sterne verblassten. Über den waldigen Hügeln im Osten begann es langsam zu tagen. Die Landschaft trat aus der Morgendämmerung hervor, die Vögel in den Bäumen regten sich.

Zuerst mit leisem Tschilpen und feinen Piepsern, bald mit munterem Gezwitscher. Ruedi rappelte sich auf und kroch aus seinem Versteck. Schwere Tautropfen fielen von den Ästen einer Erle und trafen ihn im Nacken. Er schüttelte sich und trat entschlossen auf das Strässchen, auf irgendeine Alp würde es ihn schon führen.

Auf der Engelschwand

Ruedi wurde es leichter ums Herz, fröhlich ahmte er die unterschiedlichen Vogelstimmen nach und antwortete den kleinen Sängern. Er lachte über das Spiel. Ein Kuckuck rief laut. Jetzt müsste man einen Batzen in der Hosentasche haben, dachte er. Ich habe Glück dringend nötig. Der Wald war dunkel und geheimnisvoll, obwohl oft nur Büsche und lichte Sträucher am Weg standen. Es roch wunderbar erdig und moosig, auch den Duft von Pilzen meinte er auszumachen – lauter Gerüche, die er mochte. Ein Eichhörnchen hüpfte von Ast zu Ast, und auf dem schmalen Hohlweg zum Borstel verschwanden zwei flinke Rehe.

Nach einer halben Stunde machte er bei einer riesigen Höhle Rast. Hunger und Durst plagten ihn von Neuem. Eigentlich hatte er das Brot einteilen wollen, aber er konnte nicht widerstehen und verschlang noch ein Stück. Das kalte Wasser aus dem Bach schmerzte an seinen Zähnen. Bei einer Abzweigung verharrte er unsicher. Er pflückte eine Margarite vom Wegrand und begann die Blättchen abzuzupfen. «Gradaus, links, gradaus, links, gradaus, links», zählte er laut bis zum letzten Blättchen. «Gut, dann gehe ich links.»

Der Pfad durch den düsteren Bergwald war morastig. In den Löchern der Kuhspuren stand dunkel spiegelnd, grünlich schillerndes Wasser. Ruedi hielt sich an den Rand, tappte aber dennoch hin und wieder in den Sumpf; die übel stinkende Brühe verschmutzte Beine und Hose. Er fluchte. Als er den Wald hinter sich liess und zu einem breiten Poort kam, rieb er sich mit gräulichen Schneeresten, die in einer Senke lagen, die Beine sauber. Die körnigen Klumpen kratzten.

Über blassgrüne, flachgedrückte Gräser und erdige Flecken wanderte er aufwärts. Eben ging die Sonne über dem Grat auf, ihre Strahlen kitzelten ihn in der Nase. In einer noch schattigen Mulde erblickte er oben am Hang eine Alphütte, aus deren niederem Kamin eine feine Rauchsäule stieg. Aus dem Stall klangen leises Muhen und das Bellen eines Hundes. Ruedi war noch nie auf einer Alp gewesen und kannte auch keine Sennen. Wie sollte er einem Älpler seine Anwesenheit erklären? Würde ihn dieser gleich wegschicken? Zögerlich wanderte er weiter bis zu einem Mäuerchen, wo er sich verzagt auf die kalten Steine setzte. Die Sonne wärmte seinen Rücken und machte sein Herz leichter. Ach was, ihm würde schon etwas einfallen. Zuversichtlich streckte er sich aus, schob sein Bündel unter den Kopf und döste ein.

Er lag im Keller auf der Bank des Webstuhls und fror schrecklich an den Füssen. Sein Vater hatte mit seinem Schönschreibheft eiskalten Schnee auf sie geschaufelt. Blaue Tinte floss aus den Seiten heraus wie ein Bach. Das tote Ruthli schmierte sich mit beiden Händchen die Tinte ins Gesicht, bis es ganz blau war. Die Mutter schaute Ruedi traurig an. «Du bist schuld, dass unser Bertli keine Schuhe hat und nicht selbst gehen kann», warf sie ihm vor. Der Balzli kitzelte ihn mit Weidenkätzchen an den Händen und lachte hämisch. «Du kannst nicht einmal richtig weben, deine Hände sind zu grob dazu.» Ruedi entdeckte mit Schrecken, dass seine Hände aussahen wie riesige Klauen und er sie nicht bewegen konnte. Werner und Kaspar rissen ihn an den Haaren. «Gib uns Brot», forderten beide.

Ruedi schrak verstört aus dem Schlaf auf. Nur ein Traum. Er rutschte vom Mäuerchen ins Gras und lachte erlöst. Eine Ziege leckte an seinen Händen. Froh fasste er sie um den Hals und kraulte in ihrem warmen Fell. Ja, wenn Fleckli und Zwirbel, die Geissen zu Hause noch im Stall stünden, hätte das Schwesterlein nicht sterben müssen, und die Milch würde die Familie auch jetzt noch vor dem Verhungern bewahren.

Den halben Vormittag spielte Ruedi mit den beiden Tieren, dabei wanderte er mit ihnen gemächlich in die Nähe der Hütte. Versteckt hinter einigen Felsbrocken, beobachtete er den Bauern. Haar und Bart waren schon leicht ergraut, und er ging gebückt, als ob er unter einem Türbalken stünde. Er striegelte die Kühe und entliess jede mit einem freundlichen Klaps auf die Weide. Kurz darauf hörte Ruedi ihn mit den Milchgeschirren hantieren, während der Rauch dicker aus dem Kamin stieg. Mmh, sicher ist er am Käsen, dachte der Bub. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Er wusste kaum noch, wie Käse schmeckte.

Versonnen pflückte er Huflattichblüten, Silbermänteli und Frauenmänteli. Auch Giersch, wilder Thymian und Spitzwegerich wuchsen zwischen den Steinen. Aus einem Busch junger Brennnesseln zupfte er mit spitzen Fingern die kleinsten, zartesten Blätter, aus denen die Mutter Tee zu kochen pflegte, und legte die gesammelten Kräuter in ein verknotetes Taschentuch.

«He, was machst du da? Was bist du für einer?», ertönte es plötzlich von der Hütte her. Jetzt gab es kein Zurück.

Langsam ging Ruedi auf den Älpler zu, der ihn gründlich, wenn auch nicht unfreundlich musterte. «Ich bin der Ruedi, ich will auf die Tweralp.»

«Da hast du noch einen langen Weg vor dir, hier sind wir in der Engelschwand. Was willst du überhaupt auf der Alp? Wie ein Zusenn oder ein nützlicher Hüterbub siehst du nicht aus, mager wie du bist», entgegnete der Älpler. «Komm herein, es ist Zeit für meinen Znüni.»

Das liess sich Ruedi nicht zweimal sagen. Am klobigen Tisch rutschte er auf die Bank. Seine Augen blickten verlangend auf ein köstliches Stück Käse und einen Krug Milch. Daneben lagen auf einem Tüchlein ein Stück Speck und ein halber Laib Brot.

«Nimm», forderte der Senn den Buben auf, schnitt eine dicke Scheibe ab und legte einen Schnifel Käse darauf. «Iss, Gott segne es.»

Beide assen und schlürften dazu Milch aus den gedrechselten Bechern.

«Erzähl, Bub. Was gibts Neues aus dem Tal? Woher kommst du überhaupt?», fragte der Senn.

Zögerlich berichtete Ruedi von den letzten Beerdigungen, den zerfallenen Tuchpreisen und erzählte vom Vulkan ennet dem Meer, von dem der Lehrer berichtet hatte.

Darüber lachte der Senn. «Was geht uns ein Vulkan bei den Hottentotten an», höhnte er. «Was soll das überhaupt sein, ein Berg, der Feuer speit? So ein Schmarren kommt nur den Studierten in den Sinn. Komm, Bub, kannst mir beim Hagen helfen. Die Tweralp läuft dir nicht davon.»

Ruedi war froh, dass der Senn nicht weiter nach seinem Zuhause gefragt hatte und folgte ihm nach draussen.

Am dritten Tag auf der Engelschwand begleitete ihn der Älpler bis zum Schwämmligrat hinauf. Neben der Hütte wies er ihm den Weg. «Behüt dich Gott, Bub.»

Dankbar verabschiedete sich Ruedi und wanderte gegen die waldigen Hügel.

Ins Rheintal

Im oberen Toggenburg traf er auf eine Bettlergruppe und folgte ihr. Zerlumpte Gestalten mit hohlen Wangen, mager und verdreckt. Die Buben und Mädchen benahmen sich frech und unflätig. Ob sich seine Schwestern auf ihrer Betteltour auch so aufführten? Oft schickten die Leute sie weg, einmal erhielten sie in einem Kloster eine Suppe. Die Nonnen ermahnten die Kinder, zu ihren Eltern zurückzukehren, die Bettelei sei kein gottgefälliges Leben. Darüber rümpften die Bettelkinder ihre Nasen, und auch Ruedi schlug den Rat in den Wind.

In Wildhaus zeigte er die getrockneten Kräuter einer Krämerin. Sie schob die duftenden Blätter und Blumen auf eine alte Zeitung und liess sie im Falz in eine Blechdose rieseln. «Kannst sie dalassen, aber viel kann ich dir dafür nicht geben», meinte sie kurz angebunden. «Da, zwei Bätzler. Kannst ja nächste Woche wiederkommen.»

Ruedi schlief in einem Stadel, wo er hin und wieder verstohlen eine Geiss molk. Tagsüber sammelte er Kräuter, abends stellte er sich im kleinen Bergdorf in die Reihe der Bettler und schlürfte hungrig die Armensuppe.

Mitte August zog er weiter. Auf einem Leiterwagen mit Salzfässchen setzte er sich auf den hinteren Rand. Der Fuhrmann liess es wortlos geschehen. Langsam trottete der Ochse über einen miserablen Karrenweg das Tobel hinab. Im Rheintal sei es wärmer, hatte Ruedi gehört. Auf den Feldern könne man allerlei Essbares finden. Auch Äpfel gebe es und sogar Kartoffeln. Kartoffeln mit goldener Butter, Salz und Kümmel, vielleicht etwas Käse dazu – Ruedi meinte das wunderbare Aroma auf der Zunge zu schmecken und schlief mit dem unruhigen Schaukeln des Fuhrwerkes ein.

«He, du, wach auf, kannst mir helfen», weckte ihn der Fuhrman. Er stupste ihn mit der Geissel an, und Ruedi stieg verdattert vom Wagen.

Sie standen vor einem riesigen Haus mit einem langen Anbau. Türen und Fenster waren mit Sandsteinblöcken eingerahmt, schwere Quader zierten die Hausecken. Blaugraue Bemalungen gaben der Fassade ein vornehmes Aussehen. Das Tor des Anbaus stand offen, sodass Ruedi im dämmrigen Innern dutzende Salzfässchen in hohen Stapeln erspähen konnte.

«Fass an, die leeren Fässer stemmst du leicht. Bist zwar ein magerer Haken, aber wer beim Chueri mitfährt, arbeitet auch für den Chueri. Also, auf geht’s!»

Der Fuhrmann hatte sich mit dem Salzhändler auf die Bank neben der Haustür gesetzt. Sie tauschten Neuigkeiten aus und seufzten über die schweren Zeiten.

Als das halbe Dutzend Fässer im Schuppen stand, hockte sich Ruedi an die Hauswand. Seine dünnen Waden zitterten und die Arme schmerzten.

«He, du, komm her! Wer für den Chueri arbeitet, isst auch mit dem Chueri.» Der Fuhrmann zog Brot, Würste, einige gesottene Kartoffeln und zwei Äpfel aus einem Korb. «Iss», forderte er den Buben auf, «brauchst etwas auf die Rippen.»

Ruedi dankte mit glänzenden Augen und griff zu.

Ein älterer Knecht trat mit zwei Krügen zu ihnen: Most für Chueri und Buttermilch für Ruedi.

«Hä, Chueri, was hast du da für ein hübsches Zuckerbübchen dabei?», fragte er überfreundlich. Dabei strich er Ruedi mit seiner schwieligen Hand sachte über die Schulter und schnupperte an seinem Haar.

«Der geht dich nichts an, lass die Finger von ihm, verschwinde!», blaffte der Fuhrmann. Der Knecht griff sich grinsend in den Schritt und verschwand, leise vor sich hin nörgelnd.

«Vor dem musst du dich in Acht nehmen», warnte der Fuhrmann, «der mag Buben.»

Ruedi verstand nicht, was er meinte und gab keine Antwort. Er würde sowieso nicht hierbleiben.

Unter Chueris achtsamem Blick half er nach der Mittagsrast, volle Salzfässer aus dem Schuppen zu rollen und auf den Wagen zu laden. Der Salzhändler übergab dem Fuhrmann den Frachtbrief und verabschiedete sich.

«Denk dran, was ich dir gesagt habe. Nimm dich in Acht», rief der freundliche Toggenburger, winkte Ruedi mit der Geissel, und der stämmige Ochse trottete mit dem schwer beladenen Wagen aus dem Hof.

Ruedi spürte ein Stechen im Hals, seine Brust wurde eng. Gerne wäre er zurück ins Toggenburg gefahren, aber was sollte er dort? Zurück zu den Eltern getraute er sich nicht. Lieber Heimweh als die Schläge und harten Worte des Vaters. Trotzig aufstampfend, verscheuchte er die Traurigkeit.

Auf dem Salzhof herrschte Betrieb. Ruedi tat da einen Handgriff und packte dort zu. Dabei spitzte er die Ohren, lauschte, woher die Gefährte kamen. Die Ortsnamen und die fremden Dialekte der Fuhrleute schwirrten in seinem Kopf umher. Zwei Karrer sprachen von Altstätten. Von dem Marktflecken hatte er schon gehört; der Lehrer hatte ihnen den Ort auf der sorgfältig gezeichnet und kolorierten Landkarte gezeigt. Auch das Schloss von Werdenberg, den Hirsch, der über die hohen Felsen sprang, Torfstecher bei Montlingen und Oberriet, Rebberge bei Berneck und der hohe Kasten neben dem Kamor – waren darauf zu sehen. Am Rand lag der Rhein wie ein blaues Seidenband, der in grossen Bögen weiter nördlich in den Bodensee floss. Das wusste Ruedi aus dem Geografieunterricht. Siehst du, Vater, ist eben doch gut, der blöde Schulfirlefanz, dachte er aufsässig. Ich weiss, wo ich bin.

Ruedi bat die Fuhrleute um Mitfahrgelegenheit. Er müsse nach Altstätten zu seiner Gotte, schwindelte er.

«Ja, dann hock halt auf. So ein Leichtgewicht wie dich merken der Fritz und der Chrusli nicht.» Mit diesen Worten trat der ältere der Fuhrleute zu seinen Ochsen und kraulte sie zwischen den Hörnern. Sie liessen es sich schnaubend gefallen. Ruedi rückte ein Fass zur Seite und setzte sich eingekeilt auf die rohen Wagenbretter. Satt wie er war, machte er sich keine Gedanken über seine Zukunft. Er besass eine Wurst, zwei Kartoffeln, einen grossen Brocken Brot und Äpfel. Chueri hatte ihm gutmütig die Reste des Mittagessens überlassen. Die Äpfel dufteten verlockend. Ruedi zog einen aus dem Bündel und biss hinein. Ah, heute war das Leben schön!

Mit halb geschlossenen Augen liess er die Gegend an sich vorüberziehen. Durch kleine Dörfer, vorbei an Feldern, in denen der Mais hoch stand und durch einen Felsspalt fuhren sie. Das musste der Hirschensprung sein. Wenn er das doch in der Schule erzählen könnte – die würden staunen.

In Oberriet und Montlingen hielten sie und luden Salzfässer ab. Verwundert hatte Ruedi die neuen Tafeln am Eingang der Dörfer gelesen. Das müsste man in unserem Tal auch machen, die Dörfer anschreiben, dachte er. In Kriessern wandte sich der Wagen wieder den Hügeln zu. Der Rhein blieb hinter ihnen.

«He, Bub, in einer Stunde sind wir da», rief der ältere Fuhrmann Ruedi zu. «Wo musst du hin? Wie heisst deine Gotte? Vielleicht kenne ich sie.»

Der Bub erschrak. Was sollte er sagen? Er tat, als ob er schlafe.

Mit dem Betläuten fuhren sie knarrend durchs Untertor ins Städtchen. Ruedi bestaunte das schön gemalte Wappen unter dem Vordach, das einen Bären mit einem Stern darüber darstellte. In der Marktgasse beim «Grünen Baum» fuhren sie in den Hof. Ihr Ziel war erreicht.

«Weisst du, wo deine Gotte wohnt? Wie heisst sie überhaupt?», wollte der Ältere erneut wissen.

«Sie heisst Zenze und ist die Schwester meiner Mutter», antwortete Ruedi, froh über seinen plötzlichen Einfall.

«Ich kenne keine Zenze. Kennst du eine mit diesem Namen?», fragte der Fuhrmann seinen Kollegen.

Der kratzte sich im stoppeligen Bart und schüttelte den Kopf. «Kann höchstens eine im Armenhaus sein, diese Weibsleute kennt man kaum.»

«Ja, wird wohl so sein. Am besten gehst du da hin, Bub. Wirst sie schon finden. Pass aber auf, die haben da auf dem ‹Kirlen› einen scharfen Hund.»

Wie angewiesen, ging Ruedi die Marktgasse hinunter zum Kirchplatz; dort trat er durch das schwere Portal in die Kirche. Im heimeligen Kerzenlicht knieten einige Frauen und Kinder, vorne im Chor ein Priester. Sie beteten laut zu den Schutzengeln. Ruedi setzte sich auf die hinterste Bank und hörte zu. Er hatte nicht gewusst, dass es so viele Engel mit klangvollen Namen gab. In der Unterweisung sprach der Pfarrer nie über sie. Passt, dachte er. Engel, die einen beschützen, kann man nie genug haben. Leise murmelte er die Bitten nach. Das Gefühl, einen Schutzengel zu haben, tat ihm wohl.

Nach dem Segen des Priesters erhoben sich alle und verliessen das Gotteshaus. Ruedi rutschte auf der Bank in die dunkelste Ecke. Der Mesmer löschte die Kerzen und schlurfte aus der Kirche. Der Schlüssel drehte sich knackend im schweren Schloss. Ruedi hatte keine Angst. Viele einsame Nächte im Freien lagen hinter ihm. Das ewige Licht beim Altar kam ihm vor wie ein gütiges Auge. Tapsend ging er über schmale Stufen auf die Empore. Hier war es wärmer. Er zog die samtene Decke von der Orgel, wickelte sich ein und legte sich hin.