Novembereis - Monika Rösinger - E-Book

Novembereis E-Book

Monika Rösinger

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Beschreibung

Historischer Roman nach einer wahren Begebenheit Das Leben der einfachen Menschen im 19. Jahrhunderts ist hart, das Denken eng und die soziale Kontrolle streng. In den siebziger Jahren bringt der Bau der Eisenbahn Arbeit und Verdienst ins Tal. Viele Frauen kennen Johann, den Vaganten, der da und dort sein Unwesen treibt. Scham, männliche Eigenmächtigkeiten und nachlässige Zurückhaltung der Obrigkeit fördern eine fatale Abwärtsspirale seines Lebens. Der schreckliche Tod eines Mädchens im Toggenburg erhitzt die Gemüter im Tal und in der ganzen Schweiz. Die Befürworter der Todesstrafe erreichen 1879 durch eine Volksabstimmung die Wiedereinführung der Todesstrafe.

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Monika Rösinger

Novembereis

Monika Rösinger

Novembereis

Historischer Romanaus dem Toggenburg

orte Verlag

Mit Unterstützung von

© 2018 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen,fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträgerund auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Janine Durot

Umschlagbild: iStock, Nataba

Satz: orte Verlag, Schwellbrunn

E-Book-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbH, www.herold-va.de

ISBN 978-3-85830-242-7

ISBN e-Book 978-3-85830-243-4

www.orteverlag.ch

Der Bub lag auf den staubigen Brettern des Dachbodens. Durch die Scheibe der Dachluke linsten Strahlen der späten Abendsonne, die jetzt schon langsam über den Hügeln der Laad unterging. Mit einem Wisch Heu hatte er die Scheibe sauber gerieben. Er mochte es, wenn die Sonne die Staubkörnchen in der Luft zum Tanzen brachte oder die Regentropfen Schlieren in die Scheiben zogen. Niemand wusste, dass er oft hier oben in den Tag hinein träumte. Wenn er zu einer Arbeit gerufen wurde, hielt er den Atem an und bewegte sich nicht. Die Frauen im Haus, die Alten im Webkeller oder der Armenvater gaben das Rufen jeweils bald auf. Manchmal setzte es später eine Ohrfeige, aber die war es wert. Die meisten Arbeiten, zu denen er aufgefordert wurde, waren ihm verhasst. Jeder konnte ihm befehlen, alle konnten ihn herumkommandieren. Die Arbeit mit den Tieren im Stall, die er gern getan hätte, war ihm verwehrt; da arbeitete der Koni und der Meisterknecht wollte nicht zwei Buben im Stall.

So verbrachte er seine Zeit neben dem ungeliebten Schulunterricht oft träumend und ohne Ziel. Auch den Konfirmandenunterricht mochte er nicht. Die Buben rückten in der Kirchenbank von ihm weg, sie verachteten ihn, den Armenhäusler. Die Mädchen rümpften die Nasen und kicherten über seine geflickten Kleider und seine borstigen Haare. Der Pfarrer rief ihn nie auf, er blickte ihn nur hin und wieder sorgenvoll an. Gehänselt wurde er nicht, dafür war er zu stark. Er würde es ihnen schon noch zeigen, den Bubis und den blöden Weibern. Ja, das würde er. Seit ein paar Wochen wusste er mehr als sie alle; die hatten ja keine Ahnung. Sein besonderes Wissen hatte er durch ein Astloch im Boden in seinem geheimen Horst erworben. Unter dem Dachboden lag die Mägdekammer und was er da hin und wieder erspähte und hörte, machte ihn trotzig stolz und gleichzeitig unsicher. Manchmal war es einer der Knechte, manchmal einer der jüngeren Armenhäusler, mit denen sich Rosa auf dem Bett wälzte. Er sah weisse Schenkel und rundes, bleiches Fleisch; er hörte zotiges Gemurmel, grobe, unflätige Kraftausdrücke, heiseres Lachen, Stöhnen und unterdrückte Schreie. Auch grobe Schläge fielen auf weisse, dralle Schenkel. All das weckte etwas in ihm, was er nicht beschreiben konnte. Sein Geschlecht regte sich. Es gefiel ihm und gleichzeitig fühlte er sich abgestossen. Er sprach mit niemandem darüber.

Fineli

«Giuseppina, Giuseppina, wo bist du, komm schnell, ich muss dir etwas zeigen.»

Fineli zog die graue Schürze, die bei den gröberen Arbeiten ihr Kleid schützte, aus und zupfte die feine weisse Schürze, die sie darunter trug, zu recht. Sie beeilte sich. Wenn die Signora sie mit dieser Stimme rief, freute sie sich immer. Dann wusste sie, dass es etwas Schönes, etwas Neues zu bestaunen gab. Sie mochte ihre Signora. Sie war glücklich, in diesem schönen Haus, bei Signore und Signora Pelli zu dienen. Die Arbeitstage waren zwar lang, aber nicht allzu anstrengend. Das Haus in Ordnung halten, Gartenarbeit und stete Verfügbarkeit für die Signora. Für die gröberen Arbeiten kam die Emma aus dem Dorf, und in der Küche führte die Köchin das Regiment. Sie hatte ein eigenes Zimmer unter dem Dach und das gleiche Essen wie die Herrschaft. Der Lohn war ordentlich, sodass sie jeden Monat ein Scherflein zurücklegen konnte. Sie stand allein auf der Welt. Ihre Mutter war in der Besserungsanstalt St. Leonhard nach einem elenden Leben an der Ruhr gestorben, sie selber im Armenhaus aufgewachsen. Mit ihrem Vater, diesem Unflat, hatte sie nichts zu tun. Sie war froh, wenn sie nichts von ihm hörte. Jede zweite Woche hatte sie ihren freien Tag und einmal im Monat durfte sie am Sonntagvormittag zur Predigt. Das war weit mehr, als ihre Freundinnen hatten. Diese dienten bei Bauern oder in den Stickervillen. Sie klagten über Rückenschmerzen und hatten wunde Hände vom ewigen Waschen und Putzen. Ihr Lohn war klein, und freie Tage gab es nur an den Feiertagen oder im Frühjahr und Herbst an den Markttagen im Städtli.

Fineli hatte es gut. Bald würde das Leben in der Villa noch schöner werden, die Signora erwartete endlich ihr erstes Kindlein. In zwei Monaten würde es da sein. Der Signore war ganz aus dem Häuschen. Die Herrschaften waren beide nicht mehr ganz jung und glaubten fest, dass Santa Rita ihnen geholfen habe. Als Reformierte glaubte Fineli zwar nicht an die Heiligen, aber sie freute sich mit ihrer Herrschaft. Die Signora musste sich oft schonen, sie war müde und der schwere Leib machte ihre Bewegungen schwerfällig. So sass sie meistens am Fenster und stickte und nähte für ihr Kindlein. Sicher hatte sie jetzt ein Jäcklein oder ein Hemdchen fertig bestickt; Fineli freute sich und eilte die Treppe hinauf in den Salon.

«Vieni, vieni, Giuseppina». Die Signora streckte Fineli ein winziges Hemdchen aus Seide entgegen, das sie mit feinsten Stichen gesäumt und bestickt hatte.

«Ist das schön», flüsterte Fineli und traute sich kaum, das Hemdchen in die Hände zu nehmen. Ach, wie süss wird das Kindlein dann darin aussehen!

Die Signora besass viele feine Stoffe aus ihrer Heimat am Comersee. Ihr Vater war ein behäbiger Seidenbaron und hatte die Tochter nur ungern mit dem Engenero Pelli, seinem Schwiegersohn, in die kalte Schweiz ziehen lassen. Natürlich waren er und Angelinas Mutter stolz auf den gutaussehenden Giorgio, der sich auf die Planung von Eisenbahnbrücken verstand. Er war klug und eine gute Partie noch dazu. Aber die Trennung von ihrer Tochter war nicht leicht. So schickten sie immer wieder feine Stoffe und Spezereien, um ihre Tochter wenigstens aus der Ferne zu verwöhnen.

Giorgio Pelli gehörte zu den Bauingenieuren, die die Eisenbahnlinien in der Schweiz bauten. Seit zwei Jahren lebte er mit seiner schönen Frau im Herrschaftshaus eines verstorbenen Textilpatrons im Ebnet. Er selber beherrschte die deutsche Sprache gut, er hatte nach Bologna in Zürich studiert. Seine Frau lernte die Sprache mit einem alten Lehrer und freute sich über jeden kleinen Fortschritt, den sie machte. Mit Fineli übte sie die schwierigen deutschen Laute, und gemeinsam lachten sie über Fehler und sprachliche Missverständnisse. Fineli mochte es, dass ihre Herrschaft sie Giuseppina nannte, sie fand es vornehm.

Das feinbestickte Hemdchen hatte wahrlich nichts mit ihrer eigenen Kindheit zu tun. Am liebsten hätte sie ihre Herkunft vergessen und für immer zusammen mit den Erinnerungen in einer alten Kiste verschlossen.

Nur an Berta dachte sie gern. Berta war ihre Gotte und die Köchin im Armenhaus. Dieser Frau hatte Fineli es zu verdanken, dass aus ihr etwas geworden war. Die kinderlose Jungfer hatte sie ohne Aufhebens als Gotte in ihre Obhut genommen, als Fineli kurz nach der Geburt durch den Armenvogt ins Armenhaus gebracht worden war. Ihre Mutter galt als liederliche, unstete Person, solchen Frauen war es nicht erlaubt, ihre Kinder selber aufzuziehen.

Finelis Zuhause war die grosse, warme Küche im Armenhaus. Zuerst in einer gepolsterten Seifenkiste, später in einer Zaine, war sie nie von Gotte Berta getrennt. Verdünnte Ziegenmilch aus einer Flasche und später aus ihrem eigenen Becher war die wichtigste Nahrung, die sie zusammen mit ruhiger Liebe von Berta bekommen hatte. Später legte ihr die Köchin grosse gekochte Gemüsestücke hin und brummte lachend über die Unordnung, die rund um Finelis Stühlchen entstand. Mit Berta machte sie die ersten Schrittchen, mit Berta lernte sie den Küchengarten kennen. In den Falten der weissen Köchinnenschürze fühlte sich das kleine Mädchen geborgen, dort erlebte Fineli Sicherheit und bedingungslose Liebe.

Berta war nicht mehr die Jüngste, ihre Fürsorge für die Kleine hatte sicheren Boden und Bestand. In ihrer Küche führte sie ein straffes Regiment, es lohnte sich, sich mit ihr gut zu stellen. Für die Anliegen der Armenhäusler hatte sie ein offenes Ohr. Gleichzeitig war sie streng und verlangte anständiges Benehmen.

Natürlich musste Fineli von klein auf mitarbeiten, sie hatte kein Prinzessinnenleben. Schliesslich war sie das Kind einer ledigen Taglöhnerin und eines talauf talab bekannten Vaganten und Taugenichts. Niemand wollte so einen Goof. So war es der Armengenossenschaft recht, dass sich die ledige Köchin Berta ihrer annahm, auch wenn es nicht den Vorschriften entsprach. Der Armenvater und seine Frau liessen sie gewähren.

Zusammen mit den andern Armenhäuslerkindern besuchte Fineli die Schule im Dorf, gemeinsam mit ihnen arbeitete sie in der Hauswirtschaft und im Garten. Die karge Freizeit verbrachte sie mit Berta in der Küche und lernte so, fast ohne es zu merken, auch das Kochen. Habermus, Rüben, Kohl, Kartoffeln und hin und wieder Maisribel. Fleisch gab es einmal in der Woche, am Sonntag und an den Feiertagen. Um Martini wurden zwei Schweine geschlachtet, dann kamen zusätzlich Würste auf den Tisch. Manchmal backte Berta Fladen oder zu besonderen Gelegenheiten Kuchen, das waren Finelis liebste Tage. Milch, Sauermilch und Käse waren immer vorhanden, der Armenvater war ein guter, umsichtiger Bauer.

Fineli war eine gute Schülerin.

«Nimmt mich wunder, woher du das hast», bemerkte der Lehrer hin und wieder, wenn sie als einzige ihres Jahrgangs die Antwort auf eine Frage wusste, oder die Rechenaufgaben schneller löste als alle anderen. Selbstverständlich sass sie wie alle Armenhauskinder in der hintersten Bankreihe, darüber war sie sogar froh. Da Berta und Finelis Lehrer nebeneinander im Kirchenchor sangen, wurde sie sonst fast gleich wie die anderen Kinder behandelt. Natürlich wurde sie nie zuerst aufgerufen, obwohl sie die Antworten wusste. Der Lehrer lobte sie nie und ihre Aufsätze durfte sie nie vorlesen, aber das verstand sie. Schliesslich war ihr Vater ein Vagant.

Den Konfirmandenunterricht beim Pfarrer Zuber besuchte sie gern. Die biblischen Geschichten gefielen ihr, und sie lernte die Psalmen gern auswendig, auch wenn sie die schwierigen Sätze nicht immer verstand. Die Psalmen von den Bergen oder von den Adlerflügeln mochte sie am liebsten, und am besten gefiel ihr die Geschichte von Ruth. Aus der Unterweisung kannte sie auch die meisten Geschichten aus dem Neuen Testament. Die Geschichte von der Brotvermehrung gefiel ihr besonders. Sie stellte sich das praktisch vor: Man müsste nur wenige Brote backen und hätte trotzdem immer genug für alle im Armenhaus. Fisch hatte sie noch nie gegessen. Sie dachte, dass ihr diese nicht schmecken würden.

Berta hatte ihr vor langer Zeit ein eigenes Gebetsbüchlein geschenkt, sie hütete es sorgfältig. Fast jeden Sonntag ging sie mit Berta zur Predigt, das machte sie irgendwie stark. Die Gotte war im Dorf und besonders in der Kirchgemeinde angesehen, man schätzte sie. Ob ihrer Herkunft von einem der grössten Bauernhöfe wegen oder wegen ihres freundlichen, selbstbewussten Auftretens; niemand behandelte Berta wie eine ledige Jungfer. So sass sie an Finelis Konfirmation stolz bei den anderen Eltern und Verwandten in der neuen Kirche. Finelis Konfirmationskleid hatte sie selber genäht, und die Armenhausmutter hatte ein weisses, fein geklöppeltes Spitzenkräglein dazu gestiftet. Nur die besseren Damen im Dorf hatten solche Spitzen, das wusste Fineli. Sie kamen aus Flandern.

Der Bruder der Armenhausmutter war ein Mann von Welt. Er reiste als Verkäufer für die Weberei durch ganz Europa, ja hin und wieder sogar an den Zarenhof in Russland. Oft brachte er seiner Schwester etwas aus den fremden Ländern mit. Er hatte keine eigene Familie, seine Schwester war seine Heimat. Die Armenhausmutter hatte einen kleinen Schrank, den hatte er aus Spanien mitgebracht. Dieses besondere Möbel stand in der Stube der Armeneltern, und darin bewahrte sie die Kostbarkeiten aus aller Herren Länder auf: Glasfigürchen aus Murano, feinen Leinenstoff aus Riga, Seide aus Italien, eine weisse Wolljacke aus Irland, Kristallglas aus dem Schwarzwald, Bernstein von der Ostsee und eben Spitzen aus Flandern.

Fineli platzte in der Kirche beinahe vor Stolz, gleichzeitig hatte sie ein bisschen Angst, dass die anderen Mädchen sie beneiden würden. Es war ein wunderbarer Tag.

An dieses Spitzenkräglein dachte Fineli jetzt, als sie das hübsche Seidenhemdchen mit den feinen Spitzenbörtchen betrachtete und den weichen Stoff über ihre Hände fliessen liess. So ein Glück! So ein Glück, dass die Signora ein junges Mädchen für den Haushalt gesucht und der Pfarrer Fineli für diese Stelle vorgeschlagen hatte.

Pfarrer Zuber und Herr Pelli kannten sich vom akademischen Zirkel. Der Herr Notar aus dem Städtchen hatte diesen Verein vor ein paar Jahren gegründet. Als Zugezogener aus St. Gallen wollte er Kultur in das Tal bringen. Der Städtlipfarrer, der Prädikant, die geistlichen Herren aus Wattwil, der Herr Bezirksammann, der Herr Doktor vom neuen Spital und der Patron der grossen Textilfabrik und eben Herr Pelli trafen sich allmonatlich zu einem guten Glas Wein und zum Austausch kluger Gedanken. Sonst blieben die Reformierten und die Katholischen in den Dörfern des Tales unter sich; aber die noblen Herren sahen sich gern als fortschrittliche Freigeister. Bei seinem monatlichen Besuch im Armenhaus war der Herr Pfarrer kurz nach der Konfirmation in die Küche zu Berta und Fineli gekommen, um mit der Gotte über die Stelle bei Signore und Signora Pelli zu sprechen.

Zwar, sagte er hüstelnd, seien die Herrschaften aus Italien natürlich katholisch, aber sie wisse ja wohl, dass sie nicht auswählen könne.

Fineli hatte vor lauter Freude gejubelt und ihre Gotte umarmt und in der Küche herumgedreht, bis diese ausser Atem war. Der Pfarrer hatte wohlwollend gelächelt, die Freude des Mädchens tat ihm wohl.

Nach kurzem Bedenken meinte die Gotte: «Fineli, Katholiken sind auch Christen, und wir haben ja wohl den gleichen Herrgott, wird dir also schon nichts passieren.»

«Eben», meinte der Pfarrer und widmete sich wieder dem dampfenden Kaffee und dem Hefekuchen, den Berta bei seinen Besuchen jeweils aufstellte.

So war aus dem Armenhäuslerkind Fineli wenige Wochen nach der Konfirmation Giuseppina im Herrschaftshaus geworden. Fineli war glücklich.

«Vieni, Giuseppina, eute wir wollen öffnen das Kiste.» Die Signora erhob sich ächzend von ihrem Stuhl. Fineli fand es immer lustig, dass die Schwangere seit einiger Zeit ächzte wie die alten Weiber im Armenhaus, aber sie sagte natürlich nichts. Schliesslich war die Signora eine feine Dame und das Kindlein in ihrem hoch gewölbten Bauch war sicher schwer. Miteinander gingen sie in die Remise neben dem Haus. Vor zwei Tagen hatte der Camioneur die grosse Kiste gebracht.

«Das Wiege, das Wiege!», hatte die Signora gejubelt und ihren Giorgio umarmt.

Er hatte als Überraschung für seine «Carina» die Wiege aus ihrem Elternhaus in Como kommen lassen. Erst am Morgen hatte er seiner Frau beim Espresso davon erzählt. Durch das offene Remisentor schien die Sonne direkt auf die Kiste aus hellen Tannenbrettern, die neben der Kutsche auf dem sandigen Boden auf zwei kleinen Balken stand. Auf dem Deckel klebten verschiedene Zettel in italienischer und deutscher Sprache. Auch Stempel waren darauf, und an zwei Seiten waren dünne, gedrehte Drähte mit einer Bleiplombe eingelassen. Fineli holte Hammer, Zange und Stemmeisen von der Werkbank an der hinteren Wand. Diese drei Werkzeuge lagen immer bereit, denn die Signora erhielt hin und wieder plombierte Kisten und Kistchen von ihren Eltern. Sie konnte es nie abwarten, dass Giorgio am Abend die schweren Behälter öffnete. Darum hatte Fineli einige Übung in dieser Männerarbeit.

Zuerst zwickte sie mit der Zange die beiden Plomben auf. Dann begann sie geschickt den Bretterdeckel aufzustemmen. Die Nägel sassen fest und knarzten beim Herausziehen. Fineli bekam vor Anstrengung rote Wangen. Die Signora trippelte wie ein Kind um die Kiste und konnte es kaum erwarten, bis der Deckel entfernt war. Das letzte Brett war noch daran, als sie schon in die Holzwolle griff und diese ungeduldig auf den Boden warf. Gut gepolstert und in ein grosses Stück schweren Seidenstoffs eingeschlagen stand die geschnitzte Wiege im Viereck. Gemeinsam hoben die beiden Frauen sie sorgsam heraus und stellten sie auf den bereitgestellten Handwagen. Rasch entfernte die Signora einzelne Holzwollenknäuel und das Seidentuch und verharrte für einige Augenblicke gerührt vor dem wunderschön gearbeiteten Wiegenbettchen. Das Holz schimmerte rötlich und die Blumenranken mit den geschnitzten Glockenblumen und den kleinen Rosen spielten im Sonnenlicht.

«Schau, Giuseppina, das mein Papa, das mein Onkel, das mein Tante.» Die Signora fuhr mit ihrer feinen Hand über die geschnitzten Namen und Jahreszahlen an der Wiege. «Und das mein Bruder, mein Schwester und das meine Name, Angelina. Ich sein die jüngste von alle.» Sie rieb sich rasch ein paar Tränen vom Gesicht und lachte wieder fröhlich.

Fast hätte Fineli auch ihr Taschentuch gebraucht. Sie war froh, dass die Signora wieder strahlte und brachte, um ihre Rührung zu verbergen, das Werkzeug zurück an seinen Platz. Die Holzwolle warfen sie in die leere Kiste zurück. Gemeinsam zogen sie den Wagen mit der Wiege über den Hof zum Haus. Dort fasste Fineli das kleine Möbel mit beiden Händen und trug es, schwer atmend hinter der Signora hergehend, in den Salon. Dass die zukünftige Mama dabei half, liess sie nicht zu, obwohl das Schaukelbettchen aus Kastanienholz viel schwerer war, als sie gedacht hatte. Im Salon stellte sie die Wiege aufatmend neben den Kachelofen auf den weichen Teppich aus dem Morgenland. Da passte sie gut hin, fand Fineli.

Wenn sie am Freitag jeweils den Salon putzte, setzte sie sich immer einen Augenblick auf den weichen roten Flor und fuhr mit den Fingern die schönen Muster nach. Die Fransen mussten jederzeit schön gekämmt daliegen, darauf legte die Signora grossen Wert. Der Herr hatte den Teppich von einer technischen Studienreise mitgebracht. Ein Land, in dem so wunderbare Teppiche geknüpft wurden, musste ein prächtiges, wundersames Land sein. Persien hiess es. Der König dort hiess Schah. Und die Menschen dort glaubten nicht an den Herrgott. Fineli hätte dem Signore gern viele Fragen gestellt oder sich einfach dazugesetzt, wenn der Signore seiner Frau und den Gästen davon erzählte, aber das gehörte sich nicht.

Die Signora gab der Wiege einen leichten Schubs und strahlte, dann entfernte sie das Seidenpapier, das den weichen Bettinhalt schützte. Die Decke und das kleine Kissen in der Wiege waren aus Seide und reich mit Wappen und Blumenranken bestickt. Es waren die gleichen Ranken wie auf der Wiege. Als die Signora die Decke heraushob, lag da ein Brief auf der kleinen Matratze. «Oh, Mamma.» Angelina liess sich schwer neben der Wiege auf den weichen Teppich nieder und hielt den Brief an die Wangen, den Tränen liess sie jetzt ihren Lauf.

Leise ging Fineli aus dem Salon.

In der Amtsstube

Verlegen trat Susanne von einem Fuss auf den andern. Gleichzeitig zerrte sie ihren kleinen Buben näher zu sich. Sie warteten im grossen dunklen Korridor des Gemeindehauses. Sie traute sich nicht, sich hinzusetzen, auch wenn der Rücken schmerzte und Beine und Füsse geschwollen waren. Die Stühle neben der Türe schienen der einfachen Frau zu vornehm. Susannes Kleidung und Haube waren sauber, schliesslich war sie Wäscherin. Der Rock und die Jacke waren geflickt, die Strümpfe grobgestrickt und kratzig. Die braunen derben Schuhe waren an den Spitzen abgestossen, die Absätze schiefgetreten. Über den Rist spannte sich eine feine Landschaft aus Rissen und Risslein. Auch wenn Susanne sich hätte Schuhfett kaufen können, diese Schuhe wären nicht mehr zu retten gewesen. Das Leder war alt und ausgetrocknet, die Nähte hielten kaum noch.

Susannes Hände waren rot und schrundig aufgerissen. Da half kein Melkfett, das sie manchmal auf den Höfen zum Einreiben erhielt, die Haut erholte sich nie von der Seifenlauge und dem heissen Wasser. Die Nägel waren stumpf und blassbläulich verfärbt. Das Waschblau, das der Weisswäsche der Reichen eine elegante Note gab, war in die feinen Rillen ihrer Nägel eingedrungen. Die Haare der Wäscherin waren früher glänzend kastanienbraun gewesen und hatten ihrem Josua gut gefallen. Aber das war lange her. Jetzt zeigte sie ihre Haare schon längst niemandem mehr. Sie waren stumpf und hatten die Farbe alten Buchenlaubes angenommen. Es störte sie nicht. Sie selber hatte keinen Spiegel, und dass sie einem Mann hätte gefallen wollen, war lange vorbei. Ihr Josua war vor acht Jahren beim Holzen verunglückt und hatte sie mit drei Kindern zurückgelassen. Ein späterer Liebhaber hatte sich davon gemacht, als sie schwanger geworden war. Mit dem kleinen Bub, der dann zur Welt kam, war ihr guter Ruf dahin. Eine Witwe, die zur Unzeit noch ein Kind zur Welt bringt, beim besten Willen, nein, das gehörte sich einfach nicht. Viele Haushaltungen, in denen sie all die Jahre die Wäsche zur Zufriedenheit der Meisterinnen erledigt hatte, brauchten plötzlich keine Wäscherin mehr, oder waren mit ihrer Arbeit nicht mehr zufrieden. Andere Meisterinnen sagten ihr ins Gesicht, dass sie ihre Wäsche nicht in die Hände einer liederlichen Person geben würden. Einer der Bauern hatte sie gar als wohlfeile Dirne betrachtet und sich im Waschhaus an sie herangemacht. Sie hatte ein Stück Wäsche aus dem kochend heissen Sudhafen gezogen und es ihm auf die Hände gepatscht. Fluchend hatte er sich verzogen und sie bei seiner Frau scheinheilig angeschwärzt. So verlor sie auch diese Stelle.

Zum Glück dachten die Wirtsleute im Dorf etwas grosszügiger, so hatte sie wenigstens vier Plätze als Wäscherin behalten können. Aber es reichte einfach nicht. Die beiden grösseren Kinder halfen zwar schon mit, aber ihr kleiner Lohn für Viehhüten oder Botengänge machte die tägliche Suppe nicht fett. Für die drei Kinder ihres Josua erhielt sie auch hin und wieder einen Zustupf aus der Armenkasse, aber für Johann, «das Uneheliche», erhielt sie nichts. Zwar brauchte er wenig. Die Kleider und Schuhe trug er von den Grossen nach, bis sie zerfielen oder zu klein wurden. Einen eigenen Strohsack brauchte er noch nicht, er war klein und schmächtig. Aber es ging einfach nicht mehr. Er hatte ein rebellisches, widerspenstiges Wesen. So klein, wie er war, brachte er die Halbgeschwister durcheinander und sie selber oft fast zur Verzweiflung. Ihre Meisterinnen wollten ihn nicht in ihren Waschküchen haben, da er sich oft mit den Meisterskindern auf Händel und Streitereien einliess oder kleine Schäden anrichtete. So hatte die «Kronen»-Wirtin Susanne letzte Woche vor die Wahl gestellt, nachdem er dem Wirtssohn beim Händeln das neue Hemd zerrissen hatte. «Entweder, du gibst den Saubub ins Armenhaus, oder du musst nicht mehr kommen.»

Auch wenn der Wirtsbub einen Kopf grösser war als ihr schmächtiger Johann und Susanne das Hemd rasch und sorgfältig geflickt hatte, es war nichts zu machen, es ging einfach nicht mehr. Er musste weg.

So stand sie nun im dunklen Gang und wartete. Der kleine Johann stand gleichmütig daneben. Er wusste ungefähr, worum es ging, es berührte ihn nicht. Die Halbgeschwister hatten ihm am Tag zuvor hämisch erzählt, dass ihn die Mutter nicht mehr wolle. Als Baschter habe er sowieso bei ihnen nichts verloren, man kenne ja nicht einmal seinen Vater. Er solle froh sein, wenn ihn der Armenvater im Armenhaus bei den Waisenkindern aufnehme. Richtig verstanden hatte Johann das Ganze nicht, aber schon lange gespürt, dass er allen im Weg war.

Für die Schmähung seines unbekannten Vaters hatte er die Schwester in die Hand gebissen. Sie hatte geheult, und man sah einige blaue Punkte, die seine Zähne hinterlassen hatten. Dafür hatte er von der Mutter zwei harte Schläge kassiert. Wenigstens hatte sie diesmal auch die Geschwister geschlagen, weil sie ihn verspottet hatten. Das schien ihm schon viel und half etwas über den eigenen Schmerz hinweg. Scheinbar mochte sie ihn doch ein wenig. Der Geruch in diesem dunklen Gang gefiel ihm, es roch leicht nach Bodenwichse und stark nach Zigarrenrauch. Beides kannte er aus den Wirtshäusern. Beide Gerüche mochte er gern, besonders der Geruch nach Zigarren schien ihm heimelig. Ob sein Vater auch Zigarren rauchte?

Jetzt trat der Schreiber in den Gang, mit ihm wehte den beiden ein Schwall von Zigarrenrauch aus der Amtsstube entgegen. Daneben nahm Johann den Schweiss des Schreibers und den ranzigen Geruch seiner strähnigen Haare wahr.

Der Schreiber war ein schmächtiger, fahriger Mann in einer Hose aus grobem Fischgratwollstoff. Über einem weissen Hemd mit speckigem Kragen trug er eine Weste, bis zu den Ellbogen schwarze Überärmel. Nach kurzem Gruss forderte er Susanne auf einzutreten; Johann beachtete er nicht. Die Amtsstube war gross; Johann hatte noch nie ein so schönes Zimmer mit glänzenden Möbeln und so grossen Fenstern gesehen. An zwei Wänden standen schwere Regale mit dickeren und dünneren Papierbündeln. Die Riemen des Bodens glänzten und bildeten ein schönes Muster. Es war das gleiche Muster wie auf der Hose des Schreibers. Johann stellte es mit Verwunderung fest. Neben der Türe stand ein Kleiderständer mit Hüten und Kitteln, daneben auf dem Boden ein Spucknapf mit frischem Sand.

Der Gemeindeammann sass auf einem Drehstuhl hinter einem grossen Schreibtisch aus dunklem, rötlichem Holz. Er war ein grosser schwerer Mann mit einer knolligen Nase. Sein Gesicht war glattrasiert, über den fleischigen Lippen trug er einen gezwirbelten Schnauz, wie ihn Johann noch nie gesehen hatte. Von einem Knopfloch in der Weste hing eine goldene Kette über den Bauch in ein Täschchen an der Seite. Im Mund hatte er eine brennende Zigarre. Johann sog den Geruch der bläulich aufsteigenden Schwaden ein, er tat ihm wohl. Jetzt drehte sich der Gemeindeammann auf die Seite und legte die Zigarre auf den Fenstersims.

Johann wunderte sich über den Stuhl, der unter dem schweren Mann zwar knarrte, aber sich leicht zu drehen schien. Er kannte nur Stühle mit vier Beinen oder die Dreibeiner in ihrer ärmlichen Küche. Auch die grüne Glaslampe auf dem Tisch gefiel ihm, sie schimmerte wie ein riesiger Edelstein. Er bestaunte das gedrechselte Holzhäglein, das den vorderen Rand des Schreibtisches abschloss. Es erinnerte den Buben an den kleinen Bauernhof und die geschnitzten Holzkühlein, mit denen er beim «Kreuz»-Wirt jeweils spielen durfte. Da gab es auch so einen kleinen Zaun rund um den Stall. Aber die Pföstchen waren nicht so schön, sie waren nur aus Haselstecken gemacht. Ob der Gemeindeammann auch Holzkühlein auf seinem Tisch hatte? Neugierig trat er näher heran, um die Kühlein zu suchen, aber der Schreiber schob ihn neben seine Mutter zurück, und diese packte ihn wieder fest an der Hand. Dann stellte sie ihn eng vor sich hin und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Das hatte sie noch nie gemacht. Es gefiel ihm und tat ihm gut, obwohl er durch den Stoff seines dünnen Kittels spürte, dass ihre Hände zitterten. Der Schreiber legte eine graue Mappe geöffnet vor den Ammann, dann ging er zurück an sein hohes Schreibpult.

«Die verwitwete Susanne Bleiker, geborene Brunner, stellt den Antrag, ihren Sohn Johann der Armengenossenschaft zu übergeben und ihn ins Armenhaus aufzunehmen», las der Ammann leise murmelnd in der Akte. Er nahm den goldenen Zwicker von der Nase und rieb sich die Augen. «Susanne Bleiker, geborene Brunner?»

«Ja.»

«Verwitwet seit 1832, also acht Jahre?»

«Ja, mein Josua ist beim Holzen in der Scheftenau verunglückt.»

«Hkm, hkm, böse Geschichte damals, ich erinnere mich.»

«Drei Kinder?»

«Ja, der Josi, der Peter und das Martheli.»

«Und woher kommt denn der Bub da, der ist doch erst vier-, fünfjährig?»

«Ja, das ist halt so passiert, man ist ja schliesslich aus Fleisch und Blut, hab halt gemeint, dass er mich heiratet, der Sepp.»

«So, so, halt passiert, halt gemeint.» Der Ammann blickte amüsiert zum Schreiber. Dieser erwiderte den Blick mit hochgezogenen Brauen und abschätzigem Achselzucken.

Susanne blickte verschämt auf den Boden. Dann fasste sie sich ein Herz und trat einen Schritt auf den Ammann zu. Dabei schob sie Johann vor sich her. «Herr Ammann, bitte nehmt meinen Buben ins Armenhaus auf, es geht einfach nicht mehr mit ihm. Er braucht eine starke Hand. Ich verliere sonst meine Stellen. Wie sollen wir dann leben?»

Susannes Wangen waren rot geworden, zusammen mit ihrem Buben trat sie noch einen kleinen, zaghaften Schritt auf den Ammann zu.

Johann blickte erwartungsvoll auf die glänzende Fläche des Schreibtisches. Er war enttäuscht. Da standen keine Kühlein. Nur Papier und Schreibzeug lagen nebeneinander aufgereiht.

«Ja, ja, man hört so allerlei über deinen Buben. Ja, die ledigen Kinder halt, ist einfach nicht gut, wenn die Frauen nicht anständig zu leben wissen.»

Susanne wollte etwas entgegnen, schluckte den Satz aber hinunter und schwieg. Was sollte sie sagen? Dass zum Kinderkriegen zwei gehörten? Aber das wussten der Ammann und der Schreiber schliesslich selber. So senkte sie beschämt den Kopf. Sie kannte ihren Platz, also blickte sie stumm vor sich auf ihren Buben und drehte verlegen an den Bändeln ihrer Tasche.

«Ja, so ist es wohl am besten, wenn der Bub in feste Hände kommt und das Arbeiten beizeiten lernt. Ihr seid ja sonst eine anständige und fleissige Frau, aber so ohne Vater, das geht halt einfach nicht.» Der Ammann hatte sich erhoben und trat zu Johann. Freundlich strich er ihm über sein struppiges Haar und kniff ihn leicht in die Wange. «Bist ein rechter Strick, wie man hört. Die Dummheiten müssen aufhören. Hast du mich verstanden?!»

Johann verstand zwar nicht, womit er aufhören sollte, aber er nickte brav.

«So nimm deinen Buben und bring ihn dem Armenvater», wandte sich der Gemeindepräsident wieder an die Wäscherin. «Er wird’s gut haben. Der Bachmann ist streng, aber schon recht.»

«Also, Johann, mach deiner Mutter keine Schande und benimm dich.»

Mit diesen Worten waren Susanne und ihr Sohn entlassen. Der Schreiber übergab ihr ein amtliches Papier, das sie sorgfältig in der Tasche verstaute. Sie bedankte sich unterwürfig beim Ammann, der sich wieder behäbig hinter seinen Tisch gesetzt hatte. Sie verliess aufatmend das Amtszimmer und den dämmrigen Korridor und machte sich mit ihrem Jüngsten auf den Weg durch das Dorf zum Armenhaus. Mit eingezogenen Schultern, das Kopftuch weit in die Stirne gezogen und den Buben fest an der Hand, schritt sie voran. Sie überquerte die Strasse, ohne nach links und rechts zu schauen.

Es war viel los im Dorf, die Leute waren auf dem Weg zum Markt ins benachbarte Städtli. Sie war froh um den Betrieb, so beachtete sie niemand mit ihrem Buben, und sie grüsste auch niemanden.

Beim «Kreuz»-Wirt wollte der Kleine abschwenken, wie er es sich von den Waschtagen gewohnt war, aber sie zog ihn unsanft weiter. Erstaunt schaute er zu ihr auf. Sie sagte nichts und er fragte nicht, so gingen sie an der Wirtschaft vorbei. Beim Bäcker Rüedi duftete es wunderbar nach frischem Brot. Sie traten in den Laden, und die Mutter kaufte ihm einen frischen Wecken. Das hatte sie noch nie getan.

«Nimm, bist ja doch mein Bub», sagte sie, gab ihm den Wecken und zog ihn weiter.

Bald gingen sie durch die grosse Hofstatt, zwischen den schwer mit Früchten beladenen Apfel- und Birnbäumen und durch den gut gepflegten Garten auf das Armenhaus zu. Es war ein stattliches, sonnenverbranntes Holzhaus mit langen blanken Fensterreihen. Vor den Fenstern blühten Petunien und Geranien. In einer Rabatte dem Haus entlang wuchsen Studentenblumen, Kapuziner und Fetthennen. Grosse Hauswurze ragten bis über die Steineinfassung, und einige Rosenstöcke verströmten einen betörenden Duft wie im höchsten Sommer. Ein Holzschopf und eine Remise waren links und rechts angebaut und daneben standen die grosse Scheune und der Stall. Vom Kastanienbaum vor dem Haus fielen schon die ersten stachligen Kugeln.

Im Armenhaus

Zaghaft zog Susanne am Glockenstrang. Im Innern des Hauses ertönte eine Glocke. Johann wunderte sich, dass sie nicht einfach eintraten, aber auf seine Frage meinte die Mutter, das gehöre sich nicht. Ein junges Mädchen mit langen, kastanienbraunen Zöpfen öffnete die schwere Türe und liess sie ein. Es war ärmlich, aber sauber gekleidet. Hinter ihm gingen sie durch einen langen Gang, in dem es nach Zichorienkaffee, Kohl und auch nach Abtritt roch. Der Geruch war ganz ähnlich wie zu Hause, darüber war Johann froh. Es würde schon nicht so schlimm werden. Am Ende des Flurs klopfte das Mädchen an eine Türe, und sie traten in ein kleines Zimmer. Der Armenvater sass an einem Tisch und las in einer Zeitung. An den Wänden hingen in einfachen Rahmen drei Tabellen mit grossen bräunlichen Stempeln. In einem offenen Schrank mit vielen kleinen Fächern lagen gebündelte Papiere.

Susanne blieb bei der Türe stehen und grüsste den Armenvater schüchtern. Dann streckte sie ihm das Papier, das ihr der Schreiber mitgegeben hatte, entgegen. Der Mann, der nach einem Nicken ruhig das amtliche Schreiben las, gefiel Johann. Er war um die vierzig und hatte freundliche Augen, ein breites Gesicht mit roten Backen und einem gezwirbelten Schnauz. Er legte das Papier vor sich auf den Tisch und strich mit der rechten Hand darüber. Gemütlich lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, schob die Daumen unter die breiten Hosenträger und liess diese zweimal lustig schnellen. Solche Hosenträger hätte Johann auch gern. Sie hatten ein gelbgraues Müsterchen und waren rechts und links mit zwei dicken grauen Gummischnüren mit zwei Knöpfen an der Hose eingehängt. Die Knöpfe waren aus Horn und schimmerten. Das gefiel Johann. Seine eigene geflickte, grobe Hose wurde nur durch einen alten Bändel ohne Schnalle gehalten, mehr schlecht als recht.

Der Armenvater nahm das Streichholz, das er im Mundwinkel gedreht hatte, heraus, legte es neben das amtliche Papier und meinte lächelnd: «So, so, wir bekommen einen neuen Buben, wie heisst du denn?»

Susanne schob ihren Sohn etwas vor und gab ihm einen leichten Schubs.

«Johann, Johann Bleiker», brachte er schüchtern hervor.

«Aha, dann bekommen wir also noch einen Apostel, einen Peter und einen Jakob haben wir schon», lachte der Armenvater.

Johann wusste nicht, was ein Apostel war. Zu fragen getraute er sich nicht, aber es schien etwas Gutes zu sein, wenn der Armenvater lachte. Er hatte keine Angst und gab dem Armenvater gern die Hand.

Die Mutter klaubte ein viereckiges Päckchen aus ihrer Tasche und faltete das bräunliche Wachspapier auseinander. Zwei gefaltete Papiere mit Tinte beschrieben und Stempeln darauf kamen zum Vorschein. Es waren Johanns Taufschein und Geburtsschein. Beide Bogen legte sie wortlos auf den Tisch vor dem Armenvater und zog sich zur Türe zurück. Der Armenvater schob die drei Blätter ineinander und legte sie in eines der kleinen Fächer im Schrank. Er schrieb einige Worte auf ein neues Blatt, drehte es gegen Susanne und forderte sie auf, die Sätze zu lesen und zu unterschreiben. Errötend senkte sie den Kopf und bewegte sich nicht. Johann hätte gern gewusst, was da geschrieben stand, aber er getraute sich nicht zu fragen.

«Aha, aha, na, dann lese ich es dir vor. Schliesslich sollst du wissen, was du unterschreibst», sagte der Armenvater und drehte das Blatt wieder zu sich. «Eintritt Bleiker Johann, Sohn der Bleiker Susanne, verwitwete Brunner. Grund: Armut und mangelnde Aufsicht. Geboren 11. Juli 1840 in Wattwil, unehelich, Vater unbekannt. An Michaelis, 29. September 1844.»

Der Armenvater schob Susanne das Blatt wieder hin und wies mit einem Finger auf die unterste Linie, wo er Susannes Namen hingeschrieben hatte. «Mach einfach deine Kreuze daneben, das reicht auch», meinte er.