Astragalus - Albertine Sarrazin - E-Book

Astragalus E-Book

Albertine Sarrazin

4,9

Beschreibung

Den Sprung von der Gefängnismauer in die Freiheit bezahlt Anne mit einem Bruch des Sprungbeins, des Astragalus. Verletzt schleppt sich die Neunzehnjährige an den Straßenrand und wird dort von Julien aufgelesen. Beide erkennen im anderen die eigene Lebenswelt, die Welt des Knastes, der Kleinkriminalität und verlieben sich: zwei Menschen, unbedingt in ihrem Drang nach Freiheit und zugleich existentiell angewiesen auf die Nähe und den Halt des anderen. Als „L’Astragale“ 1965 in Frankreich erschien, sorgte es für eine Sensation: „Zum ersten Mal spricht eine Frau über ihre Gefängnisse“, schrieb Simone de Beauvoir. Fünfzig Jahre später gilt es, diesen Text in neuer Übersetzung wieder zu entdecken, seine Kraft und seine rauhe Poesie.

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Hanser Berlin E-Book

Albertine Sarrazin

Astragalus

Roman

Aus dem Französischen

von Claudia Steinitz

Mit einem Nachwort

von Patti Smith

Hanser Berlin

Die französische Originalausgabe erschien 1965

unter dem Titel L’astragale bei Pauvert in Paris.

ISBN 978-3-446-24278-4

© Pauvert, département des editions Fayard,1965, 2001

Für das Nachwort © Patti Smith 2013

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2013

Satz: Greiner & Reichel, Köln

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

1

Der Himmel war mindestens zehn Meter weiter weg.

Ich blieb sitzen, nur keine Eile. Der Aufprall hatte wohl die Steine zerschmettert, meine rechte Hand tastete über Kiesel. Mit jedem Atemzug dämpfte die Stille die explodierenden Sterne, deren Funken noch in meinem Schädel prasselten. Die weißen Flächen der Steine leuchteten schwach in der Dunkelheit. Meine Hand löste sich vom Boden, strich über den linken Arm hinauf bis zur Schulter, über Rippen hinunter bis zum Becken: nichts. Ich war unversehrt, ich konnte weiter.

Ich stand auf. Als es mich mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht voran, in die Dornensträucher katapultierte, fiel mir ein, dass ich versäumt hatte, auch meine Beine zu kontrollieren.

Die Nacht durchdringend sangen weise, vertraute Stimmen: »Pass auf, Anne, du wirst dir noch die Haxen brechen!«

Ich setzte mich auf und fing wieder an, mich zu untersuchen. Diesmal stieß ich in Höhe des Knöchels auf eine seltsame Beule, die unter meinen Fingern anschwoll und pulsierte.

Dass ich zur Sprechstunde komme, Doktor, und versuche mich krankzumelden, Ihnen erfundene Schmerzen an Stellen beschreibe, die ich für unzugänglich halte; dass ich euch auf meinen mustergültigen Läuferfüßen Kräutertee ans Bett bringen muss, kleine Schwestern, und euch um eure Magenverstimmung beneide – mit alldem ist Schluss. Jetzt werdet ihr mich pflegen, ihr oder andere, ich habe mir die Haxe gebrochen.

Ich sah nach oben zum Mauersims, wo diese Welt schlafend zurückblieb. Ich bin geflogen, meine Süßen! Ich bin geflogen, geschwebt und gekreiselt, eine Sekunde, die lang war und gut, ein Jahrhundert. Und jetzt sitze ich hier, befreit von da oben, befreit von euch.

Heute Nachmittag war ich noch mit Atropin vollgepumpt und hatte mir Benzin in die Schenkel gespritzt. Jetzt, da Rolande frei war, hatte ich überhaupt keine Lust zu warten, bis sie zurückkommt und mich holt: Ich sah zu, dass ich auf der Krankenstation landete, wo die Portionen größer waren und die Tage schneller zerrannen.

»Sie sind ja ganz grün!«, sagte die Erzieherin beim Abendrundgang.

»Ich habe mich bestimmt an der Wand gerieben«, sagte ich und spürte, wie mein Gesicht leichenblass wurde, während ich mich verrenkte, als wollte ich den Rücken meines Kittels sehen. Die Wände im Gruppenraum wurden gerade gestrichen, eine gelb, eine blau, zwei grün, und die Fensterbretter orange, um die Sonne zu erfinden.

»Nein, Sie selbst sind grün! Ihr Gesicht. Ist Ihnen schlecht?«

Aber ich kam nicht mehr dazu, meinen ersten Lindenblütentee zu genießen; ich würde nicht den sanften Hang hinter dem Tor hinunterwandern, auf der anderen Seite der Mauer. Ich bin lieber gesprungen. Immerhin bin ich unten, nicht weit von der Straße, bis dahin muss ich es schaffen; sie werden mich doch nicht zwei Schritte neben der Mauer aufsammeln!

Der Ort und der Abend, wo ich Rolande wiedersehe, sind noch fern. Als Erstes muss ich diese Beule, die mich am Laufen hindert, bis zur Straße schleppen … zwei-, dreimale versuche ich, die Ferse aufzusetzen – der Blitz flammt auf, schießt durch mein Bein.

Wenn die Füße nutzlos sind, gehe ich halt auf Ellbogen und Knien. Ich krieche zwanzig Meter, lande im Gebüsch, stoße wieder auf die Steine, versuche mich zu orientieren.

Ein weiteres Jahrhundert muss vergangen sein, ich erkenne nichts mehr.

Mein Knöchel ist wie einzementiert, Unter- und Oberschenkel im rechten Winkel; ich trage ihn wie ein nach oben gerecktes Gewicht, er kippt ins Geröll und in die Krallen der Büsche. Die Nacht ist undurchdringlich. Von da oben hatte ich in den letzten Monaten immer wieder auf das Gestrüpp direkt neben der Landstraße gestarrt, ich war sicher, dass ich mich mit geschlossenen Augen zurechtfände. Meine Pläne gingen noch nicht so weit, aber die ständige Versuchung, zu springen und zu fliehen, bahnte sich von selbst ihren Weg. Und während ich der Herde der Mädchen zulächelte, die sich ängstlich um die Erzieherin drängte, während ich Rolandes Hand drückte, die in meine Tasche geschlüpft war, flog ich die Steine hinunter und stand auf, hu-hu, spottend und geläutert …

Und wir kehrten zögernd zurück ins Licht. Ich ließ die Hand meiner Freundin in meiner Tasche los und drang in ihre ein, um durch den Stoff hindurch das Hin und Her des Gelenks zu ertasten. Rolande, ich spüre, wie dein Knochen läuft … Wir kicherten unter dem Mantel, und der Zellentrakt mit seinem hellen Licht kassierte die Träume bis zum nächsten Morgen.

Ich krieche. Meine Ellbogen werden erdig, ich blute Schlamm, die Dornen durchbohren mich, es tut weh, aber ich muss weiter, vorwärts, wenigstens bis zu dem Licht da, ein Haus, das muss die Straße sein … Zwischen dem Licht und mir ist ein Zaun, an dem ich strande. Ich fühle mich wohl, als ich da auf dem Rücken liege, Augen geschlossen, Arme entspannt … Sammeln sie mich eben im Schlaf auf, Pech. Ich werde dieses Ausruhen mit neuer Unterwerfung, mit neuen Schmerzen bezahlen, ich bin zu Boden gegangen, da bleibe ich. Vielleicht wird die Mauer meinem Sturz folgen und mich unter sich begraben.

Ich richte mich auf den Knien auf, umrunde den Zaun. Ein Knie, ein Unterarm, ein Knie, ein Unterarm … es geht, ich gewöhne mich dran. Ich stelle mir vor, dass ich nochmal von vorn anfange, dass ich mir diesmal Zeit lasse. Anstatt wie eine Verrückte loszurasen, mich an die Steine gekrallt aufs Geratewohl die Mauer runterzuhangeln und loszulassen, sobald mein Fuß ins Leere tritt, suche ich mir für die Landung einen weichen Fleck, da, wo das Gras dick und federnd wächst …

Ich lasse die Villa hinter mir, deren Lampe immer noch brennt, bewege mich dicht an der Mauer entlang durch das Gras am Weg, Unterarm, Knie, Unterarm … Da ist die Straße, glänzend, zweigeteilt von dem gelben Band. Ein Metallzelt steht auf dem Randstreifen, Benzinwerbung. Ich klammere mich daran, das Gestell klappert, von hier aus fahre ich per Anhalter … Nein, Paris ist in der Gegenrichtung, also rüber auf die andere Seite. Der erste Schritt ist glühendes Eisen, der zweite Gelatine, ich sinke quer über dem gelben Band zusammen, der nächste Raser ist meiner … Da ist er, ein Lastwagen. Er fährt in meine Richtung und wird an seinen Rädern Fetzen von mir nach Paris bringen. Ich sehe in seine großen gelben Augen. Er kommt auf mich zu.

Ein paar Meter vorher weicht der Laster aus, rollt auf den Randstreifen und bleibt stehen. Ich höre die Bremsen schnaufen, dann knallt die Tür zu, und Schritte kommen näher. Ich bleibe liegen, zermalmt, die Augen geschlossen.

»Mademoiselle!«

Finger berühren mich, suchen zögernd, besorgt.

Ich sage: »Bitte bringen Sie mich von der Straße runter … Halten Sie mich fest, ich glaube, ich habe mir das Bein gebrochen.«

Der Fahrer stützt mich bis zum Trittbrett seines Lasters. Ich setze mich hin, verfrachte den Knöchel in den Schatten, ich will nicht hinsehen. Eine nahe Straßenlaterne leuchtet auf meinen rechten Fuß. Er ist erdverschmiert, Schlamm trocknet an den schwarzen Zehen und in breiten Streifen bis hinauf zum zerkratzten Knie, das vor sich hin blutet. Ich ziehe den Mantel um mich zusammen, die Fäuste in den Taschen, ich habe nichts anderes am Leib, und allmählich wird mir kalt, kalt bis ins Herz.

»Geben Sie mir eine Zigarette?«

Der Typ holt seine Gauloises raus und gibt mir Feuer. Im Streichholzlicht sehe ich sein Gesicht, das Gesicht eines Fernfahrers in der Nacht: glänzende Haut, sprießender Bart und dazu dieser zerknitterte, starre Ausdruck.

»Was haben Sie denn gemacht?«

»Ich …« Ach, was soll’s, so, wie es jetzt um mich steht, kommt es nicht mehr drauf an. »Kennen Sie die Gegend?«

»Ich fahre die Strecke dreimal pro Woche.«

Ich zeige auf den Trampelpfad, das Licht der Villa ist der einzige Orientierungspunkt im undurchdringlichen Dunkel der Bäume und Mauern.

»Dann wissen Sie vielleicht, was da ist …«

»Äh … ja. Und von da …?«

»Ja, gerade eben. Na gut, vor einer halben Stunde oder einer ganzen … Sicher suchen sie mich noch nicht. O bitte, nehmen Sie mich mit nach Paris! Sie kriegen bestimmt keinen Ärger, Ehrenwort. In Paris setzen Sie mich ab, dann komme ich schon klar.«

Der Mann überlegt lange, dann sagt er: »Ich würde Ihnen ja gern aus der Klemme helfen, aber … verstehen Sie, Ihr Bein.«

»Trotzdem. Bis Paris, Monsieur, mehr will ich ja nicht. Ich werde Sie nie erwähnen, egal, was passiert. Glauben Sie mir!«

»Ich glaube Ihnen. Aber Sie werden es nicht verhindern. Die haben Mittel, die wir nicht kennen. Ich habe Frau und Kinder, das geht nicht.«

Ich umklammere meinen Knöchel mit zehn Fingern und stemme mich gegen die Fahrertür, um aufzustehen: »Gut, dann lassen Sie mich hier. Ich bitte Sie nur darum, dass Sie ›die‹ nicht im nächsten Nest informieren. Vergessen Sie diese Begegnung, seien Sie …«

Ich wollte sagen: Seien Sie so gut, aber plötzlich erfasse ich die Lächerlichkeit der Worte, den Geschmack der Zigarette, die herunterbrennt, und die zehn Minuten, die der Mann mir geschenkt hat.

»Warten Sie«, sagt er. »Ich kann doch etwas machen, und zwar ein Auto für Sie anhalten. Ein Privatwagen nimmt Sie vielleicht mit … Ich erzähle einfach irgendeine Geschichte.«

Soll er doch machen, was er will. Ich würde mir nur gern das Bein abschneiden und schlafen, schlafen, bis es nachwächst, und aufwachen und über meinen Traum lachen. Cine schrieb mir vor kurzem: »Meine Süße, ich hatte einen Albtraum: Du warst furchtbar gestürzt, von ganz weit oben, deine Ohren bluteten, und ich konnte nichts machen, nur weinen … Als ich aufgewacht bin, habe ich dein Foto genommen und vor Freude geseufzt, weil es nicht wahr ist und weil ich dich wie jeden Morgen sehen werde, zum Anbeißen, wenn du mit deinem großen Milchtopf in die Küche rennst …«

Rolande und ich haben uns halbtot gelacht, als wir das gelesen haben. Cine, die Freundin vom letzten Jahr, die immer noch bereit war, alles für mich hinzuschmeißen, dabei hätte ich sie längst vergessen ohne die unaufhörliche Glut dieser engbeschriebenen und winzig klein gefalteten Brieflein, die mir ein unbeteiligtes, hilfsbereites Mädchen fast täglich brachte … Cine! Ich hatte genug von ihren Gewissheiten, ihrer besitzergreifenden Hingabe, von der Spur, die sie in mir hinterlassen zu haben meinte, von ihrer Mütterlichkeit, meine Große, mein Kleines.

Ich hatte Cine in einem Zug kennengelernt. Männer und Frauen teilten sich das Abteil, zwei klar getrennte Gruppen; die Männer sangen, die Frauen schwiegen oder weinten. Ich drückte mich ans Fenster, sah Paris davonfahren, hinter dem dreifachen Schleier der schmutzigen Scheibe, des Regens und meiner Tränen verschwimmen.

»Nicht weinen!«

Ich zog so leise wie möglich meine Nase hoch, wischte mit den Fingern unter meinen Augen entlang und drehte mich zu der Stimme um. Eine Frau um die dreißig mit olivenschwarzen Augen und braunem Haarknoten saß neben mir, ihr Lächeln war ebenso angenehm wie ihre Stimme. Meine Tränen versiegten, und ich schaute sie genauer an, von dem weichen Halstuch bis zu den in Hausschuhen steckenden Füßen. Ich beugte mich etwas vor und sah unter der Bank schwarze Pumps mit halbhohem Absatz: eine Vornehme.

Ich fragte sie: »Lange? …«

»Lange – schon oder noch?«

»Noch. Der Rest geht mich nichts an!«

»Warum nicht? Ist doch kein Geheimnis. Insgesamt sieben Jahre.«

»Genau wie ich. Ich habe noch fünf, und Sie?«

»Man weiß nie, was man noch hat: Es gibt Amnestien, Bewährung …«

»Ach was«, sagte ich, »das ist doch alles Schwachsinn. Ja, ich weine, weil ich sicher bin, dass ich Paris für fünf Jahre verlasse. Außerdem ist es auch schon wieder vorbei, sehen Sie? Und dann noch diese Männer, die nicht aufhören zu singen. Zum Glück steigen sie unterwegs aus.«

Wir sagten uns unsere Vornamen und unser Alter.

»Unmündig. Aber wieso? …«, fragte Francine.

»Pardon, mündig! Strafmündig, geistig mündig, vollkommen mündig. Der Beweis ist, dass ich zwei Jahre wie eine Große gewartet habe, bis sie mir noch fünf Jahre aufgebrummt haben. Ich bin jung, aber da, wo wir hinfahren, sind alle jung. Ich glaube, der Schulknast ist für alle unter dreißig, fünfunddreißig.«

Allmählich änderte sich die Landschaft, wurde öder, das Licht blasser: Wir fuhren »hinauf« nach Norden. Gegen Mittag blieb der Zug endlich stehen. Ich musste dringend meine Schuhe loswerden. Ich hatte nämlich nicht daran gedacht, die Hausschuhe auszupacken, und war nach so langer Zeit in Gefängnissandalen nicht mehr an hohe Absätze gewöhnt.

»Machen Sie Ihre Sandalen zu!« Das hatte ich zwei Jahre lang gehört, zusammen mit »Machen Sie das Schwarz an Ihren Augen weg« und »Ziehen Sie sofort Ihr Unterhemd an, nackt unter dem Pullover, das ist ja die Höhe, also wirklich!«

Was würden sie jetzt schreien? »Kann ich Ihnen helfen?« Sie befahlen nicht mehr, sie schlugen vor und säuselten die Vorschläge, anstatt sie zu bellen. Unsere Herde versammelte sich auf dem Bahnsteig, und lächelnde, engelgleiche Frauen halfen uns, unsere Koffer, unsere schlecht geschnürten Bündel, unsere mit tausend verschiedenen unverzichtbaren Kleinigkeiten vollgestopften Beutel zu tragen.

»Wollen wir versuchen, zusammenzubleiben?«, fragte Francine.

Später brachten uns weitere Zeichen, weitere Zufälle noch näher zusammen: Wir wurden derselben Gruppe zugeteilt und deshalb während der vorgeschriebenen drei Monate Einzelhaft von derselben Erzieherin besucht. Wir quatschten beim Freigang über die Mauern hinweg oder bei den verschiedenen Diensten, Abwaschen, Saubermachen, die wir ebenfalls zusammen erledigten, immer zwei aus derselben Gruppe, Cine und ich im Wechsel mit anderen.

Nach einem Vierteljahr würden wir zur Gruppe kommen. Von diesem Tag sprachen wir mit größerer Vorfreude als vom noch allzu fernen Tag unserer Entlassung, wir träumten von einer vita nuova, vom Vergessen der Vergangenheit im Glanz der Gruppe, gereinigt, gebügelt und gestärkt – kurz und gut: kleine Pensionsschülerinnen, Lämmchen, ein harmonischer Engelschor.

Ach Cine, warum musste den glücklichen Plänen so eine verfluchte Wirklichkeit folgen? Warum wolltest du dir die Finger schmutzig machen, anstatt mich in aller Ruhe herumexperimentieren zu lassen? Ich wettete, probierte, wählte, weil ich nicht viel hatte, um meine Jugend und meine Langeweile zu füllen; du wusstest es, wir lachten darüber, wenn wir abends aus den gitterlosen Fenstern unserer Zimmer hingen (es war verboten, »unsere Zellen« zu sagen), manchmal hast du mit mir geschimpft … und dann wolltest du, deren Freundschaft ich liebte, mich mit deiner Liebe vollstopfen. Du hast gedacht, du könntest mir deine Gefühle aufpfropfen, mir ein Stück von deinem Herzen einnähen …

Cine jedenfalls schlief dort oben, und ihr Traum nahm Gestalt an: Etwas wie »meine süßen Ohren« verblutete, verreckte langsam, hier, am Rand der Straße, die ich niemals mehr mit dir, Cine, oder mit Rolande oder irgendwem sonst entlangspazieren würde, weil ich überhaupt nie mehr laufen würde. So, wie ich mich auf das Trittbrett des Lasters gesetzt hatte, konnte ich mir keine andere Fortsetzung vorstellen, als mich hinzulegen und mich nicht mehr zu rühren.

»Um diese Zeit fahren hier selten Autos«, sagte der Fahrer und kam zurück. »Geht’s?«

»Nicht schlimmer als vorhin. Fahren Sie ruhig. Ich habe Sie schon lange genug aufgehalten. Die werden mich sowieso bald suchen.«

Aus der Dunkelheit tauchte ein Motorengeräusch auf. Der Mann rannte los. Ich sah seine Silhouette im Scheinwerferlicht wild gestikulieren. Wie schnell die Autos inzwischen rasen! Er lässt sich noch plattmachen. Ich drückte mich in den Schatten der Fahrerkabine und schloss die Augen.

Das Auto hatte angehalten, eine Tür klappte, Schritte und Stimmen kamen näher. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich, wie der Fernfahrer vor einem Mann stand und auf ihn einredete, zur Mauer zeigte, dann auf mich … Der Mann stand mit dem Rücken zur Laterne und warf einen präzisen, gedrungenen Schatten, Hände in den Taschen, Kragen hochgeschlagen. Obwohl sie dicht neben mir sprachen, verstand ich fast nichts: Nebel, dicht wie Watte und durchsichtig wie Glas, trennte mich von ihnen, und ich versank immer tiefer darin, wie in Schlaf.

»Zeigen Sie mal Ihren Fuß«, sagte die Gestalt.

Mein steifes Knie schaffte es nicht, das Bein unter dem Trittbrett hervorzuholen; ich half ihm, indem ich mit beiden Händen an der Wade zog. Dann stützte ich mich reflexartig auf die Ferse, um aufzustehen, aber was ich da spürte, war so brutal, so hoffnungslos, dass ich aufgab und meinen Fuß in den Schatten und den Schlamm zurückfallen ließ.

Der Mann hockte sich vor mich und bewegte den Strahl einer Taschenlampe, ich sah das glatte Blond seiner Haare, das rosa Ocker seines Ohrs und seiner Hand. Er richtete sich auf, machte die Lampe aus und ging mit dem Fahrer zu seinem Auto. Soll er doch gehen. Es war mir egal. Ich hatte wieder aufgegeben, zuzuhören und mich zu interessieren.

Dann ging alles ganz schnell. Ein Arm legte sich um meine Schultern, ein anderer schob sich unter meine Knie, ich wurde hochgehoben, fortgetragen; das Gesicht des Mannes von eben war ganz nah, war über meinem, bewegte sich durch den Himmel und die Äste der Bäume. Er trug mich sicher und sanft, ich hatte den Schlamm verlassen und lief in seinen Armen zwischen Himmel und Erde. Der Mann bog in einen Trampelpfad ein, ging noch ein paar Meter, dann legte er mich vorsichtig auf den Boden. Als ich mich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, erkannte ich einen großen Baum, Gras, Pfützen.

»Mach bloß nicht den Mund auf und rühr dich vor allem nicht von der Stelle«, sagte der Mann und richtete sich auf. »Ich komm wieder und hol dich. Warte hier. Warte so lange wie nötig.«

Und er ging. Kurz danach hörte ich die Motoren des LKWs und des Autos, Lichter glitten vorbei, dann wurde alles wieder Stille, Wüste, Nacht.

Ich rührte mich nicht. Später, wenn es weniger wehtäte, würde ich mich ein bisschen näher zur Straße bewegen. Ich lag zu tief im Gebüsch, der Mann würde mich nicht wiederfinden. Ich würde ein paar Meter, ein paar Bäume weit zurückkriechen. Ich hatte Zeit. Ich wusste, dass die nächste Stadt vierzig Kilometer entfernt war, vierzig plus vierzig … Es waren Leute im Auto, ich hatte Stimmen gehört, vielleicht wollte der Mann seine Mitfahrer absetzen, bevor er zurückkam. »Mach bloß nicht den Mund auf.« Ich lächelte, den Mund an den Baumwurzeln. Jetzt war ich ganz ausgestreckt, wurde nass vom Gras, erfror allmählich. An meinem anderen Ende machte mein Knöchel ein Riesentheater, schmolz bei jedem Schlag meines Herzens in glühenden Rinnsalen. Ich hatte ein neues Herz im Bein, das noch ziemlich unrhythmisch, unregelmäßig auf das andere antwortete. Da oben waren die schwarzen Äste vor dem eisigen Himmel erstarrt. Auf der Straße fuhren Autos vorbei und entfernten sich, keins wurde langsamer, keins bog zu mir ab. Der Mann musste wohl oder übel zurückkommen, denn ich hatte nicht mehr die Kraft, noch einmal mein Glück zu versuchen, und man durfte mich dort am Morgen nicht finden. Um mein Bein machte ich mir keine Sorgen, das würde auf jeden Fall versorgt werden. Der Schmerz hatte sich schon eingelebt, er spazierte durch meinen Körper, besuchte jeden Winkel und ließ ihn im Vorbeigehen steif werden. Er breitete sich aus und ebnete sich ein; nur kleine überraschende Funken hier und da ließen mich zusammenzucken und hinderten mich daran, richtig einzuschlafen. Ich knetete in meiner Manteltasche die Gauloise, die mir der Fernfahrer gegeben hatte; sie würde womöglich meine einzige Trophäe sein … Eigentlich war es gar nicht so schlecht: Ich hatte einen Glimmstängel, eine echte große Gauloise, und ich hatte die Freiheit, sie wegzuwerfen oder zu zerkrümeln. Mein Zigarettenpapier und meine Streichhölzer waren oben geblieben. Rolande, Rolande, ich habe eine schöne Kippe und kann sie nicht rauchen …

Ein brennendes Streichholz. Eine Sternschnuppe, ein Nebelscheinwerfer. Nein, es ist der Schmiedeofen meines Knöchels, der den ganzen Pfad erleuchtet. Die Wellen wirbeln einen Moment, dann sammeln sie sich und erstarren in einem blendenden Lichtkreis, einer großen Taschenlampe, deren Strahl haarscharf an meinem Kopf vorbeigeht und am Baumstamm stehen bleibt, ohne mich berührt zu haben. Es kommt mir auch so vor, als hätte ein kurzes, ersterbendes Motorgeräusch die Nacht gebläht; ich habe wohl geträumt, nur die Kälte knirscht in meinen Ohren. Aber der Scheinwerfer ist immer noch da, ich kann die Baumrinde genau erkennen, und jetzt geht ein zweiter an, winzig und beweglich, der dicht am Boden herumirrt. Es ist so weit, ich bin entdeckt.

Alles erlischt, und jemand kommt näher. Er ist es, sicher.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht von der Stelle rühren!«

Ach so, habe ich mich gerührt? Möglich. Alles wird wieder möglich. Ich glaube, dass ich lache, dass ich den Hals des Mannes umschlinge, dass …

»Ja, ja«, sagt er und macht sich los, um in der Innentasche seiner Jacke zu kramen. Er holt einen Flachmann und eine Schachtel Zigaretten raus. Jetzt haben wir alle Zeit der Welt. Wir trinken abwechselnd, direkt aus der Flasche. Bei jedem Zug entreißt die winzige Glut der Zigaretten unsere Gesichter der Dunkelheit. Die Schachtel und die Flasche leeren, danach, egal. Ich habe alle Hoffnung wiedergefunden.

Der Mann holt noch mehr Sachen raus.

»Hier, ich habe dir eine Hose und einen Pullover mitgebracht, sogar einen Verband …«

Stimmt ja, ich bin fast nackt. Ich ziehe den Mantel aus, den Pullover an. Aber die Hose? Wie soll ich in eine Hose reinkommen mit diesem aufgedunsenen Fuß, der sich nicht mehr strecken lässt, der bei der kleinsten Berührung vor Schmerz explodiert?

Ich ziehe den Mantel wieder an und frage: »Wie heißt du?«

Jetzt sind wir zwei Vornamen. Wir werden zusammen die schwarzen Bäume verlassen, und am Morgen erfahren wir den Rest. Erst mal wegfahren, schnell …

»Willst du nicht versuchen, wenigstens die Binde drumzuwickeln? Es friert, weißt du.«

»O nein, nicht anfassen, bloß nicht. Ich bleibe barfuß, das macht nichts.«

»Wie du willst. Ich trage dich aufs Motorrad, halt dich an mir fest. Sag Bescheid, wenn es nicht geht. Kannst du fahren?«

»Ja, das habe ich oft gemacht, keine Sorge. Komm, weg hier.«

Ich krümme mich um die erstarrte Flamme zusammen, die der Alkohol in mir entzündet hat. Ich lasse meinen Fuß neben dem Rad hinunterhängen und klammere mich mit beiden Armen an Julien.

Ein neues Zeitalter beginnt.

2

Ich hatte nicht gezittert, als ich die Finger öffnete, um mich von der Mauer zu lösen. Die ganze Nacht war ich regungslos und angespannt gewesen, war nicht in der Lage gewesen, herauszufinden, was mit mir geschah. Und jetzt, unter der hellen Glühbirne in der Küche, gleichzeitig mit Wärme und Entspannung, übermannte mich mein Leiden, und ich ließ mich mit allen Knochen schlottern. Zwischen Spüle und Herd geklemmt versuchte ich, meine klappernden Zähne und meinen ganzen Körper zu kontrollieren, er wurde von einem Nerventornado geschüttelt, der sich auf meinen Stuhl und die Zigarette in meiner Hand übertrug. Ich bemerkte, dass ich einen Männerpyjama und einen schwarzen Jacquardpullover trug, der Gefängnismantel war verschwunden.

Jemand hatte mich auf einen Stuhl gesetzt. Jemand hatte einen anderen, mit einem Kissen drauf, unter meine Beine geschoben. Gestalten bewegten sich vor mir, mein Retter in der Nacht, ein anderer, größerer Mann, eine alte, winzige Frau. Ich verstand immer noch keine Worte, aber ich hörte und roch, dass Kaffee gekocht wurde: Klappern der Kanne, Tropfen des Filters, leicht bitterer Duft. Mein Fuß hatte aufgehört zu heulen wie ein Hund, der lange durch die Nacht gejault hat, bis er ins Haus gelassen wird und am Feuer einschläft.

Der Große betastete meinen Knöchel, Miene besorgter Doktor. Die alte Frau brachte Mull und Fläschchen, setzte Wasser auf.

»Das ist meine Mutter«, sagte Julien.

Die Mutter wusch das Blut ab, verbarg meinen Fuß säuberlich unter einem dicken Verband. Niemand wunderte sich oder fragte, ihre Bewegungen waren natürlich und effizient. Vielleicht war ich nach Hause gekommen, ins Haus meiner Kindheit, nach einer finsteren, mühseligen Reise, vielleicht war diese Frau auch meine Mutter. Wieder von Julien getragen, stieg ich die Stufen zum Obergeschoss hinauf, um mich in mein Bett im Kinderzimmer zu legen.

»Versuch jetzt ein bisschen zu schlafen«, sagte Julien und küsste mich flüchtig auf die Wange.

»Ich komme morgen früh zurück. Und zeig dich bloß nicht am Fenster.«

»Wenn ich bis da laufen könnte!«

»Stimmt. Los, schlaf. Morgen sehen wir weiter.«

Er machte das Licht aus und zog die Tür zu, bis nur noch ein Lichtstrahl hereindrang.

Mein Bett, ganz klein, ein großes Kinderbett, stand in der Zimmermitte; rechts und links an den Wänden ahnte ich zwei weitere, das waren Kleinkinderbetten, die Matratzen dicht am Boden und von einem Gitter umschlossen. Darin regte es sich: leises Glucksen, leise Schreie, glücklich oder erschreckt, plötzliche Bewegung von Decken, dann die Rückkehr zum tiefen, etwas nasalen Atem schlafender Kinder. Wir waren drei Kinder, und mein Fuß hing an meinem Ende wie eine dicke, formlose Puppe. Zentimeter für Zentimeter hatte ich ihn bis in die Mitte des Betts gezogen, und mein aufgestelltes rechtes Bein bildete ein Zelt über ihm, das ihn vor dem Gewicht und der Berührung der Decke bewahrte. Ich lag in einem Viereck, an mir hing ein fremdes Gewicht, das mich daran hinderte, das Viereck zu verlassen, ein außerordentlich träges und steifes Gewicht, ein rebellisches, dumpfes Glied, ein lebendiges Stück Holz, es scherte sich nicht um mich und die Bemühungen meines Kopfes und meiner Muskeln, es gehorchen zu lassen.

Im Morgengrauen kam eine junge Frau ins Zimmer; sie trug einen roten Bademantel über ihrem Nachthemd. Sie lächelte leicht, als sie die Vorhänge öffnete. Auch sie wirkte keine Spur überrascht, mich dort zu sehen. Sanft schüttelte sie die kleinen Pakete in den Betten und trällerte: »Auf, auf, wir müssen aufstehen.« Und ich bekam Lust, auch geweckt zu werden, nach unten zu gehen, zu den Butterbroten und dem Schulranzen, zusammen mit den beiden hübschen Kindern, die der rote Bademantel aufforderte »Guten Morgen, Mademoiselle« zu sagen.

Verlegen, sowohl wegen der ungewöhnlichen Situation – in einem riesigen Pyjama mitten in der Nacht in ihrem Zimmer gelandet zu sein –, als auch wegen fehlender Erfahrung im Umgang mit Kindern, lächelte ich, so gut ich konnte, und sagte wie zu Erwachsenen »Guten Morgen, Mademoiselle«, die sieben Jahre alt sein mochte, und »Monsieur«, der ungefähr fünf war, »guten Morgen«. Was suchte ich, deren Kindheit nur aus Grausamkeit bestanden hatte, hier in diesem lustigen Kinderzimmer mit den Spielsachen und Büchern, die auf dem Boden herumlagen, der blauen Tapete und dem großen Fenster, das einen grauen Frühlingsmorgen einrahmte?

So vergingen mehrere Tage. Morgens, nachdem die Kinder in die Schule gegangen waren, kamen Ginette oder die Mutter mit dem Frühstück und warmem Wasser zum Waschen herauf. Ganz elementar entstand meine Existenz neu: Ich hatte jetzt meinen Kamm, meine Zahnbürste, Nachthemden und Unterwäsche, von Ginette geborgt. Eddie, der Große, der Ehemann von Ginette, hatte ein altes Radio vom Boden heruntergebracht und neben meinem Bett angeschlossen. Ich hörte den ganzen Tag, bis die Kinder ins Bett gingen, und nachts schob ich mein Bein in dem Viereck herum, wartete erschlagen von Schlaflosigkeit auf die Dämmerung.

Meinen Oberkörper wusch ich ohne große Schwierigkeiten, aber für den Rest musste ich eine neue Art erlernen, mich zu bewegen, jede Regung zu kalkulieren und zu erfinden: die Schüssel auf dem Fußboden anpeilen, mich ihr nähern, ohne den linken Fuß aufzusetzen, mich hinkauern, das Bein mit einer Hand in der Luft haltend – man musste es tragen, denn es war vom Knie abwärts völlig unbeweglich – manövrieren, um wieder hoch ins Bett zu kommen, das Wasser in den Eimer gießen … Meistens ließ ich den Fuß unter der Decke, und wenn ich mich bewegte, nahm ich das Knie als Ausgangspunkt, rollte zur einen und zur anderen Seite, stützte mich auf die Schultern, kroch auf der Stelle.

Trotzdem überprüfte ich jeden Morgen die Lage, indem ich zu gehen versuchte. Ich saß auf dem Bettrand, stellte den Fuß hin, stand auf. Ganz langsam verlagerte ich mein Gewicht, verteilte es gleichmäßig auf beide Beine. Aus einzelnen Striemen rollte sich der Schmerz zu einer großen, reglosen Kugel und ließ nach. Dann bewegte ich den rechten Fuß, ich rollte ihn ab, löste ihn vom Boden, aufmerksam, langsam … Aber jedes Mal überwältigte mich die Geschwindigkeit, mein Knie gab nach, knickte ein, ich wurde nach hinten aufs Bett oder nach vorn gegen das Fenster geschleudert. Entmutigt bis zum nächsten Tag nahm ich das Bein und legte es wieder in die Horizontale.

Ich entfernte auch den Verband, um es mir anzusehen. In den ersten Tagen schienen Wade und Knöchel die Rollen getauscht zu haben, der Fuß war die Basis eines Kegels, die Schwellung hatte die Wade verschwinden lassen. Das Blut staute sich in blauen, violetten und grünen Flecken unter der Haut, und die Kratzer der Dornen bildeten darüber ein Geflecht aus schwarzem Schorf. Ab und zu entdeckte ich einen Splitter, den ich mit den Fingernägeln herauszog. Dann ließ die Schwellung nach, aus Holz wurde harter, kalter Marmor, das Blut bewegte sich nicht mehr.

Die kleinen Liebesromane, die mir Ginette brachte, die belanglosen Liedchen im Radio und die Flaschen, die mir Eddie halbvoll ans Bett stellte, damit ich sie leerte, hinderten die Bestie tagsüber daran, die Zähne zu zeigen. Außerdem kamen sie mich besuchen, setzten sich vorsichtig auf den Rand des Vierecks, und ihre Anwesenheit, ihre Worte vertrieben die Stunden. Ginette saugte Staub, schüttelte singend die Betten auf, antwortete auf die Fragen, die ich aus Höflichkeit und mit großer Mühe stellte, weil ich ein hartnäckiges Unbehagen verspürte. Ich hatte das Gefühl, dass all meine Worte und sogar mein Schweigen verrieten, wofür ich mich zwar keineswegs schämte, was ich aber trotzdem nicht herausposaunen durfte. Ich hatte gelernt, die Mädchen zu lieben, sie einzuschätzen, ich war Müttern begegnet, die sich hinter ihren Gören verschanzten, um ihre außermütterliche Liebe und ihre Verbrechen zu kaschieren. Die Frauen, die ich auf der Mauer zurückließ, hatten mich von der Einfachheit, von einer auch nur oberflächlichen Kameradschaft entfernt. Die Kluft zwischen ihnen und Ginette verblüffte mich und verschloss mir die Kehle.

Julien dagegen hatte ich alles erzählt: die Vergangenheit, die Zukunft, von der ich überzeugt war, laufen, laufen und dann Rolande wiederfinden. Er war zwei Nächte nach der Rettung wiedergekommen. Als ich unten seine Stimme hörte, war ich überrascht, ja enttäuscht, dass er nicht sofort zu mir hochkam.

»Meine Mutter ist einverstanden«, hatte er erklärt, als er in der Nacht der schwarzen Bäume gekommen war, mich zu holen. Und: »Pass bloß auf, dass meine Mutter keine Schwierigkeiten kriegt.«

Er besuchte seine Mutter, und ich wurde ungeduldig …

Später, lange, nachdem Eddie und Ginette ins Bett gegangen waren, öffnete Julien die Tür; er bewegte sich wie ein Schatten, ohne Licht zu machen, ohne irgendwo anzustoßen. Als er neben mir stand, richtete er einen von den Fingern abgeschirmten Taschenlampenstrahl auf das Bett und setzte sich.

Ich sah nur seine Umrisse und zwei helle Hände. Ich ergriff eine davon und strich seinen nackten Arm hinauf, hielt am Pyjamaärmel inne, der über einem steinharten Bizeps aufgekrempelt war … Vier Jahre, ohne einen Männerarm berührt zu haben.

»Magst du weißen Rum?«

Ich hatte noch nie welchen getrunken; ich sagte aufs Geratewohl Ja.

In der vom schwachen Lampenschein auf dem Nachttisch durchbrochenen Dunkelheit des Zimmers sahen wir uns kaum, und wir sprachen ganz leise, um die Kinder nicht zu wecken.

In den ganzen vier Jahren brachte mir die Nacht hartnäckig denselben Traum: eine Gestalt, eine Stimme, eine Anwesenheit; einen Mann, den ich tagsüber wütend wegstieß, nachdem ich ihn nachts gerufen hatte; einen sehr großen, schützenden Schatten, der manchmal »eiei… einsam« rief, eine Stimme, die mir immer voraus war.

»Was werden wir alles träumen, ich kann dir sagen!«