Atelier Rosen - Marie Lamballe - E-Book

Atelier Rosen E-Book

Marie Lamballe

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Beschreibung

Kassel, 1830. Die zwanzigjährige Elise Rosen betreibt zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter ein kleines Putzmacher-Atelier. Ihre Hutkreationen sind weithin gefragt und öffnen ihnen Türen in höchste gesellschaftliche Kreise. So macht Elise eines Tages die Bekanntschaft der jungen Sybilla von Schönhoff, mit der sie schon bald eine innige Freundschaft verbindet. Als sich deren Verlobter unsterblich in Elise verliebt, gerät diese in einen schweren Konflikt, der sie auf die Spur eines lang gehüteten Geheimnisses führt ...

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Leseprobe

Über dieses Buch

Kassel, 1830. Die zwanzigjährige Elise Rosen betreibt zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter ein kleines Putzmacher-Atelier. Ihre Hutkreationen sind weithin gefragt und öffnen ihnen Türen in höchste gesellschaftliche Kreise. So macht Elise eines Tages die Bekanntschaft der jungen Sybilla von Schönhoff, mit der sie schon bald eine innige Freundschaft verbindet. Als sich deren Verlobter unsterblich in Elise verliebt, gerät diese in einen schweren Konflikt, der sie auf die Spur eines lang gehüteten Geheimnisses führt …

Über die Autorin

Marie Lamballe wuchs in Wiesbaden auf – beide Eltern waren dort Schauspieler am Staatstheater. Sie studierte Literatur und Sprachen und begann schon kurz nach dem Studium mit dem Schreiben von zunächst Kurzgeschichten, später Theaterstücken, Drehbüchern und Romanen. Inzwischen lebt sie als freie Autorin in der Nähe von Frankfurt am Main und hat unter verschiedenen Pseudonymen zahlreiche Romane – darunter mehrere Top-Ten-SPIEGEL-Bestseller – veröffentlicht.

Marie Lamballe

Atelier Rosen

Die Frauen aus der Marktgasse

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Ulrike Strerath-Bolz, FriedbergUmschlaggestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung von Illustrationen von © arcangel.com: Ildiko Neer; © gettyimages.de: Vincent Besnault; © mauritius-images.com: Stephan Schulz eBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0357-4

luebbe.delesejury.de

Kapitel 1

Der Vormittag hatte Regen gebracht, nun aber klarte der Himmel über der Residenzstadt Kassel auf, und die schrägen Sonnenstrahlen des Altweibersommers ließen die feuchten Dächer glänzen. Kinder liefen auf die Gassen hinaus und holten sich in den Pfützen nasse Füße. Auf dem Marställer Platz begann eine Gruppe kurfürstlicher Soldaten unter lauten Kommandorufen zu exerzieren, und die Ladenbesitzer in der Altstadt öffneten ihre Türen, um Kundschaft anzulocken. In der Marktgasse hatte der Scherenschleifer den Regenguss im Schutz eines Hauseingangs abgewartet; nun begab er sich wieder zu seinem Karren, und das durchdringende Kreischen seines Wetzsteins war weithin zu hören.

Niemand in der Marktgasse liebte diese laute Nachbarschaft. Apotheker Wild schloss hastig die Eingangstür der Sonnenapotheke, Goldschmied Weigel schimpfte lauthals, er wolle den Lumpenkerl bei der Polizei melden, weil er ihm die Kundschaft vertrieb. Auch nebenan im Atelier Rosen, wo man schön bestickte Hauben, Spitzenkragen und geschmackvoll dekorierte Frauenhüte im Schaufenster bewundern konnte, regte sich Unmut.

»Mach sofort das Fenster zu, Babette!«, rief Charlotte Rosen ihrer Angestellten zu. »Das ist ja nicht zum Aushalten!«

Babette legte die Haube, die sie gerade mit einer Zackenspitze schmückte, zurück auf den Arbeitstisch und erhob sich, um den soeben geöffneten Fensterflügel wieder zu schließen. Sie tat es widerwillig und ächzte dabei, weil ihr der Auftrag ihrer Brotgeberin nicht gefiel.

»Was braucht’s auch frische Luft und Sonnenschein?«, murrte sie. »Können ja im Dunkeln sitzen und den Gestank der Öllampe atmen wie im tiefsten Winter.«

Charlotte Rosen überhörte den Protest. Die füllige Babette hatte schon im Atelier Rosen Hauben genäht, als das Geschäft von Charlottes Mutter geführt wurde. Sie besaß auch jetzt noch flinke Finger, aber auch ein ebensolches Mundwerk. Neben ihr beim Fenster, wo das beste Licht war, saß die schmale Therese, die stets einen grämlichen Zug um den Mund zur Schau trug und dabei die Geldbeutel mit feinsten Perlenstickereien verzieren konnte. Therese war überzeugt, dass das Schicksal boshaft und ungerecht war, sonst hätte es ihr vor zwanzig Jahren nicht den Verlobten genommen und dafür einen unehelichen Sohn dagelassen.

Bei geschlossenem Fenster drang der schrille Ton des Wetzsteins nur noch gedämpft ins Atelier, was Charlotte Rosen als große Erleichterung empfand. Sie ordnete die Döschen und spitzenbesetzten Beutel auf dem Ladentisch, legte die teuersten Stücke zurück ins Regal und besah dann das Schaufenster mit kritischen Augen. War es nicht Zeit, wieder einmal die Dekoration zu wechseln? Diese Spitzenhauben waren sehr hübsch, aber sie machten nicht viel her. Besser wäre es, einen der farbigen Hüte auszustellen, das zog die Blicke an. Den gelben mit dem roten Samtband, das sich so elegant um die Krone schlang, dort zu einer üppigen Schleife gebunden war und in langen Streifen herabhing. Oder einen der blauen Schutenhüte, der das Gesicht der Trägerin mit gebogener Krempe einrahmte und mit bauschigen weißen Reiherfedern und künstlichen Blüten dekoriert war? Ach, es war ein Jammer, dass die Kasselaner Damen in letzter Zeit so wenig Freude an auffälligem Putz bekundeten, was natürlich an der allgemeinen Teuerung lag. Die Bürgersfrauen leisteten sich nur selten einen neuen Hut, bei ihnen fraßen die Kosten für den täglichen Bedarf das Haushaltsbudget fast ganz auf. Und sogar der Adel knauserte. Zum Glück hatte das Atelier Rosen immer noch eine Reihe treuer Kundinnen, die trotz der trüben Zeiten Wert auf Schönheit und Eleganz legten.

»Gegen drei Uhr will die Hofrätin von Ochs zur Anprobe kommen«, erinnerte Charlotte ihre Näherinnen. »Bist du endlich fertig mit dem Hut, Therese? Lass einmal sehen …«

Sie nahm den schlanken, blauen Hut vom Arbeitstisch, an dem Therese gerade mit winzigen, unsichtbaren Stichen eine dunkelrote Samtschleife und einige roséfarbene Blüten befestigt hatte. Sorgfältig begutachtete sie das Werk ihrer Angestellten, prüfte die Naht und hielt den Hut in die Höhe, um die Wirkung der Dekoration zu beurteilen. Dann nickte sie zufrieden.

»Im Grunde viel zu jugendlich für die Hofrätin«, meinte sie lächelnd. »Aber sie wollte sich ja nicht davon abbringen lassen.«

Babette ließ ein anzügliches Kichern vernehmen. »Weil sie im dritten Frühling ist«, lästerte sie. » Seitdem dort dieser bildschöne junge Leutnant in Untermiete wohnt, behängt sich die Hofrätin über und über mit Schleifen und Spitzen. Als könnte sie damit die dreißig Jahre gutmachen, die zwischen ihr und dem jungen Mann liegen.«

Klatsch und Tratsch waren beliebt im Atelier Rosen. Kassel war ein Dorf, jeder kannte jeden, und wenn irgendwo etwas vorgefallen war, dann wusste es bald die halbe Stadt. Charlotte Rosen ließ ihre Frauen gewähren, auch sie selbst beteiligte sich gern an den kleinen Lästereien und Scherzen. Es förderte die Arbeit, schließlich war das lange Sitzen ermüdend, vor allem im Winter beim Licht der Öllampe. Wenn allerdings eine Kundin das Atelier betrat, saßen Babette und Therese still und fleißig über ihre Arbeit gebeugt, als könnten sie kein Wässerlein trüben, während Charlotte Rosen die Käuferin mit ausgesuchter Höflichkeit und klugen Schmeicheleien bediente.

Therese, die trotz ihrer vierzig Jahre noch von einem jugendlichen Bräutigam träumte, hatte inzwischen verkündet, dass der erwähnte Leutnant aus Wetzlar stamme und mit Namen Johann Georg von Haynau heiße.

»Ein feuriger junger Herr ist das«, schwärmte sie. »Kohlschwarzes Haar und blitzende blaue Augen, die Figur schlank und biegsam – eine wahre Augenweide …«

»Hast wohl schon ein Stelldichein mit ihm gehabt?«, fragte Babette spöttisch und beugte sich zum Fenster, um den Faden leichter in die Nadel einführen zu können.

»Du lieber Gott, nein!«, stöhnte Therese errötend. »Von Weitem hab ich ihn gesehen, weil er doch der Reichenbach das Geleit gegeben hat, als sie nach Karlsbad abgereist ist. Da hab ich auch seinen Namen gehört.«

Da waren sie beim nächsten Gesprächsstoff angelangt. Die Gräfin Reichenbach war eine, über die man sich in Kassel gern die Mäuler zerriss. Aus schlichten Verhältnissen kam sie, hieß eigentlich Emilie Örtlöpp und hatte dem Kasseler Kurfürsten Wilhelm dem Zweiten den Kopf verdreht, sodass er sich von seiner angetrauten Gattin, der Kurfürstin Auguste, getrennt hatte und fortan mit seiner Geliebten lebte. In den Adelsstand hatte er diese Person erhoben und zur »Gräfin Reichenbach« gemacht, auch hatte sie ihm mehrere Kinder geboren. In Kassel konnte sie jedoch niemand leiden, weil sie eine hochfahrende Art hatte und jedermann vor den Kopf stieß. Die Kurfürstin Auguste hingegen, die diese beständige Demütigung mit bewundernswerter Haltung ertrug, wurde von den Kasselanern hoch geschätzt und geliebt.

»Wenn sie doch nur in Karlsbad bleiben wollte, die Reichenbach! Wir brauchen sie hier nicht«, warf Charlotte Rosen ein und erntete beifälliges Nicken.

»Wie gut, dass ihr ehrgeiziger Plan nun wohl gescheitert ist«, meinte Therese. »Das wäre eine schöne Geschichte geworden, wenn der Kurfürst sie am Ende gar noch geheiratet hätte.«

Kurfürst Wilhelm der Zweit war mit seiner Geliebten nach Karlsbad gereist, um dort den Fürsten Metternich zu treffen. Ein angemessener Geldbetrag sollte Metternich veranlassen, sich beim Kaiser dafür einzusetzen, die Gräfin Reichenbach in den Fürstenstand zu erheben. Dann hätte der Kurfürst sich von seiner Gemahlin Auguste scheiden lassen und die Geliebte heiraten können. Doch längst hatte sich in Kassel herumgesprochen, dass dieser Plan fehlgeschlagen war: Metternich hatte kein Interesse an dem Handel gezeigt. Dann aber war zum Schrecken aller Kasselaner die Nachricht eingetroffen, der Kurfürst sei ernsthaft erkrankt.

»Der Schlag habe ihn getroffen, hieß es«, lachte Babette. »Er liege auf den Tod darnieder, haben sie erzählt. Aber dann ist schließlich durchgesickert, dass der Schlag, der ihn traf, von einer Weinflasche herrührte, die ihm die wütende Reichenbach übers Haupt gehauen hat. Was sagt man dazu?«

»Eine Schande ist das«, seufzte Therese bekümmert. »Dass unser Kurfürst und Landesherr sich von dieser Person so behandeln lässt.«

»Wohl wahr«, meinte Charlotte Rosen. »All unser Unglück rührt nur von der Reichenbach her. Würde der Kurfürst einträchtig mit seiner Gemahlin Auguste leben, die eine kluge und gütige Frau ist – es würde uns allen besser gehen!«

Tatsächlich war Kurfürst Wilhelm der Zweite seit Monaten nur noch mit den Angelegenheiten seiner Geliebten beschäftigt. Die bedrückende Lage von Handel und Handwerk in Kassel kümmerte ihn ebenso wenig wie die schlimme Teuerung, die vor allem die armen Leute empfindlich traf. Und die inständigen Bitten der Bürgerschaft, endlich eine Versammlung der Landstände einzuberufen und eine Verfassung ausarbeiten zu lassen, wie es bereits in anderen Fürstentümern geschehen war, stieß bei ihm ohnehin auf taube Ohren. Auch die Kurfürstin hatte sich den Bitten der Bürgerschaft angeschlossen – aber gerade dies schien den Kurfürsten ganz besonders zu ärgern.

»So sind die Männer«, resümierte Babette. »Liegen lieber mit einer Schlampe im Bett, als auf eine kluge Frau zu hören.«

»Leise!«, mahnte Charlotte Rosen mit Blick zum Fenster, wo zwei Frauen standen, um sich die ausgestellten Hüte zu betrachten. Die Polizei des Kurfürsten war überall, und eine Beleidigung der Reichenbach konnte bestraft werden.

»Ach was«, sagte Babette abschätzig. »Solange der Scherenschleifer da drüben sein schrilles Lied zum Besten gibt, versteht man auf der Gasse kaum sein eigenes Wort.«

Therese stand auf und legte den fertigen Hut in eine Hutschachtel, damit Charlotte Rosen ihn später vor der Kundin feierlich enthüllen und präsentieren konnte. Dann reckte sie die Glieder und streckte den Rücken, der von der vornübergebeugten Sitzhaltung ständig schmerzte.

»Ob mein Moritz wohl drüben in der Küche bei der Frau Anna sitzt?«, überlegte sie. »Ich will doch einmal nach ihm schauen.«

In der Küche, die hinter dem Atelier lag, regierte Frau Anna, die Mutter von Charlotte Rosen. Sie war schon weit über siebzig, versorgte aber die Frauen immer noch täglich mit einem Mittagessen und bereitete auch die Abendmahlzeit vor. Moritz, Thereses ungeratener Sohn, ging ihr dabei hie und da zur Hand, meist trieb er sich aber in der Stadt herum, um sich vor den Aufträgen und Botendiensten zu drücken, die er für das Atelier auszuführen hatte. Er war im gleichen Alter wie Elise, Charlotte Rosens Tochter, die momentan unterwegs war, um einen Hut zu einer Kundin in der Georgenstraße zu bringen.

»Moritz?«, hörte man die Stimme der alten Frau aus der Küche. »Der ist zum Brink im Renthof, um Wasser zu holen. Eine Ewigkeit warte ich schon auf ihn.«

»Gewiss wird er gleich hier sein«, vermutete Therese, die stets bemüht war, die Untaten ihres Sprösslings zu entschuldigen.

»Unfug wird er treiben«, rief Babette laut zur Küche hinüber. »Wie neulich, als der Schreinergeselle ihn verprügelt hat, weil er seiner Braut schöne Augen gemacht hat …«

Therese tauchte mit vor Empörung roten Wangen aus der Küche auf, konnte jedoch auf Babettes Rede keine passende Antwort geben, weil in diesem Moment die Ladenglocke ging und die Hofrätin von Ochs mit ihrer Bediensteten das Atelier betrat.

Die Dame schnaufte heftig, was einerseits an ihrer Korpulenz lag, aber auch daran, dass sie rascher gegangen war, als ihr zuträglich war.

»Das sind Zeiten! Mon dieu, was für Zeiten!«, stöhnte sie. »Schließe die Ladentür, Greta. Meine liebe Frau Rosen – ich bin komplett echauffiert …«

Charlotte Rosen schob der Kundin eilig einen Stuhl zurecht, damit sie sich niedersetzen konnte. Frau von Ochs trug einen breiten Stoffkragen über dem gelben Kleid; die bauschigen Ärmel, die momentan in Mode waren, machten ihre Erscheinung noch fülliger. Ihre Züge waren feist und momentan vom Schwitzen aufgedunsen.

»Therese! Ein Glas Wasser für die Frau Hofrätin!«, beorderte Charlotte Rosen.

»Ach, wenn Sie wüssten, Frau Rosen …«, begann die Kundin, unterbrach sich aber, um einen Schluck kühles Wasser zu trinken, das rasch herbeigebracht worden war. »Der Pöbel ist unterwegs«, fuhr sie fort und betupfte sich die Stirn mit einem bestickten Taschentüchlein. »Auf dem Königsplatz haben sie sich zusammengerottet. In den Laden des Bäckers Weitzel sind sie hinein. Haben alles zusammengeschlagen und die Brote herausgetragen. Wie die Furien sind die Weiber über das Brot hergefallen, haben die Laibe auseinandergerissen, sich lauthals darum gestritten. War es nicht so, Greta?«

Das Mädchen stand bleich und verschreckt bei der Eingangstür und nickte heftig. »So ist es gegangen, gnädige Frau. Ich glaube, sie haben auch den Bäcker verprügelt …«

»Französische Verhältnisse sind das, Frau Rosen«, stöhnte die Hofrätin. »Nun, da sich herumgesprochen hat, dass man im Juli in Paris wieder eine Revolution gemacht und den König abgesetzt hat, zieht sich der rebellische Geist zu uns herüber. Ach, das alles konnte nur geschehen, weil unser geliebter Kurfürst und Landesvater schon seit Wochen nicht in Kassel weilt!«

Auch Charlotte Rosen war jetzt besorgt, denn sie dachte an ihre Tochter Elise, die in die Oberneustadt unterwegs war und vermutlich über den Königsplatz gehen würde. Wenn sie nur nicht zwischen diese Aufrührer geriet! Das Mädchen war ja so neugierig und musste überall ihre Nase hineinstecken, wo sie nichts zu suchen hatte.

»Beruhigen Sie sich, Madame«, sagte sie in sanftem Ton zu ihrer Kundin. »Die Polizei wird diese Leute schon bald auseinandertreiben.«

»Das wollen wir doch hoffen«, seufzte die Hofrätin und trank einen weiteren Schluck Wasser. »Wir werden auf jeden Fall an der Fulda entlang zurückgehen, damit wir nicht auf diese Proleten treffen, die keinen Respekt mehr vor Leuten von Stand haben. Nun aber will ich den neuen Hut sehen, liebe Frau Rosen. Ich bin ja schon so gespannt …«

Der Hut wurde aus der Schachtel genommen und der Kundin von allen Seiten gezeigt. Charlotte Rosen wies auf das teure Material und die feine Verarbeitung hin, zeigte das Innenfutter und war der Hofrätin behilflich, das gute Stück aufzusetzen. Therese musste den Spiegel halten, damit sich die Kundin bewundern konnte, und Charlotte Rosen nutzte die Gelegenheit, der Hofrätin zwei passende Hutnadeln zu verkaufen.

»Eigentlich ist er ja ein wenig zu jugendlich für mein Alter, nicht wahr, liebe Frau Rosen?«, äußerte die Dame und schob kokett eine Locke zurecht.

»Aber liebe gnädige Frau!«, sagte Charlotte Rosen in eindringlichem Ton. »Der Hut steht Ihnen grandios. Er bringt Ihr volles Haar zur Geltung, und die Farben betonen Ihren zarten Teint. Ihr Gatte, der Herr Hofrat, wird entzückt sein, wenn er Sie damit sieht.«

Die Miene der Kundin entspannte sich zu einem selbstverliebten Lächeln.

»Sie Schmeichlerin«, meinte sie scheinbar abwehrend.

»Ich spreche in vollstem Ernst, Madame!«

Frau von Ochs warf noch einen wohlwollenden Blick in den Spiegel, dann erklärte sie, dass sie sehr zufrieden sei. Charlotte Rosen hatte nichts anderes erwartet, sie zog die Hutnadeln heraus, mit denen der Hut an der Frisur festgesteckt wurde, und half der Kundin, die Kopfbedeckung, mit der sie gekommen war, wieder aufzusetzen.

Frau von Ochs hatte es nun eilig, den Rückweg anzutreten. Sie zog ihren Geldbeutel und zahlte den geforderten Betrag, den Charlotte Rosen ihr quittierte. Dann wurde das neu erworbene Kunstwerk wieder in der Hutschachtel verpackt und Greta übergeben, die außerdem noch drei weitere Pakete zu tragen hatte. Charlotte Rosen hielt der Hofrätin die Ladentür auf.

»Adieu, Frau Rosen … Wünschen Sie mir einen guten Heimweg. Schicken Sie doch in der kommenden Woche Ihre Tochter bei mir vorbei, ich habe da ein Kleid, das ein wenig aufgehübscht werden sollte …«

»Mit dem größten Vergnügen, Frau Hofrätin. Adieu, adieu. Kommen Sie gut nach Hause. Untertänigste Grüße an den Herrn Gemahl …«

Charlotte Rosen blieb einen Moment vor dem Laden stehen, um nach Elise Ausschau zu halten, doch ihre Tochter war nirgendwo zu sehen, und der lästige Scherenschleifer war immer noch an der Arbeit, sodass die Putzmacherin sich wieder in ihr Atelier zurückzog.

»… der Herr Hofrat wird entzückt sein!«, zitierte Babette kichernd. »Als ob sie den Hut seinetwegen hätte machen lassen! Da haben Sie aber dick aufgetragen, Frau Rosen.«

Doch Charlotte Rosen war jetzt nicht zu Scherzen aufgelegt. Nervös lief sie in die Küche, wo Therese die alte Anna Rosen nach ihrem Moritz ausfragte.

»Wann ist er denn fort?«

»Was weiß ich?«, schalt die alte Frau. »Gleich nach dem Mittagessen hab ich ihn losgeschickt. Aber der Bursche macht ja, was er will, und nicht, was er soll.«

»Wenn ihm nur nichts geschehen ist!«, jammerte Therese. »Es soll einen Aufruhr gegeben haben …«

Charlotte Rosen musste umkehren, weil die Ladenklingel neue Kundschaft meldete. Es war jedoch Frau Schreinermeister Krug, die eine Rechnung ihres Ehemannes für zwei neue Regale überreichte. Charlotte Rosen hatte sie herstellen lassen, um dort mit Spitzen verzierte Nachthauben zu präsentieren.

»O weh, o weh, Frau Rosen«, sagte die Schreinerin, während sie das Geld nachzählte. »An der Martinskirche ist Krawall. Keinen Respekt haben sie vor dem heiligen Ort. An der Konditorei Jecklius haben sie alle Fenster zerschlagen, und beim Bäcker Wulf ist Tumult, weil er sich mit zwei Nachbarn den Aufrührern entgegengestellt hat. Wenn der Haufen nur nicht hierher in die Marktgasse zieht …«

»Um Gottes willen«, stöhnte Charlotte Rosen. »Haben Sie vielleicht meine Tochter gesehen? Sie bringt einen Hut in die Oberneustadt.«

Die Schreinerin zog die Stirn in Falten und meinte, das wäre schon möglich. »Bei der Kirche stand eine junge Mamsell, die sah Ihrer Tochter ähnlich. Zwei Kinder waren auch dabei. Aber ich habe sie nur im Vorübereilen gesehen, wollte mich dort auf keinen Fall länger aufhalten.«

Die Schreinerin steckte das Geld in den Beutel, wünschte einen schönen Abend und lief auf die Marktgasse hinaus. Dort hatte der Scherenschleifer inzwischen seinen Karren zusammengepackt und spannte sich davor, um in einer Seitengasse zu verschwinden. Charlotte Rosen trat besorgt vor ihren Laden. Therese war ihr gefolgt, und sogar Babette hatte ihren Arbeitsplatz verlassen, um zu schauen, was sich draußen tat.

»Da!«, rief Therese und streckte den Arm aus. »Da kommen sie! Der Himmel sei uns gnädig. Sie sind schon bei Hartwigs Krämerladen, gleich werden sie hier sein!«

Man sah eine Menge aufgeregter Menschen. Frauen in zerfetzter Kleidung drangen in Geschäfte ein, die Ladenbesitzer versuchten, sie daran zu hindern, das Klirren zerschlagener Fenster war zu hören, heftige Flüche und das Gejammer der Geschädigten. Schreinermeister Krug hatte sich mit einem Knüppel bewaffnet und drosch auf zwei Männer ein, die sich einer Truhe bemächtigt hatten. Dann stieß plötzlich aus der Grabenstraße eine Gruppe kurfürstlicher Soldaten in die Marktgasse vor und warf sich mit blankgezogenen Säbeln auf die aufgewühlten Menschen. Schlachtenlärm erfüllte die sonst so friedliche Altstadt, Wehgeschrei, wütendes Gebrüll, dazwischen die Kommandorufe der Offiziere.

»Was steht ihr Frauen da in der Gasse herum?«, rief ihnen ihr Nachbar, der Goldschmied Weigel, zu. »Hinein ins Haus und die Türen verbarrikadiert.«

Charlotte Rosen war vor Entsetzen wie erstarrt gewesen, doch jetzt beeilte sie sich, den guten Rat zu befolgen. Hastig schlug sie die Läden vor die Schaufenster, dann zerrte sie die verzweifelte Therese, die davonlaufen wollte, um ihren Moritz zu suchen, am Ärmel ins Atelier und verschloss die Tür.

Drinnen war es nun duster, nur durch die vier kleinen Glaseinsätze in der Tür und die Ritzen zwischen den Fensterläden drang noch ein wenig Licht ins Innere des Raumes. Babette zündete eine Öllampe an. Bei dem rauchenden, trüben Schein standen die drei Frauen beklommen beieinander und lauschten nach draußen. Der Lärm schien bisweilen näher zu kommen, dann glaubten sie wieder, das Geschrei entferne sich. Plötzlich war lautes Fußgetrappel zu vernehmen, mehrere Menschen rannten in wilder Flucht am Atelier vorbei in Richtung Marktplatz, wo es zur Fulda hinunterging. Gleich darauf hämmerte jemand gegen die Ladentüre.

»Aufmachen! Im Namen der friedliebenden Bürgerschaft!«

Die Aufforderung wurde durch mehrere Schläge mit einem metallischen Gegenstand – vermutlich der Knauf eines Säbels – bekräftigt. Charlotte Rosen sah sich gezwungen, die Tür aufzuschließen. Zwei Männer in dunkelblauen Uniformjacken und Alltagshosen traten ohne Aufforderung ins Atelier und schauten sich um. Es waren Mitglieder der neu gegründeten »Bürgergarde«, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, keine Rebellion in der Stadt aufkommen zu lassen. Einer der beiden war der Justizassessor Kranz – den anderen kannte Charlotte nicht.

»Ist hier jemand eingedrungen?«, wollte einer der beiden wissen.

»Nicht, dass ich wüsste …«, gab Charlotte Rosen schreckensbleich zur Antwort

»Die Rebellen versuchen, sich in den Häusern zu verstecken. Es ist bei Strafe verboten, ihnen Unterschlupf zu bieten!«

»Das habe ich auch nicht vor, Herr Kranz.«

»Dann verschließen Sie die Tür und verhalten sich ruhig!«

Ein lauter Kommandoruf erklang von draußen, und die beiden Männer stürzten davon. Charlotte Rosen wagte einen kurzen Blick auf die Gasse hinaus und erblickte eine Gruppe kurfürstlicher Soldaten, die zwei Personen abführte. Es waren ältere Männer, die wie Fabrikarbeiter aussahen; einer der beiden hinkte, dem anderen lief Blut aus der Nase. Drüben in der Grabengasse schienen die Soldaten die Häuser zu durchsuchen, man vernahm Gepolter und lautes Schelten. Eilig schloss sie die Tür und drehte den Schlüssel herum.

»Nicht abschließen, Mutter«, rief es hinter ihr. »Moritz ist noch unterwegs.«

»Elise! Um Gottes willen! Wo kommst du so spät nur her?«

Die Tochter war über die Gartenmauer geklettert und zum Kücheneingang ins Haus geschlüpft. Charlotte umarmte ihr Kind mit großer Erleichterung, stellte aber gleich darauf fest, dass Elises Kleid einen langen Riss am Ärmel bekommen hatte.

»Wie siehst du nur aus!«, rief sie erbost. »Das Haar zerzaust, das Kleid zerrissen. Zeig einmal die Schuhe. Ganz nass und schmutzig! Ach, Elise! Wie oft hab ich dir gesagt, dass du dich nirgendwo aufhalten, sondern geradeaus deines Weges gehen sollst …«

Sie drängte das Mädchen aus dem Atelier in die Küche, wo die alte Anna ungerührt von den Ereignissen das Brot für die Abendmahlzeit schnitt. Die beiden Näherinnen folgten ihnen. Mit der Arbeit war es für heute vorbei, zu sehr ängstigte sie das laute Treiben in den Gassen.

Elise setzte den blumenverzierten Strohhut ab und schüttelte die wilden dunklen Locken, besah gleichmütig den gerissenen Ärmel und zog die nassen Schuhe von den Füßen, um sie zum Trocknen neben den Herd zu stellen. Dabei erzählte sie aufgeregt, was sie auf dem Heimweg von ihrer Kundin erlebt hatte.

»Auf dem Königsplatz hat es angefangen. Da standen viele Leute vor dem Laden vom Bäcker Weitzel. Geschimpft haben sie, die Fäuste geschwungen, Frauen und Kinder waren dabei, die haben laut geschrien, dass sie Hunger hätten …«

»Und warum bist du nicht deines Weges gegangen?«, fiel die Mutter ihr streng ins Wort.

Elise war viel zu aufgewühlt, um auf die Frage zu achten. Anders als ihre Mutter hatte sie ein lebhaftes Wesen, schaute um sich und nahm Anteil an allem, was sie sah. War die Mutter aus Klugheit geschickt und glatt im Umgang mit ihren Kundinnen, so hatte Elise die Begabung, alle Menschen durch ihr natürliches, fröhliches Wesen für sich einzunehmen.

»Da waren zwei kleine Mädchen, Mutter«, berichtete sie aufgeregt. »Die waren zwischen die Streitenden geraten, und eins war hingefallen und hatte sich das Knie aufgeschlagen. Da habe ich sie in eine Nische der Kirchenmauer gezogen und das Knie mit meinem Taschentuch verbunden …«

»Doch nicht etwa mit einem der guten Batisttücher, die wir mit deinem Monogramm bestickt haben?«, regte sich Charlotte Rosen auf.

»Und dann habe ich Moritz gesehen«, fuhr Elise unbeirrt fort. »Der steckte mitten zwischen den Aufrührern. Da bin ich zu ihm gelaufen und habe ihn am Arm gepackt, aber er hat sich losgerissen und ist mit den anderen in die Bäckerei hinein …«

»Um Himmels willen!«, ließ sich Therese stöhnend vernehmen. »Und was ist dann passiert? Wohin ist er gelaufen, mein Moritz?«

»Wohin?«, mischte sich Babette ein. »Geradewegs ins Gefängnis wird er gerannt sein. Am Ende war er dabei, wie sie den Bäcker verprügelt haben!«

»Und wenn schon!«, rief Elise leidenschaftlich aus. »Recht hatten die Leute. Die Bäcker haben das Brot so teuer gemacht, dass es sich die Armen nicht mehr leisten können. Hunger haben sie gehabt, deshalb sind sie so wütend geworden. Frauen waren dabei, und kleine Kinder, die hatten Ärmchen so dünn wie Zweiglein …«

»Ist das ein Grund, eine Rebellion zu beginnen?«, regte sich Charlotte auf. »Sind wir denn in Frankreich, wo sie den armen König wegen ein paar Broten geköpft haben? Nein, hier in Kassel unter unserem guten Landesherrn brauchen wir keine Revolutionäre, das ist nur die Gräfin Reichenbach, die ihn von seinen Pflichten abhält …«

Die Tochter schüttelte empört den Kopf. »An allem soll immer nur die Reichenbach schuld sein!«, rief sie aus. »Und der Kurfürst? Wilhelm der Zweite? Ist er unser Landesherr oder der Hahnebampel seiner Geliebten? Wenn auch nur ein kleines Quäntchen Liebe und Fürsorge für seine Untertanen in ihm lebendig wäre, dann hätte er längst etwas gegen die Notlage getan!«

»Recht hat das Mädchen!«, bestätigte Babette. »Du hast eine kluge Tochter, Charlotte Rosen.«

»Haltet ihr beide nur zusammen, damit wir alle miteinander vor den Richter kommen«, stöhnte Charlotte.

Therese war schluchzend zur Hintertür gelaufen, um für ihren Moritz eine Laterne aufzuhängen, denn es war inzwischen dunkel geworden. Nur die alte Anna behielt die Ruhe, was daran lag, dass sie den Ernst der Lage nur unvollständig mitbekommen hatte.

»Wollt ihr hier herumstehen und Maulaffen feilhalten, oder wollen wir zu Abend essen?«, fragte sie ärgerlich.

Man sah ein, dass dies ein guter Vorschlag war, und die Frauen setzten sich miteinander an den Tisch. Doch nur Anna und Babette aßen an diesem Abend mit gutem Appetit Brot und Weißkäse; die anderen brachten kaum einen Bissen herunter und lauschten immer wieder besorgt auf die Rufe und Klänge, die von draußen ins Haus drangen. Das unruhige Treiben in der Stadt dauerte noch bis tief in die Nacht. Erst nachdem der Türmer der Martinskirche zur Mitternacht geblasen hatte und der Nachtwächter wieder seine Runde machte, wagten es die Frauen, zu Bett zu gehen. Nur Therese blieb in der Küche zurück und gab die Hoffnung nicht auf, dass ihr Moritz irgendwann in der Nacht heimkehren würde. Doch er blieb bis zum Morgen verschwunden.

Kapitel 2

Elise war die Erste, die am folgenden Morgen erwachte. Leise, um die neben ihr schlafende Mutter nicht zu wecken, stieg sie aus dem Bett, öffnete das Fenster und schaute in die Gasse hinunter. Dort waren die Spuren der nächtlichen Kämpfe noch deutlich zu sehen. Vor dem Laden des Krämers Weiß lag ein zertrümmerter Handwagen, hinten beim Schneidermeister Holzapfel war ein Fensterladen abgerissen, und gleich nebenan bei der Sonnenapotheke hob sich ein Soldatentschako aus schwarzem Filz vom grauen Pflaster der Gasse ab. Auch waren Glassplitter, Tonscherben und der Inhalt umgestürzter Unratkübel überall verteilt. Georg, der vierzehnjährige Sohn des Goldschmieds Weigel, trat gerade missmutig vor die Haustür, einen Besen in der Hand. Der Vater hatte ihn dazu verdonnert, die Gasse zu fegen.

»Guten Morgen, Mamsell Elise«, rief er zu ihr hinauf. »Schon in aller Frühe munter?«

»Morgen, Schorschi! Ich bin immer munter, das weißt du doch!«, gab sie lachend zurück.

»Dann kannst du mir ja fegen helfen«, meinte er und zwinkerte zu ihr hinauf.

»Muss ich mir noch überlegen …«, lachte sie fröhlich.

Drinnen war jetzt die Mutter erwacht, sie setzte sich im Bett auf und nahm die Nachthaube vom Haar.

»Mit wem schwatzt du da schon wieder?«, schimpfte sie. »Noch dazu im Nachtgewand. Mach das Fenster zu, mir wird kalt.«

»Ja, Mutter …«

Charlotte Rosen stieg aus dem Bett und goss etwas Waschwasser in die Schüssel, um sich Gesicht und Hände zu reinigen und die Zähne zu putzen, bevor sie sich ankleidete. Drüben regte sich auch Großmutter Anna in ihrer Kammer; man hörte, wie sie die knarrende Tür ihres Kleiderschranks öffnete, um ein frisches Hemd herauszunehmen. Zwischen der Kammer der Großmutter und dem Raum, in dem Elise und ihre Mutter schliefen, lag das Wohnzimmer: die gute Stube, auf die Charlotte Rosen sehr stolz war. Eine geblümte Tapete zierte die Wände, darauf hingen verschiedene gerahmte Stahlstiche, in die dunkelblauen Vorhänge an den Fenstern waren goldene Lilien eingewebt. Die Sitzmöbel und das Tischlein mit den gebogenen Beinen waren in Frankreich angefertigt worden, ebenso wie der zierliche Damenschreibtisch, auf dem eine Vase mit künstlichen Blumen stand. Charlotte hatte die Sachen günstig erworben, als die Franzosen vor siebzehn Jahren aus Kassel abzogen und Kurfürst Friedrich Wilhelm, der Vater des jetzigen Regenten, in seine Hauptstadt zurückkehrte. Damals waren die Kasselaner froh, dass das von Kaiser Napoleon geschaffene Königreich Westphalen zu einem Ende gekommen war – niemand wollte mehr das »Franzosenzeug« im Haus haben, und so gab man die Sachen billig her. Jetzt allerdings ärgerte sich mancher darüber und beneidete die kluge Putzmacherin, die auf solch glückliche Weise zu wertvollen Möbeln gekommen war.

Elise war weniger begeistert von dem kostbar möblierten Zimmer, das die Mutter hütete wie ihren Augapfel und das man nur zu den Feiertagen betrat oder wenn ein wichtiger Besuch zu empfangen war. Schon als Kind hatte sie die ständigen Ermahnungen gehasst.

»Stütz dich nicht auf den Tisch auf! Sei vorsichtig mit dem empfindlichen Polster! Lehne dich nicht gegen die Tapete!«

Wozu hatte man eigentlich ein schönes Zimmer, wenn man es kaum benutzte? Geheizt wurde im Winter nur selten, weil der Ofenrauch der Tapete schadete, und da auch im Sommer kaum gelüftet wurde, hing immer ein muffiger Geruch im Raum. Aber die Mutter liebte nun einmal alles Französische, das hing mit Elises Vater zusammen, der am Hof des Königs Jérôme verkehrt hatte. Viel hatte die Mutter nicht über ihn erzählt, nur dass er ein schöner, stattlicher Mann gewesen sei, der sich »Chevalier du Croix Blanc« nannte und die Putzmacherin Charlotte Rosen wohl geheiratet hätte, wenn der Krieg ihn nicht aus Kassel fortgerissen hätte. So war Elise im Jahr 1810 ohne Vater zur Welt gekommen, wobei sie nicht das einzige uneheliche Kind war, das die Franzosenzeit in der Stadt zurückgelassen hatte – es gab deren etliche, denn die Sitten am Hof des Königs Jérôme, des jüngsten Bruders des großen Napoleon, waren recht locker gewesen, und auch seine Soldaten hatten jeden Weiberrock festgehalten, den sie zu fassen bekamen. Wovon auch die arme Therese hätte einiges erzählen können, doch sie war in diesem Punkt ebenso wortkarg wie ihre Brotgeberin Charlotte Rosen.

In der Küche fanden sie Therese neben der gemauerten Feuerstelle am Boden hockend vor, sie schlief tief und fest. Als Anna die Glut mit dem Schürhaken rüttelte, um das Feuer wieder in Gang zu bringen, erwachte sie und blickte erschrocken um sich.

»Ist er gekommen?«, fragte sie heiser.

»Oben in seiner Kammer ist er nicht«, sagte Babette, die soeben in die Küche trat. »Das Bett ist unberührt, und die beiden Wassereimer sind – soweit ich sehen kann – auch nicht in die Küche zurückgekehrt.«

»O mein Gott!«, jammerte Therese. »Es muss ihm etwas geschehen sein. Ich spüre es. Mein Moritz war noch nie über Nacht fort.«

»Er wird irgendwo bei Freunden untergeschlupft sein«, beruhigte sie Charlotte. »Steh jetzt auf und mach dich zurecht – wir wollen frühstücken.«

Elise tat die schluchzende Therese leid. Auch sie sorgte sich um Moritz, den sie trotz seiner Dummheiten gernhatte. Wie konnte die Mutter nur so ruhig bleiben? Sie wusste doch ganz genau, dass Moritz einer war, der sich immer wieder einmal in die Nesseln setzte.

»Es ist kaum noch Wasser im Haus«, meinte sie mit Blick auf den kleinen Rest im Wasserfass. »Ich laufe rasch zum Brink und hole einen Eimer voll, damit die Großmutter uns Kaffee kochen kann.«

Der Brink war ein Brunnen im Graben, dort würde sie beim Wasserholen Frauen und Lehrjungen treffen, die sie nach Moritz ausfragen konnte. Aber die Mutter hatte ihre Absicht durchschaut und schüttelte den Kopf.

»Damit du stundenlang am Brunnen bleibst, um zu schwatzen – nein. Der Rest wird für den Morgenkaffee schon reichen, und nachher kann Therese meinetwegen Wasser holen gehen und die Leute nach Moritz ausfragen.«

Eine Wasserleitung hatten in Kassel nur die Leute im Schloss und wenige Auserwählte, alle anderen mussten das Wasser mit Eimern und Krügen von den öffentlichen Brunnen holen. Das Frühstück wurde hastig eingenommen, die Frauen wussten nicht, was der Tag bringen würde. Was würde wohl der Kurfürst zu dem gestrigen Aufruhr sagen, wenn er zurückkam? Ganz sicher würde es Strafaktionen geben – die Kasseler Polizei war dafür bekannt, in solchen und ähnlichen Fällen hart durchzugreifen.

Nach dem Frühstück, das aus Kaffee, Butterbrot und ein wenig Marmelade bestand, schickte Charlotte Babette nach draußen, um die Gasse zu kehren, während Therese mit dem letzten verbliebenen Eimer zum Brunnen eilte. Da Elise nun allein zurückgeblieben war, nahm die Mutter die Gelegenheit wahr, ihrer Tochter die längst fällige Strafpredigt zu halten.

»So geht es nicht weiter mit dir, Elise«, holte sie aus, während sie die Liste mit den Aufträgen aus der Schublade des Ladentischs nahm. »Bei jedem Botengang trödelst du herum, schwatzt mit diesem und jenem und kommst zu spät zurück. Noch schlimmer ist es, wenn du eine Kundin besuchst, um sie zu beraten. Dann warte ich oft den ganzen Tag, bis du wieder im Atelier erscheinst. Was dir fehlt, ist der Ernst und feste Wille, es in unserem Beruf zu etwas zu bringen …«

Elise kannte diese Predigt auswendig, denn sie hatte sie schon oft zu hören bekommen. Es sei schade um ihr großes Talent, ihre Einfälle würden überall gelobt. Mehrere Kundinnen – vor allem die jüngeren – wollten ausschließlich von der Mamsell Rosen bedient werden. Was die Mutter zwar ein wenig kränkte, aber auf der anderen Seite auch wieder freute. Aber das Unglück war, dass Elise ihr großes Talent ganz unsinnig verschwendete.

»Da sitzt du stundenlang, um der Bäckermeisterin einen Hut zu dekorieren, der einer Adeligen würdig wäre. Das zahlt sich nicht aus, Elise. Unsere Kundschaft sind die adeligen Familien in Kassel, nur die können gute Preise zahlen. Und für gutes Geld sollen sie auch hervorragende Hüte und Hauben erhalten. Solche, die sich von denen einer Bäckersfrau deutlich unterscheiden. Hast du das verstanden, Elise?«

»Aber die Frau Bäckermeister Wirt ist jung und sehr hübsch, und freundlich ist sie auch. Soll ich ihr einen hässlichen Hut machen, nur weil sie eine Bäckersfrau ist?«

»Wir machen niemals hässliche Hüte!«, regte sich die Mutter auf. »Wir stellen grandiose, hübsche und nette Hüte her. Je nach Geldbeutel und Stand. Das musst du endlich einmal lernen, Mädchen!«

Zum Abschluss bekam Elise noch zu hören, dass sie nicht ständig zur Leihbibliothek laufen solle, weil das Lesen bei Nacht die Augen verderbe. Stattdessen solle sie sich lieber ein paar hübsche Sätze für ein Werbeblatt ausdenken, das man der Kundschaft mitgeben konnte, sie habe doch Talent für schöne Sätze und ansprechende Formulierungen. Auf diese Weise könne sie zum Gedeihen des Ateliers beitragen, anstatt nächtelang Romane zu lesen, die ihr junges Gemüt nur verderben könnten. Elise nickte ergeben zu all diesen Ermahnungen und wartete darauf, dass die Mutter ihr wie üblich zum Schluss raten würde, sich von Moritz fernzuhalten, da er nur lauter Flausen im Kopf habe und kein Umgang für sie sei. Gerade machte die Mutter den Mund auf, um ihre Predigt mit diesen Worten abzuschließen – da ging zum Glück die Ladenglocke, und sie musste schweigen.

Ein Mädchen trat ein, dem man ansah, dass sie eine Bedienstete war, allerdings schien sie, der Kleidung nach, aus einem wohlhabenden Haus zu kommen. Sie knickste höflich vor Elises Mutter, wünschte einen guten Morgen und richtete die ihr aufgetragene Botschaft aus.

»Meine Herrin, Frau von Schönhoff, benötigt eine Putzmacherin. Sie bittet Frau Rosen, die ihr von Bekannten wärmstens empfohlen wurde, sich heute Vormittag gegen zehn Uhr in der Carlstraße Nummer dreiundzwanzig einzufinden.«

Die adelige Familie derer von Schönhoff zählte bisher nicht zur Kundschaft des Ateliers, deshalb war Charlotte Rosen ganz besonders erfreut über diesen Auftrag.

»Sag deiner Herrin, dass meine Tochter Elise, die das Handwerk besser als jede andere in der Stadt versteht, gegen zehn Uhr bei ihr vorsprechen wird.«

Während die Mutter sprach, hatte das Mädchen die Auslagen im Atelier mit begehrlichen Blicken besehen, jetzt knickste sie wieder, bedankte sich und versprach, die Botschaft zu überbringen. Charlotte Rosen machte sich sofort daran, ihre Tochter auf diese wichtige Kundin vorzubereiten. Das hellblaue Kleid solle sie anziehen, dazu das Samthütchen mit den Blumen aufsetzen, einen Spitzenkragen umlegen und das weiße gestickte Dreieckstuch um die Schultern legen. Die Löckchen an den Seiten hübsch kräuseln – zum Glück hatte sie Naturlocken, die sie mit etwas Geschick in gefällige Kringel legen konnte. Wohlgefällig betrachtete Charlotte Rosen ihre Tochter und ermahnte sie – schon wegen der gestrigen schlimmen Ereignisse – geradeaus ihres Weges zu gehen und nicht etwa unterwegs bei der Leihbücherei vorbeizuschauen oder mit Freundinnen zu schwatzen.

Außerdem fühlte sie sich bemüßigt, ihr Wissen über die Familie von Schönhoff an Elise weiterzugeben. »Herr von Schönhoff war früher Oberst bei den kurfürstlichen Husaren, aber weil er es mehr mit der Kurfürstin Auguste als mit der Gräfin Reichenbach hielt, ist er beim Kurfürsten in Ungnade gefallen und hat vor einigen Jahren seinen Abschied genommen. Seitdem leben die von Schönhoffs sehr zurückgezogen. Sie haben ihren einzigen Sohn, Ernst Philipp von Schönhoff, an Napoleon verloren; er ist mit den kurhessischen Soldaten nach Russland gezogen und nicht zurückgekehrt. Eine Tochter ist ihnen geblieben, glaube ich. Sie muss noch unverheiratet sein.«

Elise hörte nur mit halbem Ohr zu. Zum einen waren ihr die Verhältnisse derer von Schönhoff bekannt, und zum anderen hatte sie Therese draußen auf der Gasse entdeckt, die mit Babette zusammenstand und schon wieder in Tränen aufgelöst war.

»Vielen Dank, Mutter«, sagte sie und ergriff die runde Schachtel, in der verschiedene Spitzenkragen, Borten, Handschuhe, Döschen und bestickte Beutel waren, die man der Kundschaft vorlegen konnte.

»Ich bin rechtzeitig zurück.«

Draußen auf der Gasse waren die Nachbarn damit beschäftigt, die Überreste der gestrigen Unruhen zu beseitigen. Überall wurde gekehrt, wurden Scherben eingesammelt, man stand beieinander und redete aufgeregt über den »Bäckerabend«, wie der Aufruhr inzwischen genannt wurde.

»Hab ich’s nicht gesagt?«, äußerte Babette mitleidslos, als Elise neugierig zu ihr und Therese trat. »Ins Gefängnis haben sie ihn gesperrt, den Moritz. Der Schuster Blitz aus der Wildermannsgasse hat es gesehen. Das wird ihm eine Lehre sein, dem Herumtreiber. Nun hör schon auf zu heulen, Therese! Trag lieber den Wassereimer in die Küche …«

Elise hatte etwas Ähnliches schon befürchtet. Ach, der arme Moritz! Sie umarmte die weinende Therese und flüsterte ihr zu: »Sei ruhig, Therese. Er hat ganz sicher nichts Schlimmes getan, sie werden ihn wieder freilassen. Vielleicht schon heute.«

»Glaubst du wirklich, Elise?«, seufzte Therese, schon halb getröstet.

»Ich bin ganz sicher!«

Damit ging sie davon, denn am Schaufenster war das Gesicht der Mutter aufgetaucht, die mit strengem Blick auf die schwatzenden Frauen schaute. Sie lief durch die Grabengasse zum Schloss hinunter, wo heute ungewöhnlich viele Soldaten patrouillierten, obgleich der Kurfürst immer noch nicht zurückgekehrt war. Im Steinweg und auf dem eindrucksvoll großen, rechteckigen Friedrichsplatz waren viele Leute zu sehen, die in Grüppchen beieinanderstanden und sich die Köpfe heißredeten. Auch einige Männer der Bürgergarde waren darunter. Sie versuchten, die zornigen Menschen zu beschwichtigen, was ihnen jedoch nur teilweise gelang.

»Aufhängen, alle miteinander«, brüllte ein wohlbeleibter Mensch, in dem Elise erst auf den zweiten Blick den Bäckermeister Weitzel erkannte, denn er hatte eine Schramme quer über das Gesicht abbekommen. »In Reih und Glied aufstellen und exekutieren. Zack, zack!«

Elise wurde angst und bange bei diesem Geschrei. Sie würden den armen Moritz doch nicht etwa exekutieren? Er war ein Tunichtgut – aber doch kein Verbrecher! Und überhaupt war der dicke Bäcker selber schuld – er hätte ja das Brot nicht so teuer machen müssen, der raffgierige Kerl. Ihr fiel ein, dass sie Therese erzählt hatte, ihr Moritz käme vielleicht schon heute wieder frei. Wenn es nun aber ganz anders kam? Du liebe Güte – was konnte sie nur tun, um den beiden zu helfen?

Sie blieb stehen und schaute nachdenklich über den belebten Platz, den die Vormittagssonne an diesem Morgen mit gleißendem Licht übergoss. Ihr Blick glitt über die Reihe der stattlichen kurfürstlichen Bauten, die Kassels Bedeutung als Residenzstadt herausstellten: das weiße und rote Palais und das Museum Fridericianum. Oben auf der Königstraße befand sich das Opernhaus, in dem der Kapellmeister Louis Spohr wirkte, und gleich daneben – die Kommandantur!

Von der Martinskirche waren zehn Schläge zu vernehmen. Elise holte tief Luft, weil ihr die Entscheidung nicht leichtfiel. Doch zu der Adresse in der Carlstraße waren es nur noch wenige Schritte, es würde sicher keine Katastrophe geben, wenn sie ein paar Minuten zu spät kam. Entschlossen ging sie durch die Menschenansammlung auf dem Platz auf das graue Gebäude der Kommandantur zu. Vielleicht war es ja möglich, etwas über die armen Kerle zu erfahren, die man gestern in Arrest genommen hatte? Möglicherweise konnte sie sogar für Moritz ein gutes Wort einlegen? Sie würde es einfach einmal versuchen, das war sie Therese schuldig.

Vor der Kommandantur standen mehrere Soldaten auf Wachposten, die machten derart abweisende Gesichter, dass ihr der Mut wieder sank. Unschlüssig blieb sie stehen, überlegte sich, was sie vorbringen wollte, dann ging sie forsch auf einen der Wachposten zu und redete ihn an: »Verzeihung, Herr Soldat. Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«

Der Angesprochene war mittleren Alters, hatte ein rundes, rötliches Gesicht und eine Narbe an der linken Wange. Auf ihr freundliches Lächeln hin verschwand der strenge Ausdruck in seinen Zügen, er schmunzelte und meinte, einer so hübschen jungen Mamsell würde er gern Antwort geben, was auch immer sie fragen wolle.

Es klang anzüglich in Elises Ohren, auch hatte der Blick, mit dem er sie jetzt wohlwollend musterte, etwas Aufdringliches. Elise wusste mit ihren zwanzig Jahren recht gut, dass man sich vor gewissen Männern – gleich ob Soldat, Bürgersmann oder Adeliger – in Acht nehmen musste. Der Beruf der Putzmacherin brachte solche Erfahrungen mit sich.

»Es geht um einen jungen Mann, der gestern bei dem Krawall vermutlich arretiert worden ist …«, begann sie vorsichtig.

»Deinen Liebsten etwa?«, fiel er ein. »Da solltest du dir keine Hoffnungen machen, meine Schöne. Die werden allesamt aufgehängt.«

Sein belustigtes Grinsen bewies ihr, dass dies ein böser Scherz war, dennoch war ihr der Schrecken in alle Glieder gefahren.

»Sind denn viele Leute eingesperrt worden?«, erkundigte sie sich.

Er schien sich über ihre Fragen köstlich zu amüsieren. Zwei andere Soldaten, die in der Nähe standen, schauten belustigt zu ihnen hinüber.

»Wie viele Liebste hast du denn, kleine Mamsell?«

»Gar keinen«, gab sie abweisend zurück. »Der, den ich suche, ist ein Jugendfreund, mit dem ich aufgewachsen bin. Aber wie ich sehe, wissen Sie nicht viel über die Arretierten, Herr Soldat, und können mir keine Auskunft geben.«

»Halt, halt!«, rief der Soldat lachend. »Nicht gleich davonlaufen, Mamsell. Wenn du dich erkenntlich zeigen magst, dann könnte ich dir schon Auskunft geben.«

Das hatte sie nun davon!

»Ich danke!«, gab sie ärgerlich zurück und wandte sich zum Davongehen. Hinter ihr erscholl lautes Gelächter – so waren sie, die kurfürstlichen Soldaten. Ungehobeltes Volk ohne Manieren und dreist hinter jedem Weiberrock her.

Sie war schon einige Schritte entfernt, da vernahm sie eine helle, energische Männerstimme. »Was gibt’s zu lachen, Soldat?«

Neugierig drehte sie sich um. Zwei junge Offiziere waren aus dem Eingang der Kommandantur herausgetreten, ein blonder und ein dunkelhaariger, beide gehörten dem Garde du Corps an, das preußisch blaue Jacken und weiße Hosen trug. An den Epauletten konnte man den Offiziersrang erkennen; da sie noch sehr jung waren, konnten sie höchstens Leutnant sein.

Gesprochen hatte der blonde Offizier, und der Soldat, der gerade eben noch hämisch hinter Elise hergelacht hatte, stand jetzt in strammer Haltung und mit versteinerter Miene vor den beiden Offizieren.

»Zu Befehl, Herr Leutnant. Eine junge Mamsell fragte nach den arretierten Aufrührern«, meldete er in militärisch steifem Tonfall.

»Was haben Sie geantwortet, Soldat?«, forschte der Offizier.

»Zu Befehl, Herr Leutnant. Wahrheitsgemäß, dass ich darüber nichts weiß und keine Auskunft erteilen kann.«

Der andere Offizier hatte sich um den Soldaten nicht gekümmert, stattdessen war sein Blick suchend umhergeirrt und hatte Elise erfasst. Irritiert blieb sie stehen. Leuchtende Augen von einem unfassbar tiefen Blau ruhten mit freundlicher Neugier auf ihr. Er lächelte, als sie den Blick erwiderte, und da sie keine Anstalten machte, davonzugehen, trat er kurz entschlossen auf sie zu.

»Ich fürchte, ich muss mich für das ungehobelte Verhalten dieses Mannes bei Ihnen entschuldigen, Mamsell«, sagte er in liebeswürdigem Ton, der wenig zu einem Kürassier zu passen schien.

Sie musste sich zusammennehmen; es war etwas an diesem Mann, das sie durcheinanderbrachte. War es die Art, wie er vor ihr stand und eine leichte Verneigung vollführte, wie er sie bewundernd und zugleich respektvoll betrachtete? Ja gewiss – es war seine ritterliche Haltung einer einfachen Putzmacherin gegenüber, die sie so verwirrte.

»Es war meine Schuld, Herr Offizier«, gab sie höflich zurück. » Ich hätte nicht fragen sollen. Es ist auch sonst nicht meine Art, einen Soldaten einfach anzureden, aber ich bin in großer Sorge um einen guten Freund, da habe ich alle Vorsicht außer Acht gelassen …«

Er sah für einen Moment hinüber zum Eingang der Kommandantur, wo sein Kamerad immer noch mit dem Soldaten beschäftigt war, dann wandte er sich ihr wieder zu.

»Wenn ich recht verstand«, sagte er, »dann wollten Sie sich nach dem Schicksal eines guten Freundes erkundigen. Ich will nichts versprechen, was nicht in meiner Macht steht, aber vielleicht könnte ich Ihnen doch behilflich sein. Sagen Sie mir den Namen Ihres Bekannten, dann werde ich versuchen, etwas über sein Schicksal herauszufinden.«

Sie war ein Glückskind! Gerade eben hatte sie schon geglaubt, dass alles umsonst gewesen sei, und nun hatte der Zufall sie doch noch ans Ziel geführt!

»Das wäre zu gütig, Herr Leutnant … Sie sind doch Leutnant? … Ach, wenn Sie das für mich tun könnten – ich wäre Ihnen bis in alle Ewigkeit dankbar. Moritz Liebermann ist sein Name. Wir sind miteinander aufgewachsen, wissen Sie … Deshalb ist er mir so lieb wie ein Bruder. Ja, er hat manchmal dumme Flausen im Kopf, aber in seinem Herzen ist er gut und mitfühlend. Vor allem seine Mutter, die Therese, die macht sich ganz schreckliche Sorgen um ihren Jungen …«

Lächelnd hörte er ihrem Redeschwall zu und wandte dabei keinen Blick von ihr. »Und wie ist er in den Aufruhr geraten?«, wollte er wissen.

Das konnte Elise im Grunde auch nicht genau sagen, aber sie war nicht auf den Mund gefallen. »Wie das so geht, Herr Leutnant. Man läuft über den Platz und sieht, dass sich vor einem Laden ein Haufen Leute versammelt hat, da wird man neugierig und will wissen, was geschehen ist. Und schon steckt man mittendrin und kommt nicht mehr ungeschoren davon.«

In sein Lächeln mischte sich heiterer Unglaube – so ganz schien ihn ihre Erklärung nicht zu überzeugen, aber er schwieg dazu. Stattdessen sagte er etwas anderes, das sie aufs Neue aus der Fassung brachte.

»Verzeihen Sie – ich habe mich nicht vorgestellt. Johann Georg von Haynau – Kürassier im Garde du Corps des Kurfürsten.«

Er nahm nun sogar den Tschako ab und hielt ihn vor der Brust, während er eine angedeutete Verneigung vollführte. Gerade so, als würde er sich einer adeligen Dame vorstellen.

»Elise Rosen«, gab sie artig zur Antwort. »Meine Mutter führt ein Putzmacher-Atelier in der Marktgasse.«

War er nun enttäuscht, weil er sie für eine höhergestellte Person gehalten hatte? Falls es so war, zeigte er es mit keiner Miene.

»Es ist mir sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mamsell Rosen«, meinte er. »Von dem Atelier Ihrer Frau Mutter habe ich gehört – es genießt einen sehr guten Ruf in Kassel. Dann kann ich annehmen, dass auch Sie diesen Beruf ausüben?«

»Das tue ich allerdings. Ich habe es von klein auf gelernt, und wenn es nach meiner Mutter geht, dann werde ich ihre Arbeit eines Tages fortführen.«

»Und wenn es nicht nach Ihrer Frau Mutter, sondern nach Ihnen geht, Mamsell Rosen?«, fragte er lächelnd.

»Nach mir?«

Er freute sich über die Verwirrung, die er bei ihr angerichtet hatte, und beeilte sich, seine Frage zu erläutern.

»Ich könnte mir denken, dass eine so hübsche, junge Mamsell auch daran denkt, sich eines Tages zu verheiraten. Ist es nicht so?«

Er spielte natürlich darauf an, dass den Beruf der Putzmacherin meist unverheiratete Frauen ausübten. Das war deshalb so, weil eine verheiratete Frau selbstständig kein Geschäft führen durfte.

»Darüber habe ich mir noch nicht den Kopf zerbrochen, Herr Leutnant!«, gab sie kokett zurück. »Aber wenn mir der Richtige einmal über den Weg laufen sollte, werde ich wohl darüber nachdenken!«

Sie hatten beide Freude an diesem heiteren Geplänkel, und es wäre wohl noch eine Weile so fortgegangen, wenn jetzt nicht der blonde Kamerad des Johann von Haynau zu ihnen gestoßen wäre.

»Was für eine angeregte Unterhaltung!«, meinte er. »Aber nehmen Sie sich in Acht, junge Mamsell. Mein Kamerad ist im gesamten Corps als Schwerenöter und Herzensbrecher bekannt.«

»Daran habe ich keinen Zweifel«, gab Elise heiter zurück, während Johann von Haynau seinem Kameraden einen zornigen Blick zuwarf.

»Glauben Sie ihm kein Wort«, rief er erbost und gab seinem Kameraden einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Mein guter Freund von Amstetten macht sich über mich lustig.«

Elise hörte, wie die Kirchenuhr die halbe Stunde schlug, und ihr fiel ein, dass sie noch einen wichtigen Auftrag auszuführen hatte.

»Meine Herren Offiziere«, sagte sie mit einem neckischen Knicks. »Leider muss ich nun weiterziehen, ich danke für das Wohlwollen, das Sie mir entgegenbrachten, und für das schöne Gespräch. Einen angenehmen Tag wünsche ich den Herren …«

»Leben Sie wohl, Mamsell Rosen«, sagte Johann von Haynau, und sie las in seinem Gesicht das ehrliche Bedauern darüber, dass er nicht länger mit ihr plaudern konnte. »Ich werde Ihr Anliegen nicht vergessen, mein Wort darauf!«

»Ich danke Ihnen von Herzen«, gab sie in ernstem Ton zurück.

Dann wandte sie sich hastig um und eilte über den Platz zur Einbiegung der Carlstraße, wo Frau von Schönhoff sie seit einer halben Stunde erwartete.

Ein Schwerenöter ist er, dachte sie unterwegs. Ganz sicher hat sein Freund die Wahrheit gesagt. Aber er ist nicht wie die anderen, er ist höflich und respektvoll, er kann einer Frau den Hof machen und sie bezaubern. Und dennoch will er am Ende nichts als ein kleines Abenteuer. Du bist keine adelige Dame, Elise. Du bist eine Putzmacherin. Und gerade deshalb solltest du ihn dir aus dem Kopf schlagen!

Das Haus Nummer dreiundzwanzig war ein stattliches weißes Gebäude inmitten einer Reihe mehrstöckiger Häuser, die allesamt adeligen Herrschaften gehörten. Ein Vorbau aus rotem Stein wurde von vier Säulen getragen – der Türklopfer war ein Messingring, den ein blank geputzter Löwenkopf zierte.

Auf Elises Klopfen öffnete ein weißhaariger Diener in dunkler Livree. Er ging ein wenig gebeugt, was wohl an seinem fortgeschrittenen Alter lag, und betrachtete sie abweisend, als sei sie eine lästige Bettlerin.

»Sind Sie die Putzmacherin?«, fragte er herablassend.

»Ganz richtig. Ich komme vom Atelier Rosen. Frau von Schönhoff hat mich hierherbestellt.«

»Um zehn«, sagte er und zog eine Taschenuhr hervor, um sie mit strengem Blick zu konsultieren. »Jetzt ist es kurz vor elf Uhr. Zudem ist Frau von Schönhoff heute nicht wohl. Kommen Sie ein anderes Mal, Mamsell.«

Damit schlug er ihr die Tür vor der Nase zu.

Kapitel 3

Nicht wohl?«, fragte die Mutter ungläubig, als Elise gegen Mittag in das Atelier zurückkehrte. »Wie ist das möglich? Sie hat doch gestern noch ihr Mädchen zu uns geschickt und eine Putzmacherin bestellt!«

Elise zuckte die Schultern – sie wusste es auch nicht. Dass sie beinahe eine ganze Stunde zu spät an Ort und Stelle gewesen war, hatte sie unerwähnt gelassen. Warum sollte sie die Mutter unnötig aufregen?

»Vielleicht hat sie Kopfschmerzen? Oder ihr ist das Frühstück nicht bekommen?«

Charlotte Rosen schüttelte den Kopf über die Unzuverlässigkeit der adeligen Damen, dann meinte sie: »Du wirst gleich morgen noch einmal dort vorsprechen, Elise. Solch eine gute Kundin dürfen wir uns auf keinen Fall entgehen lassen.«

Nach dem Mittagessen bestückte die Mutter den Pappkarton mit einer Kollektion »Seidenlocken«, die sie einer betagten Kundin zu der angefertigten Haube verkaufen wollte. Es waren falsche Locken aus gefärbter Seide, die mit einem Band am Kopf befestigt wurden und vorn aus der Haube hervorsahen. Sie pfuschte damit zwar dem Frisör ins Handwerk, der sich schon mehrfach beschwert hatte, der Verkauf der Seidenlocken sei nur seiner Zunft erlaubt, aber Charlotte Rosen kümmerte sich nicht darum. Da es den Putzmacherinnen aufgrund ihres weiblichen Geschlechts nicht gestattet war, eine Zunft zu bilden, waren sie auch keinen strengen Zunftregeln unterworfen und konnten sich nach den Wünschen ihrer Kundschaft richten.

Bevor Charlotte Rosen das Atelier verließ, gab sie ihren Frauen wie immer genaue Arbeitsanweisungen.

»Babette, du nähst den Hut für Frau Gerichtsdirektor von Hof; Therese, der Geldbeutel für das Fräulein von Eschen muss morgen fertig sein. Elise, du wirst die Kiepe für Frau von Meisenburg zuschneiden. Du weißt ja – sie mag es üppig, spare also nicht mit Stoff und Spitzen und lass dir ein paar nette Details einfallen …«

Als sie fort war, wurde es still im Atelier. Die alte Anna war aus der Küche gekommen, um im Lehnstuhl in der Ecke ein Schläfchen zu halten, Babette stichelte verbissen vor sich hin, um die Reiherfedern an dem harten Filz zu befestigen, Therese saß kummervoll auf ihrem Platz und fädelte winzige Perlchen auf – Moritz war immer noch nicht zurückgekommen. Auch Elise, die sonst für fröhliche Stimmung bei der Arbeit sorgte, war heute schweigsam und hing ihren Gedanken nach. Johann Georg von Haynau. Ein Offizier und adeliger Herr. Ein Schwerenöter. Ach, sie wollte ihn sich doch aus dem Sinn schlagen. Aber während sie den Stoff ausbreitete und Maß nahm, sah sie immer wieder diese tiefblauen Augen vor sich. Er trug einen kleinen Schnurrbart, wie alle Soldaten und Offiziere. Es stand ihm gut, ließ ihn trotz seiner Jugend so männlich erscheinen … Was hatte er zu ihr gesagt? »Eine so junge und hübsche Mamsell denkt gewiss daran, sich einmal zu verheiraten …« Wie kam er nur darauf? Warum fragte er sie solche Sachen? Ach, er hatte sie nur in Verlegenheit bringen wollen, das taten die adeligen Herren gern. Und doch … »Ich werde Ihr Anliegen nicht vergessen.« Das hatte so trostreich geklungen. So zuverlässig. Ob er tatsächlich etwas für den armen Moritz ausrichten konnte? Wahrscheinlich nicht. Aber der gute Wille zählte. Was für ein liebenswerter Mensch er doch war. Und gewiss auch ein mutiger Reiteroffizier. Ob sie ihn irgendwann einmal zu Pferde sehen würde? Ach, das wäre …

»O weh!«, sagte Babette in ihre Träumerei hinein. »Es fängt an zu regnen – da wird die Frau Charlotte sich unterstellen müssen.«

Tatsächlich – jetzt bemerkte Elise auch, dass das Licht trüber geworden war. Therese, die bei Dämmerlicht die Farben der kleinen Perlen nicht mehr gut unterscheiden konnte, war mit einem tiefen Seufzer aufgestanden, um die Öllampe anzuzünden. Elise hatte ihr nichts von dem Versprechen des Leutnants von Haynau erzählt – einmal, weil sie keine falschen Hoffnungen wecken wollte. Aber vor allem, weil damit der Mutter zu Ohren gekommen wäre, dass sie sich unterwegs aufgehalten hatte, um mit einem Soldaten und einem Offizier zu reden.

*

Die Mutter kehrte nass und in schlechter Stimmung von ihrer Kundin zurück. Sie hatte keine einzige Seidenlocke verkauft, dafür aber eine alte Haube zum »Aufhübschen« mitgebracht. Immerhin gab es Neuigkeiten, die in Kassel überall die Runde machten:

»Die Bürgergarde wird in den höchsten Tönen gelobt, weil sie dazu beigetragen hat, die Unruhegeister in Schach zu halten. Man stelle sich so etwas vor! Kasseler Bürger müssen in Waffen und Uniform antreten, um in der Stadt für Ruhe und Ordnung zu sorgen. So weit sind wir also schon gekommen. Die Polizei und die kurfürstlichen Soldaten reichen nicht mehr aus – wir Bürger müssen uns selbst beschützen.«

Außerdem machte das Gerücht die Runde, der Kurfürst sei auf dem Weg zurück nach Kassel und werde in wenigen Tagen hier eintreffen.

»Das wäre auch die allerhöchste Zeit«, meinte Therese, die sich Hoffnung machte, der gute Kurfürst würde die armen Kerle, die in Arrest genommen worden waren, wieder auf freien Fuß setzen.

Babette war weniger optimistisch, sie bemerkte nur: »Wenn er die Reichenbach mitbringt, kann die Bürgergarde gleich wieder antreten. Weil es dann nämlich Krawall geben wird. Ich kenne etliche, die fest entschlossen sind, dieses Weib in Kassel nicht mehr zu dulden.«

»Aufstände. Krawall. Revolten!«, schimpfte Charlotte Rosen aufgebracht. »Was sind das für Zeiten! Früher wurden Feste bei Hof gefeiert, im Winter folgte ein Maskenball dem nächsten. Bürgerinnen und Adelige haben bei uns Kostüme und Masken bestellt …«

»Und ein gewisser Chevalier du Croix Blanc schlich als Tempelritter verkleidet durch die Marktgasse«, versetzte Babette in trockenem Ton.

Charlotte Rosen starrte sie zornig an, dann ging sie schweigend hinüber in die Küche und schürte das Herdfeuer, um einen Kaffee zu kochen.

»Der Chevalier war mein Vater, nicht wahr?«, fragte Elise leise.

»Wenn deine Mutter das gesagt hat, wird’s wohl so sein«, gab Babette mürrisch zurück und rückte die Lampe näher, um die letzten Stiche an dem Hut zu setzen.

So war es immer. Wenn die Sprache auf ihren Vater kam, zog sich die Mutter zurück und schwieg sich aus; auch die Großmutter und die beiden Näherinnen gaben sich wortkarg. Es half nichts, neugierige Fragen zu stellen, denn dann wurde die Mutter zornig. Elise hatte oft darüber nachgedacht, ob ihr Vater vielleicht sogar ein Adeliger gewesen sein könnte. »Chevalier du Croix Blanc« – das bedeutete: der »Ritter vom weißen Kreuz«. Ein Ritter also? Ach nein, sicher nicht. Es war die Zeit der Maskenbälle gewesen, als die Mutter ihn traf, er hatte das Kostüm eines Tempelherrn gewählt und sich einen Phantasienamen gegeben.

*

Am Abend war Moritz immer noch nicht zurückgekommen. Die Frauen vom Atelier Rosen saßen in der Küche beim warmen Feuer beieinander, während draußen der Regen auf die Stadt herniederprasselte und sich durch die Dachrinnen in die Regenfässer ergoss. Es war gut, wenn die Regenfässer sich füllten, weil man dann genügend Brauchwasser hatte und nur das Trinkwasser vom Brunnen herbeitragen musste. Charlotte hatte beschlossen, dem bedrückenden Warten auf Moritz’ Heimkehr mit einer Flasche Wein zu begegnen, die man in fünf Gläser einteilte, dazu hatte Anna kleine Apfelküchlein gebacken. Um die Stimmung noch ein wenig mehr anzuheben, wurde das »Gänsespiel« aus dem Küchenschrank genommen und die Figuren und Würfel ausgeteilt. Jetzt saßen sie alle mit heißen Wangen über dem Spielbrett und versuchten, ihre hölzerne Gans so unbeschadet und schnell wie möglich in den Gänsegarten zu bringen. Unterwegs konnten dem armen Gänschen jedoch allerlei gefährliche Abenteuer widerfahren.

»Die Brücke!«, jubelte Elise. »Ich darf auf die Zwölf vorrücken!«

Charlotte landete im Brunnen, wo sie warten musste, bis eine andere Spielerin sie erlöste. Babette war fast am Ziel, da geriet sie auf das Feld »Herberge« und schimpfte, weil sie nun eine Runde aussetzen musste, was der alten Anna, die heute gute Zahlen würfelte, die Möglichkeit gab, an ihr vorbeizuziehen.

»Das Labyrinth«, lachte Charlotte. »Du musst auf die Dreißig zurück!«

»Gefängnis!«, stöhnte Therese. »Dreimal aussetzen. Jetzt ist es vorbei mit meinem Gänserich!«

In diesem Moment klopfte es kräftig an der Hintertür, die zum Garten führte, und die Frauen fuhren erschrocken zusammen.

»Ich bin es«, krächzte es. »Macht auf. Ich bin nass wie eine gebadete Maus.«

Therese fuhr so hastig von ihrem Stuhl hoch, dass sie das Spielbrett umriss. »Moritz! Mein Moritz!«

Sie stieß den Riegel zurück und fiel der triefenden Gestalt, die draußen im Garten stand, um den Hals. »Mein Junge! Dass du wieder da bist! Ganz nass bist du. Komm herein und lass dich anschauen. Mein Gott, wie bin ich froh …«

Kleinlaut war er, als er so abgerissen und klatschnass vor ihnen stand. Das Haar klebte an der Stirn, das Wasser lief aus den Schuhen, und der sonst so unternehmungslustige Ausdruck in seinem Gesicht war ganz und gar verschwunden.

»Hinauf mit dir in die Kammer«, ordnete Charlotte an. »Zieh dir trockene Sachen an, du machst uns die ganze Küche nass.«