Ashblood - Die Herrin der Engel - Garth Nix - E-Book

Ashblood - Die Herrin der Engel E-Book

Nix Garth

0,0
12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Aus Liebe zu einem Engel – das neue außergewöhnliche Fantasy-Abenteuer von SPIEGEL-Bestsellerautor Garth Nix.

Vor mehr als hundert Jahren kam die Aschblut-Plage über das Reich Ystara. Sein Schutzherr, der Erzengel Palleniel, wandte sich damals von seinem Volk ab – heute glaubt jeder, dass die Engelsmagierin Liliath die Schuld daran trägt, was vor so langer Zeit geschehen ist. Um die Zeit zu überdauern, flüchtete sich Liliath in einen magischen Schlaf, aus dem sie nun erwacht. Sie ist immer noch eine junge Frau, und sie wird ihren geheimen Plan von damals endlich umsetzen. Auch wenn Menschen und Engel sie aufhalten wollen, wird sie triumphieren. Und obwohl der Preis unvorstellbar hoch ist, wird sie alles opfern – im Namen der Liebe!

Verpassen Sie auch nicht den SPIEGEL-Bestseller »Die magischen Buchhändler von London« von Garth Nix.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Vor mehr als hundert Jahren kam die Aschblut-Plage über das Reich Ystara. Sein Schutzherr, der Erzengel Palleniel, wandte sich damals von seinem Volk ab – heute glaubt jeder, dass die Engelsmagierin Liliath die Schuld daran trägt, was vor so langer Zeit geschehen ist. Um die Zeit zu überdauern, flüchtete sich Liliath in einen magischen Schlaf, aus dem sie nun erwacht. Sie ist immer noch eine junge Frau, und sie wird ihren geheimen Plan von damals endlich umsetzen. Auch wenn Menschen und Engel sie aufhalten wollen, wird sie triumphieren. Auch wenn der Preis hoch ist, wird sie alles opfern – im Namen der Liebe!

Autor

Garth Nix wurde in Melbourne, Australien, geboren, doch als er ein Jahr alt war, zogen seine Eltern mit ihm und seinem Bruder nach Canberra. Er studierte an der University of Canberra und machte dort 1986 seinen Abschluss. Danach arbeitete er unter anderem als Buchhändler und Verleger. Seine Bücher wurden weltweit mehr als 5 Millionen Mal verkauft und in 42 Sprachen übersetzt. Garth Nix lebt heute mit seiner Frau Anna und seinen beiden Söhnen in einem Vorort von Sydney.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlagund www.facebook.com/blanvalet.

Garth Nix

Ashblood

Die Herrin der Engel

Roman

Deutsch von Tim Straetmann

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Angel Mage« bei Allen & Unwin, Sydney.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Garth Nix

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Alexander Groß

Covergestaltung: Anke Koopmann | DesignomiconCovermotive: Hintergrund: shutterstock/Kjpargeter – 98866757, Rahmen: shutterstock/NadezhdaShu – 1718085001, Flügel: shutterstock/User18576094 – 1629657322, Degen: shutterstock/Vita Yarmolyuk – 1897307587, Flüssigkeit: shutterstock/Angelatriks - 1042668004

Karten: Copyright © by Garth Nix 2019

HK · Herstellung: mar

Gesamtherstellung. GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-26325-6V001

www.penhaligon-verlag.de

Dieses Buch ist voller Respekt

Alexandre Dumasgewidmetsowie

Richard Lester (Regisseur) undGeorge MacDonald Fraser (Drehbuchautor)und der gesamten Besetzung und der Crew der Filme Die drei Musketiere (1973) undDie vier Musketiere – Die Rache der Mylady (1974).

Und, wie immer

Anna, Thomas und Edward und meiner ganzen Familie und all meinen Freunden

Die Hierarchie der Engel

Seraphim

Cherubim

Throne

Herrschaften

Mächte

Gewalten

Fürstentümer

Erzengel

Prolog

»Es sind nur noch elf von uns übrig, Eminenz«, sagte die junge Gardistin. Sie war offensichtlich sehr müde und lehnte sich auf ihren Degen, der vom Heft bis zur Spitze mit grauer Asche verschmiert war. »Ich glaube nicht, dass wir den Turm noch lange halten können.«

»Elf ?«, fragte Kardinalin Alsysheron, die viel älter als ihre siebzig Jahre aussah. Sie saß auf dem Sims des großen Bogenfensters, das nach Süden wies, weil es sonst nirgends im Glockenturm eine Möglichkeit gab, sich hinzusetzen, denn der größte Teil des Raums wurde von der großen Glocke von Sankt Desiderus eingenommen. Die gewaltige Bronzeglocke war jetzt stumm. Es war sinnlos, Alarm zu schlagen, und außerdem waren jene, die diese Aufgabe gehabt hatten, längst tot.

Alsysheron hatte die langen Schöße ihrer scharlachroten Robe so zusammengefaltet, dass sie eine Art Kissen auf dem kalten Stein bildeten. Sie trug nur einen Pantoffel, und ihr fast kahl geschorener Kopf war unbedeckt, zum ersten Mal in vielen Jahren ohne Kappe oder Mitra; der feine weiße Flaum hob sich deutlich von ihrer tiefschwarzen Haut ab. Die Kardinalin war in größter Eile aus ihrem Behelfsbett in der großen Halle geflohen, als die Kreaturen es unerwarteterweise geschafft hatten, durch die Keller und die Krypta einzudringen.

»Ich habe nichts von einem weiteren Angriff gehört …«

»Omarten hat das Aschblut erwischt«, antwortete die Gardistin und gab der Plage den neu gefundenen Namen. Sie gehörte noch nicht einmal zum Haushalt der Kardinalin – bis vor zwei Tagen war sie eine sehr neue Rekrutin in der Königlichen Garde gewesen. Doch dann war der Palast an die Monster gefallen, und sie war mit den Überlebenden den Fluss entlang zur Kathedrale gezogen, die einst eine Festung gewesen war und eine kleine Hoffnung auf Überleben zu bieten schien. »Wir haben seine Leiche nach draußen geschafft.«

»Das war unnötig«, sagte die Kardinalin. »Wie wir gesehen haben, tritt die Verwandlung nach dem Tod nicht mehr ein.«

»Wir wollten kein Risiko eingehen«, flüsterte die Gardistin und beugte sich vor. Ihre braunen Augen waren plötzlich weit aufgerissen, ihr Blick intensiver, ihre Müdigkeit verschwunden. Sie erschien der Kardinalin sehr jung, zu jung, um eine stählerne Sturmhaube und einen Kürass zu tragen und Pistolen in ihrer einst blauen Schärpe, die jetzt vom Aschblut der Kreaturen graufleckig war. »Eminenz … ist es nicht an der Zeit?«

»An der Zeit wofür, mein Kind?«

»Palleniel zu rufen!« Ihre Stimme war drängend, und sie lehnte sich nicht mehr auf ihren Degen, sondern reckte ihn hoch in die Luft. »Er kann bestimmt alles in Ordnung bringen!«

Die Kardinalin schüttelte langsam den Kopf und sah aus dem Fenster, ließ den Blick über Cadenz schweifen – zumindest über das, was sie unter der gewaltigen, tiefhängenden Wolke aus dichtem schwarzem Rauch von der Stadt sehen konnte. Es gab jetzt viele Brände, nachdem Bäcker und Köche am Aschblut gestorben waren und sich nicht mehr um ihre Feuer kümmern konnten, die schnell außer Kontrolle gerieten, da niemand mehr da war, um sie zu bekämpfen. Die Monster versuchten es ganz gewiss nicht. Tatsächlich war einer der größten Brände von jemandem – wahrscheinlich einem verzweifelten Offizier der Stadtwache – entfacht worden, der gehofft hatte, die Monster dadurch auf dem Nordufer des Flusses zu halten, weil er sich nicht darüber klar gewesen war, dass die Kreaturen keine Invasoren waren, sondern verwandelte Menschen und daher überall auftauchten.

»Magistra Thorran hat vor ihrem Tod einen Bericht verfasst«, sagte die Kardinalin. »Engelsmagie lässt die Opfer zu Monstern werden, während sie noch leben. Als die Plage ausgebrochen ist, haben zu viele Magier und Priesterinnen ihre Engel angerufen, um sich zu heilen, oder auch in dem Versuch, sich zu verteidigen – ich habe es selbst gesehen, wie auch du sicherlich … Tut mir leid, ich habe deinen Namen vergessen.«

»Ilgran, Eminenz. Aber wo die geringeren Engel versagen, wird doch gewiss Palleniel …«

Die Erzbischöfin schüttelte den Kopf noch heftiger. »Ich habe lange gebraucht, um die Natur von all dem zu ergründen, Ilgran«, sagte sie. »Vielleicht gelingt es dir schneller, wenn du diese drei Dinge hörst.«

Sie hob die Hand, zählte die Punkte an ihren dünnen alten Fingern ab, an denen sie schwere Symbolringe trug, manchmal sogar zwei oder drei; jeder einzelne repräsentierte einen Engel, den die Kardinalin anrufen konnte. Allerdings war keiner von ihnen so mächtig wie der auf dem schweren Symbol aus gehämmertem Gold, das an einer Halskette aus silbervergoldeten s-förmigen Gliedern um ihren Hals hing.

»Erstens – Esperaviel ist auf mein Geheiß nach Barrona und Tarille und zum Anfang der Landbrücke geflogen: Sie bestätigt, dass die Aschblut-Plage nicht über die Grenzen von Ystara hinausgeht, nicht einen einzigen Schritt. Außerdem konnte sie selbst die Grenze nicht überqueren …«

»Ich bin keine besonders gute Magierin, Eminenz«, sagte Ilgran leicht errötend. Sie war in die Königliche Garde aufgenommen worden, weil ihre Tante eine Leutnantin war, nicht aufgrund ihrer Fechtkunst oder ihrer Fähigkeiten als Magierin. »Ich kenne Esperaviel nicht. Von welchem Orden …«

»Sie ist eines der Fürstentümer unter Palleniel; ihr Wirkungsbereich ist der Himmel über Ystara«, fuhr die Kardinalin fort. »Sie hat mir gesagt, dass die Grenzen von den benachbarten Erzengeln blockiert wurden, im Norden durch die Macht von Ashalael von Sarance und im Süden durch die von Turikishan von Menorco.«

»Sie haben sich versammelt, um uns anzugreifen? Aber warum, das macht …«

»Nein, es ist kein Angriff, nicht von außerhalb. Es sind lediglich für alle himmlischen Wesen die Grenzen geschlossen worden. Alle unsere Grenzen. Hör zu ! Die zweite Sache ist, dass Esperaviel gesehen hat, wie die Maid von Ellanda mit vielen Gefolgsleuten die Grenze nach Sarance überquert hat, und drittens …«

Die alte Priesterin machte eine Pause und seufzte schwer. Sie ließ die Hand in den Schoß sinken und hob sie dann wieder, packte Ilgrans linke Hand mit ihren knochigen Fingern, zog sich hoch, um schließlich ein bisschen wacklig dazustehen.

»Und drittens habe ich Palleniel am ersten Tag angerufen, als der König angefangen hat, Asche zu bluten. Palleniel hat geantwortet, wollte aber meinen Anordnungen nicht Folge leisten. Er hat gesagt, ihm würde jetzt jemand anders Befehle erteilen.«

»Was? Aber … das ist … wie? Ihr seid die Kardinalin-Erzbischöfin von Ystara ! Ihr besitzt das Symbol!«

»Und Palleniel ist der Erzengel von Ystara. Aber mein Symbol – das uralte Symbol von Sankt Desiderus – ist jetzt stumpf und leblos. Hast du es nicht bemerkt? Wäre es noch mächtig, würde das Symbol von Xerreniel, das du auf deinem Helm trägst, klirren und zittern, wenn du so nah bei mir stehst. Ich habe gespürt, wie seine Kraft verblasst ist, als Palleniel sich zurückgezogen hat. Und dann habe ich mich gefragt: Welche Macht könnte diese Aschblut-Plage über unser armes Volk bringen? Welche Macht könnte dafür sorgen, dass alle Einmischungen der geringeren Engel scheitern, dass sie Monster erschaffen, statt zu heilen oder uns zu verteidigen, wie wir es wollten? Wer könnte in Ystara so etwas tun?«

»Die anderen Erzengel …«

»Nein«, widersprach die Kardinalin. »Hier in Ystara steht Palleniel an erster Stelle. Ich glaube, die benachbarten Erzengel haben gehandelt, um das Aschblut und die Kreaturen, die es hervorbringt, so gut wie möglich in den irdischen Reichen einzuschränken, die sie beschützen. Ich spüre, dass sie versuchen, mehr zu tun, dass in den Himmeln weitere Kämpfe im Gange sind – gegen Palleniel. Denn diese Plage, die Monster … das muss Palleniels Werk sein. Aber wie immer kann kein Engel auf unsere Welt kommen oder hier etwas tun außer auf den Ruf oder die Anweisung eines oder einer Sterblichen hin. Und so fügen sich die Einzelteile zusammen, denn wer hat das Geschick und die Macht, ein neues Symbol anzufertigen, um Palleniel zu beschwören? Und wer würde die Arroganz und die Stärke haben, ihn mit dem neuen Symbol zu beschwören und ihn so etwas tun zu lassen?«

Ilgran schüttelte stirnrunzelnd den Kopf, den Mund ungläubig verzogen. »Ich nehme an, das kann nur die Maid von Ellanda sein … Aber warum würde sie … so etwas wollen? Es ist der Tod des Königreichs! Unser aller Tod!«

»Ich glaube nicht, dass sie dies gewollt hat«, sagte die Kardinalin. »Aber wie immer, wenn es um Engel geht, muss man sehr vorsichtig sein. Je größer die Macht, desto größer die Möglichkeit unbeabsichtigten Schadens. Wir hätten die logischen Konsequenzen ihrer Begabung, Symbole zu machen und Engel zu beschwören, sehen sollen. Habe ich Begabung gesagt? Ich meine natürlich, ihres Genies. Aber sie war … sie ist zu jung. Neunzehn ist viel zu jung, um zur Magistra oder zur Bischöfin gemacht zu werden, in den Geheimnissen unterrichtet zu werden oder die Erlaubnis zu bekommen, mit den größeren Orden umzugehen. Obwohl sie ganz offensichtlich weder Unterricht noch die Erlaubnis gebraucht hat …«

»Ich habe sie einmal aus der Ferne gesehen. In ihren Augen war ein Licht, ein Wahnsinn«, sagte Ilgran langsam. Sie blickte nicht die Kardinalin an, sondern hinaus auf die brennende Stadt. »Als sie mit ihren Gefolgsleuten gekommen ist, um den König zu sehen, weil sie eine Gründungsurkunde für ihren Tempel haben wollte. Für Palleniel Erhaben, was auch immer das bedeutet …«

Ilgran sprach geistesabwesend, ihre Gedanken waren anderswo, verdauten das, was die Kardinalin ihr gerade erzählt hatte. Es bedeutete, dass es keine Rettung geben würde; sie würde wahrscheinlich nicht mehr lange genug leben, um einen weiteren Tag heraufdämmern zu sehen. Unten waren viele Monster, und die Kathedrale war mindestens ein Jahrhundert lang keine Festung mehr gewesen. Im Glockenturm gab es kein Wasser, keine Essensvorräte, und außerdem war das Tor unten schwach. Selbst ohne Rammbock würden die größeren Monster es zerschlagen können, wenn sie einen entschlossenen Versuch unternahmen.

»Vielleicht hätten wir ihr diese Urkunde gewähren sollen«, sinnierte die Kardinalin. »Aber ich glaube nicht, dass sie wahnsinnig ist. Auf grausame Weise zielstrebig, zugegeben. Ich habe Mitleid mit ihr.«

»Ihr habt Mitleid mit Liliath, Eminenz? Wenn es so ist, wie Ihr vermutet, hat sie irgendwie Palleniel korrumpiert, und sie ist verantwortlich für … Sie hat die Aschblut-Plage über uns gebracht; sie hat meine Eltern getötet und meinen Bruder und meine Schwester in Monster verwandelt. Wenn sie hier wäre, würde ich sie töten und froh sein, wenn Degen oder Pistole vollbringen könnte, was gegen das, was auch immer sie geworden ist, nötig ist!«

»Oh, ich glaube, kalter Stahl oder eine Kugel würde sie erledigen, wenn auch mit gewissen Schwierigkeiten, genau wie das bei den Monstern der Fall ist«, sagte die Kardinalin. »Allerdings würdest du möglicherweise nicht die Gelegenheit bekommen, Degen oder Pistole zu benutzen, wenn Palleniel tatsächlich in ihren Diensten steht. Sie muss auch andere Engel befehligen, mehr, als wir jemals vermutet haben. Aber ich habe Mitleid mit ihr, denn wie ich gesagt habe, kann dies nicht das sein, was sie vorgehabt hat. So jung, so unglaublich begabt und doch so unklug, alles zusammen. Ich frage mich, was sie tatsächlich vorgehabt hat, vielleicht …«

Was auch immer sie sagen wollte, blieb ungesagt, als das erste der Monster, die die alten, gesprungenen Steine des Glockenturms erklommen hatten, sich über die Brüstung und auf den Rücken der alten Prälatin schwang und ihr mit seinen Krallen die Kehle durchschnitt, noch während es sie zu Boden drückte.

Ilgran tötete eines mit einem Degenstoß, bei dem die Waffe im Maul der Kreatur stecken blieb, bevor sie selbst fiel. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn als sie sich unter den Rand der großen Glocke duckte, um sich in den offenen Schacht zu stürzen, ging eine der Kreaturen auf sie los, das entsetzliche Maul weit aufgerissen, die krummen Finger ausgestreckt. Die Pistole blieb ungenutzt in Ilgrans Gürtel stecken, wurde nicht abgefeuert, da das Monster sie mit Janeths Augen ansah. Mit den lebendigen grünen Augen ihrer kleinen Schwester.

Die Gardistin sprang, unternahm keinen Versuch, das Glockenseil zu packen. Während sie in den Tod stürzte, konzentrierte Ilgran all ihre Gedanken auf die winzige Hoffnung, die diese Augen in ihr hatten erwachen lassen.

Es musste eine Chance geben, dass ein Monster auch wieder menschlich werden konnte.

Erster Teil

Liliath

Eins

Die junge Frau erwachte in absoluter Dunkelheit auf kaltem Stein, und ihre suchenden Hände spürten auch über ihr und an den Seiten Stein. Doch die Panik, die mit dieser Erkenntnis aufgekommen war, ebbte ab, als sie sich daran erinnerte, warum das so war, und sie verschwand vollständig, als sie die Stimme hörte.

Die Stimme voller Macht und Stärke, die dafür sorgte, dass sie sich vollständig fühlte, sich lebendig fühlte. Mit ihr kam die plötzliche, intensive Empfindung, umarmt zu werden, fest und sicher gehalten zu werden. Nicht von menschlichen Armen, sondern von großen Schwingen aus Licht und Macht.

»Das, worauf du gewartet hast, ist geschehen, und daher habe ich dich geweckt, genau wie du es vor langer Zeit befohlen hast.«

»Wie …?«

Ihre krächzende Stimme versiegte. Sie schluckte, und in ihrem Mund und ihrer Kehle bewegte sich Speichel, zum ersten Mal seit … wer konnte schon sagen, seit wann.

Sie hatte sich lange Zeit in einem Zustand kurz vor dem Tod befunden, wie sie wusste. Wenn irgendjemand in das Grab hätte schauen können, hätte sie wie tot gewirkt, auch wenn ihr bemerkenswert gut erhaltener Körper jedem Beobachter wohl zu denken gegeben hätte. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand sie hätte sehen können, war durch die Wahl ihrer Ruhestätte deutlich verringert worden. Ein großer Steinsarg, bedeckt mit einer gewaltigen Marmorplatte, und alles versiegelt mit Blei.

Es wäre nur natürlich gewesen zu fragen, wie lange sie in dem Sarg gewesen war. Aber das war nicht ihre erste Frage. Sie dachte nur an das, was für ihren alles vereinnahmenden Plan notwendig war.

»Wie viele geeignete Kandidatinnen und Kandidaten sind bereit?«

Ein langes Schweigen folgte. Lange genug, um sie glauben zu machen, die Präsenz sei gegangen. Aber dann ertönte die Stimme wieder.

»Vier.«

»Vier! Aber es sollten hunderte …«

»Vier«, wiederholte die Stimme.

Einen Moment lang durchzuckte sie Wut, extremer Ärger darüber, dass ihre Pläne – ihr Schicksal – schon wieder fehlschlagen sollten. Doch sie unterdrückte den Ärger. Auch wenn sie sich viel mehr mögliche Kandidatinnen und Kandidaten erhofft hatte, um für Irrtümer oder Pech gewappnet zu sein, sollten vier ausreichen. Sogar eine oder einer mochte schon genügen …

»Wo sind sie?«

»An vier Orten in Sarance, aber sie werden zusammenkommen. Bald.«

»Und der Orden? Besteht er fort? Du hast ihnen die Zeichen meines Erwachens gezeigt?«

»Ich habe die Zeichen gezeigt. Ich weiß nicht, ob irgendjemand überlebt und sie sehen kann oder ob auf sie reagiert worden ist. Wie du weißt, bin ich nicht vollständig, und man widersetzt sich mir heftig … nur dein Wille verankert mich in deiner Welt. Fast wünsche ich mir, mich vollständig aufzulösen …«

»Du wirst tun, was ich dir befehle!«

Sie sprach drängend, ihre Stimme erfüllt von all ihrer natürlichen Macht und ihrem starken, konzentrierten Willen.

»Ich gehorche. Ich bin gänzlich dein. Ich kann nicht länger sprechen, meine …«

Die Stimme verstummte. Dieses Mal war die Stille vollständig. Sie wusste, dass es keine weiteren Worte geben würde, keine Wärme, kein Gefühl von umfassender Sicherheit und Liebe. Nicht jetzt. In ihren Augenwinkeln bildeten sich Tränen, aber sie blinzelte sie entschlossen weg. Sie hatte keine Zeit für Tränen. Niemals.

»Ich liebe dich«, flüsterte die junge Frau. Sie fühlte sich besser, als sie die Worte sagte, kam wieder zu sich selbst, zu dem, was sie gewesen war. Ihre Stimme wurde kräftiger, hallte durch den steinernen Sarg. »Ich werde dich immer lieben. Wir werden zusammen sein. Wir werden zusammen sein!«

Sie betastete ihre Hände. Ihre Haut hatte immer noch die weiche, samtene Glätte der Jugend. Aber was viel wichtiger war, die Ringe waren alle noch da. Sie berührte sie, einen nach dem anderen, ließ die Macht in ihnen ansteigen, nur ein bisschen, bis sie sich auf den letzten, den neunten Ring, konzentrierte. Den Ring auf ihrem linken Daumen. In dem Metallstreifen aus uraltem Elektrum befand sich ein Oval aus Elfenbein, in das feine, fedrige Schwingen geschnitzt waren, die beinahe ein gemaltes oder vielleicht auch emailliertes menschliches Gesicht mit Augen aus winzigen Rubinen verbargen. Der Heiligenschein über dem fast verborgenen Gesicht war eine goldene Linie von gerade einmal Haaresbreite.

»Mazrathiel«, flüsterte die Frau im Sarg. »Mazrathiel, Mazrathiel, komm und hilf.«

Licht schimmerte aus dem Ring, kalt wie Mondlicht, doch heller. Sie schloss die Augen angesichts der plötzlichen Helligkeit und spürte, wie die geringere Präsenz erschien. Sie kam mit einem Gefühl der Wärme, aber diese war nicht mehr als die willkommene Hitze eines Küchenfeuers an einem kalten Tag, nichts so Bemerkenswertes wie das Gefühl, das ihr ganzes Sein zuvor umschlossen hatte, als sie mit ihm gesprochen hatte. Außerdem spürte sie einen Luftzug wie von sich zusammenfaltenden Schwingen und hörte den schwachen, klaren Ton einer einzelnen Harfensaite, die weit entfernt gezupft wurde.

»Mazrathiel ist hier«, ertönte ein schwaches Flüstern, das nur sie hören konnte. »Was ist dein Wille ? Wenn es in meinem Bereich liegt, wird es geschehen.«

Die Frau flüsterte, und Mazrathiel befolgte ihre Anweisungen.

Bruder Delfon hatte die kühle Stille des Heiligengrabs in der tiefsten Gruft unter dem Tempel immer geliebt. Im Winter war es hier sehr kalt, aber er war nicht im Winter hergeschickt worden, um Nachtwache zu halten, nicht mehr, seit er sein sechzigstes Lebensjahr erreicht hatte. Das lag jetzt mehr als ein Jahrzehnt hinter ihm, und wie alle, die Engelsmagie anwandten, war er älter als seine Jahre. Die gebrechlicheren Anhängerinnen und Anhänger von Sankt Marguerite hielten nur im Hochsommer Nachtwache, und tatsächlich wäre Delfon die Aufgabe erspart worden, doch er hatte darauf bestanden. Er fügte sich dem Vorschlag seiner Vorgesetzten, dass er ein Kissen und eine Decke mitbringen und sich auf die Holzbank in der Ecke setzen sollte, auf der sich an den heiligen hohen Tagen müde Pilger und Pilgerinnen ausruhten, wenn ihnen der Besuch der Gruft gestattet wurde.

Er war mittlerweile in sich zusammengesackt und nur noch halb wach. Daher dauerte es mehrere Sekunden, bis er bemerkte, dass er nicht mehr allein war. Eine Schwester stand über ihm und sah ihn mit einem fragenden Gesichtsausdruck an, als wüsste sie nicht so recht, was sie von dem ältlichen Mönch halten sollte.

Eine junge Schwester. Sie trug einen Habit, der seinem stark ähnelte, das Schwarz und Weiß der Anhängerinnen und Anhänger des Erzengels Ashalael, aber es gab Abweichungen im Hinblick auf die Weite der weißen Ärmelmanschetten und den Schnitt der Robe, und selbst das Schwarz des Stoffes sah im Licht von Delfons Laterne ein bisschen anders aus. Langsam wurde ihm klar, dass es vielleicht ein sehr dunkles Blau und gar kein Schwarz war, und die auffällige Plakette auf ihrer Brust zeigte ein Paar goldener siebenspitziger Schwingen – Erzengelschwingen. Aber Ashalaels Schwingen wurden immer in Silber dargestellt, und außerdem wurden diese hier von einer seltsamen, neunzackigen Krone mit einem Heiligenschein überragt, nicht von der Mitra einer Kardinalin oder eines Kardinals …

Andererseits waren seine Augen nicht mehr das, was sie früher einmal gewesen waren, genauso wenig wie seine Ohren. Das Gleiche galt für sein Erinnerungsvermögen, daher rätselte er nicht lange über die Plakette oder warum er diese große, patrizisch aussehende Schwester nicht erkannte. Sie war tatsächlich jung, vielleicht nicht älter als achtzehn oder neunzehn, gewiss eine Novizin. Doch dem stand entgegen, dass ihre Haltung der einer Bischöfin auf Besuch entsprach oder der einer Äbtissin, und er betrachtete ihre nussbraunen Hände und nickte, als er bemerkte, dass sie viele Ringe an ihren Fingern trug, Ringe, in die rechteckige oder ovale Stücke aus bemaltem und vergoldetem Elfenbein oder aus kompliziert gravierter, vergoldeter Bronze eingesetzt waren. Symbole der Engelsmagie, auch wenn er nicht auf Anhieb erkennen konnte, welche Engel sie repräsentierten und welche Kräfte sie beschwören konnten.

»Ich habe gar nicht bemerkt, wie Ihr hereingekommen seid, Euer Gnaden«, sagte er. Ihr Gesicht kam ihm vage vertraut vor. Jung und schön, mit dunklen Augen und mandelfarbener Haut, ihre Haare schwarz wie ein seltenes Stück Jade, das er einst graviert hatte, um ein Symbol von Karazakiel zu erschaffen. Ihr Gesicht war ernst – Delfon wusste nicht, wer sie war, auch wenn sie ihn an jemanden erinnerte …

»Ich wollte auch nicht, dass du es bemerkst«, sagte die merkwürdige junge Schwester. Sie streckte die rechte Hand aus, und Bruder Delfon nahm sie und streifte mehrere Zoll über ihren Fingern mit den Lippen die Luft; seine alten Augen versuchten sich auf das Gesicht des Engels zu konzentrieren, der so schön auf das Elfenbein in den Zacken des auffälligsten und außerordentlich machtvollen Rings aufgemalt war. Er erkannte weder das Gesicht noch den Stil des Malers, was überaus merkwürdig war, denn er war selbst ein bekannter Symbolmacher. Er hatte sein ganzes Leben lang Symbole studiert und viele tausend Engel gemalt, und in seinen besten Zeiten war er in der Lage gewesen, die Macht von nicht weniger als neun sehr nützlichen, wenn auch vergleichsweise rangniederen Engeln in seine Arbeit zu leiten.

Mit so vielen konnte er jetzt nicht mehr umgehen, aber es gab immer noch drei geringere Engel, die ihm antworten und ihre Macht in die Symbole einfließen lassen würden, die er anfertigte und mit seinem eigenen Blut vervollständigte.

»Ich … ich erkenne Eure Plakette und Euren Orden nicht«, murmelte Delfon und ließ die Hand der Bischöfin los, um zittrig auf ihren Habit zu deuten.

»Tut Ihr das nicht?«, fragte die junge Frau. Sie lachte, und in ihren Augen blitzte etwas auf, das zu gleichen Teilen aus Überschwang und Schalk bestand. »Das ist das Wappen von Palleniel Erhaben, was sonst?«

Delfon wich zurück. Bestimmt hatte er sich verhört …

»Palleniel Erhaben«, wiederholte die Frau lauter. Sie schien es zu genießen, den Namen zu sagen, der nicht länger ausgesprochen wurde. Oder an den man sich vielleicht nicht einmal mehr erinnerte, abgesehen von Leuten wie Delfon, die sich ihr ganzes Leben lang mit Katalogen und Listen von Engelswesen beschäftigt hatten. Außerdem hatte er seine Kindheit unweit der Grenze zu Ystara verbracht, dem verlorenen Land, dessen Erzengel Palleniel gewesen war.

»Palleniel? Aber er ist nicht mehr, ist von dieser Welt verschwunden, wurde von den anderen Erzengeln verbannt!«

»Aber seine Erzbischöfin ist hier, und du hast sie gesehen. Nicht alles, was man dir erzählt hat, ist wahr.«

Delfon runzelte die Stirn und wollte etwas sagen, aber in diesem Augenblick bemerkte er etwas hinter ihr, was er eigentlich sofort hätte sehen müssen. Die Worte vertrockneten in seinem Mund, als er sah, dass das Grab der Heiligen, der große steinerne Sarkophag, der das Zentrum dieses runden Raums mit der Kuppeldecke beherrschte, nicht mehr so war wie zuvor.

Der bleiversiegelte marmorne Deckel des riesigen Sargs war beiseitegeschoben worden. Er wog mehrere Tonnen und war gewiss ursprünglich nur unter allergrößten Anstrengungen von Ingenieuren, Hebezeug und Seilen dorthin geschafft worden. Oder mit Hilfe eines überaus mächtigen Engels …

Die Frau sah, in welche Richtung sein geplagter Blick ging.

»Du wirkst beunruhigt, Bruder. Aber ich versichere dir, dass Sankt Marguerite nichts dagegen gehabt hat, ihre Gruft mit mir zu teilen. Tatsächlich war nichts darin, als ich hineingekrochen bin, was darauf hindeutet, dass die Vorgänger in deinem Orden im Hinblick auf die Gründung dieses Ortes nicht ganz die Wahrheit gesagt haben.«

»Aber, aber … was …«

Liliath setzte sich neben dem alten Mann auf die Bank und legte ihm einen Arm um die Schultern. Er spannte sich an und versuchte zurückzuweichen, aber sie hielt ihn fest. Sie war beunruhigend stark, und er entschied sich schnell, sich ruhig zu verhalten, wandte allerdings den Blick ab.

»Na, na. Hab keine Angst. Ich würde gerne etwas wissen, das von beachtlicher Tragweite ist. Zumindest für mich, denn ich vermute, es ist eine lange Zeit vergangen.«

»W… w… was?«

»Ich war lange Zeit nicht da«, sagte Liliath. »Ich wusste, dass dem so sein würde, aber nicht genau, wie lange. Wie viele Jahre sind seit dem Untergang von Ystara vergangen?«

»Einhundertund…«, flüsterte Delfon. »Einhundertundsechsunddreißig – nein, einhundertundsiebenunddreißig.«

»Es hat sich nur wie eine ausgedehnte Nachtruhe angefühlt«, sagte Liliath mehr zu sich selbst. »Eine lange Zeit …«

Sie schwieg eine Weile, und ihre schlanken Finger ruhten auf einem der Symbolringe. Delfon saß neben ihr, zitternd; ihm war plötzlich so kalt, wie es ihm in längst vergangenen Tagen in diesem Grab im Winter gewesen war. Er glaubte, das sanfte Rauschen von Engelsschwingen zu hören, eine weitere Beschwörung, aber ganz sicher war er sich nicht. Er hatte Kopfschmerzen, und seine Ohren fühlten sich dumpf und verschlossen an.

»Du bist also Delfon«, sagte Liliath, zwickte ihn ins Kinn und drehte seinen Kopf, sodass er sie ansehen musste. Er zitterte noch heftiger, denn er hatte ihr seinen Namen nicht genannt.

Aus der Nähe wirkte sie sogar noch jünger, und Delfon erinnerte sich schlagartig daran, wo er ihr Gesicht zuvor schon gesehen hatte – oder etwas, das ihm glich. In einem seiner Bücher über die Symbolmacher vergangener Zeiten befand sich am Ende eine handschriftliche Anmerkung mit einer kleinen Zeichnung. Diese junge Frau war die Person in der Zeichnung: Liliath, die Maid von Ellanda. Die Frau, die die einzige organisierte Gruppe Flüchtlinge angeführt hatte und mit ihnen aus dem dem Untergang geweihten Ystara geflohen und dann unter geheimnisvollen Umständen gestorben war, kurz nachdem sie die Grenze nach Sarance überquert hatten.

Gemäß den vielleicht ein Dutzend Zeilen am Ende des Buches war Liliath eine unglaubliche junge Frau gewesen, deren Fähigkeiten, Symbole zu erschaffen und Engel zu beschwören, die Welt seit ihrer Kindheit erstaunt hatten; daher auch ihr Beiname Maid von Ellanda. Ein Name, der vermutlich später ironisch benutzt worden war, als das Gerücht aufkam, dass sie die Geliebte des Königs von Ystara – und anderen – war, auch wenn dies niemals irgendjemand mit Sicherheit wusste.

Die Notizen stellten auch das Gerücht in Frage, dass Liliath es auf einzigartige Weise vermeiden konnte, den Preis dafür zu bezahlen, auf Engelskräfte zuzugreifen. Einen Engel zu beschwören kostete Magier oder Magierinnen etwas, indem es ihnen einen Teil ihrer Lebensessenz nahm. Genau wie Priester und Priesterinnen alterten sie rasch, und zwar umso mehr, je öfter sie ihre Kräfte benutzten und je mächtiger die Engel waren, die sie beschworen.

Der große Handuran hatte diesen Verlust in Der Preis der Macht quantifiziert. Ein paar Stunden einer Lebensspanne, um einen Seraph zu beschwören, waren natürlich ohne Bedeutung, aber ein Fürstentum anzurufen würde den Beschwörer oder die Beschwörende um ein Jahr altern lassen, und bei einem Erzengel waren es mehrere Jahre. Ein berühmtes Beispiel war Kardinalin Sankt Erharn die Gesegnete, die binnen eines einzigen Tages und einer Nacht von einer vitalen Frau von vierzig zu einer alten runzeligen Vettel geworden war, als sie die Kräfte des Erzengels Ashalael benutzt hatte, um während der Großen Flut von 1309 das Meer zurückzuhalten …

Delfon stellte fest, dass seine Gedanken abgeschweift waren. Die junge Frau fragte ihn noch einmal etwas. Aber sie konnte nicht die Maid von Ellanda sein. Nein, ganz sicher nicht …

»Sag mir, bist du ein Symbolmacher?«

»Ja«, murmelte Delfon. Er presste die Hände gegeneinander, als wollte er die Farbe an seinen Fingern verbergen, die getrockneten Flecken aus Eiweiß und Farbpigmenten, die sich hell auf seiner ledrigen braunen Haut abzeichneten. Und das Muster aus kleinen, kreuzweise verlaufenden Narben auf seinen Handrücken, wo sein Blut geflossen war.

»Du beschwörst und malst immer noch?«

»Ja. Nicht oft …«

»Welche Engel sprechen zu dir? Gehört Foraziel dazu?«

»Ja!«, rief Delfon überrascht. Auch wenn er offensichtlich ein Symbolmacher war, trug er keine Symbole am Gürtelseil seines Habits, hatte keine Ringe, nichts an seinem Hals oder den Handgelenken, was ihr einen Hinweis darauf hätte geben können, welche Engel seine Verbündeten in der Kunst waren. In Anbetracht der Tatsache, dass allein in Ashalaels Heer zehntausend Engel waren, war die Chance, dass sie wusste, welche Engel er kannte …

»Das habe ich mir gedacht«, sagte Liliath und unterbrach damit Delfons panikerfüllte Gedanken. »Er hat dafür gesorgt, dass du hier bist, für mein Erwachen.«

»Er?«, fragte Delfon. In seine Panik mischte sich Verblüffung. Auch wenn Engel kein Geschlecht im engeren Sinn hatten, wurden die meisten von ihnen traditionell als männlich oder weiblich betrachtet, und Foraziel war traditionell weiblich.

Liliath beachtete die Frage nicht.

»Ich brauche ein Symbol von Foraziel«, sagte sie. »Ich brauche ihre Macht, um zu finden, wonach ich suche, und ich will keine Zeit damit vergeuden, selbst ein Symbol zu machen.«

Delfon nickte dumpf. Foraziels Bereich war es, Dinge oder Personen zu finden, die verschwunden oder vergessen waren. Aber er musste immer wieder auf die merkwürdigen Ringe der jungen Frau starren. In ihnen befanden sich große Engelsmächte. Einer der geringeren – er erschauerte dabei, von ihm als geringer zu denken, und das nur wegen der benachbarten Symbole – zeigte nicht das typische Gesicht und den Heiligenschein eines Engels, sondern ein Rad innerhalb eines Rades, beide mit winzigen Diamantaugen gesäumt. Ein Thron, einer der seltsamen Engel, Höchster der Ersten Sphäre. Höher als alle Engel, die Delfon jemals beschworen hatte, ein Wesen von weit größerer Macht als die kleine Foraziel. Aber die anderen Ringe trugen Symbole, die auf noch bedeutendere Engel hindeuteten …

Liliath krümmte die Finger, und die winzigen Rubin- und Diamantaugen und vergoldeten Heiligenscheine blitzten und glitzerten im Laternenlicht. »Manchmal braucht man eine kleine, bestimmte Macht«, sagte sie und deutete damit den Tenor von Delfons Gedanken richtig. »Nicht die ehrfurchtgebietende Erhabenheit von Fürstentümern oder Erzengeln.«

Delfon neigte den Kopf, und sein Körper zitterte, als hätte er plötzlich Schüttelfrost. Dies alles war zu viel für ihn, diese seltsame Schwester … Bischöfin … Heilige … was auch immer sie war, und die Macht, die sie mitbrachte. Die gemalten Symbole auf ihren Ringen waren nicht einfach nur Darstellungen von Engeln, sie waren direkte Verbindungen zu großen und schrecklichen Wesen. Und sie mochte sogar irgendwo ein Symbol des Größten verbergen, wenn ihre Behauptung stimmte und sie eine Hohepriesterin von Palleniel war, der den Erzengeln gleichgestellt war, die die größten Länder der Welt beschützten.

Palleniel hatte sein Land allerdings nicht beschützt, sondern dessen Bewohner durch die Aschblut-Plage vernichtet, und daher wurde er jetzt – wenn er denn überhaupt erwähnt wurde – der Gefallene Engel genannt, und sein Name wurde als Fluch benutzt …

»Gibt es in diesem Tempel ein Symbol von Foraziel ?«, fragte Liliath.

Delfon zögerte, aber nur kurz. Wer auch immer diese Frau wirklich war – wahrscheinlich ein Feind aus Albia oder den Sechsundachtzig Königreichen –, sie verfügte über eine Macht, die weit über seine hinausging … und auch über die von allen anderen in diesem Tempel, einschließlich der Äbtissin. Allerdings überstieg es seinen Horizont, warum sie immer noch so jung war, kein bisschen gealtert durch die Kräfte, die sie in Anspruch nahm … Er verstand es nicht, und er wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als wahrheitsgemäß zu antworten und zu gehorchen.

»Ja«, sagte er. »In der Werkstatt. Ich habe es erst vor ein paar Tagen fertiggestellt.«

»Gut«, erwiderte Liliath. »Du kannst mir den Weg zeigen. Als ich hier … äh … hereingekommen bin, hatte ich keine Zeit, mich umzusehen.«

»Ja«, murmelte Delfon, während er langsam aufstand.

»Gut«, sagte die Frau noch einmal. Sie hob eine Hand, berührte einen der Ringe und murmelte dabei leise einen Namen. Delfon hob einen Arm, um seine Augen vor dem Licht zu schützen, das daraufhin zum Vorschein kam, aber er spähte ein bisschen darunter hindurch. Der Engel – welcher auch immer –, den diese Frau beschworen hatte, legte rasch den Sargdeckel zurück an seinen Platz; die Streifen aus gebrochenem Blei hoben sich und bewegten sich an ihren Platz wie Schlangen, die zur Ruhe gerufen wurden. Binnen weniger Augenblicke sah das Grab wieder genauso aus wie zu dem Zeitpunkt, als Delfon seine Nachtwache bei Sonnenuntergang begonnen hatte.

Der alte Mönch lehnte sich an die Wand, musterte die Frau und schloss dabei ein Auge, sodass sein besseres – das rechte – sich besser auf sie fokussieren konnte. Eine Strähne ihrer Haare war weiß geworden, doch noch während er hinsah, floss die Schwärze in sie zurück, wie Wein, der sich mit Wasser mischt. Sie hatte den Preis, den es kostete, einen Engel das Grab schließen zu lassen, nicht bezahlt. Oder nur vorübergehend.

»Ich nehme an, Ihr werdet mich töten, wenn Ihr das Symbol habt«, sagte er langsam. »Damit niemand von … Euch erfahren kann.«

»Ja«, stimmte Liliath ihm zu. »Ich vermute, deswegen hat er dich hergerufen, da du ohnehin bald gestorben wärst. Besser als jemand von den Jüngeren. Palleniel ist mitfühlender als ich.«

»Aha«, erwiderte Delfon. Er hatte keine Angst, was er merkwürdig fand. Er war einfach nur neugierig – und sehr müde. Die letzten paar Minuten waren ein bisschen zu aufregend gewesen. Und das verbleibende Licht des Engels hatte seine Augenwinkel bereift, was es für ihn noch schwieriger machte zu sehen. »Palleniel. Plagenbringer. Der Gegenspieler.«

»Palleniel, ja. Diese anderen Namen sind Erfindungen von anderen. Ich habe dir schon gesagt, dass nicht alles, was man dir erzählt hat, wahr ist.«

»Aber wie kann er mich gerufen haben, sodass ich es bin, der heute Nacht hier ist?«, fragte Delfon, wirklich neugierig, selbst mit der Aussicht auf seinen Tod. Einmal ein Engelsmagier, immer ein Engelsmagier, selbst im hohen Alter und in den letzten Stunden. »An diesem Ort von Ashalael, in Sarance ? Palleniel hat hier keine Macht. Und Engel agieren nicht aus eigenem Willen.«

»Die Strenggläubigen halten es so«, sagte Liliath. Sie lächelte voller Zufriedenheit über ihr geheimes Wissen. »Aber in Wirklichkeit ist der Umfang dessen, was Engel in dieser Welt tun können, nicht durch ihre engen Grenzen festgelegt, sondern durch den langen Gebrauch und die Sitten der Menschen definiert, und die können gebeugt werden. Oder – geografisch betrachtet – örtlich durchbrochen. Und einigen kann man Anweisungen geben, nach denen sie handeln, wenn die Zeit reif ist. Vorausgesetzt, man verfügt über den entsprechenden Willen und die Macht.«

Delfon schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht glauben, was Ihr da sagt«, erwiderte er. »Außer Ihr seid tatsächlich Liliath … Ich habe in Decarandals Leben der Magi etwas über Euch gelesen. Allerdings war es nicht Decarandal, der auf den letzten Seiten handschriftlich etwas hinzugefügt hat … Wer auch immer das war, hat gesagt, dass Liliath bei Bedarf rasch Symbole erschaffen und Engel beschwören konnte, die zuvor keinem der Tempel bekannt gewesen waren …«

»Sprich weiter«, sagte Liliath. »Ich bin neugierig. Was steht da noch?«

»Ihre Fähigkeiten, Symbole zu erschaffen, waren unvergleichlich. Und dann die Gerüchte, das Gerede, dass sie den Preis für Beschwörungen nicht körperlich zahlen musste … andererseits ist sie jung gestorben, mit neunzehn, und so scheint es, als wäre sie doch gealtert, wenn auch nicht äußerlich. Manche haben es für eine Tragödie gehalten, ein leuchtendes Versprechen, das der Welt verloren gegangen ist.«

»Aber wie du siehst, bin ich nicht gestorben«, sagte Liliath. »Und ich werde meine Versprechen erfüllen. Alle, vor allem aber eines.«

Delfon starrte sie an; er verstand nicht, was sie meinte, erkannte jedoch die Intensität ihrer Gefühle. Er hatte diese Intensität schon früher bei anderen gesehen, bei Pilgerinnen und Pilgern, bei denen, die große Aufgaben auf sich genommen hatten, getrieben von inneren Kräften, die sie oft selbst kaum erkannten. Aber in dieser Frau war diese Intensität tausendfach verstärkt.

»Komm, wir müssen gehen«, befahl Liliath.

»Ihr werdet mich nicht verletzen?«, fragte Delfon zögernd. »Ich meine, bevor …«

»Nein«, erwiderte Liliath nüchtern. »Dein Herz wird einfach aufhören zu schlagen. Ich denke, du bist bereits müde, oder?«

»Ja, ja, das bin ich«, murmelte Delfon. Das Engelslicht um seine Augen breitete sich aus und mit ihm eine willkommene Wärme. Er hatte sich schon seit vielen Jahren innerlich nicht mehr so gelassen gefühlt; sein Puls war langsam und gleichmäßig. Das verschaffte ihm ein sehr gutes Gefühl, als würde seine nahe Zukunft ein außergewöhnlich bequemes Bett für ihn bereithalten, ein Bett, das viel bequemer war als das in seiner Zelle im Tempel über ihnen.

»Noch nicht, Mazrathiel«, flüsterte die Frau. Mazrathiel war eine Herrschaft mit einem weiten Wirkungsbereich, wozu alle Arten von Bewegung gehörten – einschließlich des Herzschlags, auch wenn nur die mächtigsten – und selbstsüchtigsten – Magier einen Engel zwingen konnten, eine Tat zu begehen, die direkt ein Leben kosten würde. »Erst wenn ich das Symbol habe und er sich hinsetzt.«

»Was heißt das?«, fragte Delfon, der wieder ein bisschen mehr zu sich selbst fand.

»Du dienst einer richtigen und edlen Sache, für die zu sterben eine große Ehre ist«, sagte Liliath. Ihre Augen schienen mit einem inneren Licht zu schimmern, während sie das sagte, und um ihren Mund spielte ein Lächeln.

Delfon erschauerte erneut, als er das sah und so viel Macht und Glaube in dieser jungen Frau spürte. Ja, wirklich, nur eine sehr junge Frau, zumindest wenn man sie ansah – aber eine mit so viel Stärke und Entschlossenheit, so vielen Engeln zu ihrer Verfügung …

Liliath nahm seinen Arm und führte ihn zur Tür, die bereits untypischerweise weit offen stand. »Wohin?«

»Nach links«, antwortete Delfon. »Und dann die Wendeltreppe hoch.«

Er hinkte nach draußen, Liliath an seiner Seite.

»Sag mir, was ist in der Welt geschehen?«, fragte sie. »Wer regiert Sarance ?«

Die Tür hinter ihnen schloss sich quietschend und langsam, begleitet vom schwachen Geräusch eines fernen himmlischen Chores, und alles endete gleichzeitig in einer einzelnen, dissonanten Note.

Zwei

Liliath legte Bruder Delfons Leichnam auf den Boden neben dem Arbeitstisch und schloss ihm mit ernsthafter Sanftheit die Augen. Mazrathiel zog sich zurück; er war darauf erpicht zu verschwinden, nachdem er dazu gebracht worden war, widerwillig ein Leben zu beenden, und bei späteren Beschwörungen würde er sich zweifellos noch mehr widersetzen. Nicht dass das Liliath Sorgen bereitet hätte. Wenn sie Mazrathiel brauchte, würde er ihr dienen wie alle Engel, deren Symbole sie angefertigt oder benutzt hatte. Sie würde keinen Ungehorsam dulden.

Das Symbol von Foraziel, das der alte Mann gemacht hatte, lag an einem Ehrenplatz auf seinem Tisch. Es war gute Arbeit, mehr als einfach nur kompetent. Sie konnte die potenzielle Präsenz des Engels in dem Bild spüren, das die bekannteste Darstellung von Foraziel zeigte: eine unscheinbare Frau mittleren Alters, die überrascht davon war, irgendeine gute Sache entdeckt zu haben; nur der dünne Heiligenschein deutete darauf hin, dass sie ein Engel war.

»Ich muss wissen, wer und wo sie sind«, flüsterte die junge Frau. »Nur vier …«

Aber jetzt war keine Zeit, Foraziel anzurufen. Die Morgendämmerung war nahe, und Liliath musste den Tempel verlassen, ehe sie entdeckt wurde. Sie nahm das neue Symbol und steckte es zu einigen anderen in die geheime Tasche im Innern ihres Habits. Für die Suche nach Decarandals Buch über Symbolmacherinnen mit der Zeichnung von ihr, die sie in Delfons Geist gesehen hatte, brauchte sie ein paar Minuten. Sie riss die wichtigen Seiten heraus und stopfte sie ebenfalls in ihre Innentasche, dann verließ sie den Raum und schloss leise die große Eichentür hinter sich.

Obwohl viel Zeit verstrichen war, hatte sich der Tempel seit damals, als sie sich vor hundertsiebenunddreißig Jahren hineingeschlichen hatte, um sich im Grab der Heiligen zu verstecken, kaum verändert. Sie öffnete eine andere Tür und glitt hinaus in den östlichen Kreuzgang. Dort blieb sie stehen und ließ den Blick über den großen gepflasterten Hof schweifen, der vom Licht der Sterne über ihr schwach beleuchtet wurde. Es lagen Gestalten auf dem Boden, und es waren Schnarchgeräusche zu hören, was auf die Anwesenheit von Reisenden hindeutete, die nicht den Status besaßen, um in die Gasträume oder Schlafsäle gelassen zu werden, sondern gerade anständig genug waren, um ihnen Zutritt zum Tempel zu gewähren und ihnen zu erlauben, hier zu ruhen. Merkwürdigerweise trugen sie alle Kleidung in der gleichen hellen Farbe, die im Sternenlicht nur schwer auszumachen war. Vielleicht ein grünliches Blau oder ein Grauton. Wie eine Uniform, wenn auch eine zerschlissene, und sie schienen keine Soldaten zu sein.

Liliath zögerte. Es waren ein Dutzend oder mehr Leute, und das Torhaus lag auf der anderen Seite des Hofes. Es war gut möglich, dass jemand aufwachte und die Dinge verkomplizierte, wenn sie vorbeiging. Auf die eine oder andere Weise.

Noch während sie zögerte, hörte sie hinter sich das leise Geräusch bloßer Füße auf Stein – jemand schlich sich an sie heran. Sie drehte sich um und sah einen grau gekleideten Mann mit Kapuze und erhobenem Dolch. Er stieß nach ihr, aber sie war schneller, wich mit einer fließenden Bewegung seitlich aus, was ihm hätte zu denken geben sollen. Das tat es aber nicht.

»Ich werde dich nicht töten«, flüsterte er, was Liliath verriet, dass die Schlafenden auf dem Hof nicht notwendigerweise seine Verbündeten waren, oder vielleicht fürchtete er auch, die Tempelwachen im Torhaus würden etwas hören und eingreifen. Viele seiner Zähne waren abgebrochen, und sein linker Arm hing dünn und nutzlos an seiner Seite herunter. Aber sein rechter Arm, der das Messer hielt, war sehr stark. »Nimm einfach die Ringe ab wie ein gutes Mädchen. Und glaube nicht, du könntest einen Engel anrufen; ich würde dich innerhalb eines Augenblicks aufschlitzen. Außerdem würde dir das sowieso nichts nützen, denn ich bin ein Verweigernder.«

»Was glaubst du, wer ich bin?«, fragte Liliath im Plauderton; sie flüsterte nicht, hob aber auch nicht die Stimme. Sie registrierte das Wort »Verweigernder« und den winzigen Funken von Palleniel, der, wie sie spüren konnte, durch das Blut dieses Möchtegerndiebs kreiste. Ganz offensichtlich gab es viele Dinge, nach denen sie Bruder Delfon hätte fragen sollen und die sie jetzt unmittelbarer würde herausfinden müssen.

»Weiß nicht«, erwiderte der Mann und beobachtete sie aufmerksam; sein Dolch war bereit, erneut zuzustoßen. »Die Alte Brill meinte, die Sterne sagen, wir sollen herkommen; wir würden großes Glück haben. Dieses Mal hatte sie recht. Nimm die Ringe ab!«

»Du sagst, du bist ein ›Verweigernder‹«, sagte Liliath. Seine Hautfarbe und die Gesichtszüge verrieten ihr nicht, woher er stammte. Der Mann hatte eschefarbene Haut und grüne Augen, aber daraus konnte niemand etwas schließen. Vor vielen tausend Jahren hatten sich zahlreiche Ahnenstämme in Ystara und Sarance angesiedelt, ihr Blut hatte sich vermischt, und ihre Abkömmlinge hatten alle Farben vom tiefsten Schwarz bis zum hellsten Weiß. Aber das Fünkchen von Palleniel in ihm konnte nur eines bedeuten. »Dann stammst du also von Ystaranern ab?«

»Natürlich«, murmelte der Mann. Er stieß erneut zu, aber Liliath beugte sich unmöglich weit zurück, als wäre ihre Taille ein Gelenk. Der Stoß ging knapp am beabsichtigten Ziel – ihrer Kehle – vorbei. Bevor er das Gleichgewicht vollständig wiederfinden konnte, zuckte sie hoch, ihre Hand schnellte vor und schloss sich um sein Handgelenk, verdrehte ihm den Arm so, dass er sich mitdrehte und auf die Knie fiel.

Für eine so schlanke und junge Frau war sie unfassbar stark. Der Dieb gab ein glucksendes, tief aus seiner Kehle kommendes Geräusch von sich, und während er sie anstarrte – unfähig zu begreifen, was geschah –, war das Weiße in seinen Augen zu sehen.

»Und aus Ystara zu sein bedeutet, dass Engelsmagie bei dir nicht wirkt?«, fragte Liliath. »Dass die Möglichkeit besteht, dass du zu einer bestialischen Kreatur wirst?«

»Ja, ja«, sagte der Mann. »Versuch es bloß nicht!«

»Denn dann würdest du an der Aschblut-Plage sterben«, vermutete Liliath. Sie konnte hören, wie hinter ihr Schlafende erwachten, daher zog sie den Mann am Handgelenk ein Stück weit herum, sodass sie sehen konnte, ob sich sonst noch jemand näherte, um sie anzugreifen.

»Wahrscheinlicher ist, dass du ein Monster erschaffst«, keuchte der Dieb. »Das dich gewiss töten wird.«

Liliath antwortete nicht und griff stattdessen nach dem winzigen Stück von Palleniel in dem Mann.

»Ich glaube, es wird die Plage sein«, sagte sie und zwang dem Splitter von ihm, der auch der Erzengel war, ihren Willen auf.

Eine Sekunde später begannen sich Flecken aus grauer Asche in den Mundwinkeln des Diebes zu bilden. Asche erblühte um seine Augen und fiel ihm aus den Ohren, quoll unter seinen Fingernägeln hervor. Liliath ließ ihn los und trat einen Schritt zurück, als die Asche zu fließen begann, langsam, aber gleichmäßig, wie beinahe geronnenes Blut. Der Mann schaffte es, noch ein paar Sekunden auf den Knien zu bleiben, dann fiel er seitlich um, und die Asche floss weiterhin aus jeder Körperöffnung und Pore und jedem Kratzer, sammelte sich langsam um ihn herum.

Zum Zeitpunkt seines Todes ein paar Minuten später waren alle auf dem Hof wach und starrten Liliath an; mehrere Laternen waren angezündet worden und wurden nun hochgehalten, schufen Teiche aus Licht und viele flackernde Schatten. Sie erwiderte die Blicke und war sich bewusst, dass etwas mit dieser Menge nicht stimmte. Es gab die erwartbaren Unterschiede bezüglich der Hautfarbe, der Haare, der Gesichtszüge. Alle Arten, aber …

Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass nur sehr wenige dieser Leute sich aufrecht hielten. Die Mehrzahl war gebeugt oder gekrümmt oder stand einfach nur merkwürdig da. Ungleichgewichtig, auf Krücken oder ihre Kameraden und Kameradinnen angewiesen. In den ihr zugewandten Gesichtern fehlten Augen, Nasen, Zähne – die Folgen von Krankheiten und Verletzungen, die ein Engel zumeist leicht hätte heilen können.

Aber ganz offensichtlich hatte keiner dieser Menschen jemals die heilende und reinigende Berührung eines Engels erfahren.

Sie begegnete ihren angstvollen, fragenden, oft feindseligen Blicken, nahm ihre merkwürdigen grauen Kittel und Umhänge wahr, und dann verbeugten sie sich langsam, einer nach dem anderen, senkten die Köpfe, beugten die Knie, bis sie ihr Gehorsam anboten, wie man ihn einem König oder einer Königin anbieten würde. Nur einer senkte den Kopf nicht ganz so tief wie die anderen, sondern blickte nach einem Moment wieder auf und sah Liliath an. Seine Haut war so goldbraun wie Heideblütenhonig, und er wäre eigentlich gut aussehend gewesen, aber tiefe, sichelförmige Narben einer schrecklichen Pockenerkrankung zeichneten sein Gesicht, verschlossen ein Auge und ließen ihn älter wirken, als er war; so kam es Liliath zumindest angesichts seines anderen Auges vor, das jung und leuchtend war. Und seine Stimme klang jugendlich.

»Dann seid Ihr also tatsächlich die wiedergeborene Maid von Ellanda ? Genau wie all die Alten es uns erzählt haben ? Meine Urgroßmutter wäre begeistert gewesen, Euch zu sehen. Ein Jammer, dass sie letzte Woche gestorben ist.«

»Nicht wiedergeboren«, sagte Liliath ruhig. Der narbige junge Mann war nicht angemessen respektvoll, doch er sprach mit einer gewissen Autorität, als ob er der Anführer dieses schäbigen Haufens wäre. »Nur aufgewacht. Ich gehe davon aus, dass ihr vom Orden von Ystara seid und das Zeichen gesehen habt?«

Während sie sprach, blickte sie zum Himmel empor, auf den rechteckigen Fleck aus Sternen über dem Hof, der auf beiden Seiten von den Gebäuden des Tempels eingefasst wurde. Seit uralten Zeiten wurde darüber debattiert, ob der Nachthimmel die tatsächliche Heimat der Engel war oder nur eine Reflexion oder Repräsentation ihrer Existenz und Macht. Wie auch immer, die Himmel waren ein ziemlich zuverlässiger Hinweis auf den Zustand verschiedener Engelsmächte.

Wie es hier in Sarance zu erwarten war, leuchtete Ashalaels Stern in der Nacht am hellsten. Aber Liliath sah nicht ihn an, sondern suchte weiter Richtung westlichem Horizont und dann ein bisschen südlich. Einst hatte dort Palleniels Stern geleuchtet, außerhalb Ystaras nicht ganz so hell, aber immer noch einer der sieben hellsten Sterne. Jetzt war dort ein Fleck aus Dunkelheit. Doch drei Fingerbreit links von dieser Abwesenheit schimmerte ein sehr blasser, fast violetter Stern. Kaum erkennbar, selbst für Liliath, deren Augen mehr als menschlich waren und die genau wusste, wo sie hinschauen musste. Aber er konnte gesehen, von einem hingebungsvollen nächtlichen Beobachter gefunden werden, der mit einem Teleskop und der Anweisung, sich diesen Teil des Himmels anzusehen, ausgestattet war. Es war Jacqueiriels Stern, ein kleiner Gefährte aus Palleniels Heer, zu dessen Bereich es gehörte, das Gefühl guter Neuigkeiten zu überbringen: von kommenden glücklichen Ereignissen innerhalb der geografischen Grenzen von Ystara. Jacqueiriels Macht war klein, denn er konnte keine Einzelheiten übermitteln und war in den Tagen vor der Plage allgemein von Liebenden benutzt worden, um den Wonneschauer eines Geschenks zu vermitteln, das bald übergeben werden würde.

In diesem Fall war der Stern des Engels ein Vorzeichen von Palleniels Wiederkehr und somit auch Liliaths eigenem Erwachen. Ein sichtbarer Hinweis, dass dem Orden von Ystara – oder seinen Erben und Nachkommen – eine Botschaft geschickt worden war.

»Der Orden?«, fragte der junge Mann mit dem narbigen Gesicht. »Es gibt keinen Orden, kein feines Volk mit geschmückten Wappenröcken, goldenen Ketten und glänzenden Degen. Es gibt nur die Alte Brill, die an Totenbetten sitzt und Geschichten aufschreibt und den Himmel beobachtet. Ihr habt uns zu früh verlassen, um zu sehen, wie die Dinge laufen würden. Uns aus Ystara ist es nicht erlaubt, uns an unser Land zu erinnern, nicht erlaubt, uns überhaupt zu erinnern. Wir werden Verweigernde genannt, denn es muss ja unser eigener Fehler sein und an uns selbst liegen, warum die Engel sich uns verweigern oder uns zum Schlimmsten verändern. Wir müssen Grau tragen, damit keine Unfälle geschehen, keine Bestien entstehen. Und wir dürfen nicht zu sichtbar sein, es sei denn als dienende und arbeitende Kreaturen, damit die anständigen Menschen nicht irgendwie von unserem Unglück angesteckt werden.«

»Ihr gehört immer noch zum Orden, ganz egal, wie eure äußere Erscheinung ist«, sagte Liliath. Sie sprach mit vollkommener Gewissheit. »Und ihr werdet geheilt und erneuert werden, wenn wir nach Ystara zurückkehren und Palleniel wiederkommt.«

Auf ihre Worte folgte Schweigen. Aber kein ehrfürchtiges Schweigen, wie Liliath es erwartet hatte. Eher niedergeschlagene Verdrossenheit.

»Ihr zweifelt an meinen Worten?«, fragte sie. Sie sah den jungen Mann an, sein von den Pocken zerstörtes Gesicht. In ihm war der Funke von Palleniel stärker als bei den anderen. Sein Vorfahr wäre sehr nah an dem dran gewesen, was erwünscht war. Vermutlich hatte das dazu beigetragen, dass er der Anführer dieses abgerissenen Haufens geworden war. »Wie heißt du?«

»Ich werde Bisc genannt. Biscaray, wenn man den ganzen Namen nimmt. Ich bin der Nachtprinz«, antwortete der junge Mann. »Jetzt der Nachtkönig, nehme ich an, da du Franz Krüppelarm erledigt hast, der unser edelster Anführer war. Es sei denn, jemand will mich herausfordern?«

Er sprach diese Frage laut aus, richtete sie an die Versammelten. Niemand rührte sich, niemand antwortete.

»Der Nachtkönig? Du meinst, du bist der Herr der Bettler und Diebinnen und dergleichen?«, fragte Liliath. »Der Unterwelt von ganz Sarance?«

Der Nachtkönig lachte. »Wohl kaum. Nur in Lutace und nur der König der Verweigernden. Aber da wir keine anderen Möglichkeiten haben, sind wir bei weitem am zahlreichsten, von daher beherrschen wir die Nacht. Wie die Hohen und Mächtigen zu sagen pflegen: ›Nicht alle Diebinnen und Bettler sind Verweigernde, aber alle Verweigernden sind Diebinnen und Bettler.‹«

»Warum seid ihr hierhergekommen, wenn ihr daran zweifelt, dass ich euch zurück zu einem neuen Leben in Ystara führen werde?«

»Franz hat es befohlen«, sagte Bisc schulterzuckend. »Von Zeit zu Zeit liest die Alte Brill nützliche Dinge am Himmel. Unser früherer Nachtkönig hat gedacht, es könnte etwas zu plündern geben oder sonst eine gute Gelegenheit sein, und im schlimmsten Fall wäre es einfach nur ein Ausflug aufs Land.«

»Du hast gesehen, was ich mit ihm gemacht habe«, sagte Liliath und lächelte. Es war ein dünnes, hinterhältiges Lächeln. »Und doch spüre ich immer noch deine Zweifel. Und auch wenn du kniest, spüre ich keinen echten Gehorsam.«

»Plage oder Monster, es könnte einfach nur Zufall gewesen sein«, sagte der Nachtkönig vorsichtig. Er zögerte, und etwas von seinem Selbstvertrauen verschwand aus seiner Stimme. »Aber ich zweifle nicht gänzlich …«

»Du brauchst noch einen weiteren Beweis?«, fragte Liliath. »Soll ich dich ganz machen, deine Haut glatt, dein eines Auge wieder so wie dein anderes?«

Dieser nächste Teil würde schwierig sein, vielleicht zu schwierig. Aber wenn sie Erfolg hatte, würde es mehreren Zwecken dienen.

Sie sah, wie er eine schlaue Erwiderung hinunterschluckte.

»Es wäre ein geeigneter Test, oder?«, fragte Liliath.

Biscaray stand ruhig auf und ging zu ihr, blieb zwei Schritte vor ihr stehen. Er kniete sich nicht wieder hin, und seine rechte Hand war dicht beim Heft einer Klinge, die nur teilweise von seinem grauen Umhang verborgen wurde. Obwohl die nächste Laterne hinter ihm war, konnte Liliath die Verwüstungen sehen, die die Pocken angerichtet hatten, die narbigen Überreste einer Krankheit, die seine Haut gezeichnet und sein linkes Auge nicht nur von seinem angestammten Platz verdrängt, sondern auch mit Narbengewebe überzogen hatte.

»Wenn Ihr tun könnt, was Ihr sagt, werde ich anerkennen, dass Ihr diejenige seid, die zu sein Ihr behauptet, und Euch gut dienen«, erklärte er leise. »Versagt Ihr, werde ich Euch ausweiden, oder meine Leute werden es tun.«

»Fürchte dich nicht vor dem, was ich tun werde, und greife mich nicht an«, sagte Liliath. Sie hob die Stimme, richtete ihre nächsten Worte an die Menge hinter ihm. »Dies ist nichts weiter als ein Vorgeschmack auf das, was vor euch liegt, wenn wir nach Ystara zurückkehren.«

Sie hob die rechte Hand und berührte den Symbolring, den sie am linken Daumen trug, behielt den Nachtkönig dabei immer im Blick. Gwethiniel, die große Heilerin. Es gab viele Engel, die heilen konnten, viele geringere, aber nur wenige bedeutendere. Gwethiniel war eine Gewalt, die nicht leichthin beschworen wurde. Die Hand des Mannes zuckte zu seinem Messer, aber er zog es nicht. Liliath wartete, spürte die ferne Präsenz des Engels, beschwor ihn aber noch nicht.

»Bist du tapfer genug?«, flüsterte sie. Unter dem Schleier aus Misstrauen konnte sie ein Fünkchen Hoffnung in seinem Gesicht sehen, auch wenn er versuchte, keinerlei Gefühle zu zeigen.

»Ich habe schon früher mein Leben riskiert«, sagte der Nachtkönig schulterzuckend. »Wenn die Entscheidung erst gefallen ist, was spielt einmal mehr dann noch für eine Rolle?«

Liliath beschwor Gwethiniel im gleichen Moment, in dem sie ihren Willen gegen das Fragment von Palleniel im Innern des Mannes einsetzte, die Essenz des Erzengels zwang, sich zurückzuziehen. Die Essenz kämpfte gegen sie an, und auch Gwethiniel widersetzte sich, wollte auf ihre Beschwörung nicht reagieren.

»Ihr werdet mir gehorchen«, flüsterte Liliath, sprach sowohl zu der hirnlosen Essenz wie auch zu dem sich widersetzenden Engel. »Ihr werdet gehorchen.«

»Ich gehorche«, sagte die Stimme in ihrem Kopf. Gwethiniels Stimme, die normalerweise ruhig und fest war und in der jetzt knirschender, widerwilliger Gehorsam mitschwang. »Was ist dein Wille?«

»Heile ihn«, befahl Liliath, auch wenn sie nur in ihrem Kopf sprach. »Und berühre das Überbleibsel von Palleniel nicht.«

»Mein Bereich ist die Wiederherstellung der natürlichen Ordnung, oft benutzt zur Heilung menschlichen Lebens«, sagte Gwethiniel. »Die Präsenz eines anderen behindert meine Arbeit. Gegen einen so Großen kann ich nicht handeln, selbst wenn er nicht völlig präsent ist.«

»Du kannst«, entgegnete Liliath. »Ich werde ihn zurückhalten. Tu, was ich dir befehle.«

»Es besteht große Gefahr«, flüsterte Gwethiniel. »Für alle.«

»Tu, was ich dir befehle!«

Liliath brüllte diese Worte laut heraus, und die Menge zuckte angesichts der in ihnen liegenden Macht zusammen. Hinter ihr flackerte im Pförtnerhäuschen eine Fackel auf. Die Torwache oder einer der Tempelwächter war schließlich aufgewacht.

Über ihnen war das Rauschen großer Schwingen zu hören. Plötzlich erfüllten warmes Licht und der Geruch von Geißblatt den Hof. Der Nachtkönig schrie auf und fiel hin, und Liliath duckte sich unter der Last der Macht, die sie weiterleitete, aber nur einen Moment lang, dann stand sie wieder aufrecht, schüttelte die Last ab. Eine dicke Strähne ihrer Haare wurde weiß, und Falten krochen über ihre Haut, aber das waren vorübergehende Veränderungen, rasch wieder rückgängig gemacht, während der Funke von Palleniel noch wütete und gegen sie kämpfte und sie ihn mit reiner Willenskraft unterdrückte und gleichzeitig Gwethiniel zurückschickte, um die Aufgabe endgültig zu beenden.

»Niemand darf mir gegenüber ungehorsam sein«, fauchte Liliath. »Du wirst tun, was ich befehle.«

Gwethiniels Schwingen schlugen. Donner grollte, aber sie beendete ihre Aufgabe und war im gleichen Augenblick verschwunden, zog sich viel schneller zurück, als sie gekommen war, noch ehe Liliath sie förmlich entließ.

Der Nachtkönig setzte sich auf und betastete sein Gesicht. Die Pockennarben waren verschwunden, seine honigfarbene Haut war glatt und jung, sein Auge am richtigen Platz. Er schob eine Hand unter sein Wams, befühlte auch dort die Haut und machte ein erstauntes Gesicht. Dann stand er auf und drehte sich zu den anderen um; alle Laternen waren auf ihn gerichtet, als er den Kopf hob und das Wams öffnete, um seine glatte Brust zu zeigen.

»Ich … ich bin geheilt!«

Noch während er sprach, eilten alle auf Liliath zu, humpelnd, stockend, mit erhobenen Armen und bettelnd.

»Heilt mich! Heilt mich! Helft uns!«

»Im Moment kann ich nicht noch mehr heilen«, rief Liliath und hob eine Hand. Trotz ihrer unmenschlichen Stärke war sie sehr müde, aber das ließ sie niemanden sehen. Sie konnte nicht wagen, irgendeine Schwäche zu zeigen. Es gab keinerlei sichtbare Anzeichen, dass die Beschwörung sie etwas gekostet hatte, doch sie konnte spüren, wie die Haut ihres Gesichts sich selbst heilte, wie schwache Falten in Ordnung gebracht wurden. Sie lächelte leicht, um der Menge Vertrauen einzuflößen, aber auch, weil sie schon wieder einen Engel dazu gezwungen hatte, ihren Anordnungen Folge zu leisten, und den Preis dafür nicht gezahlt hatte – ihn niemals zahlen würde. »Doch ihr alle werdet geheilt werden, wenn wir nach Ystara zurückkehren.«

Sie schoben sich immer noch auf sie zu, eine hirnlose, von einem einzigen Wunsch beseelte Menge. Liliath wich hinter eine der Säulen zurück, machte sich bereit, die Vordersten anzugreifen, denn sie wagte es nicht, jetzt Engelsmagie zu benutzen. Sie war zu müde und konnte das Ergebnis nicht kontrollieren; sollte sich hier jemand in ein Monster verwandeln, würden vermutlich anschließend alle tot sein. Auch sie selbst, obwohl sie nicht so leicht sterben konnte.

Aber Liliath musste nichts tun. Biscaray brüllte auf und schlug die Flut der Verweigernden beiseite, schleuderte die Anführer zurück in die Menge, wobei viele auf die Pflastersteine stürzten. Er behandelte sie wie eine Hundemeute, die nach Fleisch gierte, und als wäre er der Hundeführer, furchtlos trotz ihrer Zahl.

»Zurück! Zurück und runter! Auf den Boden!«

Die Flut ebbte ab, die Verweigernden sanken auf die Knie, der Moment ihres äußersten Begehrens verstrich. Aber Liliath hörte, wie hinter ihnen das Tor, das sie während der Nacht auf dem Hof einsperrte, entriegelt wurde und Bolzen zurückgezogen wurden. In wenigen Augenblicken würde zweifellos die Torwache des Tempels hier sein, begleitet von einer Handvoll weiterer Wachen, alle wütend darüber, noch vor der Morgendämmerung geweckt worden zu sein – erst recht von derart ungewollten Gästen.

»Ich brauche einen Umhang«, sagte Liliath zu Biscaray. »Mit einer Kapuze. Oder einen Hut. Und wir müssen hier so schnell wie möglich weg.«

»Wie Ihr befehlt«, antwortete Biscaray. Er fauchte einer in der Nähe stehenden Verweigernden ein paar Anweisungen zu. Sie begann sogleich in ihrem Bündel herumzuwühlen, während andere den Leichnam des früheren Nachtkönigs in die dunkelste Ecke des Kreuzgangs zogen. »Das mit dem Von-hier-Verschwinden wird nicht schwierig sein. Sie werden uns rauswerfen, da bin ich mir sicher. Und dann … dann gehen wir nach Ystara?«