Astrids Vermächtnis - Lars Mytting - E-Book

Astrids Vermächtnis E-Book

Lars Mytting

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Beschreibung

Die Deutschen überfallen Norwegen und Astrid Hekne schließt sich dem Widerstand an. Sie hat den Kampfgeist ihrer Großmutter geerbt. Die hatte einst dem jungen Pfarrer von Butangen den Tod vorausgesagt. Fast am Ende seines Lebens findet er bei einem gewagten Sabotageakt in Astrid die Komplizin, nach der er immer gesucht hat.

Lars Mytting erzählt von einem norwegischen Tal in den Jahren 1936 ‒ 1945 und von widerständigen Frauen und Männern mit Pioniergeist. Sie lassen Mythen und Aberglauben hinter sich, trotzen Not und Krieg und machen sich auf den Weg in eine neue Zeit.

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Seitenzahl: 754

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Cover

Titel

Lars Mytting

Astrids Vermächtnis

Roman

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel

Insel Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die norwegische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Skråpånatta blå tråde bei Gyldendal, Oslo.Published by agreement with Agentur Literatur Gudrun Hebel, Germany.Der Verlag dankt NORLA – Norwegian Literature Abroad für die Förderung der Übersetzung.

eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024© Lars Mytting 2023

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagfotos: Manfred Schneider, Nußloch/www.die-heiliggeistkirche-zu-heidelberg.de (Glocke); Jean-Paul Mission/Getty Images, München (Landschaft)

eISBN 978-3-458-77963-6

www.insel-verlag.de

Motto

Alles, was ihr im Leben hinieden säet

werdet ihr im jenseitigen Leben ernten.

Also sage ich:

Gehet hin! Kommet her!

Inschrift an der Stabkirche von Ringebu (im 17. Jahrhundert entfernt)

Nichts verschwindet.

Astrid Hekne

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Motto

Eine wiedergefundene Geschichte Stigma Diabolicum

Das Winterlamm

Der Willen des Garns

Erster Teil Mit weniger gebe ich mich nicht zufrieden

Der Trauring

Eine Straße zu den Almen

Und darüber Pfarrergeruch

Dynamit kann man immer gebrauchen

Von der Maas bis an die Memel

Dadurch sind wir alle besonders

Ein verkaterter Wissenschaftler

Aber es ist Hans peinlich, das selbst zu sagen!

Ein Skizzenbuch kehrt nach Hause zurück

Die vielen Paragrafen des Naturgesetzes

Onne Erd, onne Kreuz

Eine Stabkirche aus Stein

Kein elektrisches Licht in so einem Moment

Ich glaube, sie hat sich finden lassen

Eine blassgelbe Fokker Universal

Die Winteralm

War es der Groll, den du in dir trugst

Ein Wespenschwarm, der ihn nicht stechen konnte

Die Brüder und das Volk

Die Gaben der Berge

Geweihtes Nass aus den Fluten der Breia

Nur bis Mai 1940,

Herr

Schweigaard!

Abschied eines Gemeindepfarrers

Zweiter Teil Bauernopfer

An einem langweiligen Dienstag im April

Die ausrangierten Kriegsschiffe des Herrn

Das Eis auf dem Todestümpel

Major Sprockhoff

Eine unverheiratete Frau aus der Hekne-Familie

Seine rechte Hand

So wollen auch wir Stärke aus dem Nichts beziehen

Eine passende Aufgabe für einen Rentner

Vier vertrauenswürdige Männer

Die armen Seelen, die in Heidenglauben irren

Die vereinfachte Kriegsliturgie

Sechs tote Fasane

Die Fliege in der Faust

Der zweitmächtigste Mann der Welt

Leb wohl, Schwarzer

Ein Regenbogen auf der Milch

Drehwurm

Eine Bibel und ein Tretschlitten

Die Vergangenheit verlangt keine Zinsen

Der Tod ist kurz für den, der stirbt

Der Willen einer toten Frau

Aber kein Wort zu deinem Vater

Achtzehn Talare für Helgøya

Grüß Frau Ro

Die Feuervögel

Die Leitkuh

Dritter Teil Die Nacht der Nächte

Altarkerzen für einen Abschiedsgottesdienst

Achthundert Jahre, vorbei

Der letzte Pfarrer von Butangen

Du warst in der Kirche, als sie gebrannt hat

Die letzte Tat einer ungeliebten Kirche

Briefe von 1918

Die Verhaftungen

Nekropole Dresden

Ich dachte, das sei der Maiwind

Das letzte Stück auf dem Schlitten

Die Toten sagen

komm

Hiermit der Welt ein gute Nacht

Letzter Teil Bis zum höchsten Punkt

Ein Blütenteppich von Disteln und Krapp

Das Versprechen

Die es gab und die es gibt

Historische Hintergründe der Besetzung Norwegens durch Deutschland ab April 1940

Dank

Informationen zum Buch

Astrids Vermächtnis

Eine wiedergefundene Geschichte

Stigma Diabolicum

Das Winterlamm

Es war ihm unbegreiflich, wie sie es im Schnee hatte aufziehen können. Und noch viel mehr, mit wem oder womit sie sich gepaart hatte.

Man schrieb das Jahr 1613. Eirik Hekne war auf Skiern in den Bergen oberhalb von Butangen unterwegs, um Schlingen zum Schneehuhnfang auszulegen. Den Morgen über war er zwischen Krüppelbirken und vereinzelten Fichten entlang der Baumgrenze einhergewandert.

Da flog vor ihm ein Kolkrabe auf.

Es war doch wohl ein Rabe? Eirik war vom Licht geblendet, er sah nichts als ein schwarzes Flattern und dass dem Vogel ein länglicher Fleischfetzen aus dem Schnabel hing. Die Sonne schien so scharf, dass der Schnee hellblau wirkte. Der Vogel verschwand zwischen den Felsen, während Eirik sich mit seinen Stöcken voranschob.

Vor ihm lag ein totes Schaf. Die Wolle so verfilzt und gefroren, dass sie in den verharschten Schnee überging. Vogelspuren um den Kopf herum verrieten, wo der Vogel von dem Tier gefressen hatte. Aus den Augenhöhlen stieg ein klein wenig Dampf auf. Das Schaf musste vor sehr kurzem verendet sein.

Es kam vor, dass Schafe sich verirrten. Dann wanderten sie umher, bis der Schnee kam. Meist wurden sie dann früher oder später von einem Vielfraß gerissen.

Jetzt war es später. Viel später. Es war ja schon Februar.

Eirik wandte sich zum Hochgebirge um. So fremd, so verschieden von der Landschaft, die er aus Sommer und Herbst kannte, wenn Schafe und Kühe auf den Almen weideten und Forellen und Saiblinge ins Netz gingen. Eine andere Welt jetzt. Blendend, trügerisch. Alles Kleine verschwunden, das Große größer. Steine und Gesträuch, Bäche und Landmarken unter Schnee verborgen, der hoch war oder tief, je nachdem, von wo man schaute. Weiß standen die Gipfel vor dem blauen Himmel und verbreiteten Lügen über die Entfernung zu ihnen: Komm, Menschlein, komm her, du wirst unterwegs nicht erfrieren.

Da blökte das tote Schaf hinter ihm.

Eirik erstarrte, dann drehte er sich langsam um. Das Tier warf den Kopf hin und her, so dass Blutstropfen über den Schnee sprühten. Es wollte mit den Beinen ausschlagen, doch sie waren festgefroren. Augenlos blickte es ihn an und rätselte wohl, war er ein Rabe, war er ein Mensch? Und was wäre der Unterschied?

Der Unterschied ist, dass für dich sehr bald alles vorbei ist.

Er zog das Messer, um das Tier vom Leben zu befreien. Grub sich auf der Suche nach dem Herzen mit den Händen zwischen gefrorener Wolle zu den Rippen vor. Eirik Hekne musste immer einen Widerwillen überwinden, um zu töten, aber wenigstens war der Tod gleich vollständig. Das Leben konnte halb oder viertels sein und wieder ganz werden, aber nicht, wenn es so schwach war wie hier.

Da spürte er eine andere Bewegung in dem Tier, eine freiere. Etwas löste sich gewissermaßen von unter dem Rücken, ein kleines Wesen erschien im rieselnden Schnee, und dieses Tier schaute ihn wirklich an, blickte mit Augen. Neugierigen, lebhaften Augen.

Ein Lamm. Ein knochendürres Lamm mit großen Ohren.

Eirik zog es unter dem sterbenden Mutterschaf hervor. An manchen Stellen schimmerte die Wolle ungewöhnlich, er hielt es für eine Sinnestäuschung, doch später sollten er und seine Töchter feststellen, dass das Deckhaar tatsächlich glitzerte und funkelte. Es war lang wie der Bart einer Geiß, silbrig glänzend. Die Unterwolle weich wie Hasenfell. Das Lämmchen zappelte mit den Beinen und wirkte gesund.

Wahrscheinlich war es zustande gekommen wie Winterlämmer sonst auch. Die Mutter dürfte eines von jenen Schafen gewesen sein, die von den Leuten »frühlingstaub« genannt wurden, als Jährling noch zu jung, um trächtig zu werden. Diese Tiere wurden mit den anderen auf die Weide geschickt und dann im Sommer brünstig. Und dann hatte sich wohl irgendwo ein Bock losgemacht, vielleicht auf einem Hof jenseits der Berge, war herübergewandert und hatte sie gefunden.

So etwas kam vor.

Nicht oft. Aber häufiger als nur dann und wann.

Das Lamm musste im Herbst zur Welt gekommen sein, das war eine heikle Jahreszeit, wenn man klein und neugeboren war, der Regen war kalt, der Wind scharf, als würde das Gebirge einen warnen: Haltet euch von mir fern, schaut, dass ihr ins Dorf runterkommt, ich werde mich verändern.

Eirik besann sich rasch. Steckte das Messer in die Scheide, grub das Mutterschaf aus dem Schnee und presste seine Zitzen, doch was es an Milch gehabt haben mochte, hatte es schon gegeben.

Er stand auf, das Lamm in den Armen. Dann sah er die nächste Fichte und begriff, wie die Tiere überlebt hatten. Die Rinde war abgerissen, die untersten Zweige bis zu der Höhe abgefressen, die ein Schaf erreicht, wenn es sich auf die Hinterbeine stellt und den Hals reckt. Den Stamm umgab ein schwarzer Kranz von festgestampftem Kot. Schafe pflegten bei Schneefall unter solchen Fichten Schutz zu suchen. Wenn alles Essbare vertilgt war, schlugen sie sich zum nächsten Baum durch. Aber dies war der erste Winter der jungen Mutter, sie hatte die wichtigste Lektion noch nicht lernen können: dass Schneefall nicht so rasch vorbei ist wie Regen, sondern die Flocken sich in Schichten immer höher türmen, und jedes Mal, wenn sie und ihr Lamm versuchten weiterzukommen, versanken sie tiefer. Nach dem letzten ergiebigen Schneefall hatte der Hunger sie wohl in die tiefen Schneewehen hinausgetrieben, aber sie waren zu ausgehungert und der Schnee zu tief, sie waren nicht weitergekommen und hier stecken geblieben, und das Schaf konnte nur noch versuchen, sein Kleines zu schützen.

Eirik war selbst Zeuge der unendlichen Mühen gewesen, die einer Frau abverlangt wurden, um ein Kind auf die Welt zu bringen. Die nicht enden wollende Qual seiner Frau, als sie im Kindbett starb, hatte in ihm eine gewisse Jähheit in den Entscheidungen bewirkt, einen unverbrüchlichen Glauben an den Wert des ersten Einfalls, eine halbblinde Kurzentschlossenheit, die fatale Folgen haben oder aber sich enorm auszahlen konnte. Diese Eigenschaft sollte auch für spätere Generationen typisch sein, unter den Dörflern wurde das die »Hekne-Art« genannt. Eine rasche Entscheidung, bei der man blieb, egal, ob sie ins Gefängnis führte oder auf den Thron.

Jetzt machte sich das geltend. In einem Aufblitzen erkannte er, wozu das Lamm bestimmt war, und in diesem Aufblitzen sah er auch seine Töchter. Er tat das Kleine in seine Kapuze, griff das Muttertier bei den Beinen und legte es sich um die Schultern. So abgemagert es auch war, so voller Schnee war es groß wie ein kleiner Bär.

Seine Skier hinterließen eine tiefe Spur auf dem Weg zur Alm. Durch den Körperkontakt schmolz der Schnee, das Wasser rann ihm über den Bauch. Es war, als würde das Lamm immer kleiner, irgendwann fühlte es sich an wie eine Tüte voller Knochen, während das Schaf um seine Schultern ein schwerer, kalter Eisklumpen blieb.

Zu jener Zeit betrieben die Leute vom Hekne-Hof Winteralmwirtschaft, denn die Strecke hinunter ins Dorf war lang und unwegsam. Sie führte durch Schluchten, in denen jeder Schritt Geröll auslöste, über trügerische Sümpfe und am Schluss auf einer wackligen Bretterbrücke über die Breia, das Flüsschen, das aus dem Gebirge zum Dorf hinabrauschte. Die urbaren Flecken dort unten waren klein und steil, die Gebirgswiesen hingegen fruchtbar und endlos. So war die Landschaft eben, und die Landschaft lässt sich nicht überwinden. Statt mit unmöglichen Mühen Ladung um Ladung von Moos und getrockneten Moorgräsern als Winterfutter zum Hof hinunterzuverfrachten, brachten die Hekne-Leute das alles lieber zu geräumigen Scheunen oben auf der Alm. Dort hielten sie die Kühe bis nach Einbruch des Frostes, und erst wenn das Futter aufgefressen war, irgendwann nach Weihnachten, wurde die Herde durch den Schnee zum Dorf hinabgetrieben, denn jetzt waren die Moore gefroren und die Flüsse vereist.

Eirik hatte auf der Winteralm ein neues, geräumiges Blockhaus aufsetzen lassen. Es war nicht günstig, aber auf Hekne fehlte es jetzt nicht mehr an Geld. Seine Töchter Halfrid und Gunhild, an der Hüfte zusammengewachsen und von den Leuten nur die Hekne-Schwestern genannt, gehörten jetzt, nachdem sie ihre Lehrzeit im Dovre-Gebirge beendet hatten, zu den besten Weberinnen des ganzen Gudbrandstals. Im Tausch gegen einen Bildteppich mit den Heiligen Drei Königen hatte Eirik eine Fuhre zu Blöcken geschnittenen Specksteins erhalten und davon in dem Neubau eine Feuerstelle aufgemauert. Der weiche, graublaue Stein strahlte die ganze Nacht über die gespeicherte Wärme ab.

Eirik legte das Lamm und das Mutterschaf vor das Feuer und fütterte sie mit Heu und Kuhmilch. Aus der Wolle des Schafs rann der schmelzende Schnee in Bächen über den gestampften Fußboden. Eirik staunte immer noch über das silbrig glänzende Lamm. Was für einem Bock musste die Mutter da begegnet sein? Schwer zu sagen. Keinem aus Butangen jedenfalls.

Wenn es denn ein Bock gewesen war.

Den ganzen Abend blieb er bei den Tieren sitzen, während die Fichtenzweige brannten. Das Muttertier brauchte nichts zu sehen, um zu tun, was es zu tun hatte, und im Einschlafen sah Eirik Hekne als Letztes, wie es das dürre Lämmchen leckte und stillte.

Als er aufwachte, stand das Lamm neben seiner Mutter und stupste sie mit der Schnauze an. Sie war tot, und der große, kräftige Hofeigner spürte, wie ihm die Tränen kamen. Vielleicht hatte das Schaf begriffen, was los war. Hatte, wie todkranke Mütter bisweilen, verstanden, dass sich andere gut um ihr Kind kümmern würden. Du bist in Sicherheit, du wirst leben, ich kann sterben.

Ein Einfall streifte ihn, ein aus einem früheren Einfall geborener. Als seine Astrid im Kindbett gestorben war, hatte er, ohne zu wissen, warum und wozu, drei lange Strähnen ihres Haares abgeschnitten. Jetzt trug er das Schaf hinaus, schor es und stopfte die Wolle in einen Sack. Den Kadaver legte er an der Grenze der Alm aus, sollten die Raben sich darum kümmern.

Eirik Hekne kehrte den Schnee vom Schlachtstein auf dem Platz vor den Almgebäuden. Dort setzte er sich hin und dachte nach. Dann wanderte er über die Moore und die Hängebrücke über die Breia heimwärts, mit dem Lamm, das sich als das wertvollste Stück Vieh erweisen sollte, welches das Gebirge ihm je gegeben hatte. Unten auf dem Hof überließ er es seinen Töchtern mit dem Hinweis, wollen wir dankbar sein, dass es lebt, so wie ihr lebt. Das ist die Mutterkraft.

Aus der Wolle dieses Lammes wurde der Hekne-Teppich gewebt. Er sollte das Hauptwerk der beiden Schwestern sein. Sie errichteten einen eigenen Webstuhl dafür und schlossen das Werkstück erst am Tag ihres Todes ab. Der alten nordischen Tradition getreu zeigte der Bildteppich rätselhafte Darstellungen von Tieren, Menschen und Gestaltwandlern. Manche Abbildungen knüpften die Schwestern aus der Wolle des toten Mutterschafs, andere mit der Oberwolle des Lamms, die schimmerte wie Silberfäden. Wie es hieß, zeigte ein Motiv Astrid Heknes Selbstaufopferung, und dazu verwendeten sie angeblich die Haarsträhnen ihrer Mutter.

Das von Hand aufgezogene Lamm wuchs zu einem Bock mit krummen Hörnern und langsträhniger Oberwolle heran. Er reckte sich gern nach dem Laub von Ebereschen und Weiden, mit Vorliebe stellte er sich mit den Vorderfüßen an den Stamm. Die Hekne-Schwestern tauften ihn den Laubfresser. Wie die anderen Schafrassen, die seit Generationen in Butangen gehalten wurden, war er zweifarbig und blieb das ganze Jahr durch im Freien. Der Regen floss an der Oberwolle ab, die Unterwolle hielt ihn warm. Er lebte mit den Jahreszeiten und verlor das Winterfell, wenn die Blätter knospten. Dann nahmen die Schwestern ihn in den Schoß und kämmten ihm die Wolle aus. Während die Mädchen dann die prachtvoll glänzenden Deckhaare aussortierten, hüpfte der Laubfresser fröhlich herum, vom Gewicht des Winterfells befreit.

Den Sommer hindurch folgte er ihnen auf ihrem festen Weg vom Hekne-Hof hinunter zu der nach Teer riechenden Stabkirche, wohin die Schwestern in einer Art Dreivierteltakt humpelten. Dort angekommen, setzten sie sich draußen an die Friedhofsmauer in die Sonne, um Kleinarbeiten zu erledigen. Ringsum befanden sich außerhalb des Friedhofs die Gräber derer, die sich das Leben genommen hatten oder hingerichtet worden waren, und hier hatte Halfrid Distelsamen gestreut, zur Erinnerung an den Geliebten, den sie in Dovre gehabt hatte, einen schottischen Soldaten, der hatte weiterziehen müssen, da sie untrennbar mit ihrer Schwester verbunden war. Nicht viele hatten davon Kenntnis. Die Leute sahen nur, dass der Schafbock um die grabsteinlosen Gräber herum weidete, und sie nahmen an, dass etwas von der besonderen Lebensklugheit der dort Begrabenen – denn sie finden in ungeweihter Erde niemals Frieden und haben somit alle Zeit zum Nachdenken – in die Wolle überging.

Der Name eines Mannes stand auf einem Grabstein innerhalb dieser Friedhofsmauer. Sein Name lautete Sigvard C. Krafft, Gemeindepfarrer von Butangen seit dem Jahre 1591. Er hatte seinerzeit die Mutter der Hekne-Schwestern begraben und die Mädchen in einer Zeremonie getauft, an die die Dörfler sich auf ewig erinnern sollten. Seit der Geburt hatte es schon Gerüchte gegeben. In den Winkeln wurde getuschelt, und viele behaupteten, die Mutter sei Opfer irgendeiner Hexerei gewesen, dass ihr so etwas Fürchterliches zugestoßen sei.

Hexerei, so lautete die übliche Anklage, wenn missgestaltete oder schwächliche Kinder geboren wurden, und die Leute meinten gern, das seien Wechselbälger der Unterirdischen, gegen die eigentlichen Menschenkinder eingetauscht. Diese Erklärung minderte den Schmerz der geplagten Eltern, denn dann konnte das sabbernde, leer starrende Etwas da am Boden ja unmöglich ihr Kind sein, es brauchte nicht dieselbe Fürsorge, vielleicht sogar gar keine, und es kam immer noch vor, dass Säuglinge verschwanden, bevor sie überhaupt ins Kirchbuch eingetragen waren.

Sie wurden im Wald ausgesetzt, ihre Schreie lockten Füchse und Wölfe an, und wenn diese anderweitig beschäftigt waren, brauchte die nächtliche Kälte keine Schreie, um ein nacktes Kind zu finden.

Die buchstabentreuen Kollegen des Pfarrers fanden daran nichts auszusetzen, schließlich hatte Martin Luther in seinen Tischreden behauptet, »Wechselbälger und Kielkröpfe legt der Satan an der rechten Kinder statt, damit die Leute geplaget werden.«

Krafft hing dem guten alten lutherischen Glauben an, genau in diesem Moment finde ein entscheidender Kampf zwischen Gott und dem Teufel statt, ein Kampf, der den Menschen ratlos auf dem Schlachtfeld umtreibt, wo er leicht von Dem Bösen in die Irre geleitet werden könnte. Aber er war seiner Gemeinde nah und schämte sich jener Pfarrer und Vertreter der Amtskirche, die diesen Kampf mit einer Verbissenheit und Härte führten, die ihnen eher vom Teufel eingegeben schien.

In seiner Studienzeit in Kopenhagen hatte Krafft alte griechische Schriften gelesen. Seitdem war sein Lebensweg einer sich selbst beweisenden Logik gefolgt, in der jede Rechnung auf den Kopf gestellt werden konnte, bei gleichbleibender Summe. Als Pfarrer fühlte er sich mit dieser Maxime recht allein und fand, dass die Kirche immer mehr recht seltsamen Denkbahnen folgte. Alles Ungewöhnliche wurde als Zeichen Gottes gesehen und verlangte nach umgehender Deutung. Hatte ein Neugeborenes sechs Finger oder ein verkrümmtes Rückgrat, so war das vielleicht nur eine Mahnung wegen liederlichen Lebenswandels oder schlechter Moral. Aber der Bischof unten in Oslo, mehrere Tagesreisen von Butangen entfernt, würde die Geburt der beiden Schwestern als höchst dramatisches Ereignis sehen. Die beiden Säuglinge mochten sogar Gelehrte anziehen, die an ihnen Forschungen anstellen und sie vielleicht sogar nach Kopenhagen mitnehmen wollten, zur Begutachtung durch die weisesten Männer der Kirche.

Diese Gelehrten würden gewiss darauf erkennen, dass höhere Mächte – wenn nicht gleich der Teufel höchstpersönlich – ein regelrechtes monstrum auf Erden gesandt hatten.

Dieser lateinische Begriff war den seltensten und unheimlichsten Erscheinungen vorbehalten. »Monstrum« bezeichnete nicht nur ein erschröckliches Geschöpf selbst. Wer sein Latein beherrschte, der wusste, dass das Wort auch »göttliche Warnung« bedeuten konnte. In Kopenhagen hatte Krafft festgestellt, dass seit mehr als hundert Jahren Pamphlete in ganz Europa darüber zirkulieren, wie missgestaltete Kinder gedeutet werden sollten. Infolge der Kirchenlehre waren zusammengewachsene Zwillinge die finsterste Warnung von allen, denn sie deutete auf den Jüngsten Tag hin, auf die Apokalypse.

Am Tag nach ihrer Geburt traf Krafft seine Entscheidung. Er stellte sich auf Jesu Christi Seite in einem Kampf, den er gegen Gerüchte und die Obrigkeit zu führen beschloss. Die Geburt der Schwestern war kein böses Vorzeichen, so entschied er. Im Gegenteil. Astrids Töchter gehörten zu den seltensten Geschenken des Herrn. Er sorgte dafür, dass niemand außerhalb des abseits liegenden Dorfs von den Schwestern erfuhr, und taufte sie rasch, um sie in den Schutz Gottes zu stellen. Die Stabkirche war bei der Gelegenheit zum Bersten gefüllt, und nachdem er sie auf die Namen Halfrid und Gunhild Hekne getauft hatte, sagte Krafft, zur Gemeinde gewandt:

Der Herr hat beschlossen, diese Kinder zusammenzufügen. Wir Menschen sind zu klein, um all seine Pläne zu erkennen. Aber die Heilige Schrift gebietet, dass der Mensch nicht trenne, was Gott zusammengefügt hat. Lassen wir sie also freundlich in unserer Mitte leben, wie zwei Schwestern. Zwei gewöhnliche Schwestern.

Die Hekne-Schwestern wuchsen heran. Grüßten mit einer gemeinsamen Neigung des Kopfes und schauten den Leuten direkt in die Augen. Winters kamen sie besonders schlecht voran, aber ihr Vater zimmerte einen breiten Schlitten, so dass sie mit den anderen Kindern spielen und die Steilhänge hinab und über das Eis auf dem Løsnesvatn sausen konnten. Mit zwölf Jahren zeigte sich, dass sie hoch gewachsen und von schönem Gesicht sein würden, und mit fünfzehn waren sie einen halben Kopf höher als gleichaltrige Mädchen. Da sie zu zweit waren und einander sehr ähnlich, hinterließen sie einen glänzenden Eindruck. Ihr Haar war immer in komplizierten, schönen Flechten aufgesetzt, und jedermann kam zu der Erkenntnis, dass die Schwestern, wäre ihre Beeinträchtigung nicht gewesen, Freier von den größten Höfen angezogen hätten.

Aber natürlich kam es nie zu einer Brautwerbung, undenkbar bei zwei Mädchen, die nur seitwärts durch eine Tür kamen und es nie erlebten, dass eine Frage nur einer der beiden gestellt wurde. Sie waren stets zugleich Mehrzahl und Hälfte, außerdem schienen sie manche ihrer Sinneseindrücke zu teilen und zu ahnen, was die andere dachte und urteilte. Streit zwischen ihnen war so ermüdend und verzweifelt, weil keine Flucht möglich war. Meist begann Halfrid einen Satz, und Gunhild vollendete ihn. Waren sie sich uneins, fielen sie einander ins Wort, und dann klang es, als wollten sie sich selbst zugleich widersprechen und sich überzeugen, und es war unmöglich zu verstehen, was sie eigentlich sagen wollten. Manchmal mussten sie Zuflucht zu einem Spruch nehmen, den sie irgendwo aufgeschnappt hatten: Is so gewest, is so und wird so sein. Das sagten sie immer in einer bestimmten Reihenfolge. Halfrid sagte Is so gewest, dann Gunhild is so, und den Schluss sprachen sie beide im Duett.

Ihre Webkunst war unvergleichlich. Sie knüpften die Muster mit den Fingern ins Gewebe, jedes Bild und jede Figur, in einem typischen, ungleichen Takt. Die schimmernde Wolle des Laubfressers kardierten und sponnen sie. Zum Färben sammelten sie Gewächse wie Heidekraut, Faulbaum und Teufelsbiss. Die Rinde von Bergweiden ergab Gelbtöne, so kräftig wie ein Sonnenaufgang, und im Küchengarten auf Hekne zogen sie Krapp und Färberwaid. Mit dem Ersten erzeugten sie einen Farbton, so tief wie der von Menschenblut, mit dem Zweiten die Farbe eines blauen Sommerhimmels. Das Garn wurde so schön, dass schlichtere Gemüter auf dem Hof sich nicht anders als mit dem Wort Magie zu helfen wussten. Die Schwestern wollten das Wissen darum, wie sie das anfingen, nicht weitergeben, und manche Neider behaupteten, während der wochenlangen Prozesse, in denen die Pflanzenteile fermentierten und trockneten, gehe etwas Okkultes vor sich. Niemand begriff, dass die Mädchen nicht zu erzählen wagten, dass sie die Farben in ihrem Urin einlegten, um sie wasserlöslich zu machen, und den Ursprung der Farbe nicht verraten wollten, der potteblå hieß – Nachttopfblau.

Eirik Hekne ließ nur selten Fremde auf den Hof. Seine größte Furcht war, gelehrte Kirchenmänner könnten Nachricht vom Zustand seiner Töchter erhalten oder die beiden würden entführt und zu Geld gemacht. Schließlich wurde berichtet, manche Königshäuser verfügten über Sammlungen von missgestalteten Menschen.

Darum reagierte er mit Misstrauen, als er hörte, dass ein Mann in fremdartiger Kleidung kurz auf Hekne gewesen war und einen zugeknoteten, mit rotem Wachs versiegelten Lederbeutel hinterlassen hatte. Der Gegenstand war den Schwestern zugedacht, aber die Leute auf dem Hof wagten nicht, ihn ihnen zu geben, aus Furcht, er könnte etwas Verzaubertes enthalten. Eirik ritt los und erreichte den Fremden am anderen Ende des Løsnesmoors. Es war ein Handelsreisender aus dem Bezirk Møre an der Küste im Westen, der den Beutel einige Monate zuvor von einem schottischen Händler erhalten hatte. Er hatte keine andere Nachricht oder Erklärung, als dass er gut für den Umweg nach Butangen entlohnt worden war und außerdem ein ehrlicher Mann sei.

Der Beutel beinhaltete Geschenke von dem jungen Schotten, in den Halfrid sich während der Lehrzeit im Dovre-Gebirge verliebt hatte. Eirik erinnerte sich mit Schrecken daran, wie die Schwestern versucht hatten, sich mit einem Messer voneinander zu trennen, so dass Halfrid mit dem jungen Mann hätte mitgehen können, und ebenso klangen in ihm Pfarrer Kraffts Worte nach: Was Gott zusammengefügt hat …

Aber er gab den Mädchen den Beutel, und seit jenem Tag trug jede der Schwestern ihren eigenen Silberring. Gunhilds Ring war mit Ziselierungen versehen, die später als keltische Muster erkannt wurden. Halfrids Ring war breiter, und sein Muster verstand nur sie allein.

Die Silber nachgesagte Fähigkeit, Wunden zu heilen, sichtbare wie unsichtbare, war Sigvard Krafft nicht unbekannt. In seiner Amtsführung musste er mit einem Gewirr von abergläubischen Vorstellungen zurechtkommen, denn in Butangen herrschte nicht nur das Christentum, sondern auch Reste des alten nordischen Glaubens mit einer Unzahl merkwürdiger Geschöpfe, sowohl wohltätiger als auch übel gesinnter. Die Leute glaubten fest daran, schon von klein auf, denn der kindliche Geist ist eine weiße Leinwand, was die Erwachsenen darauf malen, bleibt stehen. Manche der damit zusammenhängenden Gebräuche waren auf ihre Weise ganz nützlich, fand Krafft. Seine Frau warnte die Kinder tiefernst, im Fluss lauere der Nöck auf sie, der Flussmann, denn man konnte ja nicht alle Kinder zu aller Zeit überwachen, und dieses schlichte Angstbild hielt sie von gefährlichen Stellen fern.

Die Dörfler durften also an ihren Gebräuchen festhalten. Das machte das Leben leichter. Schwierigkeiten entsprangen bekannten Gründen, und daher waren Gegenmittel möglich, bestanden die nun darin, über Milchkannen das Kreuz zu schlagen oder Butter an die Wand des Vorratsschuppens zu streichen, um den Frühling herbeizurufen. Auch mit dem Begriff Sünde ging Krafft sparsam um, denn wenn er zu streng war, führte das zu nichts als apathischen Schuldgefühlen, was die Dörfler an eine Welt fesselte, die sie nicht verstanden und mit der sie nicht umgehen konnten.

So hatte Krafft versucht, das Schifflein des Herren mit aller Umsicht und Behutsamkeit über das unsichere Gewässer des Glaubenslebens zu steuern. Lange verlief sein Leben recht menschenfreundlich, bis er im Jahre 1617 eine Papierrolle mit dem königlichen Siegel erhielt. Es handelte sich dabei um eines der ersten gedruckten Gesetze des Landes. Er rollte es auf. Es trug den Titel Verordnung über zaubrisches Gesindel sowie deß Mitwisser. Als er es gelesen hatte, ließ er sich schwer auf die Bank sinken.

Von nun an hatten er und alle anderen Amtsträger des Landes eine neue Hauptorder: mit ganzer Kraft Zauberei zu verfolgen. Wer mit dem Teufel Umgang hatte, gehörte geradenwegs aufs Schafott. Hinrichtung ohn jeden Erweiß von Gnade. Im Monat darauf erhielt Krafft die nächste Verordnung. Der krankhaften Putzsucht der Bevölkerung sollte ein Riegel vorgeschoben werden. Schluss mit überteuerten Hochzeiten und Beerdigungen. Fort mit Edelsteinen und Perlen.

Und – mit Silberschmuck.

Krafft ahnte, woher das kam. In den Städten wurde der hundertste Jahrestag von Martin Luthers Thesen gefeiert, und der König in Kopenhagen wollte sich gewiss als guter, schriftgetreuer Protestant erweisen.

Ja, die Furcht vor Zauberei herrschte seit unvordenklichen Zeiten, aber nach 1617 fand Krafft, dass das Leben der Bevölkerung durch die Angst vor den Mitläufern Satans beeinträchtigt wurde. Seine Amtsbrüder waren der weitgehenden Befugnisse froh und gebrauchten ausgiebig Peitsche, Eisen und Feuer. Im Jahre 1618 wurden im Nachbardorf Fron drei Mädchen lebendigen Leibes verbrannt. Zwei Familien wurde der Hof weggenommen und sie wurden des Landes verwiesen. Angeblich hatten sie weise Frauen aufgesucht und diese um Hilfe für ihre kranken Kinder gebeten. Im Jahr darauf legte der Pfarrer von Fron erneut Zeugnis gegen zwei Mädchen ab und ließ auch sie auf dem Scheiterhaufen hinrichten.

Krafft wusste sehr wohl, wie schwierig es war, bei einem Schicksalsschlag zuversichtlich zu bleiben. Seine Frau und er hatten selbst zwei Kinder verloren. In diesem neuen Kampf war er jedoch noch hilfloser. Die wildesten Vermutungen und Verleumdungen machten die Runde, die Umgangsformen wurden rauer. Am besten, man fand ein Verbot und unterwarf sich dem, so war es möglich, allen zu misstrauen, die nicht dasselbe taten. Das Gesetz entzündete auch ein weiteres Feuer: das des Neides. Krafft hatte seine liebe Mühe, üble Nachrede niederzuschlagen, wenn jemanden ein Unglück getroffen hatte. Stets hatte irgendwer Schuld an Elend und Krankheit. Stets hatte jemand verfluchte Zweige im Stall ausgelegt, wenn eine Kuh ausgebrochen war, stets hatte jemand Magie gebraucht, wenn eine Frau kinderlos blieb, stets waren Gerüchte im Umlauf, dieser oder jener habe Späne von der Wand der Stabkirche geschabt, um sie im Pakt mit Dem Bösen einzusetzen.

Im Laufe des Jahres 1619 kamen Krafft finstere Gerüchte zu Ohren. Wie ein Bauer, der seinen Hof für den Sturm bereitet, unternahm er drei Reisen in benachbarte Dörfer, ohne sich als Pfarrer zu erkennen zu geben. Dort hörte er, was einfache und hochgestellte Leute so redeten. Er setzte sich an lärmende Wirtshaustische und mischte sich unter wartende Reisende, er hörte zu. Als er nach Hause zurückkehrte, wusste er, wer das erste Ziel des Neides sein würde: zwei missgestaltete Weberinnen mit einer Kunst so hoch, dass es über alle Begriffe ging.

Der Willen des Garns

Im Jahr darauf kamen sie.

An einem feuchtkalten Tag vor Pfingsten.

Die Breia führte Hochwasser und rauschte lauter als sonst in der Jahreszeit, und dieser stärkere, zugleich aber altvertraute Laut machte Krafft glauben, überhaupt alle Sinne wären geschärft. Über ihm stand ein Himmel, der sich nicht entscheiden konnte. Die Wolken drückten die Luft ins Tal hinunter, so dass die Frauen Kopfweh bekamen und die Männer mürrisch wurden. An so einem Tag erblickte er durch das wellige kleine Glasfenster im Rauchhaus kleine, verzerrte Gestalten, eine Gruppe Berittene auf der anderen Seite des Løsnesvatns.

Krafft ging hinaus.

Hochgestellte Leute waren das, wie er aus dem Abstand an der Kleidung erkannte. Kleine Leute trugen Zeug aus ungefärbter Wolle, die mit der Landschaft verschmolz, doch zwei dieser Reiter trugen lange, dunkle Gewänder, und ihr Gefolge bestand aus wohlgekleideten Soldaten.

Bald standen sie auf dem Platz vor dem Pfarrhof, umgeben von starken Pferden mit Zaumzeug aus fremdländischen Sattlereien. Die Soldaten waren mit Langschwertern und Streitaxt gegürtet. Krafft erkannte die beiden in Schwarz. Der eine war Vogt Nielssøn, der Stellvertreter des Gesetzes im Gudbrandsdal. Er hatte letztes Jahr sein Amt angetreten, nachdem sein Vorgänger bei dem Steueraufruhr in Brekkom zum Krüppel geschlagen worden war. Der andere, ein Mann mit langem, sehnigem Hals, war Pfarrer Mortensen aus Fron.

Genauso wie Krafft trugen sie die Tracht der Amtsmänner, einen von oben bis unten durchgeknöpften Talar aus reich gefälteltem Stoff. An ihren Krägen erkannte Krafft, dass sie Vertreter moderner Zeiten waren, denn beide folgten der neuen Mode mit breiten weißlinnenen, nach unten abgeklappten Krägen, ganz wie das Königshaus in Kopenhagen.

Krafft selbst benutzte immer noch die Halskrause. Aber sein Kollege aus Fron kleidete sich wie der Vogt. Das war ebenso beunruhigend wie schon seine bisherigen Meriten.

Kraffts Hofleute brachten Wasser und Heu. Der Vogt war ein rundlicher Mann, dem von Pferd geholfen werden musste. Wer sein Inneres nicht kannte, musste ihn für verzagt und harmlos halten. Kleine Augen, schmaler Mund, er verzog nie eine Miene, egal, was er sah oder hörte.

Krafft schickte seine Hofleute weg.

Wir kommen mit Klage gegen zwei Schwestern vom Hofe Hokne, sagte der Vogt.

Hekne, sagte Krafft.

Hekne, jaja. Zuallererst einmal: Wie Krafft gleich hier und jetzt erklären wollte, warum er anders als vom Gesetz verlangt keine Meldung über zwei so missgestaltete Frauen erstattet hatte?

Krafft forderte stattdessen Vogt und Pfarrer auf zu erklären, warum sie ohne Ankündigung erschienen waren.

Mortensen sagte: Mein Blick ist auch auf Euch gerichtet, Pfarrer. Ihr werdet dem Bischof gemeldet werden für Eure Pflichtverletzung.

Welche Pflicht? Ich habe viele.

Eure Anzeigepflicht. Die Pflicht, sämtliche Formen von Zauberei zu verfolgen, in Wort und Tat. Und den Vogt über Euer Tun und Lassen unterrichtet zu halten. Die Kreaturen, die zu studieren wir gekommen sind, schaffen Unruhe in der Herde. Eine Unzahl von Geschichten über sie läuft um. Oder über es.

Krafft antwortete, er habe sorgfältige Untersuchungen angestellt, und es hefte den beiden Schwestern nichts Böses an, also habe er nichts anzuzeigen gehabt.

Aha!, sagte der Vogt. Ihr behauptet also, über Wissen zu verfügen. Dieses Wissen – das hättet Ihr mir ja wohl kundtun müssen? Möglich, dass die Schwestern Zauber üben können. So stark, dass Ihr selbst geblendet seid, Herr Krafft. Darum begleitet mich Pfarrer Mortensen, ein Mann, der mit klarem Blick die Wahrheit erkennt, nachdem er den Teufel in den Augen von fünf Frauen gesehen hat.

Welche Anklage erhebt Ihr gegen die Schwestern?, sagte Krafft.

Das erfahrt Ihr zu gegebener Zeit. Die Angeklagten tragen die Namen Gjertrud und Henrikke?

Halfrid und Gunhild. Ich bringe Euch zu ihnen hinauf.

Meine Männer brauchen kein Geleit, der Vogt winkte vier groß gewachsenen Helfern.

Mit in die Hüften gestemmten Händen schaute der Pfarrer aus Fron sich um. Krafft blickte zum Himmel. Er war blauschwarz. Sie wissen, wo der Hekne-Hof liegt, dachte er. Obwohl sie noch nie in Butangen gewesen sind. Jemand von hier hat die Anklagen aufgebracht.

Der Vogt sagte: Das Verhör wird im Domizil des Herrn Pfarrer vorgenommen. Der Raum muss sauber und rein sein. Lasst Holz nachlegen und Fackeln entzünden, damit wir Licht haben. Danach entscheide ich, ob die Sache vor Gericht geht.

Seinen Männern rief der Vogt zu: Macht die Sachen fertig.

Von einem Packpferd hoben zwei Soldaten eine offene Kiste mit unförmiger, schwerer Fracht.

Was ist das?, sagte Krafft.

Blei, sagte der Vogt. Es ist Blei. Vier Platten.

Ein Mann nahm Krafft beim Arm und führte ihn hinein. Ein besonders übelriechender. Drei andere verschwanden bergauf gen Hekne.

Nicht lange danach waren aus dem Umgang rund ums Haus Schreie zu hören. Später sollte Krafft erfahren, dass Eirik Hekne bei ihrer Ankunft nicht auf dem Hof gewesen war. Als die drei Männer hereintrampelten, saßen die Schwestern vor dem Webstuhl wie immer. Die Soldaten hatten das Zimmer sofort gefunden. Sie sprachen einen fremden Dialekt, verbanden den Mädchen die Augen und fesselten ihre Handgelenke mit einem Stück Seil. Die Augenbinden waren nötig, denn sonst hätten sie die Männer womöglich mit Blicken verhexen können. Schreiend und sich windend wie Schlangen wurden sie hinausgeschleift. Die Hofleute hielt man mit der Streitaxt in Zaum, man zeigte ihnen ein gesiegeltes Dokument, dann wurden die Schwestern über den Rücken eines Pferdes gelegt, wie ein rechtmäßig einkassiertes Pfand.

Und nun trug man sie in das niedrige Rauchhaus, wo der Vogt und der Pfarrer auf einer Bank am langen Tisch saßen. Kaum schafften es die Männer durch die Tür. Die Mädchen wurden hochgehalten, denn man fürchtete, sie könnten ihre zauberischen Kräfte durch den Boden senden und die Männer, welche sie verhören sollten, milde stimmen.

Krafft hatte man in eine Ecke verbannt, mit dem übelriechenden Mann als Aufpasser. Die Bleiplatten lagen nebeneinander auf dem gestampften Boden, um sie herum hatte der Pfarrer aus Fron mit Kreidestaub Kreuze gestreut. Jetzt setzte man die Mädchen auf die Bleiplatten und nahm ihnen die Augenbinden ab. Rasch traten die Männer zurück. Der Pfarrer lehnte sich vor und sagte: Ist es – von dieser Welt?

Ich dachte erst, das wäre ein großes Tier, in Kleider gehüllt, sagte der Vogt.

Mortensen schüttelte den Kopf: Da ist kein Zweifel möglich. Das ist Teufelswerk. Und das hier habt Ihr im Namen des göttlichen Vaters getauft, Krafft?

Schürzen runter, sagte der Vogt.

Die Mädchen waren stumm vor Angst. Als ihnen die Schürzen heruntergerissen wurden, sah man, dass jede von ihnen ein eigenes Vorkleid trug, Gunhilds rot, Halfrids grün, beide üppig bestickt. Da bemerkte der Pfarrer aus Fron, nein, schaut – die Vorkleider haben einen gemeinsamen Saum, hoch oben, über den Hüften. Runter damit!

Einer der Männer durchtrennte die Schnürung der Vorkleider mit dem Messer und wollte sie hinunterreißen, ein anderer schob die Schultern der beiden Mädchen auseinander, als wollte er zwei Holzscheite trennen, durch die die Axt nicht ganz hindurchgegangen war. Die Hekne-Schwestern schrien auf, und Krafft rief, jetzt reiche es aber. Erst in einem ordentlichen Gerichtsverfahren dürften die Angeklagten entkleidet werden, und das hier war doch wohl nicht mehr als ein Verhör, eine Ermittlung?

Die Männer hielten inne. Die Mädchen weinten laut und sackten auf den Bleiplatten zusammen. Als die Männer sie unter den Armen packten, um sie aufzurichten, griffen die Schwestern panisch nach dem Vorkleid, damit es nicht hinunterrutschte.

Wieder mischte Krafft sich ein, es könne ja unmöglich ein Gesetzesverstoß sein, dass man zusammengewachsen war.

Nein, aber das hier ist ein Monstrum, sagte Mortensen.

Nennt sie nicht so, sagte Krafft.

Seid Ihr nicht belesen?, sagte der Pfarrer. Genau das hier ist ein Monstrum. Eine Warnung. Fragt sich nur, wovor, ist es eine Strafe Gottes, ist es das Zeitenende?

Als die beiden zur Welt gekommen sind, gab es das Gesetz gegen Zauberei noch nicht, sagte Krafft.

Korrekt, sagte Morton. Dieser Teil der Untersuchung gilt ja auch Euch, Herr Krafft. Nunmehr ist offenbar geworden, dass Ihr, als guter Lutheraner, dieses Geschöpf gleich nach der Geburt hättet gelehrten Männern vorweisen müssen. Auf dass man begriffen hätte, wovor seine Ankunft auf Erden eine Warnung sein soll. Jetzt ist es zu spät. Der Satan hat sein Werk gewirkt, die Warnung ist undeutlich geworden.

Ihr vermischt die Lehren!, sagte Krafft. Die Vorstellung, missgestaltete Menschen könnten eine Warnung sein, mag im Christenglauben herrschen, doch hier befindet Ihr Euch auf den Wegen des Gesetzes. Herr Vogt, jetzt müsst Ihr die Anklage vorlegen!

Der Vogt hieb mit der Faust auf den Tisch und verlangte Ruhe. Die Flammen loderten hoch von den langen Scheiten in der Feuerstelle.

Zwei Anklagen, sagte der Vogt. Gegen Krafft und gegen die Schwestern. Und ja, dies ist eine Ermittlung. Ein Verhör. Man lasse dem Geschöpf die Kleidung.

Die Schwestern starrten verzweifelt zu Krafft hinüber. Er nickte ihnen kurz zu.

Saget uns, sagte der Vogt. Ihr seid – Gunhild und Halfrid Hekne?

Gunhild murmelte etwas. Halfrid zitterte nur.

Ihr seid Weberinnen, ja?

Beide zitterten. Sie antworteten nicht.

Ihr seid Weberinnen?

Ja, murmelte Gunhild. Mir weben.

Der Vogt berichtete, was vorlag.

Vor zwei Jahren hatte ein Mann, der bei der Kirche von Fåvang eine Kutschenstation und Herberge betrieb, von einem Fahrgast, der seine Rechnung nicht begleichen konnte, ein Kissen bekommen, dessen Bezug die Hekne-Schwestern gewebt hatten. Ein Reisender schlief auf diesem Kissen und klagte am nächsten Morgen über Bauchschmerzen und Kopfweh. Ebenso die beiden nächsten Gäste, sie weigerten sich zu bezahlen. Ein Vierter übergab sich beim Abendessen, in der Woche darauf wurde zwei Reisenden ihr Geld gestohlen. Der Besitzer des Betriebs legte das Kissen auf die Friedhofsmauer und verbrannte es. Ab dem Moment waren all seine Kunden gesund und zufrieden.

Eine andere Anklage kam aus Heidal. Als Auftragsarbeit hatten die beiden Schwestern einen Bildteppich mit den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen gewebt. In der Mitte des Stücks verlief ein Band mit zierlichen Zeichen, Hofzeichen ganz ähnlich, doch keines davon entsprach den im Dorf gebräuchlichen Zeichen. Der Teppich war ein Hochzeitsgeschenk für einen Großbauern und seine junge, gesunde Frau. Jahre vergingen, ohne dass sie je schwanger geworden wäre. Irgendwann bezeugten Nachbarn, dass der Mann, von dem das Geschenk stammte, vorher ein Auge auf die Frau geworfen und um ihre Hand angehalten, doch einen Korb von ihr bekommen hatte. Aus Rache hatte er also einen mit Flüchen behafteten Bildteppich bestellt, der sie unfruchtbar machte. Als das Paar das erfuhr, schaffte es die Weberei vom Hof, und kurz darauf war die Frau in freudiger Erwartung. Hierbei handelte es sich um eine doppelte Sünde, denn nicht nur enthielt die Weberei Flüche und Hexerei, sondern sie zeigte Figuren aus der Heiligen Schrift.

Der Vogt hatte noch weitere Aussagen bereit.

Eine zugezogene Familie ohne weitere Erfahrungen in der Rinderhaltung hatte einen Bildteppich mit dem Motiv eines Stiers bestellt. Schon bald hatten sie einen Bestand an schönen Kühen, die gewaltige Mengen an Milch gaben, während das Vieh des Nachbarn, bislang mit das beste des Dorfs, auf der Weide abhanden kam.

Eine andere Sache wurde aus Gausdal berichtet. Dort befand sich eines der ersten Webstücke der beiden Schwestern. Es gehörte zu einer Kinderwiege und zeigte drei Jungfrauen mit kohlrabenschwarzem Haar. Die Käuferin bekam nacheinander drei äußerst schöne Töchter mit dunklem Haar, dabei waren sie und ihr Mann beide blond. Ihre ältere Schwester, die keinen Teppich besaß, bekam in derselben Zeit lediglich einen schieläugigen Sohn.

Dem Vogt lagen Berichte über Webereien vor, die heimlich bestellt und sehr viel teurer als üblich bezahlt worden waren, manche mit ungeheuren Mengen Silber und Haustieren. Diese Bezahlung verlangten die Mädchen, wenn sie Zauberkräfte in die Stücke hineinweben sollten. Er hatte gehört, auf Hekne habe man jetzt geräumige Wohnhäuser und eine eigene Silbertruhe. Und – arbeiteten die Schwestern nicht derzeit an einem großen Stück, das niemand sehen sollte?

Der Vogt legte eine Pause ein. Dann spielte er seinen Trumpf aus, die letzte, schwerwiegendste Anklage.

Die Schwestern spannen angeblich fleißig ihr Garn auch zur Sommer- und Wintersonnenwende, den beiden Tagen des Jahres, an denen man die Finger von allem lassen sollte, das sich dreht. Diesem Gebot hatten sie getrotzt und somit zugelassen, dass böse Mächte sich im Garn festsetzten. Aber noch wichtiger, sagte der Vogt: Verhielt es sich nicht so, dass die Schwestern von einem eigenartigen Tier mit großen, gebogenen Hörnern beschützt wurden, weder Schaf noch Ziege, das Pfarrer Krafft überdies auf ungeweihter Erde weiden ließ? War ihm denn nicht klar, dass dieses Die Bestie selbst sein konnte? Wo befand es sich jetzt?

Die Reaktion der Schwestern war für ihre Verteidigung nicht dienlich. Sie redeten zugleich und widersprachen einander. Am Ende war es, als redeten sie in Zungen, und je länger das dauerte, desto deutlicher bemerkte Krafft ein verstohlenes Lächeln im Mundwinkel des Vogts.

Dieser sagte: Wir sind keine Unmenschen. Hört gut her, ihr armen Mädchen. Wir glauben, dass sich in euch menschliche Seelen befinden. Ihr müsst die böse Macht abschütteln, die euch im Griff hat. Schmerz wird euch zur Befreiung davon verhelfen.

Pfarrer Mortensen ergänzte, die Beweislast in solchen Fällen liege beim Angeklagten. Genauer, bei den Angeklagten. Die Schwestern müssten ihre Unschuld selber nachweisen. Einmal gemachte Geständnisse könnten dabei nicht widerrufen werden, denn wenn Der Böse Zeit bekam, sich zu besinnen, fand er immer Listen, mit denen sich die Wahrheit bemänteln ließ.

Wenn ihr jetzt gesteht, sagte der Vogt, wird euch das spätere Demütigungen ersparen. Dann werdet ihr nicht vor Gericht nackend ausgezogen, und –

Krafft unterbrach: Wenn sie gestehen, ist ihnen der Scheiterhaufen sicher! Ihr wollt diese Mädchen lebendig verbrennen – weil sie ein Lamm von Hand aufgezogen haben!

Die Schwestern sagten nichts. Die Strafe war ihnen wohlbekannt, und sie konnten nicht noch mehr Angst haben als ohnehin schon.

Der Pfarrer aus Fron erläuterte, wie er die fünf Hexen überführt hatte, um sie dann der reinigenden Kraft des Feuers zu übergeben, und der Vogt sagte, hier werde man dieselbe Prozedur anwenden. Gestanden die Mädchen nicht, erwartete sie ein zügiges Verfahren, bis zu dem sie dann in Haft bleiben mussten. Vor Gericht würden sie ausgezogen und ihr Haupthaar geschoren, zur Kontrolle, ob sich darunter das Zeichen des Teufels verbarg. Mit verbundenen Augen würden sie mit Nadeln gestochen, um irgendwelche gefühllosen Körperstellen zu entdecken. Besonders interessant, warf Mortensen ein, sei das Gewebe, das die beiden Körper miteinander verband. Hier werde man besonders genaue Prüfungen mit Nadeln und Messern vornehmen. Falls das keinen Schmerz auslöste, war das der Beweis für ein stigma diabolicum, ein Teufelsmal. Wurde aber nichts gefunden, gab es immer noch die Wasserprobe. Die Mädchen würden gefesselt aus einem Boot gestoßen. Ertranken sie nicht, so waren sie schuldig. Gern hier auf dem Løsnesvatn, wo alle es sehen könnten.

Alldem würden sie mit einem Geständnis entgehen.

Die Mädchen kauerten zitternd auf den Bleiplatten. Doch unvermittelt wurden sie ganz ruhig, und Krafft war bestürzt über die Festigkeit, mit der sie jetzt sprachen. Es war, als wäre ihnen eine Stärke von außen zur Hilfe zugewachsen.

Mir lügen, wann mir sagen, dass mir böse sein, sagte Gunhild. Und wann mir lügen, kommen mir nit ins Himmelreich. Besser, mir sagen, was die Wahrheit ist, und ihr quält uns. Dann lügen mir wenigstens nit.

Krafft verlangte eine Pause im Verhör.

Sein Amtskollege sagte: Ihr seid verblendet, Herr Krafft. Seht Ihr nicht selbst, dass diese groteske Missgeburt in den Fängen des Teufels sitzt? Es ist uns als Monstrum geschickt und dann vom Teufel besessen worden.

Mir könnten für den Bösen mehr tun, wenn mir einzeln würden sein und nit aneinander, sagte Gunhild.

Der Pfarrer aus Fron stand auf und rief: Spottet nicht!

Der Vogt sagte: Nein, lasst sie! Hört, was sie sagen! Der Gedanke ist ihnen also nicht fremd!

Mortensen fügte hinzu, den Mädchen müsse früh klar gewesen sein, dass sie nie heiraten würden. Sie mussten starke, ungestillte Bedürfnisse haben, die den Teufel anlockten, damit der sie befriedigte. Das gelte ja für alle Frauen, doch verheiratet seien sie eine weniger leichte Beute für den Satan, da sie Kinder bekamen und ihre fleischlichen Neigungen auf diese Weise gestillt wurden.

Mir sein so geborn, sagte Gunhild, und beide sagten sie dann: Is so gewest, is so und wird so sein. Die Gott hat uns so gewollt.

Die Gott? Mortensen war empört. Gott als Frau. Ihr spottet schon wieder.

So sagt man hier oben, sagte Krafft.

Die Ankläger hielten nun einen beunruhigend beherrschten Vortrag, in dem Teufelsanbetung, maleficium und Fluchwesen erwähnt wurden. Und was für Ringe trugen sie da eigentlich, diese Silberringe mit okkultem Muster? Gemäß der Verordnung aus dem Jahre 1617 war doch unnötiger Schmuck verboten. Welche Kraft lag in den Mustern, hatte Der Böse selbst ihnen die Ringe gegeben? Gunhild schluchzte, es seien gewöhnliche Ringe, mit ausländischen Mustern, das Einzige, was jede von ihnen ganz für sich allein besaß.

Mortensen schüttelte den Kopf. Nein, die Ringe müssten ihnen mit Zangen von den Fingern gerissen und tief im Meer versenkt werden. Der Vogt wollte die Schwestern weiter über Flüche und Zauber verhören.

Halfrid gelang es, sich zu sammeln, sie sagte:

Ja, Herr Vocht, es sind Leut zu uns kommen, die ham gewollt, dass mir Kräfte einwirken tun. Was weben, das was macht. Aber der Vater ist immer dabei, wenn mir verhandeln, und wer so was will, den tut er vor die Tür setzen und sagt, sie solln sich nimmer mehr blicken lassen. Nimmer.

Jetzt verriet der Vogt, dass er eines ihrer Webstücke hatte auftreiben können, mit dem Bild einer Nackten, die von Spinnen entkleidet wird. War das nicht eine Anbetung von Unzucht und Ungeziefer, eine Verhöhnung Gottes?

Angezogen wird die, sagte Halfrid. So ham mir uns das denkt. Mir ham wollen zeigen, dass Frauensarbeit uns warm halten tut, die feine Arbeit wie die von Weberin und Webweib.

Webweib, so hießen die langbeinigen Spinnen, Weberknechte, im Dialekt der Gegend. Und Halfrid fuhr fort:

Ist einfach so worden, das Stück. Mir arbeiten, wie die Einfälle kommen. Außerdem tun mir viel aus der Bibel nehmen, und mir erfinden Muster. Ein großes Stück von uns hängt oben in Dovre in der Kirche. Als Dank, dass mir dort ham dürfen lernen. Mir weben schnell, weil mir sein wie ein Kopf und mir die Fäden mit vier Händen können halten. Manchmal weben mir, was uns geträumt hat. Uns beiden. Und dann kommt das in das Bild. Fast von selbst, die Wolle will das mehr als mir.

Und diese Wolle kommt also von diesem – Biest, das ihr bei euch habt?

Das ist ein Bock mit langem Oberhaar, sagte Gunhild. Mir gehen mit ihm vor die Kirchhofmauer, weil da ist langes, gutes Gras.

Sie konnte nicht mehr weitersprechen, und noch einmal verlangte Krafft eine Verhörpause. Sein Kollege wollte aber nicht locker lassen und redete wie mit sich selbst: Gerade jetzt müssen wir weiter! Gleich kommt das Geständnis! Sie sagen selbst, sie stehen im Bann anderer Mächte! Dass sie weben, was die Wolle will. Die Wolle von diesem Untier, das mit ihnen herumläuft, wir müssen sofort unsere Männer schicken, dass sie ihm ein Seil um den Hals legen. Hier sagen sie es doch selbst gerade heraus, sie stehen in der Macht Des Tieres! Der Bock gehört getötet!

Halfrid schrak auf und rief: Ihr dürft den Laubfresser nicht kaputtmachen! Da nehmt lieber uns!

Der Pfarrer geriet fast außer sich: Da, die beiden sind wirklich Teufelsdienerinnen, hört, sie sind bereit, für ihn zu sterben! Teufelspakt! Ein Teufelspakt! Ein Pakt mit diesem Gehörnten, der über das Gras auf ungeweihter Erde die Reste von Mördern und Verbrechern in sich aufnimmt! Es ist so offenbar, Krafft, dass Ihr zutiefst verblendet seid. Ihr lasst das Satanstier bei der Kirche weiden!

Der Vogt erhob die Hand: Glaubt nicht, wir wären Unmenschen. Ich sage noch einmal, wir wollen das Beste für diese Kinder Gottes. Wir sind hier, weil die Menschen in den Dörfern voller Angst wandeln. Der Feuertod wird die Seelen der Mädchen reinigen und ihnen ewige Höllenqualen ersparen. Ihr Schmerz im Feuer wird nicht ihr eigener Schmerz sein, sondern die Menge wird den Schmerz des Satans betrachten können.

Draußen gab es Lärm. Eirik Hekne brach herein, ein Messer in der Hand und so wütend, dass die Männer, die seine Töchter bewachten, beiseitewichen. Zwei weitere Männer stürmten ihm nach, der Bauer von Norddølum und ein Knecht aus Flyen. Sie hatten gehört, Eirik Hekne brauche Hilfe. Es gab ein heftiges Handgemenge, einige Dörfler kamen noch hinzu, und erst als Krafft eingriff, beruhigte sich alles ein wenig. Da hätte Eirik Hekne schon fast hier im Hause des Pfarrers einen Mann erschlagen, mehrere mussten ihn festhalten, er stand keuchend da.

Krafft winkte dem Vogt, ging mit ihm hinaus in den Umgang und sagte:

Seid nun so freundlich und lasst mich ausreden, Herr Vogt, ohne dass wir von den Schreien der Angeklagten und ihrem tobenden Vater behelligt werden. Es ist mir begreiflich, dass Ihr Vorkehrungen getroffen habt, falls auch ich verblendet und damit Teil des teuflischen Spiels wäre. Ich selbst hätte ebenso gehandelt. Nun, da Ihr das einleitende Verhör so verständig und korrekt durchgeführt habt, bitte ich um einen Augenblick von Eurer Zeit, um darzulegen, was ich habe in Erfahrung bringen können. Die Gerüchte über die Schwestern waren mir freilich bekannt. Warum habe ich dennoch nicht Anklage erhoben? Ich habe jeden einzelnen Punkt gründlich untersucht.

Der Vogt wischte sich ein wenig Schmutz vom Ärmel seines Talars und blickte ihn finster an.

Krafft fuhr fort: Beginnen wir mit der ersten Geschichte, der mit dem Kissen. Sämtliche Klagen stammen aus einer kurzen Zeitspanne, als der Wirt verdorbenes Essen auf den Tisch bringen musste, da er nichts anderes hatte. Er fürchtete um seinen Ruf und erklärte alles damit, dass das Kissen verzaubert sein müsse. Angeblich hat er es verbrannt, und danach sei alles gut gewesen. Das Kissen gibt es immer noch, ich habe selbst darauf geschlafen, ohne krank zu werden, und das Essen an dem Tag war ausgezeichnet.

Dann der Teppich und die Kinderlose. Es stimmt, die Frau hat den Teppich aus Angst vor Zauber entfernt. Aber dann dauerte es noch einmal zwei Jahre, bevor sie endlich ein Kind gebar – einen Jungen. Vergleicht man dessen Gesicht mit dem des Vaters, sieht man wenig Ähnlichkeiten. Natürlich braucht es da eine Erklärung, mit der die Verantwortung von dem Ehepaar genommen wird, denn diese armen Seelen haben sich der Unzucht schuldig gemacht – die Frau und der Mann, der sie geschwängert hat. Und noch zwei sind mit betroffen, aber unschuldig, nämlich ihr Mann und das Kind selbst, das ihn für seinen leiblichen Vater hält. Die Wahrheit darf nicht herauskommen, sie wäre beschämend, und auf Untreue liegen hohe Strafen. Falls Ihr jetzt gleich tätig werden wollt, Herr Vogt, bedenkt, dass ein Verfahren wegen Untreue nur aufgrund des Gesichts eines Kindes nicht möglich ist.

Weiters haben wir da das liebe Vieh. Können die Webereien tatsächlich verbotene Wirkungen haben und die Mädchen wegen Verwünschungen angeklagt werden? Nun, jeder einzelne Hof hier in Butangen hat sich ein Stück von der Hand der Mädchen gesichert, und wenn es Kornähren zeigt, hofft man, es bringe gute Ernte, während eines, das Kühe oder Pferde zeigt, angeblich für viel Milch oder starke Zugtiere sorgt. Die Sache ist die, die Muster sind ein Loblied auf den wohlbestellten Hof. Eine Aufforderung zu guter Arbeit. Die Webereien selbst können nichts bewirken, auch wenn viele daran glauben. Die Ernten waren immer schon gut in diesem von Gott reich beschenkten Ort. Ob jetzt ein Bildteppich in der Stube hängt oder nicht. Butangen liegt nach Süden, bekommt viel Sonne und leidet selten unter schweren Hochwassern. Das ist auch ein Keim für Neid. Aber das Wichtigste: Alle Dinge, die Ihr so pflichtgemäß und vollkommen gerechtfertigt hervorbringt, haben eines gemeinsam: Keiner der angeblich Geschädigten will die Mädchen verklagen. Die Leute um sie herum halten diese Geschichten am Leben. Ich habe durch meine Erkundungen herausgefunden, dass die Gerüchte von fünf oder sechs fleißigen Wirtshausbesuchern genährt werden. Die Namen habe ich notiert. Auch sie haben etwas gemeinsam: Sie alle sind selbst Weber! Die einen recht tüchtig, zwei davon allerhöchstens mittelprächtig. Die Schlüsse daraus könnt Ihr leicht selber ziehen, Herr Vogt. Es wäre für das eigene Geschäft sehr günstig, wenn keiner mehr die Arbeiten der beiden besten und schnellsten Weberinnen des Tals kaufen wollte.

Der Vogt starrte ihn aus toten Augen an. Er fragte Krafft nach dem Bock, der auf ungeweihten Gräbern weidete, und bekam zur Antwort, dass von Hand aufgezogene Lämmer häufig ihr Leben lang ihren Menschen nicht von der Seite wichen, dass das ein ganz gewöhnlicher Schafbock sei, und ungeweihte Erde sei ebendeswegen ungeweiht, damit Tiere und Menschen ohne Respektsverletzung darüber laufen können.

Krafft sagte:

Was wir hier vor uns haben, Herr Vogt, sind zwei Geschöpfe Gottes von der Art, wie er sie selten einmal zu erschaffen beliebt, und er hat sie untrennbar verbunden. Das zu verstehen, ist uns nicht gegeben. Liebe bleibt ihnen in diesem irdischen Leben versagt, aber im Tode werden sie sie erleben, denn im Himmelreich werden sie voneinander getrennt sein. Ich kenne sehr gut die Verzweiflung Kinderloser oder derer, deren Kühe auf der Weide verloren gehen, denn ohne bekannte Gründe dafür tappt der Mensch im Dunkeln, und das macht das Leben schwer. Dennoch meine ich, Herr Vogt, dass wir nicht alles hinrichten können, was uns fremd ist. Halten wir uns an das, was Gott uns vor Augen gestellt hat.

Der Vogt betrachtete ihn. Unmöglich zu sagen, ob die Ausführungen ihn erreicht hatten oder nicht. Schließlich sagte er:

Wir werden sehen. Jedenfalls aber, Herr Krafft, hättet Ihr den Bischof von der Ankunft des Monstrums auf Erden unterrichten müssen. Dabei bleibt es.

Damit war der Kampf nicht beendet. Der Bischof tobte vor Wut und versuchte erst, Krafft in eine Gemeinde im äußersten Norden des Landes strafzuversetzen, und Streitigkeiten über seine Amtsführung begleiteten den Pfarrer zeitlebens. In den Nachbardörfern waren die Gerüchte um die beiden mal lauter, mal leiser, mal mehr, mal weniger schwer und bedrohlich, ganz ähnlich wie die Fluten des Lågen. Die jungen Frauen in Fron waren wegen weit weniger schwerwiegender Untaten auf den Scheiterhaufen gebracht worden als wegen denen, die den Hekne-Schwestern nachgesagt wurden, und schließlich beschloss Krafft, die Hofeigner des Dorfs in der Stabkirche zu versammeln, um herauszufinden, ob sie bereit waren, den Mädchen ein Leumundszeugnis auszustellen. Ein solches feierliches Zeugnis über den Lebenswandel einer Person war das Einzige, was die beiden in möglichen Gerichtsverhandlungen schützen konnte, denn zu der Zeit galt noch eine Bestimmung aus der altnordischen Gesetzgebungsversammlung, dem Gulating: Eines Manns Zeugnis ist wie kein Zeugnis. Zweier Männer Zeugnis ist so gut wie das von zehnen, es sei denn, besseres Zeugnis dagegen werde abgelegt. An jenem Tag standen achtundzwanzig Hofeigner auf, um mit ihrem Wort für den Ruf der Hekne-Schwestern einzustehen, und ihre Namen wurden feierlich niedergeschrieben.

Die Hekne-Schwestern lebten noch viele Jahre. Zeitlebens hatten sie Albträume von dem Verhör, und dem Vernehmen nach sammelten sie all ihr Wissen von der Dummheit der Welt in dem Hekne-Teppich.

Als die Schwestern von ihrer schweren Krankheit getroffen wurden, begab sich Eirik Hekne zum Pfarrer und sagte, er bete dafür, dass die Mädchen am selben Tage sterben durften, so dass die eine nicht an die Leiche der anderen gefesselt bleiben würde. Krafft nahm an, dass der Herrgott eine so demütige Bitte nicht überhören würde. Er begleitete Eirik zu dessen Hof. Die Beine der Mädchen waren geschwollen, und sie spürten einen merkwürdigen Druck auf der Stirn. Krafft fragte sie, ob sie angesichts ihres Schicksals Verbitterung spürten. Wie üblich redete Halfrid als Erste.

O nein, sagte sie. Mir ham so viel dürfen sehen und erleben, mir beide.

Gunhild sagte: Eigentlich ham mir dürfen alles erleben, nur nicht einen Liebsten ganz für uns. Aber sie sitzt in uns drin, die Liebe. Sie sitzt hier irgendwo, hinter der Stirn, und die Halfrid will los und ihn wiederfinden, den Liebsten, und ich werde ihn auch finden, nirgendwo.

Zusammen sagten sie: Weil die Gott hat gesagt, mir werden kommen zurück, mir beide.

Dann entschuldigten sie sich, dass sie sich wieder ihrer Arbeit zuwenden mussten, sie hatten Eile damit, das Stück zu vollenden.

Aber, sagte Gunhild mit dem Rücken zu den beiden Männern, was, wenn der Pfarrer aus Fron wiederkommt? Wenn mir tot sein? Wird ihm nicht recht sein, wenn wir in geweihter Erde liegen.

Krafft überlegte. Zunächst hatte er erkannt, dass man über den Menschen nur eines sicher wissen konnte, nämlich dass er den Wahnsinn sich stets wiederholen lässt, aber in immer neuen Formen, so dass er nicht erkennbar ist, wenn er eintritt. Er fürchtete nicht nur die Torheiten seiner Zeit, sondern auch, dass künftige Menschen sich für sehr klug halten und Urteile über seine Zeit fällen würden.

Ich werde euch ein gutes Grab sichern, sagte er. Eines, das nur gefunden wird, wenn die Erde bis auf den Grundfels abgeschabt wird.

Die Schwestern hielten inne. Sie drehten sich auf der Webbank um, so gut sie konnten, sahen Pfarrer Krafft in die Augen und dankten ihm.

Gunhild: Wenn du willst, Herr Pfarrer, dann kannst du –

Halfrid: Unsern großen Teppich hier in deine Kirche hängen.

Im Duett: Wenn du willst, Herr Pfarrer.

Die Krankheit ließ für eine Weile locker. Der Tod stand im Raum, wartete aber, als wäre auch er neugierig darauf, wie der Bildteppich am Ende aussehen würde. Von ihren Lehrmeisterinnen hatten die Schwestern gelernt, im Duett während der Arbeit Verse und Reime vor sich herzusagen, um miteinander den Takt zu halten, und die Leute auf Hekne konnten hören, wie sie murmelten:

Kopp onne Erd, Kopp onne Kreuz

Mir onne Gott, mir onne Woll

Kreuz ober Kopp, Kreuz ober uns.

Schon früher hatte es geheißen, die Mädchen könnten in die Zukunft schauen, eine Fähigkeit, über die sie angeblich verfügten, seit sie versucht hatten, sich mithilfe eines von Zwergen geschmiedeten Messers voneinander zu trennen … Aber das war die Art magischen Denkens, zu der Pfarrer Krafft nachsichtig lächelte.

Der letzte Tag verging.

Mit blassem Gesicht und blauen Lippen sagte Halfrid: Bring unsre Kopfkissen, Vater. Heut wird unser Bett zum letzten Mal gemacht.

Und sie baten ihren Vater, ihre Reisetruhe zu holen, denn in der Nacht hatten sie ein Gesicht gehabt, sie müssten die Kissen und das Messer dort hineinlegen, um einem Menschen den rechten Weg zu weisen.

Als die letzten Strahlen der Sonne erloschen, starb Halfrid.

Gunhild wob weiter, das schwere Gewicht ihrer toten Schwester zerrte an ihr. Ein Leben lang hatten sie miteinander Sinneseindrücke geteilt. So konnte sie jetzt durch Halfrid ins Totenreich schauen, wo, das zu glauben gestattete sich auch Krafft, Ereignisse aller Zeiten und aller Orte einen Kreis bildeten. Nun fügte Gunhild ein Motiv in der Ecke des Bildteppichs hinzu, ein erschreckendes Bild, das den Todesmoment eines Pfarrers zeigte. Diese Arbeit beanspruchte mehrere Stunden, und sie verwendete dazu ausschließlich Garn von dem blinden Schaf, jenem Tier, das wusste, aber nicht sah. Endlich, als der Hekne-Teppich fertig war, ließ sie das Webermesser auf den Boden fallen, nahm Halfrids Hände in die ihren und sagte: Solls du treittn weit und soll ich treittn kort und wann das Stück is fertich solln wir beide wiederkehrn.

Der Laubfresser verschwand vom Hekne-Hof und kam nie wieder zurück. Später berichtete ein Hirtenjunge, dass die im Gebirge weidenden Schafe sich an jenem Tag in einer langen Linie aufgestellt hatten und eine Weile kein Blöken von sich gaben.

Die beiden Mädchen bekamen den Bildteppich selbst nie ganz zu Gesicht, denn das fertige Werkstück wird auf dem Webstuhl aufgerollt, erst als sie begraben waren, trennte Eirik Hekne die Kettfäden durch und nahm das Stück ab.

Dann rollte er es gemeinsam mit Pfarrer Krafft auf.

Keiner von beiden fand Worte angesichts dieses Anblicks.