Die Tankstelle am Ende des Dorfs - Lars Mytting - E-Book

Die Tankstelle am Ende des Dorfs E-Book

Lars Mytting

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Beschreibung

»Eigentlich erzählt dieses Buch nicht von Autos, sondern vom Sinn des Lebens und der Liebe.« Dagens Naeringsliv

In Erik Fyksens Tankstelle gibt es kein Bistro und auch keine gigantische Waschanlage wie bei der Konkurrenz und das Sechziger-Jahre-Design, in dem Eriks Freundin die Tankstelle stilecht renoviert hat, bevor sie ihn verließ, ist auch nicht jedermanns Sache. Dafür weiß Erik alles über Autos, die er mit Hingabe repariert, und kann noch für das ungewöhnlichste Modell Ersatzteile besorgen, und sei es beim örtlichen Schrottplatzbesitzer. Für Tüftler und Bastler ist der Ort zur »Tankstelle des Glücks« geworden, in dem nicht nur der fahrbare Untersatz auf Touren gebracht wird, sondern gleich das ganze Leben verhandelt wird. Nur schade, dass die Landstraße begradigt werden soll und dann nicht mehr an der Tankstelle vorbeiführen wird. Erik muss eine Entscheidung treffen.

Ein Männerverstehbuch, das in Norwegen zum Kultroman wurde.

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Seitenzahl: 375

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Lars Mytting

Die Tankstelle am Ende des Dorfs

Roman

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

Insel Verlag

Früher

Rostfraß

Es gibt nur einen Ort, wohin du gehen kannst, wenn du von der Tochter des Schrotthändlers betrogen worden bist.

Zurück zum Schrottplatz.

Zu den Autowracks, den auf null gestellten Tachometern, den Motoren mit Rostfraß in den Zylindern.

Zur Schrottpresse.

Erik schob die Flasche zurück in die Innentasche, als eine Windböe die Tüte packte, in der die Bierflaschen gewesen waren. Die Samstagnacht lag violett und warm über dem Autofriedhof. Der straff gespannte Maschendraht zitterte unter seinen Fußsohlen, als er zu klettern begann. Er zog den Ärmel seiner Jeansjacke lang, hielt mit der Faust den Stacheldraht fest, schwang sich hinüber und ließ sich auf die andere Seite fallen.

Atem und Herzschlag meldeten sich wieder, als er vor einem ausgebrannten Traktor und einem Lieferwagen mit Frontschaden stand. Der Schrottplatz lag im Dunkeln, nur eine einzige Laterne brannte am Ende des Geländes. Ihr gelber Lichtkegel fiel auf einen roten Buick. Erik suchte sich zuerst mit den Augen einen Korridor zwischen dem matten Schimmer der Autodächer und begann ihn entlangzugehen.

Hier lagerten bestimmt mehr als tausend Autos; Werner Grundtvig ließ sie lange stehen, ehe er sie ausschlachtete und in die Presse steckte. Einige waren schon uralt, Erik hatte sie im Sommer entdeckt, sie berührt und ihren rauen, fast knotigen Lack unter den Fingern gespürt. Er ging an einem 74er Mercedes vorbei, der auf dem Bauch lag, ohne Räder. Ich weiß, warum der hier steht, dachte er, Tür an Tür mit einem Capri ohne Hinterachse und einem BMW mit festgefressenem Radlager. Manche Leute verloren einfach irgendwann das Interesse an ihren Autos. Andere suchten sich größere, stärkere, die mehr hermachten und mit denen sie sich besser sehen lassen konnten.

Er schlug mit den Fäusten auf das Dach des Buicks, riss die Scheibenwischer ab.

Tora.

Tora Grundtvig, Tora mit den Hermelinaugen und den blauschwarzen Haaren. Tora mit dem lose hängenden Levi's-Etikett hinten an ihrer Jeans. Tora, die ihm zu verstehen gegeben hatte, dass es schon in Ordnung war, wenn er sich um sie bemühte.

Erik setzte sich in den Buick. Trocken und bequem, wie er es noch vom Anfang der Woche in Erinnerung hatte. Schon bald war die Flasche leer. Dann stieg er wieder aus und bahnte sich einen Weg durch das dichte, hochgewachsene Gebüsch am Ende des Schrottplatzes, vorbei an demolierten Kleinwagen und verbeulten Ölfässern. Er spürte die Nässe des Grases durch seine Sohlen dringen, hinauf bis zu den Hosenbeinen seiner Jeans.

Ein Drahtseil schlug gegen einen Wellblechschuppen. Weit entfernt hörte er das Flattern einer Persenning.

Auf drei übereinandergeschichteten Fiats lag ein alter Cadillac.

Er musste einmal weiß gewesen sein, doch jetzt war der Lack fleckig und an einigen Stellen begann er abzublättern, wie die Farbe an einer verwahrlosten Kirche. An den Türen klebte der Staub der Straße, aufgeweicht vom Regen, eingebrannt von der Sonne, erneut aufgeweicht und abermals eingebrannt.

Erik verstand nicht, was dieser Wagen hier sollte. Es brachte doch niemand einen Cadillac aus den frühen Fünfzigern auf den Schrottplatz! Und ganz sicher würde der dann nicht einfach auf drei Fiats abgelegt werden. So etwas brachte nicht einmal Grundtvig fertig, obwohl das ganze Dorf wusste, dass der Schrotthändler verrückt war und ziemlich sicher nicht die richtigen Medikamente bekam.

Außerdem stand der Wagen einfach am falschen Platz.

Gleich am ersten Tag seines Ferienjobs hatte ihm Werner gezeigt, wie die Autos der Nationalität nach geordnet werden mussten. Links vorm Zaun das französische Viertel: Renault, Peugeot, Citroën. In der Mitte des Platzes das deutsche Eck. Schweden lag am oberen Zaun, dort standen beinahe fünfzig Volvos und Saabs Seite an Seite; Japaner und Russen kamen ganz hinten ins Moor. Seltene Kleinwagen und landwirtschaftliche Geräte unten an den Zaun. Englische und amerikanische Modelle direkt neben die Moelv-Baracke, in der er sein Büro hatte.

Ein Cadillac sollte also auf keinen Fall hier vergammeln, zwischen Fiats, Stapeln mit verbeulten Heckscheiben und Busmotoren. Aber vielleicht war der psychische Schaden der Schrottplatzsippe ja doch schlimmer, als er angenommen hatte. Vielleicht litt ja auch Tora an dem gleichen Leiden? Vielleicht lag die Antwort dort oben, vier Meter über dem Boden, in der Silhouette, die vor dem Hang emporragte und durch deren Fenster der violette Abendhimmel schien.

Der unterste Fiat stand bis zur Mitte der Bremsscheiben im Matsch. Erik stellte den Fuß auf den Türgriff und stemmte sich hoch, schnitt sich an Glasscherben und aufgebogenem Blech, rutschte ab, stürzte zu Boden und versuchte es erneut, bis der Matsch von seiner Hose tropfte.

Am dritten Fiat kam er einfach nicht vorbei. Mit den Schuhen im Fenster und den Fingern in der Regenrinne starrte er von unten auf die Diagonalreifen des Cadillacs. Schwarze Erde rieselte aus dem Radkasten und machte ihn blind, sodass er wieder nach unten springen musste.

Er rieb sich den Dreck aus den Augen und überlegte, ob er es über die Stoßstangen versuchen sollte. Die Autos begannen mit einem satten Knirschen zu schwingen. Da bekam er den Kühler des Cadillacs zu packen, da, er spürte das Ablassventil unter der Hand. Auspuffanlage und Dachbleche knackten, als er sich nach oben schwang, die rechte Hand auf das Wappenschild auf der Motorhaube legte und auf dem schwankenden Koloss das Gleichgewicht zu halten versuchte. Doch seine Füße verloren den Halt, er rutschte ab und spürte, wie seine linke Hand an dem abstehenden Blech der Stoßstange aufgerissen wurde. Seine Stirn schlug beim Fallen dreimal auf und sein Kiefer knallte gegen einen Stein, als er auf den Boden klatschte. Ein Wagenheber löste sich aus einer Karosserie und landete mit einem dumpfen Laut neben seinem Ohr.

Über ihm knackte und schwankte der Wagenstapel. Warmes Blut tropfte aus der Schnittwunde an seiner linken Hand. In der rechten Handfläche erkannte er den Abdruck eines spiegelverkehrten Cadillac-Emblems.

Erik hob den Wagenheber auf, warf ihn beim Klettern durch ein Seitenfenster, stützte sich auf einem Skiträger ab und zog sich hoch, während der Wagenstapel immer stärker schwankte. Aber jetzt war er oben, beim Cadillac, setzte seinen Körper als Gegengewicht ein, um die Autos zur Ruhe zu bringen, öffnete die Tür und kroch hinein.

Das Interieur war spartanischer, als er erwartet hatte. Ein großes, weißes Lenkrad, ein gediegenes Radio mit glänzenden Knöpfen, sonst nichts. Die Sitze waren trocken und faltig. Er schloss die Tür. Das Coupé war kalt und scharfer, verbrannter Gestank drang in seine Nase, der ihn an den Geruch in den Lampenschirmen zu Hause erinnerte, wenn er die Glühbirnen wechselte.

Von hier aus konnte er den ganzen Schrottplatz überblicken, all die Wracks, die wie tote Mistkäfer unter ihm lagen. Und dahinter erkannte er die Felder, den Fluss Sokna, das Zentrum von Annor.

Einen Moment lang dachte er gar nichts.

Dann nahm er im Halbdunkel etwas Silbernes wahr. Der Schlüssel steckte. Vielleicht war das einer der Wagen, von denen ihm Grundtvig erzählt hatte. Fahrbereit, aber trotzdem auf dem Autofriedhof, weil es Leute gab, die es nicht ertrugen, dass jemand anders ihren Wagen bekam, auch wenn sie ihn selbst nicht mehr haben wollten.

So ähnlich könnte auch Tora denken; … war es nicht ein bisschen krankhaft, wie sie die Menschen derart links liegen ließ. Nur: Warum hatte sie sich dann heute Abend ausgerechnet diesem Typ an den Hals geworfen? Harald Jøtul, diesem Aufschneider und Meister Oberkorrekt? Der sich nie betrank und sich so gern als Hüter der Ordnung aufspielte, wenn andere zusahen?

Erik musste unweigerlich an das Henning-Kvitnes-Konzert in der Sporthalle vor ein paar Monaten denken, als er durch die geöffnete Tür nicht mehr als ein Stückchen von der Trommel mit der Aufschrift »Young Lords« sah, ehe ihm ein kräftiger Arm den Weg versperrte. »Du bist betrunken«, hatte Jøtul gesagt. »Raus auf den Schulhof. Oder soll ich nachhelfen?«

Betrunken? Erik hatte einen Sixpack intus gehabt, eben weil er seine Lieblingsband richtig hören wollte. Andere waren derart dicht, dass sie schon nach einer Viertelstunde kotzen würden, und wurden trotzdem reingelassen. Aber Jøtul, dieser Idiot, hatte sich gegen Erik entschieden, sodass er draußen bleiben und von dort das Dröhnen der Bässe hören musste, als sie drinnen »Big Burden« anstimmten.

Erik streichelte mit dem Zeigefinger über das Lenkrad des Cadillacs und berührte den Zündschlüssel. Vor ein paar Tagen hatte er dort unten im Buick gesessen und gedacht, mit Tora würde alles wieder in Ordnung kommen. Jetzt gab ihm der Anblick dieses Wagens das Gefühl, der kleine Bruder zu sein, schüchtern und schwach, jemand, mit dem man nicht wirklich zu tun haben wollte. Er, der Erik, der er sein könnte, saß hier oben, in einem Cadillac. Jetzt würde alles größer werden. Ab jetzt würde er sich um Mädchen bemühen, die wirklich wollten, er würde das Moped frisieren, in Erwachsenenfilme gehen und Musik finden, die etwas bedeutete.

Erik drehte den Zündschlüssel ein klein wenig nach rechts, er hörte die Lautsprecher rauschen. Die Batterie war in Ordnung! Über Langwelle empfing er einen ausländischen Sender. Sie redeten unverständliches Zeug. Er drehte noch ein Stückchen weiter. Die Zündlampe und die Ölanzeige leuchteten rot auf. Es begann in seinen Unterarmen zu pochen. Das lag an der Nacht, an den Warnlampen, die im Dunkeln des Autofriedhofs leuchteten.

Das Lenkrad ließ sich jetzt, da die Räder vorn und hinten frei in der Luft hingen, mit einem gewissen Widerstand drehen. Es sollte ungefährlich sein, die Zündung zu betätigen. Erik hatte bisher nichts anderes gefahren als heimlich ausgeliehene Kleinwagen und damit verängstigte Spritztouren unternommen, mit Kumpels auf abgelegenen Höfen, doch durch das Amcar-Magazin wusste er, dass er die Lenkradschaltung eines Cadillacs auf PARK stellen musste. Erik drehte den Zündschlüssel in die letzte Position. Benzin, Luft, Funken. Der startet, dachte er. Mein Gott, der Motor kommt.

Der Motor hustete sich sauber, und das tiefe Rumoren des Achtzylinders ließ den Wagen vibrieren.

Einige Warnlampen meldeten sich in Eriks Kopf, doch zu diffus und schwach, um durch den Übermut zu dringen, der hinter den Schläfen pulsierte. Plötzlich war ein harter Knall im Wagen zu hören, als wäre dieser von einem großen Stein getroffen worden. Der Cadillac riss sich los, die Aussicht verschwand und der Mond raste zu Boden.

Erik sah die Fußmatte in sein Gesicht fliegen und dann wurde ihm wie in Zeitlupe bewusst, dass sich der Cadillac plötzlich eingekuppelt und die Kardanwelle sich am Skiträger des Autos darunter verhakt haben musste. Und wenn ich jetzt lande, dachte er, befinden sich nur ein paar Millimeter Stahl zwischen meinem Kopf und dem Boden.

Doch nachdem es schwarz geworden war, wurde es auch wieder hell. Er hatte einen steifen Nacken, die Gummimatte auf dem Gesicht und sein linker Fuß klemmte unter dem Lenkrad fest, aber er konnte atmen, sich bewegen und schließlich auch denken.

Erik bekam seinen Fuß los, kroch auf dem Deckenbezug herum, fand schließlich den Schalter für den Fensterheber und sah ein paar Klumpen Erde ins Wageninnere rollen, als die Fenster aufgingen. Der Lehmboden lag dunkel und nass vor seinen Augen, die Morgensonne malte einen Regenbogen in eine Pfütze Öl auf einem Schrottplatz, der auf dem Kopf stand.

Erst lange nachdem er nach draußen gekrochen war, kapierte er, dass der Motor noch immer lief. Die Hinterräder drehten sich, Kühlflüssigkeit sickerte aus der Motorhaube. Schnell beugte er sich nach drinnen, tastete nach dem Schlüssel, drehte ihn in die falsche Richtung und hörte den Starter aufheulen, drehte in die entgegengesetzte Richtung, und der Motor verstummte.

Die Sonne schien ihm in den Nacken. Blut tropfte von seiner Handfläche. Erik musste sich übergeben, riss ein Stück Deckenverkleidung heraus und wischte sich damit den Mund ab. Dann packte er noch einmal zu, zerrte ein Stück Stoff aus dem Wagen, wickelte es um seine blutende Hand und spürte, wie er nüchtern wurde. Er ging ums Auto herum, fuhr mit der Hand über den rauen Unterboden und roch die Abgase.

Der Kofferraum hatte sich bei dem Sturz geöffnet. Eine schwarze Lederrolle lag auf dem Boden. Sie war schwer. Etwas Hartes lag wie Rippen unter dem Leder. Der Spannriemen trug einen eingestanzten Firmennamen: BELLEROPHON.

Ein altes Werkzeugset. Eine lange Reihe Schraubenschlüssel, jeder in einer eigenen Tasche, mit leichten Kerben, schwarz glänzend. Alter Plunder. Wertlos.

Das Cadillac-Emblem hatte sich in den Schmutz seiner rechten Hand gezeichnet. Einen Moment lang glaubte er, es leuchtete auf, bekäme Farbe. Er spuckte auf seine Handfläche, rieb sie an der Hose ab, doch der Abdruck wollte nicht ganz verschwinden.

Das Tor des Schrottplatzes stand offen. Seine Jeans war getrocknet, nur ganz unten am Saum waren die Hosenbeine noch nass, zwei schwere, schwarze Ringe, die gegen seine Knöchel schlugen, als er rannte.

Die Reue plagte ihn den ganzen Sonntag, quälte ihn auch am Montag von morgens bis abends, bis er am Dienstag schier zu platzen drohte. Grundtvig bestehlen und auch noch einen Cadillac schrotten. Es gibt sicher Probleme, wenn ich Tora dort treffe, aber die ganze Zeit mit einem schlechten Gewissen herumzulaufen ist noch schlimmer, dachte er, spannte das Werkzeugset auf dem Gepäckträger fest, trat den Kickstarter seines Mopeds nach unten und fuhr zum Schrottplatz.

Grundtvig stand über den Motorraum eines Volvo Duett gebeugt. Er musste das Moped gehört haben, denn er richtete sich auf, als Erik die Maschine abstellte, und stand da, wie Erik ihn diesen Sommer Tag für Tag dastehen sah: Die weißen Haaren unter dem Sixpence und einem braunen Overall, der am Bauch schwarz imprägniert war von all den ölverschmierten Getrieben, die er herumtrug.

Noch bevor Erik etwas wegen des Cadillacs sagen konnte, fragte Grundtvig: »Warst du in diesem Jahr schon mal in Lillehammer?«

Er hat seine Nervenmedizin noch nicht genommen, dachte Erik. Alles deutete darauf hin: das Zittern, das weiche, einfältige Altherrengesicht, das sich immer im falschen Augenblick zeigte – für Erik alles bekannte Merkmale eines verwirrten, kranken Mannes.

»Die neuen Fenster im Krankenhaus«, sagte Grundtvig. »Die so schwarz glänzen. Ich kenne ihr Geheimnis. Das sind ganz besondere Sonnenbrems-Paneele. Mit einer Lizenz aus den USA produziert.«

»Du meinst Solarzellen-Paneele«, sagte Erik und streckte seinen Hals. Unten am Zaun standen die drei Fiats. Der Cadillac war verschwunden.

»Nee, nee, Bremspaneele«, erwiderte Grundtvig. »Wegen der Beschichtung. Das Licht wird gebremst, wenn es auf einen Spiegel trifft, und kehrt wieder um. Das ist wie mit der Relativitätstheorie. Mit genug von diesen Paneelen können die Alliierten die Zeit auf der Welt verlangsamen, wenn sie alle diese Fenster auf ein Signal der Nato hin gleichzeitig schließen.«

»Dieses Werkzeugset«, begann Erik. »Ich habe es in einem weißen Cadillac gefunden, der hier rumstand.«

»Cadillac?«, sagte Grundtvig in einem Tonfall, der Antwort und Frage gleichermaßen beinhaltete. »Ich habe hier keinen Cadillac.«

»Ich hab ihn doch gesehen«, sagte Erik und legte die Lederrolle auf das Dach des Duetts. »Ich glaub, das war ein 52er.«

»Nun, das hier ist ein Schrottplatz. Es kommt schon mal vor, dass Autos verschwinden«, sagte Grundtvig. Er entrollte das Futteral, schob sich zwei Ringschlüssel auf die kleinen Finger und schlug sie gegeneinander.

»Was für ein Klang, wenn die so geschmiedet werden. Verdammt guter Werkzeugstahl. Und in Zollmaß! Mit denen kannst du alles reparieren, was sich zu reparieren lohnt – Amerikaner oder Engländer. Sieh her. Schwarz eloxiert, nicht verchromt. Sieht einfacher aus, blättert aber nie ab. Das ist das Werkzeug eines wirklichen Fachmanns. Hält ewig. Und das meine ich wörtlich.«

Schließlich spürte Erik, dass seine Kraft reichen würde. »Tora?«, fragte er. »Ist sie da?«

»Sie wollte nach Norden«, sagte Grundtvig. »Zu ihrer Mutter.«

»Für den Rest der Sommerferien?«, fragte Erik.

»Für immer«, antwortete Grundtvig. »Verdammt endgültig, oder? Hast du dich da geschnitten?«

»Ein Unfall mit dem Moped«, log Erik und spürte, dass er nach Hause wollte, ihm war zum Heulen.

»Mach den Verband ab«, sagte Grundtvig.

»Warum?«

»Mach den Verband ab. So. Ja, ganz ab. Mein Gott. Du wirst eine Narbe über deine Lebenslinie bekommen. Der Cadillac hat dir ein Geschenk gemacht.«

»Ich will keine Geschenke«, sagte Erik und wickelte die Bandage wieder um seine Hand.

»Das Werkzeugset des Mechanikers, der drüben im Jenseits die große Tankstelle betreibt.« Grundtvigs Schweißgeruch kam näher. »Hör mir zu, Erik. Verlier das nie, um der Heiligen Jungfrau Maria willen. Dort, wo diese Sachen geschmiedet worden sind, ist es heiß, verdammt heiß. Du hast die nur geliehen, geliehen für die Reparatur deines Lebens.«

Erik schrak zurück. »Nimm es. Ich will es nicht.«

»Alte Autos vergehen nie«, sagte Grundtvig. »Sie verblassen, das schon, mehr und mehr, mit jedem Jahr, das vergeht. Aber denk an das Wasser. Wie dreckig es auch ist, der Dampf ist sauber. Rost wartet nur auf die Flamme eines Schweißgerätes. Der Stahl auf den Stahl des Werkzeugs. Nur, wenn ein Auto in die Presse kommt und eingeschmolzen wird, dann ist es vorbei. Aber auch ein Sargnagel vergisst nie, dass er mal ein Cadillac war.«

Grundtvig gab ihm die Lederrolle. Sie fühlte sich doppelt so schwer an wie zuvor.

»Du verstehst«, sagte Grundtvig, »der weiße Cadillac fährt die Toten über den Pass ins Jenseits.«

»Hör mal, Werner, ich wollte nicht …«

»Das ist genau wie bei den Samen. Sie sehen vor ihrem Tod ein weißes Rentier.«

»Bist du da gewesen?«, fragte Erik. »Ich meine, auf der anderen Seite?«

»Ich? Nein, ich bin doch hier. Aber es kommt vor, dass ich da hinübersehen kann, wenn ich ein Auto in die Presse sinken lasse und ins Jenseits schicke. Es ist eine lange, schwarze Landstraße mit Schneezeichen an den Seiten, und weit hinten kann man das Licht einer Tankstelle sehen.«

Grundtvig beugte sich wieder über den Motor. »Manchmal fühlt man sich schon einsam, wenn man einen Schrottplatz betreibt«, sagte er. »Hier zu stehen und das Tor zu bewachen. Aber ich bin mir sicher, dass die Autos es gut haben, wenn sie in die Presse kommen. Denn auf der anderen Seite kümmert sich der große Mechaniker um sie.«

»Gott?«, fragte Erik.

»Nein, der hat selbst genug zu tun. Der große Mechaniker repariert die Autos. Aber sie reden miteinander, wenn es nötig ist.«

»Es gibt also Autos im Jenseits?«

»Aber sicher. Sonst könnte man das doch nicht Paradies nennen!«

Jetzt

Landstraße 220

Erik Fyksen dehnte sich, drückte die Schultern in seiner Arbeitsjacke durch, tippte die Summe für dreiundvierzig Liter Super in die Kasse und ging nach draußen zum Mobil-Schild.

Über ihm stand das rote Pegasuspferd, eingefangen hinter vergilbtem Plexiglas. Die Flügel waren ausgebreitet, auf dem Sprung in den Himmel, bereit, sich von der toten, schwarzen Schicht aus Fliegen und Staub am Boden der Leuchtreklame zu erheben und mit langsamen Flügelschlägen zu dem Sternbild emporzugleiten, dem es entstammte. Zwei Scheinwerfer rollten durch die Zigeunerkurven. Dann raste der Wagen mit Vollgas über die Tallaksenebene, während sich auf dem Lack das Tal spiegelte und die Sonnenstrahlen auf dem Chrom und den silbernen Buchstaben PONTIAC GTO glitzerten.

Als der Wagen die Steigung erreichte, hörte Erik, wie der Motor die Tonlage wechselte. Der Luftwiderstand bremste das Auto, und der Auspuff bekam einen ungeduldigen, hämmernden Klang.

Es gibt durchaus Gründe, rote Amerikaner zu kaufen, dachte er. Und es gibt Gründe, sie wieder zu verkaufen.

Erik warf seinem Exwagen einen Gruß zu, sah den Pontiac langsam in Richtung Zentrum vorbeigleiten und die roten Rückleuchten im Dunst der Abgase verschwimmen. Der Fahrer blinkte, bog auf den Platz vor dem Restaurant Rangen, rollte neben einen silbergrauen Thunderbird, ließ den Achtzylinder im Leerlauf noch einmal aufheulen und hielt an.

Erik kontrollierte die Zapfsäulen. Irgendetwas stimmte nicht. Die Schweigsamkeit der Kunden war auffällig. Zwar waren sie von Natur aus wortkarg, aber in ihren Blicken lag eine unausgesprochene Frage, und überdies waren sie stiller als sonst und gingen jedem Gespräch aus dem Weg.  

Aber nein. Mit den Zapfsäulen war alles in Ordnung. Es lief nirgendwo Benzin aus. Keine Graffiti an der Seitenwand, keine schlafenden Fernfahrer, und auch alle Buchstaben in Annor Kraftstoffe und Automobile leuchteten. Es war auch noch zu früh dafür, dass jemand an der Einfahrt zur Tankstelle mit seinem Auto kreiselte und die Reifen qualmen ließ, sodass sich auch darüber niemand aufregen konnte. Und den Jungs, die ihre Musik so laut laufen ließen, dass die Hutablagen bebten, hatte er schon vor langer Zeit deutlich gemacht, dass eine Tankstelle kein Szenetreff ist. Eher so etwas wie ein Gemeindezentrum. Man war willkommen, aber unter gewissen Bedingungen. Jeder durfte gerne die Rampe benutzen, ohne zu fragen, nicht aber die Motoren aufheulen lassen, im Auto hocken und Bier trinken.

Hinter sich hörte er einen Volvo. Åge Rudi kam mit seinem Kombi, wie gewöhnlich mit einer Leiter auf dem Dach und dem Laderaum voller Klempnerutensilien.

»Ich muss ständig Kühlwasser nachfüllen«, beklagte sich Rudi. »Dabei ist der Garagenboden trocken.«

Erik öffnete die Motorhaube, nahm den Öldeckel ab und fuhr mit dem Mittelfinger den Rand entlang.

»Sieh mal hier«, sagte er. Er hatte gelbbraunen Schlamm an seinem Finger. »Die Kopfdichtung ist kaputt, du hast Kühlwasser im Öl. Das sieht dann so aus.«

»Teuer?«, fragte Rudi.

Diese Frage kannte Erik zur Genüge und auch den Wunsch, es so billig wie möglich zu machen. »Dauert schon ein paar Stunden«, sagte er. »Es lohnt sich, dabei auch gleich die Ventile durchzusehen. Aber du weißt ja. Hast du zurzeit viel zu tun?«

»Wieso?«

»Die Rohre für den Hochdruckreiniger müssten verlegt werden«, sagte Erik.

»Eine Hand wäscht die andere?«, fragte Rudi.

»Komm heute Abend gegen sechs.«

»Abgemacht«, sagte Rudi und legte den ersten Gang ein. »Du hast keine Kunden, Fyksen, du hast einen Fanclub! Also sieh zu, dass du dich halten kannst.«

Da war es wieder. Dass du dich halten kannst. Wohlwollend, aber wie eine Andeutung.

Erik nahm die Tageszeitung Gudbrandsdølen aus dem Ständer. Er spürte die Narbe in seiner Handfläche kribbeln. Seltsam, die hatte er das letzte Mal vor Jahren gespürt.

Wie der Gudbrandsdølen aus sicherer Quelle erfahren hat, soll die Landstraße 220 in den kommenden Jahren an der Ortschaft Annor vorbeigeführt werden. Die Planung sieht neue Brücken oberhalb des Zentrums und unterhalb der Zigeunerkurven vor, eine verbreiterte, sechs Kilometer lange Straßentrasse auf der anderen Talseite und eine Anbindung an die alte Straße samt einer Erneuerung der Strecke bis zur E6. Auch eine Neunziger-Zone scheint nicht ausgeschlossen.

»Im Zentrum kommt es immer wieder zu gefährlichen Verkehrssituationen«, betont Gemeindeingenieur Ole Muriteigen. »Und bei den Jugendlichen ist die Unsitte eingerissen, zwischen dem Restaurant an der Bushaltestelle und der Mobil-Tankstelle hin- und herzurasen, mit alten ausrangierten amerikanischen Straßenkreuzern Schleudermanöver zu fahren oder nachts mit Motorrädern illegale Rennen zu veranstalten.«

Da war sie also, die Erklärung des Tages, dachte Erik. Wenn der Verkehr da langging, war er bis Ostern pleite, spätestens bis Weihnachten. Seine Schulden waren ins Unermessliche gestiegen, als er mit Elise die Mobil-Tankstelle restauriert hatte, er hatte noch die nächsten neunzehn Jahre abzuzahlen. Sollte er noch einmal Schulden machen, um auf der anderen Seite des Tales eine Tankstelle wie diese aufzubauen? Unvorstellbar, erst recht bei dem Bankdirektor, der derzeit das Sagen hatte.

Erik ging in die Werkstatt, atmete den Duft von Gummi und Öl ein und sah, wie sich Tor-Arne beim Auswuchten der Reifen abmühte.

»Haste heut schon Zeitung gelesen?«, fragte Erik.

»Den Sportteil der VG«, antwortete Tor-Arne und zog das Band fest, das seinen Pferdeschwanz zusammenhielt. »Und natürlich die Autoanzeigen.«

»Dann ist dir unsere Todesanzeige noch nicht aufgefallen?« Erik hielt ihm den Gudbrandsdølen hin.

Der Abzieher fiel klirrend auf den Boden. »Das ist doch nicht wahr«, sagte Tor-Arne. »Das kann doch, verdammt noch mal, nicht wahr sein!« Er riss die Zeitung an sich und las laut:

Ein anderer Vorteil, insbesondere für die Tagespendler nach Ringebu und Vinstra, liegt in der Umfahrung der berüchtigten Zigeunerkurven, die bei erhöhter Geschwindigkeit und aus dem Fluss aufsteigendem Nebel sommers wie winters gefährlich sein können.

Erik blickte auf das Bild unter dem Artikel. Aufgenommen mitten im Winter. Ein Ford Escort, der sich bei der Manufaktur um einen Laternenpfahl gewickelt hatte. Mitten auf der Straße lagen ein geplatzter Einkaufsbeutel und zwei Milchtüten. Aus dem Schneewall am Straßenrand ragten die Kufen eines Tretschlittens hervor.

Im letzten Jahr musste einem 73-jährigen Mann ein Bein amputiert werden, nachdem er bei Eisglätte angefahren worden war, las Tor-Arne. Er legte die Zeitung weg und setzte sich auf eine Felge.

»Da stimmt doch was nicht«, sagte Erik. »Natürlich war das mit dem Fuß von Gustav Smidesang ein verdammter Mist, aber das war wirklich der erste richtige Unfall hier im Zentrum, an den ich mich erinnern kann.«

Draußen hupte jemand. Ragnar Karlstad stand mit seinem Mercedes-Taxi an der Dieselzapfsäule. Erik notierte den Betrag im Rechnungsbuch, gab ihm ein Zeichen loszufahren und stellte das Zählwerk der Säule auf null. Ein silbergrauer Mitsubishi Pajero wartete bereits. Der Wagen sah nagelneu aus.

Der Pajero fuhr vor. Harald Jøtul stieg aus.

Erik wusste, dass man ein schlechter Geschäftsmann war, wenn man sich um das Privatleben seiner Kunden kümmerte, aber bei Harald Jøtul machte er eine Ausnahme. Freunde kamen und gingen, aber Feinde behielt man sein ganzes Leben.

Es hatte mit Kleinigkeiten begonnen. So wie die meisten Streitereien in einem Dorf mit unwichtigem Kram anfangen. Insbesondere dann, wenn die Menschen beginnen, auf Feste zu gehen. Zuerst das Young-Lords-Konzert. Dann das Volksfest nach der Viehschau. Erik hatte mit ein paar Freunden gesoffen und war dann einfach dort aufgetaucht, hatte weitergetrunken und die Leute auf der Tanzfläche angestarrt, mit dem anderen Auge aber den Parkplatz nicht aus dem Auge gelassen.

Dort hatten sie sich verabredet. Es war schon nach Mitternacht und Erik machte einen langen Hals, um zu sehen, ob sie unter den Mädchen war, die dort standen.

Aber das war sie natürlich nicht. Ebenso wenig war sie in einem der Autos, die auf dem Parkplatz ihre Runden drehten, oder auf der Tanzfläche, die sich wie eine leuchtende Fläche von dem platt getretenen Gras abhob. Es dauerte nicht lange, bis ihn die Frage zu quälen begann, wo und mit wem sie zusammen war.

Als die Band schließlich ihre Sachen zusammenpackte und besoffene Neuntklässler auf der Bühne Luftgitarre spielten, erhielt er die Antwort in Gestalt eines nagelneuen, silbergrauen Mitsubishi Colt mit Sonderausstattung.

Harald Jøtul.

Und Tora Grundtvig.

Eine weitere Trophäe auf seinem Beifahrersitz.

Jøtul war zwanzig und hatte ein eigenes Auto. Erik war sechzehn und fuhr ein uraltes Panther-Moped. Das reichte natürlich nicht. Kaum waren die Mädchen konfirmiert, wollten sie in Autos gesehen werden. Neben den Jungs aus dem Fußballverein, den Söhnen der Gutsbesitzer oder den Rekruten der Militärschule. Tora war also auch nicht anders als die anderen. Natürlich war das eine andere Sache als hinten auf einem Moped mit ausgeleierter Federung zu hocken, die bei jedem Schlagloch durchschlug. Für eine Fahrt in einem tollen Wagen taten sie alles, diese Autoluder.

Und Jøtul nahm sie nur zu gern an Bord. Vor Geld stinkend. Hatte das Gymnasium Gymnasium sein lassen und war zu einer Baufirma nach Oslo gegangen. Was ihn aber nicht davon abhielt, jedes Wochenende zu Hause zu sein und frisch frisiert und nüchtern mit seinem schweißtriefenden Akkordlohn anzugeben. Ein verwöhntes Leberwurstjüngelchen mit einer Prinz-Eisenherz-Frisur, wie aus dem Ei gepellt. Brachte die Mädels nach Hause und durfte bis zum Morgen bleiben. Ehe er am nächsten Wochenende mit porentief reinem Lacoste-Pullover wiederauftauchte.

Nur Menschen mit Charakterschwäche kauften neue japanische Pseudo-GTIs statt eines guten Amerikaners. Aber die Mädchen hatten ja keinen Blick für so etwas. Die sahen bloß, dass das Auto neu war, trocken und sauber mit gut funktionierender Heizung, und dass sie sich die Musik aussuchen durften. Die aktuellen Hits. So simpel war das. Jøtul hatte keine Ahnung von Musik, das hörte man schon von weitem. Aber jedes Wochenende kam er mit neuen Kassetten aus Oslo an.

Jetzt sah er sie, hinter den Reflexen auf der Autoscheibe. Sie blickte Harald Jøtul an, seine dicken Finger lagen auf dem Lenkrad, Finger, die Stellen berührt hatten, die sie nie hätten berühren dürfen.

Erik hatte genug. Er ging. Seine Kumpel begannen nach Mitfahrgelegenheiten zu suchen und quetschten sich in Autos, die sie mit ins Zentrum nahmen. Einige brüllten ihm hinterher, wollten ihn mitnehmen. Nein. Es würde nur wieder wie immer werden: Einkaufswagen hinter dem Supermarkt losreißen, irgendwelche Lieder grölen, auf der Terrasse des Rangen Heineken-Schirme klauen und sie bei den frommen Kirchgängern des Ortes auf dem Verandatisch platzieren und schließlich den Kadett des Polizeianwärters mit Anfängerschildern bekleben, wenn dieser kam, um sie zur Ruhe zu mahnen.

Außerdem wollte er nicht von den Typen im Mitsubishi gesehen werden. Erik folgte dem Rauschen des Flusses, kam auf den Feldweg am Ufer des Sokna und trank im Laufen den Vorrat in seiner Plastiktüte aus. Die leeren Bierflaschen pfefferte er ins Dickicht, sodass das Geflecht der Weidenröschen nur so staubte. Schließlich erreichte er die Stichstraße, die zum Schrottplatz führte.

Jøtul verschüttete Benzin, als er den Tankdeckel schloss. Vermutlich das erste Mal, dass er seinen neuen Wagen betankt, dachte Erik. Bis jetzt hatte er einen Mitsubishi Galant gefahren. Nun hatte er sich also dieses japanische Allradfahrzeug gekauft, obwohl er für das gleiche Geld einen nur zwei Jahre alten Range Rover hätte bekommen können.

Die ewigen Streitereien zwischen ihnen hatten sich gelegt, als Laila Brekkum von Jøtul ein Kind bekam. Doch als Jøtul ein paar Jahre später Vorsitzender des Schützenvereins wurde, konnte er es immer noch kaum ertragen, ihn im Ort zu haben. Aber so beschissen das Ganze auch war, er musste ihn bedienen, und Jøtul musste an der einzigen Tankstelle in Annor tanken.

Jetzt kam er. Haare und Bart frisch frisiert. Neue Vliesjacke mit heruntergeschlagenem Kragen, dunkelblaue Fjällräven-Hose und Joggingschuhe.

»Na, stehst du noch in deinem Nostalgie-Tempel?«, fragte Jøtul und nickte in Richtung der Autozeitschriften.

»Und du hast deinen schönen Galant verkauft?«, erwiderte Erik.

»Brauchte einen, der am Hang ein bisschen besser zieht«, sagte Jøtul, zählte aufreizend langsam das Geld auf den Tisch und fuhr fort: »Wie ich sehe, hast du heute Zeitung gelesen?«

»Kannst du den Menschen das ansehen?«, fragte Erik.

»Sie liegt auf dem Tresen.«

»Da du schon so fragst, wirst du sie wohl auch gelesen haben.«

»Wie spitzfindig, Fyksen. Ja, dann werden wir uns wohl auf der anderen Seite wiedersehen, nicht wahr? Irgendwann?«

Das Zählwerk der Dieselsäule zeigte 22,4 Liter. Der Tank eines Pajeros fasste zweiundneunzig Liter. Frauen tankten für gewöhnlich, wenn der Tank noch viertelvoll war, egal, wie viel hineinging. Männer fuhren, bis nur noch vier Liter drin waren, was auch immer geschah.

Draußen stieg Jøtul in seinen Pajero, grinste breit und rauschte davon. Das Ordnungshütergrinsen, dachte Erik. Das hat nie etwas Gutes zu bedeuten. Und ganz sicher dann nicht, wenn Jøtuls Tank noch dreiviertelvoll ist und er nur kommt, um zu sehen, wie ich die Nachricht über die neue Straße verarbeitet habe.

Als Erik die Tankstelle zusperrte und den Diplom-Eis-Eskimo und das Gestell mit dem Quaker-State-Öl reinholte, sah er, wie sein Overallärmel in den Farben der Neonbuchstaben leuchtete. Er mochte Neonlicht, und er fand es gut, dass man Annor Kraftstoffe und Automobile schon von weitem in Blau lesen konnte, wenn man sich nachts auf der Straße näherte. Elise hatte das Schild zur Wiedereröffnung bestellt. Sie war ganz begeistert davon gewesen, auf der Schmalseite des Gebäudes den Namen der Tankstelle zu haben, wie eine Signatur.

Die Lichtschalter im Flur waren von öligen Fingerabdrücken verschmiert. Zuerst legte er den Schalter um, sodass der Schriftzug GESCHLOSSEN unter das Mobil-Schild klappte. Dann betätigte er die restlichen Schalter, bis Werkstatt und Waschanlage im Dunkeln lagen und man von der Straße nur noch das rote, geflügelte Pferd sah, den blauen Neonschriftzug und die Zapfsäule mit dem Geldscheinautomaten.

Der Coca-Cola-Kühlschrank hielt wie angegeben die vier Grad Kälte. Er öffnete zwei Flaschen und ging zu Tor-Arne an die Schmiergrube. Wie bei den anderen Autos der Jugendlichen im Ort waren auch die Radläufe von Tor-Arnes Ascona in Brauntönen gehalten und der Unterboden verbeult vom Herumrasen auf Feldwegen. Erik hatte versucht, ihn von den verbreiterten Kotflügeln und den getönten Scheiben abzubringen, doch ohne Erfolg, und an Mittsommer hatte Tor-Arne zu allem Überfluss auch noch zwei blaue Streifen auf den Wagen lackiert, die an der Seite von einer Stoßstange zur anderen verliefen.

»Hilfst du mir, die einzusetzen?«, fragte Tor-Arne und nickte in Richtung der Motorhaube, die hochkant an der Wand auf einer Lage Schaumgummi stand.

Sie nickten einander zu, als sie sie sicher in den Händen hatten, und hoben sie an ihren Platz. Gute Arbeit, dachte Erik. Dünne Streifen Dichtungsmasse quollen aus den Nähten des neuen Motors, und das Gusseisen sah sauber und gut aus. Tor-Arne hatte in den letzten Wochen jeden Abend damit verbracht, den Sechzehn-Ventiler zu überholen und einen Turbo nachzurüsten.

»Sollte hundertneunzig PS bringen«, sagte Tor-Arne.

»Mal sehen«, sagte Erik. »Vielleicht hundertsiebzig. Aber der Kühlerschlauch sitzt zu straff.«

»Ist das so wichtig?«

»Wenn sich der Motor beim Starten schüttelt, kann der Schlauch reißen.«

»Ich will den Motor heute Abend noch ausprobieren. Was anderes kommt nicht in die Tüte.«

»Die Kabelführung hier ist auch das reinste Chaos. Das wird fünf Uhr früh, bis du damit fertig bist. Und morgen muss ich rausfinden, ob an der Sache mit der neuen Straße was dran ist.«

»Hä?«, machte Tor-Arne und setzte sich auf die Arbeitsbank. »Willst du damit sagen, dass ich kein Auto habe?«

Er blieb einen Moment sitzen.

»Scheiße«, sagte er dann und fischte sein Handy heraus. »Jetzt hab ich keinen Bock mehr. Dann muss Mama mich abholen.«

»Hör mal«, sagte Erik. »Der alte Cortina von Einar Krigen steht noch hinten. Muss mich morgen drum kümmern, da ist eine Inspektion fällig. Wenn du damit direkt nach Hause fährst, kannst du dir den nehmen. Aber wasch dir die Finger. Und mach keine Spritztour durchs Zentrum!«

Tor-Arne zog sich den Overall aus und streifte sich wieder seinen Norwegerpulli und die Tarnhose über. Dann lehnte er sich durch das geöffnete Fenster des Asconas, nahm die Hausschlüssel vom Schlüsselbund und das Päckchen Tabak aus der Mittelkonsole. Das Rolltor öffnete sich langsam und krächzend, und das Licht zeichnete ein immer größeres Viereck auf den Beton davor. Kurz darauf sah Erik die Rücklichter des Cortinas und hörte das Abfallen der Umdrehungen, als Tor-Arne den dritten Gang einlegte.

Erik ging zurück in den Kassenraum und schaltete das Licht ein. Tor-Arne sagte immer, das Einzige, was ihnen fehle, seien gedrehte Kartoffelchips mit Linksgewinde. Vom Boden bis zur Decke stapelten sich Ersatzteile und Montagesets, für beinahe alle Wagentypen, die es im Ort gab oder jemals gegeben hatte.

Komplette Luftfilterserien von Purolator, Keilriemen von Gates, Radlager von Timken. Die Wand mit den Zündkerzen wurde von der Marke Champion dominiert, aber auch die NGK gingen gut, denn der Mythos, dass ein Ford nur damit richtig lief, hielt sich in Annor hartnäckig.

Die Längswand glänzte silbrig von all den Werkzeugen. Polierte Schraubenschlüssel, Knarren und Steckschlüsselsätze von Snap-on, Kamasa und Acesa. Die Bauern wollten immer nur Acesa. Guter Stahl und so preisgünstig, dass es sich nicht lohnte, lange zu suchen, wenn sie einen auf dem Acker verloren hatten.

Dieses Ersatzteillager kann Annor ein halbes Jahr ohne Nachschub am Leben halten, dachte Erik. Egal ob für Motorsägen, Pendlerautos, Shelby Mustangs oder Mähdrescher. Und jetzt wollen sie eine neue Straße?

Erik schlenderte die Treppe hoch und hockte sich vor die silberne Sony-Anlage. Er suchte Lost and Found von Jason & The Scorchers, die letzte Platte der Band, die ihm wirklich gut gefiel, ehe sie sich ständig zu wiederholen begonnen hatten. Der Plattenspieler bekam seinen Strom über die Zeitschaltuhr eines Motorwärmers. Er stellte ihn auf halb fünf, zog sich aus und freute sich schon auf den Kaffee am nächsten Morgen. Im Bett versuchte er noch Classic & Thoroughbred Cars zu lesen, legte die Zeitschrift aber gleich wieder weg. Wie so oft an schwierigen Abenden landete er vor dem Bücherregal im Wohnzimmer mit der drei Meter langen Reihe aus Werkstatthandbüchern und Ersatzteilkatalogen. Er nahm das Haynes-Manual für den Jaguar XJ6 heraus, stellte es aber gleich wieder zurück. Englische Motoren waren nicht das Richtige für diesen Abend, heute brauchte er etwas Amerikanisches: Power Tuning the Chrysler V8. Das sollte es sein. Amerikanische Motorkonstruktionen strahlten eine ganz eigene Ruhe aus, da ging es immer um Größe und Dimension, nicht um Finesse, und beim Lesen spürte er, wie die nagenden Gedanken über die neue Straße langsam verdrängt wurden.

Anschließend blätterte er durch das Mayfair-Magazine, zerwühlte die Decke und drehte sich zur Wand. Draußen leuchtete der Mobil-Pegasus in Höhe des Schlafzimmerfensters. Das flimmernde Licht drang durch die Gardine, die der Wind flattern ließ, und der rote Schein an der vertäfelten Wand begleitete ihn in den Schlaf.

Er war fast eingeschlafen, da kamen die Autos. Zuerst Kvernflatens Thunderbird. Dann ein Ford Big Block; Thorups Ford Mustang Shelby. Und gleich dahinter, schnell und hart über die Ebene beschleunigend, das Brüllen einer American-Thunder-Auspuffanlage. Der Sound eines Pontiac GTO, der im März 1967 vom Band gelaufen war. Das wusste er genau. Ein GTO, den er mit pflaumenrotem Standox-Lack umgespritzt hatte, gefolgt von drei Schichten Klarlack. Ein GTO mit einem RamAir-Achtzylinder, der fünfundzwanzig Liter auf hundert Kilometer brauchte und es auf dreihundertsechzig PS brachte.

Doch ohne Elise Misvær wäre er davon nicht aufgewacht, hätte sich im Bett nicht aufgerichtet und an den Sommer vor sechs Jahren gedacht, den Sommer mit dem Pontiac, als er die Mobil-Tankstelle in Annor übernommen hatte.

Elise Misvær.

Denk nicht an Frauen, die dir die Landstraße geraubt hat.

Und verkaufe nie Autos in dem Ort, in dem du wohnst.

Landbesichtigung

Ein leises Klicken kam von der Zeitschaltuhr. Die Musik murmelte langsam los, während der Plattenspieler an Fahrt aufnahm. Draußen nieselte es. Keine Autoscheinwerfer vom Zentrum oder auf der Tallaksenebene. Die Kleider von gestern rochen etwas nach Diesel, vertrugen aber noch einen weiteren Tag.

Eine weiße Sonne stieg über der Talflanke auf, als er den Geldscheinautomaten an der Tanksäule kontrollierte. Er strich die kalten Tautropfen von dem lackierten Stahl. Die Zapfsäule war immer nass, bevor die Sonne sie erreichte. Zweihundertachtzehn Liter. Vielleicht so acht bis zehn Autos. Die meisten tankten noch einmal auf, ehe sie sich bei Nacht über den Pass wagten, zumindest wenn Kinder im Auto waren.

Jemand hatte den Pressluftschlauch für die Reifen abgewickelt. Erik legte ihn wieder um die Halterung unter den drei Plakaten mit den Reifendrucktabellen. Die neuen von Michelin berücksichtigten nur die modernen europäischen Wagen, weshalb Elise auch ein englisches Dunlop-Plakat aus dem Jahre 1982 und ein amerikanisches Firestone aufgehängt hatte, das von 1975 oder 1976 stammen musste.

Erik schlenderte hinter die Tankstelle, vorbei an den Ölfässern und Ersatzteilen, die Tor-Arne schon im Frühling hatte wegräumen wollen. Er schob den Riegel an der Tür des Schuppens zur Seite und trat in den staubigen Lichtstrahl, der über den Ford-Schriftzug hinten am Pick-up fiel. Er klopfte gegen die drei festgezurrten Ersatzkanister auf der Ladefläche und erkannte an dem dumpfen Glucksen, dass sie voll waren. Der blassgelbe F-150, Baujahr 1975, war ramponiert wie ein Baufahrzeug und hatte Beulen und Kratzer, wie es jedes beruflich genutzte Fahrzeug mit der Zeit bekam. Das Einzige, was er seit dem Kauf getan hatte, war, den Mobil-Pegasus und die Telefonnummern der Tankstelle auf die Seitentüren zu lackieren. Es kam ihm nicht im Traum in den Sinn, den Wagen zu polieren oder gar neu zu lackieren.

Nur um die Schmiernippel und Gelenke kümmerte er sich jede Woche. Er nahm die Fettpresse, bis die Seilwinde, Radnaben und Blattfedern vor Fett glänzten.

In der Ecke des Schuppens stand das Hydro-Texaco-Schild. Er hatte sich an den Anblick des auf dem Kopf stehenden Schildes mit dem braunen Staub auf der Schutzfolie gewöhnt. Sie hatten es ihm in jenem Herbst gebracht, als Hydro-Texaco die Mobil-Kette übernommen hatte, doch da er selbst der Besitzer der Tankstelle war, konnte er das Genörgel des Regionalchefs getrost überhören, wenn dieser zu einem seiner Pflichtbesuche auftauchte.

Der Achtzylinder rumpelte und versetzte dem F-150 einen leichten Ruck nach rechts, als Erik den Motor startete. Die Lüftung blies ein paar Sekunden laut und dumpf, beruhigte sich dann aber wieder, so dass das Flüstern des Vergasers durch die Motorhaube zu hören war. Er mochte den Geruch dieses Motors, ganz besonders, wenn er den Choke noch gezogen hatte. Unverbranntes Benzin und eine Spur Mineralöl in den schmierigen Abgasen.

Ernas Kiosk lag noch im Dunkeln. Nur die Werbung für Solo-Limonade über dem Eingang leuchtete. Die Lichter hinter den Fenstern der Manufaktur brannten. Erik legte den dritten Gang ein und begann die Passstraße hochzufahren.

Eine Dreiviertelstunde später war er wieder unten im Ort und parkte unter dem Mobil-Schild, um deutlich zu machen, dass er da war.

»Die Sache mit der neuen Straße war gestern noch nicht alles!«, sagte Tor-Arne. »Weißt du, was ich neben dem Telefon gefunden habe, als ich nach Hause kam?«

»Wieder eine Einberufung zum Militärdienst?«, fragte Erik.

»Schlimmer! Ich hab den Turbo noch nicht mal ausprobiert, und schon soll ich zum TÜV! Und das superkurzfristig!«

»Ach nee!«, sagte Erik lachend. »Neuerdings spionieren sie im Zentrum rum und gucken sich die fragwürdigen Autos der Jugendlichen aus. Ich schätze mal, dein Ascona war ein Volltreffer!«

»Zwei Wochen Arbeit, und jetzt muss alles wieder raus. Die Rallyefedern, der Motor, die Auspuffanlage, der ganze Scheiß. Verdammter Mist, dass ich den alten Motor verkauft habe.«

»Ich muss ohnehin bald zum Schrottplatz«, sagte Erik. »Ich kann dir einen neuen mitbringen.«

»Super. Ich hab keine Lust mehr, Grundtvig zu begegnen. Ich kapier nicht, wie der überhaupt klarkommt. Sind das wirklich nur die falschen Medikamente?«

»Nicht nur«, sagte Erik.

»Hab mit Terje Gunstad gesprochen. Der hat auf dem Schrottplatz nach einer neuen Motorhaube für seinen Taunus gesucht. Grundtvig hat ihn über zwei Stunden vollgelabert, dass das Gokstad-Schiff über ein supermodernes magnetisches Peilungssystem verfügt hätte.«

»Das sind doch alte Geschichten«, sagte Erik. »Du solltest mal hören, was er über die Mjøsaforelle zu berichten hat.«

»Nee, das erspar ich mir lieber. Hör mal, Ringlund kommt gegen zehn für einen Ölwechsel. Der braucht auch einen neuen Filter.«

»Für seinen Granada?«

»Ja.«

Erik schloss den Werkstattschrank auf und fuhr mit den Fingern über die Filter aus den Fünfzigern und Sechzigern mit altem Logo und alten Preisen. Mit wie viel Liebe die damals gemacht worden waren. Nicht dieses vulgäre Schockdesign, mit dem man heute die Jugendlichen an die Regale lockte. Nein, ruhige Farben, ein deutlicher Nummerncode, für jeden Fachmann leicht zu sortieren.

Erik suchte den richtigen Filter heraus und schaute hinter sich. Die Verpackung war noch ziemlich neu, aber zur Sicherheit öffnete er den Deckel und besah sich die Unterseite. Nur graue Pappe. Keine Spur von Elise. Zu verkaufen.

»Ich bin es echt leid, dass du die Ölfilter unter Verschluss hältst«, sagte Tor-Arne, als Erik wieder in den Kassenraum kam. »Wie soll ich einen ordentlichen Job machen, wenn du etwas derart Fundamentales zurückhältst?«

»Die sind alt und selten«, sagte Erik.

»Blödsinn. Der ist doch neu«, entgegnete Tor-Arne.

»Hast du die Post geholt?«, fragte Erik.

Tor-Arne nickte in Richtung eines Briefstapels im Büro.

Zwischen den Rechnungen lag eine Postkarte. Ein Terminangebot bei Martin Lyng. Morgen um drei? Typisch. Erik hatte den schmerzenden Backenzahn jedes Mal erwähnt, wenn Lyng seinen Mercedes aufgetankt hatte. Ohne Gehör zu finden. Jetzt sollte es also doch geschehen. Nun ja, Lyng wusste sicher etwas über die neue Straße, denn nirgendwo brodelten die Gerüchte wilder als in der Zahnarztpraxis.

Erik holte die Straßenkarte heraus. Legte den Finger auf die E6 und führte ihn von Lillehammer aus nach Norden. In der Talmitte fuhr er von der E6 ab und nahm die Landstraße 220. Fünfzehn Kilometer mit nicht gekennzeichneten Ausfahrten, dichtem Nadelwald und Elchwarnschildern. Sein Finger folgte den Zigeunerkurven, glitt über die Tallaksenebene und verharrte über Annor. Weiter nördlich gab es nichts. Nur den Pass, zwanzig Wind und Wetter ausgesetzte Kilometer über holprigen Schotter bis ins Østerdal.

Seine jetzige Lage, siebenhundert Meter südlich des Zentrums, war perfekt. Von Norden wie auch von Süden ging es so lange geradeaus, dass sich sogar der Trägste noch entscheiden konnte, seinen Wagen aufzutanken. Auch das Fehlen einer Straßenbeleuchtung war gut, denn dadurch war die Tankstelle nur noch besser zu sehen.

Von hier wegziehen? Verdammte Scheiße, das war genauso sinnvoll, wie einen Bauernhof von einer Seite des Ackers auf die andere zu verlegen. Außerdem gab es auf der anderen Seite des Sokna keine verfügbaren Grundstücke. Er stellte sich das Ufer vor, das er als Fliegenfischer und Entenjäger wie seine Westentasche kannte. Fast überall erhoben sich die Berge beinahe direkt hinter dem Fluss. Eigentlich gab es nur einen brauchbaren Ort: das Rabbenfeld, den verwilderten Acker bei der Abfahrt zum Schießplatz. Aber der gehörte dem alten Dickschädel Narve Knapstad, dem größten Schlitzohr der ganzen Gegend.

Erik suchte sein Rechnungsbuch heraus. Knapstad ließ regelmäßig anschreiben, aber jeder Eintrag hatte für gewöhnlich nach etwa einem halben Jahr sein grünes Häkchen bekommen, was bedeutete, dass die Schulden bezahlt waren. Doch da, eine offene Rechnung gab es noch: Knapstad, Lada Niva, Benzinpumpe ausgetauscht. Das lag bald ein Jahr zurück. Aber nur eine Minisumme, nichts, was man hätte anführen können.

Erik blickte noch einmal auf die Karte. Er hatte das Gefühl, nicht alles erkannt zu haben. Wenn es eine Neunziger-Zone bis Annor gab, warum sollte danach Schluss sein? Was, wenn auch der Pass ausgebaut wurde? Dann würde aus der Landstraße 220 plötzlich eine wichtige Verbindung zwischen Oslo und Trondheim werden! Kürzer als über Dombås, und außerdem könnte man dann die vielen Fünfziger- und Sechziger-Zonen im Gudbrandsdalen umfahren. Der Durchgangsverkehr in Annor würde sich verzehnfachen, nein, vervierzigfachen. Dann brauchte er jeden Tag den Tankwagen.

Aber Ruhe gab es dann keine mehr! Nie mehr. Dann würde es auch nicht lange dauern, bis die Scouts von Statoil, Esso und Shell anrückten, in ihren Wathosen den Sokna hinaufmarschierten und die Grundstückspreise in die Höhe schossen. Ich muss mich sofort darum kümmern, dachte Erik und griff nach dem Telefon.

»Willkommen bei Hydro-Texaco! Melden Sie sich mit Geschäftskunde, wenn Ihr Anruf geschäftlicher Natur ist, sagen Sie Privatkunde, wenn Sie Privatkunde sind.«

»Geschäftskunde.«

Das sprachgesteuerte Telefonsystem verstand seinen Dialekt nicht.

»Geschäftskunde«, wiederholte Erik überdeutlich.