Café Engel - Marie Lamballe - E-Book
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Marie Lamballe

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Beschreibung

Wiesbaden, 1951. Das Café Engel hat Konkurrenz bekommen. Neben dem Traditionscafé der Familie Koch hat sich das modernere Café König niedergelassen. Während Hilde Koch vergeblich versucht, ihre Eltern von einer Modernisierung des Cafés zu überzeugen, droht auch ihre hart erkämpfte große Liebe zu scheitern. Um das Glück ihres Bruders August steht es nicht besser. Nach seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft fällt seine Wahl ausgerechnet auf eine junge Russin, deren Ankunft die Familie zu spalten droht ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

HILDE

SWETLANA

WILHELM

JEAN-JACQUES

AUGUST

JULIA

SWETLANA

HILDE

LUISA

WILHELM

SWETLANA

JEAN-JACQUES

LUISA

WILHELM

SWETLANA

AUGUST

HILDE

LUISA

JULIA

JEAN-JACQUES

AUGUST

WILHELM

HILDE

SWETLANA

JEAN-JACQUES

AUGUST

JULIA

SWETLANA

HILDE

AUGUST

JEAN-JACQUES

WILHELM

HILDE

JULIA

SWETLANA

AUGUST

HILDE

Über das Buch

Wiesbaden, 1951. Das Café Engel hat Konkurrenz bekommen. Neben dem Traditionscafé der Familie Koch hat sich das modernere Café König niedergelassen. Während Hilde Koch vergeblich versucht, ihre Eltern von einer Modernisierung des Cafés zu überzeugen, droht auch ihre hart erkämpfte große Liebe zu scheitern. Um das Glück ihres Bruders August steht es nicht besser. Nach seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft fällt seine Wahl ausgerechnet auf eine junge Russin, deren Ankunft die Familie zu spalten droht …

Über die Autorin

Marie Lamballe studierte Französisch und Russisch auf Lehramt, wurde dann aber durch absoluten Einstellungsstopp vor einer Karriere als Gymnasiallehrerin bewahrt.

Stattdessen widmete sie sich ihrem Mann und den beiden Kindern und begann zu schreiben. Zuerst ganz vorsichtig für die Schublade, später kleine Geschichten für Literaturzeitschriften, und schließlich gelangten die ersten Bücher zur Veröffentlichung. Inzwischen ist das Schreiben ihr Beruf geworden, der zwar viel Zeit und Selbstmanagement verlangt, aber auch hin und wieder einen ungewöhnlichen Arbeitsplatz zulässt: Ihre Ideen kann Marie Lamballe am besten in ihrem Lieblingscafé entwickeln. Sie lebt in einem kleinen Ort in der Nähe von Frankfurt.

MARIE LAMBALLE

Café Engel

Schicksalhafte Jahre

ROMAN

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Ulrike Strerath-Bolz, FriedbergTitelillustration: © Ildiko Neer/Trevillion Images; © akg-imagesUmschlaggestaltung: www.buerosued.deE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-7224-3

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

HILDE

März 1951

Es knallt wie ein Schuss. Geschirr klirrt, der Fußboden zittert, die Wände vibrieren. Drüben bei der Drehtür rieselt Putz von der Decke. Drei, vier Sekunden lang, dann hört es auf. Hilde steht wie erstarrt neben der Kuchentheke, das Tablett mit zweimal Frühstück für Tisch sieben fest in den Händen.

Im Gastraum schreit eine Frau hysterisch: »Die Russen kommen … Panzergranaten … In den Keller …«

Ein Kind fängt laut an zu weinen. Gemurmel. Erstaunte Ausrufe. Blicke zur Decke des Cafés, wo die Hängelampen schwanken. Jemand beginnt zu lachen.

»Ein Erdbeben! Ja, gibt’s das denn auch?«

Das ist der Hans Reblinger. Ein Erdbeben nur.

Hilde ist erleichtert, zugleich beginnt ihr Herz, heftig zu klopfen, es hämmert geradezu, reagiert erst jetzt auf den ausgestandenen Schrecken. Einige Gäste stehen auf und laufen auf die Wilhelmstraße hinaus. Der Bunte, der in seiner Ecke im Korb liegt, ist nicht einmal aus dem Schlaf erwacht.

»Ein Erdbeben! Ja, so was!«, sagt Finchen, die Serviererin.

Sie steht hinter der Kuchentheke und hält mit beiden Händen die Porzellanplatte mit der Schoko-Sahne-Torte fest, die sie gerade aus der Vitrine genommen hat. Jetzt stellt sie die Torte ab, nimmt das Kuchenmesser aus dem Wassergefäß und beginnt, drei Stücke abzuschneiden. Doch schon beim ersten Schnitt hält sie inne.

»Ach du lieber Gott! Haben Sie das gesehen, Frau Perrier?«

Hilde serviert erst einmal das Frühstück, es ist schon nach zehn, die beiden jungen Schauspielerinnen müssen gleich rüber zum Theater, weil die Proben anfangen. Zwei frische Brötchen, ein Klecks Butter, Marmelade, Honig, eine Tasse Bohnenkaffee. Das Ganze für neunzig Pfennige – eigentlich legen sie da drauf, aber die Gagen der Anfängerinnen sind halt klein, und sie wollen doch, dass die Künstler hier im Café Engel zu Hause sind. Zumindest will Hildes Vater das, der Heinz.

»Da wünsch ich trotzdem einen guten Appetit. Lasst es euch schmecken.«

»Danke schön … Haben Sie das schon gesehen?«

Die junge Schauspielerin, Karin Langgässer heißt sie, zeigt mit dem Finger zur Kuchentheke hinüber, und als sich Hilde jetzt umdreht, traut sie ihren Augen kaum. Durch das Vitrinenglas zieht sich ein Muster, wie mit einem grauen Stahlstift eingeritzt. Es ähnelt einem Spinnennetz.

»Nein!«, sagte Hilde leise.

Hinter der Theke stellt Finchen die Torte zurück; sie schaut Hilde mit bekümmerter Miene entgegen.

»So was aber auch«, meint sie, als Hilde das Vitrinenglas mit den Fingern prüft. »Hat alle Bombenangriffe unbeschadet überstanden, und jetzt, bei dem kleinen Wackler, da geht es kaputt. Ach Gott, wenn die Frau Koch das sieht …«

Im Café wird jetzt laut geredet, die Drehtür ist ständig in Bewegung, weil die Gäste wieder zurückkommen. Drüben im Quellenviertel sei eine Ruinenmauer umgefallen; um ein Haar wäre eine Frau mit zwei Kleinkindern zu Schaden gekommen. Ein abgestelltes Fahrrad mit zwei Einkaufstaschen sei umgefallen, und beim Café König nebenan lägen mehrere Dachziegel auf dem Trottoir. Die letzte Nachricht hat auch Mama mitbekommen, die jetzt aus der Küche in den Gastraum tritt, noch die bemehlte Schürze umgebunden, weil sie den Marmorkuchen vorbereitet hat.

»Schau mal draußen nach, Hilde«, sagt sie besorgt. »Nicht, dass bei uns auch Dachziegel runtergefallen sind.«

»Ein Wunder wär’s nicht«, erwidert Hilde.

Draußen scheint ganz harmlos die Vorfrühlingssonne. Auf den Bänken am Warmen Damm sitzen die Leute in Mantel und Hut und lassen sich die winterblassen Gesichter bescheinen. In den Beeten blühen gelbe und weiße Krokusse, die ersten Tulpen strecken ihre lindgrünen Köpfchen aus der Erde. Drüben vor dem Café König stellen zwei Kellner doch tatsächlich Tische und Klappstühle auf, ein Junge sammelt die kaputten Dachziegel in einen Eimer. Hilde nickt den Kellnern zu und denkt sich, dass ganz bestimmt keiner in der Märzenkälte draußen Kaffee trinken wird. Oder etwa doch? Das Café König, das sich vor zwei Jahren in einem provisorischen Gebäude gleich neben dem Café Engel eingerichtet hat, ist ihr und ihrer Familie ein Dorn im Auge. Nicht, dass sie etwas gegen Konkurrenz hätten, die belebt das Geschäft, wie man so schön sagt. Es gibt eine ganze Menge größerer und kleinerer Cafés in Wiesbaden, Gott sei Dank ist das so, es geht endlich aufwärts nach den schlimmen Nachkriegsjahren. Aber der Egon Mayer-Schulte, dem das Café König gehört, legt es darauf an, ihnen die Gäste abspenstig zu machen. Mit allen Mitteln versucht er das, und nicht immer auf die feine englische Art.

Während sie noch die frisch verputzten Mauern ihres Hauses mustert und einen Riss entdeckt, hört sie plötzlich ihren Namen.

»Eh! Hilde, ma petite colombe. Alles in Ordnung? Es hat einen Bums getan …«

Sie schaut hoch und entdeckt ihren Ehemann am Dachfenster von Sofia Künzels Wohnung. Jean-Jacques hat sich einen spitzen Hut aus Zeitungspapier auf die schwarzen Krauslocken gesetzt; Addis graues Haupt, das jetzt neben ihm auftaucht, wird von einem blau-weiß gefleckten Taschentuch bedeckt, das an allen vier Enden geknotet ist. Die beiden renovieren die Wohnung der Künzel, während die Mieterin im Konservatorium Klavierunterricht gibt.

»Das war ein Erdbeben«, ruft Hilde nach oben. »Ist bei euch alles heil geblieben?«

»Fast«, sagt Addi. »Nur ein Eimerchen weißer Farbe …«

»Ach du Schreck … umgefallen?«

Jean-Jacques lacht fröhlich. Er ist ein Mensch, der alles mit Leidenschaft tut. Lieben, lachen, streiten, zornig sein, sich versöhnen.

»Was denkst du!«, ruft er. »Ich hab ihn aufgefangen!«

»Den Eimer …«, bemerkt Addi grinsend. »Die Farbe nicht.«

Seufzend geht Hilde rasch wieder ins Café zurück. Einige Gäste wollen zahlen, Finchen deckt ab und bürstet die Krümel von den weißen Tischdecken. Papa ist heruntergekommen, er war oben bei August, um ihn abzuhören. Hildes Bruder August war nicht in britischer, wie zunächst vermutet, sondern in russischer Kriegsgefangenschaft, aus der er erst vor einem knappen Jahr entlassen wurde. Schlimm hat er da ausgesehen, hohlwangig und grau im Gesicht, fast hätten sie ihn nicht wiedererkannt. Aber unter Mamas Pflege hat er sich gut erholt und sein Jurastudium in Frankfurt sofort wieder aufgenommen. Jetzt lernt er für eine wichtige Klausur, da ist er ungemein eifrig. Er will so schnell wie möglich auf eigene Füße kommen, um den Eltern nicht mehr auf der Tasche zu liegen.

Papa ist über die beschädigte Vitrine ganz verzweifelt. Immer wieder schüttelt er den Kopf, fährt mit den Händen über das Glas und jammert, dass es schwer sein wird, einen Glaser zu finden, der die gebogene Scheibe ersetzen kann.

»Jetzt ist endlich eine neue Vitrine fällig, Papa«, sagt Hilde im Vorübergehen. »Mit elektrischer Beleuchtung und eingebauter Kühlung. Wie in Amerika.«

Papa macht eine wegwerfende Handbewegung, was so viel bedeutet wie: Kommt ja gar nicht infrage. Auch Mama hält nichts davon. In diesem Punkt sind die Eltern sich leider einig: Alles soll so bleiben, wie es immer gewesen ist. Jede, auch die allerkleinste Neuerung muss Hilde mit Zähnen und Klauen erkämpfen. Dabei sehen die Eltern doch auch, dass ihnen die Gäste davonlaufen. Drüben bei König, da ist es weitläufig und hell, große Fenster und Kübel mit exotischen Pflanzen – so was gefällt den Leuten heutzutage …

»Kümmere dich lieber um das Mittagessen«, schlägt Papa vor, um das leidige Thema »Neuerungen« zu beenden.

Hilde schüttelt den Kopf und trägt das Geschirr in die Küche.

»Mama ist heute dran …«

Die Zeiten, als Mama jeden Abend für alle Hausbewohner gekocht hat, sind lange vorbei. Sofia Künzel und Julia Wemhöner sorgen für sich selbst, auch Hubert Lindner hat ein Zimmerchen gefunden und erscheint nur noch selten im Café. Luisa wohnt mit ihrem Ehemann Fritz Bogner in einer kleinen Wohnung im Bergkirchenviertel und hilft hin und wieder im Café aus. Edith von Haack und ihre Angestellte Grete Kruse sind letztes Jahr in einer kleinen Neubauwohnung untergekommen; seitdem hat man nichts mehr von ihnen gehört. Worüber niemand im Hause Koch so richtig traurig ist. Dafür sitzt jetzt außer August auch Wilhelm, Hildes zweiter Bruder, mit am Tisch. Er kam schon Ende ’46 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück und hat inzwischen die Frankfurter Schauspielschule abgeschlossen. Den Eltern zuliebe hat Wilhelm – nach langem Zögern – ein Engagement am Wiesbadener Theater als jugendlicher Held angenommen. Wie es scheint, ist er dort sehr erfolgreich, zumindest, was das weibliche Theaterpublikum betrifft, denn es erscheinen im Café Engel häufig junge und ältere Damen, die mit sehnsüchtigen Augen nach dem Herrn Willi Koch fragen. Und dann ziehen sie ein Programmheft aus der Handtasche und legen es verschämt auf den Tisch. Sie hätten doch so gern ein Autogramm von ihm.

Gegessen wird um halb eins pünktlich, mal oben bei Hilde und Jean-Jacques, die inzwischen Augusts ehemalige Wohnung bezogen haben, mal unten bei den Eltern. Inzwischen sind sie acht Personen in der Familie, denn Hilde hat schon Ende 1946 Zwillinge geboren, Frank und Andi sind fast fünf, nächstes Jahr zu Ostern kommen sie in die Schule.

Mama wirft einen Blick auf die alte Standuhr im Gastraum und behauptet, es sei doch erst Viertel vor elf, sie habe noch genügend Zeit zum Kochen.

»Da irrst du leider, meine Liebe«, sagt Papa, der auf seine Armbanduhr schaut. »Es ist halb zwölf.«

»Was?«

Sie ist stehen geblieben, die gute alte Uhr. Das Erdbeben hat ihren Perpendikel angehalten, und nun zeigt sie die Zeit, zu der heute die Erde für einige Sekunden bebte. Viertel vor elf.

Mama ist bei aller Tatkraft doch abergläubisch. Sie schlägt die Hand vor den Mund und flüstert beklommen: »Wenn das nur nichts Schlimmes zu bedeuten hat …«

»Klar hat das was zu bedeuten«, versetzt Hilde ironisch. »Heute wird das Mittagessen nicht pünktlich fertig.«

»Das glaubst auch nur du!«, gibt Mama zurück, streift die Schürze ab und eilt durch die Küche hinauf in die Wohnung.

Tatsächlich steht um halb eins die gefüllte Suppenschüssel im Wohnzimmer auf dem Esstisch. Es ist für zehn Personen gedeckt, denn Addi und Luisa sind heute mit dabei. Luisa war mit den Zwillingen im Kurpark, sie will nur einen kleinen Happen zu sich nehmen, bevor sie hinunter ins Café läuft, um Finchen zur Seite zu stehen. Heinz sitzt schon am Tisch, während Mama in der Küche noch rasch Pfeffer, Salz und die allseits beliebte Maggiflasche holt und Hilde den gestern gekochten Schokoladenpudding mit bunten Streuseln dekoriert. Aus der Wohnung über ihnen hört man energische Kinderstimmen.

»Die sind sauber, Papa!«

»Sauber? Montre voir! Wo sind die sauber?«

»Na, überall … Guck doch … oben … unten … zwischen …«

»Die sind dreckig. Wir gehen jetzt alle zusammen ins Bad. Papa muss auch Händewaschen. Regarde: ganz weiß von Farbe.«

»Weiß ist aber nicht dreckig … weiß ist sauber …«

»Allon, allons … pas de discussion …«

Hilde runzelt die Stirn. Ihr Jean-Jacques ist ein liebevoller, aber zuweilen auch herrischer Vater. Er kann mit seinen Söhnen herumtollen, Kissenschlachten veranstalten, beim Kindergeburtstag letztes Jahr hat er zur größten Begeisterung aller Kinder beim Sackhüpfen und Topfschlagen mitgemacht. Dann wird er zu Hildes drittem Kind, einem fröhlichen, übermütigen Knaben, der mit den Söhnen Fußball spielt und unbedingt gewinnen will. Aber manchmal, ganz plötzlich, kann er streng sein, zornig sogar, dann ist eine Grenze überschritten, und die Jungen haben zu gehorchen. Hilde gefällt das nicht, sie findet, dass er seine Stimmungen besser im Griff haben sollte – aber so ist er nun einmal.

Mama klopft an Augusts Zimmertür, öffnet sie einen Spalt und fragt etwas. Dann kommt sie kopfschüttelnd zurück und seufzt.

»Was soll das nur werden? Er will wieder nichts essen. Immer nur lernen, lernen, lernen. Er wird noch krank werden, der arme Junge.«

»Er wird nicht gleich verhungern, Mama«, bemerkt Hilde.

»Er muss doch essen! Wo er so lange hat hungern müssen.«

Hilde schluckt eine bissige Bemerkung herunter. Seitdem August und Wilhelm wieder bei ihnen sind, ist Mama pausenlos besorgt, ihren Jungen könnte es an etwas fehlen. Augusts Studium wird bezahlt, Wilhelm war drei Jahre auf der Schauspielschule und hat zu Hause gewohnt und gegessen, und auch jetzt, da er Geld verdient, zahlt er keinen Pfennig für Kost und Logis bei den Eltern. Haben die beiden irgendwann einmal etwas für das Café getan? Gäste bedient? Lebensmittel eingekauft? Oder letztes Jahr mitgeholfen, als der Nebenraum neu gestrichen wurde? Mitnichten! August hat sich zwar angeboten, aber da hat Mama gleich abgewinkt. Und Wilhelm? Der findet doch immer einen Dreh, um nicht arbeiten zu müssen. Hilde und ihr Jean-Jacques, die können sich ja den Rücken verrenken. Und Addi natürlich, der liebe Kerl. Der ist sowieso das Faktotum des Café Engel, jetzt noch mehr als je zuvor, weil Julia Wemhöner, seine Lebenspartnerin, wieder eine Stelle als Theaterschneiderin hat.

Luisa kommt dazu, sie hat sich umgezogen, trägt schon das schwarze Kleidchen und die weiße Schürze, um gleich hinunterzulaufen. Fritz hat heute Probe im Theater, er spielt ersatzweise im Orchester mit, eine feste Stelle hat er leider noch nicht bekommen. Gleich darauf erscheint Jean-Jacques mit den beiden Jungen, Addi ist bei ihnen, er hat noch weiße Sprenkeln im Gesicht und im Bart.

Hildes Söhne sehen beide dem Vater ähnlich, sie haben dunkle Augen und krauses dunkelbraunes Haar. Die Leute sagen, die Zwillinge von der Hilde schauen aus wie zwei kleine Franzosen. Charakterlich sind sie jedoch sehr unterschiedlich. Frank, der zwei Minuten älter ist, gibt stets den Ton an, während sein Bruder Andi, der eigentlich Andreas heißt, lieber im Hintergrund bleibt. Sie hängen sehr aneinander; wenn sie mit anderen Kindern spielen, halten sie zusammen wie Pech und Schwefel.

»Wo ist Onkel Willi?«, will Frank wissen, während er sich auf seinen Stuhl setzt. Dann sieht er den Suppentopf und zieht einen Flunsch. »Schon wieder Rindfleischsupp!«

»Rindfleisch macht stark!«, behauptet Opa Heinz.

»Das ist aber so hart zwischen den Zähnen …«, lässt sich Andi leise vernehmen.

Mama teilt die Suppe aus. Es ist Gemüse darin, Reis und Kochfleisch. Das ist tatsächlich recht zäh: Auch wenn man es noch so lange kocht, will es nicht weich werden. Bekümmert schaut sie auf die beiden leeren Stühle – auch Wilhelm ist nicht zum Essen gekommen, er hat noch Probe im kleinen Haus, dem neu aufgebauten Schauspielhaus bei den Kolonnaden, das erst letztes Jahr im Dezember eröffnet wurde. Das ehemalige Residenztheater wurde bei den Bombenangriffen völlig zerstört.

Man wünscht allseits guten Appetit und beginnt zu essen. Es wird über das Erdbeben geredet, Luisa und die Kinder haben es im Kurpark gar nicht bemerkt. Opa Heinz muss den Enkeln erklären, was ein Erdbeben ist.

»Da wackelt die Erde ein bisschen …«

»Warum?«

»Weil sie mal husten muss, die Erde.«

»Hat sie eine Erkältung?«

Papa fühlt die Blicke aller Erwachsenen auf sich gerichtet. Er räuspert sich verlegen, weil er nicht weiß, wie er das Phänomen »Erdbeben« wissenschaftlich erklären soll. So ganz genau weiß er es selber ja auch nicht. Und er will den Enkeln keine Angst machen.

»Ja, die Erde hat sich erkältet. So was passiert manchmal im Frühling.«

Frank schiebt die Fleischstückchen auf den Tellerrand, Andi sammelt sorgfältig alle Zwiebelstückchen und die klein geschnittenen Karotten aus seiner Suppe.

Addi berichtet vom Fortgang der Renovierungsarbeiten in der Wohnung der Künzel. »Wir könnten längst fertig sein, wenn die Dame nicht so viel Krempel hätte. Ihr glaubt ja gar nicht, was sich da oben alles stapelt! Allein die Noten, die alten Theaterkostüme, die Perücken, Kästen voller Theaterschminke, künstliche Blumen aus Papier und jede Menge seidener Nachthemdchen mit Spitzen dran …«

»Lieber Addi!«, ruft Vater Heinz entsetzt aus. »Bitte, etwas mehr Diskretion! Die Besitztümer meiner Mieterin gehen mich nichts an, und über ihre Reizwäsche möchte ich auch nichts wissen …«

Hilde schaut Luisa an, beide müssen sich das Lachen verbeißen. Jean-Jacques grinst ganz unbefangen und meint: »Frau Künzel in seidenes Nachthemd – das zu sehen, würde mir gefallen …«

»Warum, Papa?«, will Frank neugierig wissen.

»Da hast du es!«, meint Mama vorwurfsvoll zu Jean-Jacques.

Der überlegt kurz und erklärt den Söhnen dann: »Weil seidenes Nachthemd ist schön zu sehen. Glänzt wie Silber.«

»Warum hat Mama kein silbernes Nachthemd?«

»Weil wir sind arme Leute. Und jetzt iss dein Suppe!«

Mama kann es nicht lassen, sie füllt einen Teller und trägt ihn hinüber zu August. Er wohnt in dem ehemaligen »Bubenzimmer«, während Wilhelm in Hildes Mädchenzimmer eingezogen ist. So hat Mama ihre beiden Jungen nun wieder bei sich in der Wohnung, worüber sie sehr glücklich ist.

»Aber Mama …«, hört man August stöhnen.

»Du musst doch was essen, Junge!«

Zufrieden kehrt sie zum Tisch zurück, ohne sich um Hildes vorwurfsvollen Blick zu kümmern. Papa nickt ihr zu, er findet es in Ordnung, dass sie August bemuttert, wo er bei den verdammten Russen so viel hat durchmachen müssen. Jean-Jacques lächelt. Woran er jetzt denkt, weiß Hilde nicht, vielleicht an seine eigene Mutter, die Hilde bisher nicht kennengelernt hat. Immer wenn sie vorschlägt, seine Familie einzuladen oder zu besuchen, wehrt er ab.

»Wir sind keine armen Leute«, lässt sich Frank wieder vernehmen. »Bei uns gibt es Pommfritz. Die kann nur Papa machen, und die schmecken sooo gut.«

Jetzt hat er einen wunden Punkt im Familiengefüge getroffen, denn die Einführung dieser in schwimmendem Öl gebackenen Kartoffelstreifen war seinerzeit eine kleine Sensation in Wiesbaden. Zeitweise wurden Mamas Torten alt, weil alle Gäste Jean-Jacques’ Pommes frites mit Mayonnaise essen wollten. Und die Küche roch – so behauptet Mama – wie ein stinkiger Ölkanister. Überall klebte dieser ölige Geruch, an den Möbeln, an den Kleidern, in den Haaren, sogar die Unterwäsche roch danach. Mama hat nie verstanden, wie man überhaupt mit Öl kochen und backen kann, weil das doch ein minderwertiges Fett ist und niemals die gute Butter ersetzen kann. Aber leider waren die Gäste anderer Ansicht, und der Umsatz mit Pommes und Mayonnaise sprach eine deutliche Sprache. Inzwischen haben sich auch andere Leute in Wiesbaden auf die Herstellung von Pommes frites verlegt, und es gibt sie im Café Engel nur noch am Abend. Weil sich die Nachbarn über die Küchendünste beschweren, sagt Mama.

»Bei König sind die Pommes jetzt um fünf Pfennig billiger als bei uns«, bemerkt Hilde.

»Woher weißt du das?«, will Jean-Jacques wissen.

»Steht auf der Tafel beim Eingang …«

»Grand filou!«, zischt Jean-Jacques wütend.

»Meinetwegen können sie sie verschenken«, knurrt Mama. »Wer möchte noch Suppe? Addi? Luisa, du bist doch nicht etwa schon fertig? Es gibt noch Schokoladenpudding mit Streuseln!«

Jubel bei Andi und Frank, auch Papa strahlt, ebenso Addi. Jean-Jacques macht sich nicht viel aus Süßigkeiten. Frank legt seine ausgesonderten Rindfleischstückchen unauffällig auf Addis Teller, Andi schiebt die Zwiebel- und Karottenscheiben nach. Der Papa kann da hart sein – wer nicht alles aufgegessen hat, bekommt keinen Nachtisch.

»Danke, Tante Else«, wehrt Luisa ab und steht auf. »Ich geh dann schnell runter. Soll ich den Marmorkuchen glasieren?«

»Das wäre wunderbar, Luisa … Die Obststückchen können auch in die Vitrine … ach Gott, die ist ja kaputt …«

»Da muss schnellstens etwas Neues her, Mama«, meldet sich Hilde zu Wort. »So können wir keine Torten hineinstellen. Schaut ja aus wie zu Kriegszeiten.«

»Wir brauchen keine neue Vitrine«, sagt Papa eigensinnig. »Wir lassen eine neue Scheibe einsetzen. Ganz einfach.«

Jetzt geht wieder der Streit um die Neuerungen los, die nach Meinung der Eltern völlig unnötig sind und nur Geld kosten. Nein, das Café braucht keine größeren Fensterscheiben, auch der Nebenraum und die Drehtür bleiben, wie sie sind, und die alten Fotos darf niemand anrühren, sonst wird Papa endgültig wütend. Er regt sich dann so auf, dass er ganz rot im Gesicht wird und Hilde fast Angst um ihn bekommt.

»Das sind große Künstler, die haben es nicht verdient, in Vergessenheit zu geraten. Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze, heißt es. Aber ich, Heinz Koch, ich flechte diesen Meistern der Theaterbühne Lorbeerkränze, und das werde ich tun, solange ich lebe!«

Die Anschaffung eines elektrischen Kühlschranks wird zumindest in Erwägung gezogen, allerdings kostet solch ein Gerät fünfhundert Mark, und das ist viel Geld. Jean-Jacques’ Dauervorschlag, ein Auto anzuschaffen, wird wie immer abgeschmettert. Schließlich hat Wilhelm, dieser Schelm, ein gebrauchtes Auto gekauft und kann damit auch Fahrten für das Café erledigen. Und wozu brauchen sie überhaupt ein Auto? Mehl, Zucker, Fett und alles andere werden geliefert, und für Kleinigkeiten reicht das Fahrrad. Hilde sieht die Mundwinkel ihres Jean-Jacques resigniert herabsinken. Sie weiß, dass sie heute Abend mit ihm wieder einmal über das Thema »Familienbetrieb« diskutieren wird. Dabei kennt er es doch von daheim, da haben sie ein Weingut, das jetzt sein Bruder gemeinsam mit den Eltern bewirtschaftet. Die gleiche Geschichte wie im Café Engel: Besitzer sind die Eltern, und die bestimmen, was angeschafft wird. Die Jungen dürfen arbeiten und ihre Meinung sagen, aber entscheiden tun die Alten. Zumindest, solange sie den Betrieb nicht übergeben haben, und das tun manche bis zuletzt nicht. Ihrem Jean-Jacques passt das nicht, und Hilde kann ihn gut verstehen, da ziehen sie beide am gleichen Strang. Wenn sie noch eine Weile durchhalten – irgendwann werden die Eltern schon einsehen, dass sie recht haben. Dann wird umgebaut und neu ausgestattet, Hilde hat schon alles genau im Kopf. Die Eltern werden sich wundern, wie ihnen die Gäste die Bude einrennen werden.

Der Schokoladenpudding besänftigt die Gemüter – außerdem finden alle, dass man vor den Kindern nicht streiten sollte. Jean-Jacques hat sich heute vorbildlich gehalten, findet Hilde. Das Auto hat er nur kurz erwähnt, damit die Eltern wissen, dass er die Idee nicht aufgegeben hat. Gestritten hat er nicht. Sie schenkt ihm ein Lächeln, das er erwidert. Zärtlich sind seine Augen. Und begehrlich dazu, sie sprechen von allerlei Dingen, die man vor anderen nicht laut sagen kann. Hilde spürt, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellen. Ach, sie haben vor lauter Arbeit kaum Zeit füreinander! Das muss anders werden. Die Jungen wollen nachher im Hof mit den Nachbarskindern spielen, da hätten sie beide für eine kleine Weile freie Bahn …

Gerade als Mama ein Schälchen mit Pudding für August zurechtmacht, kommt er aus seinem Zimmer, den gefüllten Suppenteller in der Hand.

»Tut mir leid, Mama. Ich kann heute Mittag nichts essen. Heb es mir für den Abend auf, bitte.«

Mama ist ganz verzweifelt. Er hat kaum zwei Löffel Suppe gegessen und will auch keinen Nachtisch haben.

»Nein, August – so geht das wirklich nicht!«

Er stellt den Teller vorsichtig auf den Tisch und nimmt seine Mutter in die Arme. Wie dünn er immer noch ist! Heute scheint er Hilde ganz besonders blass, vermutlich ist es die Aufregung wegen der morgigen Klausur. Dabei ist er so klug, ihr älterer Bruder. Bisher hat er alle Prüfungen mit Auszeichnung bestanden.

»Mach dir doch nicht immer solche Sorgen, Mama«, sagt er leise. »Mir geht es gut. Ich werde heute Abend etwas essen. Jetzt mache ich einen kleinen Spaziergang …«

Mama ist nur halb beruhigt. Frische Luft ist ja gesund, aber mit leerem Magen herumlaufen, das taugt doch nichts. August lässt sich auf keine weiteren Gespräche ein, er nimmt Mantel und Hut vom Garderobenständer, nickt den anderen zu und verlässt die Wohnung.

»Was habe sie bloß aus ihm gemacht, die dreckigen Russen«, seufzt Mama. »Ein fröhlicher, gesunder Bursche ist unser August gewesen. Und jetzt ist er nur noch ein Schatten seiner selbst …«

»Nun übertreib aber nicht, Else«, wehrt Papa ab. »Es geht doch aufwärts mit ihm. Wenn auch langsam.«

Im Gegensatz zu Wilhelm, der viel und blumig über seine Zeit als Kriegsgefangener in den USA erzählte, hat August kaum etwas berichtet. Nur, dass er in mehreren Lagern gewesen sei, zuletzt in Kazan, ganz im Osten, wo die Kosaken zu Hause sind. Was er dort hat arbeiten müssen und wie man die Gefangenen behandelt hat – davon lässt er bis heute kein einziges Wort verlauten.

»Er kann nicht reden«, hat Jean-Jacques einmal zu Hilde gesagt. »Wenn Leben gar zu schlimm war – du kannst nicht erzählen. Das ist wie Wand in Kopf, verstehst du?«

Das hat Hilde eingeleuchtet. Sie selbst hat lange gebraucht, bis sie ihrem Liebsten von der Fehlgeburt berichtet hat, und sie fragt sich, ob auch er Dinge vor ihr geheim hält, weil er es nicht fertigbringt, sie ihr mitzuteilen. Mamas ständiges Gejammer, dass August nicht essen will, geht ihr auf die Nerven. Kann man einen Menschen, der Schreckliches erlebt hat, denn wieder auf die Beine bringen, indem man ihn mit Essen vollstopft? Aber Mütter sind wohl so. Hoffentlich wird sie selbst nicht auch einmal solch eine Futter-Mutter.

Jean-Jacques hilft ihr, den Tisch abzuräumen. Als sie fertig sind und Mama in der Küche schon das Spülwasser einlässt, legt er den Arm um Hildes Taille.

»In eine Viertelstunde …«, raunt er ihr ins Ohr. »Oben bei uns im chambre … Wirst du kommen, Madame Perrier?«

Papa hat das natürlich mitbekommen. Er fummelt sich gerade eine Zigarre aus dem eingelegten Zigarrenkasten und steckt sie in die Brusttasche seiner Jacke. Dann geht er hinunter ins Café, allerdings nicht ohne dem »jungen Paar« ein verständnisinniges Grinsen zu gönnen. Hilde ist das peinlich – Jean-Jacques scheint es nicht zu stören.

»Vielleicht …«, sagt sie kokett zu ihm.

Er lacht leise und küsst sie auf den bloßen Hals.

»Wenn eine Frau sagt ›vielleicht‹, dann ist das ›Ja‹.«

Woher er nur immer diese Sprüche hat? Sie macht sich kichernd los und geht in die Küche, um das Geschirr abzutrocknen, während er hinunter in den Hof läuft und mit den Jungen eine Runde Fußball spielt. Durchs Küchenfenster kann sie sehen, wie er den ausgeleierten Lederfußball herumkickt, von seinen Söhnen angefeuert. Es sind mehrere Nachbarskinder dazugekommen, hoffentlich bleiben Mamas Blumenkästen heil, darin sind schon zwei gelbe Osterglocken aufgeblüht.

»Hat dir Luisa nichts gesagt?«, will Mama wissen.

»Was soll sie gesagt haben? Ist sie etwa wieder …«

Mama hebt die Schultern, sie will keine Gerüchte in die Welt setzen. Schon gar nicht über Luisa, die so ein liebes Mädel ist und im Januar schon die zweite Fehlgeburt hatte.

»Der Fritz hat neulich so was angedeutet. Und dass er hofft, es klappt dieses Mal …«

Hilde seufzt. Sie würde es Luisa so wünschen, dass sie endlich ein Kind in den Armen halten darf. Fritz wäre ganz sicher ein wunderbarer Papa. Aber bisher hat Luisa kein Kind austragen können, gegen Ende des dritten Monats hat sie es beide Male verloren.

»Manchmal klappt es ja, wenn man gar nicht mehr daran denkt«, meint Mama. »Bei dir war das auch so, Hilde. Da haben Heinz und ich geglaubt, mit den beiden Jungen sei es nun getan. Aber auf einmal war ich wieder schwanger.«

Hilde findet, dass das kein Vergleich ist, aber sie sagt es nicht. Stattdessen überlegt sie, warum Luisa ihr nichts von der neuen Schwangerschaft erzählt hat. Vielleicht, weil es so viel zu tun gibt und man nur selten einmal zusammensitzt, um einfach miteinander zu reden. Das Café hat täglich von neun Uhr am Morgen bis spät in die Nacht geöffnet. Einen Ruhetag können sie sich nicht leisten, weil ja so viele Leute von dem Betrieb leben müssen.

»So, das war’s«, vermeldet Mama. »Die Töpfe wisch ich mit dem Spültuch trocken. Kannst dann ja wieder runtergehen …«

Hilde lässt ihre Mutter in dem Glauben, dass sie sofort hinunter ins Café läuft, um Luisa und Finchen zu helfen. Stattdessen eilt sie mit klopfendem Herzen in ihre Wohnung hinauf und hat das Gefühl, etwas ganz und gar Verbotenes zu tun. Dabei will sie nur ein halbes Stündchen mit ihrem Ehemann allein sein. Am hellen Tag – wie unsittlich. Aber gerade deshalb ist es so ungemein aufregend. Ihr ist schon ganz heiß, wenn sie sich vorstellt …

Er ist vor ihr da, steht im Schlafzimmer vor den Ehebetten und hat nur noch die Unterwäsche an. Sein Blick ist hungrig, sie erschauert und kommt sich vor wie damals, als sie heimlich eine Nacht miteinander verbrachten und dann für lange Zeit auseinandergerissen wurden.

»Komm«, sagt er. »Ma chérie … viens …«

Sie geht auf ihn zu, die erste Umarmung, der erste wilde Kuss ist das Schönste, auch wenn danach noch weitere Genüsse folgen. Hilde ist eine temperamentvolle Liebhaberin, sie steht ihrem Jean-Jacques in nichts nach.

»Warte … ich mache Vorhänge zu …«, murmelt er.

»Damit alle wissen, was wir hier tun …«

»Aber ich will Dämmerung … ist besser für Liebe …«

Männer sind schon Spinner, aber sie lässt ihn gewähren, öffnet schon mal die Knöpfe an ihrer Bluse, hakt den Rock auf, will ins Bett schlüpfen … Schließlich haben sie nur ein halbes Stündchen …

»Mon Dieu!«, ruft er plötzlich und beugt sich aus dem Fenster.

»Was ist? Bleib vom Fenster weg, du hast doch nur die Unterwäsche an!«

»Das ist dein Bruder … drüben bei den Bäumen … Platanen …«

Sie hört an seiner Stimme, dass etwas geschehen ist. Ausgerechnet jetzt.

»Was ist mit ihm?«, fragt sie gereizt.

»Er liegt am Boden … Leute stehen dort … ein Mann kniet bei ihm …«

»Um Gottes willen«, flüstert Hilde.

Aus ist es mit dem Schäferstündchen. Sie ziehen sich hastig an, laufen die Treppen hinunter, durch den Flur auf die Straße hinaus. Was ist passiert? Ein Unfall? Ein Herzinfarkt? Hirnschlag?

»Er darf nicht tot sein«, flüstert Hilde vor sich hin, während sie neben ihrem Mann über die Fahrbahn läuft. »Lieber Gott, bitte, mach, dass er am Leben ist … Bitte!«

Sie kniet neben August auf den Boden, befühlt seine Schläfe, sieht das Blut, das von seiner linken Wange in den Staub der Straße tropft.

»Kennen Sie den Mann?«, fragt jemand.

»Das ist mein Bruder.«

»Er ist am Leben«, sagt Jean-Jacques, der dicht neben ihr hockt und Augusts Puls fühlt. »Schau … er macht die Augen auf.«

August blinzelt zunächst, dann schaut er mit verwunderten Augen zu ihr auf.

»Was ist …«, stammelt er. Dann verzieht er das Gesicht, fährt sich mit der Hand an die Wange, sieht das Blut an seiner Hand und will sich aufsetzen.

»Doucement«, sagt Jean-Jacques. »Sachte … Warte, ich helfe … Stütz dich auf mein Arm …«

Er bringt August auf die Beine, und sie gehen langsam, Schritt für Schritt über die Straße. Als sie die andere Seite erreicht haben, zittern Augusts Beine so heftig, dass Jean-Jacques ihn kurzerhand durch den Hauseingang trägt.

»Nur der Kreislauf … nicht weiter gefährlich … sag Mama nichts davon …«, fleht August. »Sie regt sich sonst fürchterlich auf.«

SWETLANA

Smolensk, Februar 1949

Trotz der brüllenden Kopfschmerzen ist sie eingenickt. In ihrem Kopf hämmert der Rhythmus des Zuges, dieses dumpf klappernde Ra-ta-ta-ta … Ra-ta-ta-ta … immer im Vierertakt, warum, das weiß sie nicht. Es ist auch gleich, Hauptsache, der Zug bewegt sich voran, muss nicht schon wieder irgendwo auf einem verschneiten Feld anhalten, weil eine Weiche klemmt oder etwas auf den Schienen liegt.

»Mama«, jammert Mischa. »Mir ist so heiß …«

Sie fährt aus dem Schlummer und begegnet den gierigen Augen des Tataren, der ihr gegenüber auf der hölzernen Bank sitzt. Sie fahren in der dritten Klasse, ohne Heizung, Holzbänke, der Fußboden klebt, weil die Leute ständig ausspucken, es riecht nach allerlei menschlichen Ausdünstungen. Draußen ziehen verschneite winterkahle Wälder vorüber, dazwischen ein Dörfchen, der Schnee drückt die Häuser tief in die Ebene hinein. Ist das noch Polen? Oder sind sie endlich in Russland?

»Du hast Fieber, mein Schatz«, sagt sie und legt die Hand auf die Stirn ihres Sohnes. »Trink einen Schluck Wasser … Beim nächsten Halt mache ich uns Tee …«

Zwei Wagen weiter gibt es einen Samowar. Dort kann man sich heißes Wasser holen, den Tee und das Gefäß muss man selbst mitbringen. Es ist alles sehr primitiv in diesem Zug, aber Swetlana ist zufrieden. Schlimm ist nur, dass Mischa, ihr sechsjähriger Sohn, krank ist, und sie weiß nicht, was daraus entstehen wird. Dennoch ist diese Fahrt zurück in die Heimat eine Reise voller Hoffnung, die Rückkehr in die Freiheit, in den Schoß ihrer Familie in Smolensk. Acht Jahre war sie fort, ein Opfer des Krieges, von den Deutschen zusammen mit vielen anderen in einem Viehwagen zur Arbeit abtransportiert. Ostarbeiter nannte man sie, im »Landgrabenlager« bei der Firma Kalle hat sie arbeiten müssen. Damals war sie sechzehn, ein ahnungsloses Mädchen. Seitdem ist viel geschehen, aber sie hat sich durchgebissen, hat überlebt, und nun wird alles anders werden. In der Heimat will sie neu anfangen, Mischa soll in eine russische Schule gehen, die ungeliebte deutsche Sprache vergessen, ein Russe werden. Und auch für sie selbst wird sich etwas finden. Eine Arbeitsstelle. Vielleicht sogar eine eigene Wohnung. An einen Ehemann mag sie gar nicht denken, sie hat noch einen anderen im Kopf, der war nicht gut, aber sie war in ihn verliebt. Dumm ist sie gewesen, auch einsam und verzweifelt, das hat er ausgenutzt, aber Liebe war es doch. Liebe ist eine Verrücktheit, niemand kann sie erklären, niemand weiß, wohin sie fällt. Sie überkommt dich und macht mit dir, was sie will.

Mischa trinkt brav ein wenig Wasser aus der Blechflasche. Es ist geschmolzener Schnee, den sie bei jedem Halt in die Flasche stopft, weil ihre Wasservorräte nach zwei Tagen zu Ende waren. Nun sind sie schon den dritten Tag unterwegs, es ist früher Nachmittag, das Licht nimmt ab, gleich wird jemand die beiden Laternen anzünden, die den Wagen bei Dunkelheit mit trübem Schein erfüllen. Swetlana hasst die Nächte in diesem stinkenden Waggon, wo Männer und Frauen durcheinander hocken und liegen und es immer wieder zu dreisten Annäherungsversuchen kommt. Aber sie kann sich wehren, auch wenn sie dünn ist, sie hat Kraft, und wenn sie wütend wird, muss sich ihr Gegner in Acht nehmen. Und dann sind sie ja auch zu dritt, denn links neben ihr sitzt Sonja Armatowna, die ist über siebzig, rund wie ein Fässchen und schlagkräftig wie ein Boxer. Sieben Kinder hat sie gehabt von drei Männern, jetzt hat sie zwölf Enkel, aber keinen Mann mehr, der Krieg hat sie alle ins Grab gerissen. Der Krieg und der Wodka, jedes zu seiner Zeit. Sie ist in Warschau zugestiegen und will nach Smolensk zu einer ihrer Töchter. Und drüben, neben dem hässlichen Tataren sitzt Jekaterina, die zusammen mit Swetlana aus dem Displaced Persons Camp in Wiesbaden entlassen wurde, um zurück in ihre Heimat zu reisen. Jekaterina ist klein und sehr dünn, sie hat rötliches Haar und hellblaue Augen, die immer entzündet sind. Swetlana hat sie erst richtig wahrgenommen, als sie im Camp zur Abreise antreten mussten, neu eingekleidet, geduscht und mit den notwendigsten Dingen in einem kleinen Koffer ausgestattet. Jekaterina ist ein Wesen, das sich unsichtbar machen kann, sie wird einfach nicht beachtet, niemand kann sich erinnern, je mit ihr gesprochen zu haben. Aber in diesen zwei Tagen, die sie miteinander im Zug verbracht haben, hat Swetlana die kleine Jekaterina schätzen gelernt, gemeinsam mit Sonja sind sie nun eine verschworene Dreiergruppe, sie helfen einander, teilen die Lebensmittel, und eine passt auf die andere auf.

Die restlichen Reisenden im Waggon sind Männer, fünf an der Zahl, drei junge und zwei alte. Alle sind mager und zerlumpt, einige wohl auch krank, was sie nicht davon abhält, die Frauen zu belästigen. Sie sind Leidensgenossen, waren ebenfalls zur Arbeit nach Deutschland verschleppt und kehren nun zu ihren Familien zurück.

»Den Tee werde ich machen, wenn wir halten«, sagt Jekaterina, und sie beugt sich vor, damit Swetlana sie besser verstehen kann. »Du bleibst bei deinem Sohn, Swetlana. Ich hole Tee für uns alle drei.«

»Danke«, sagt Swetlana und lächelt Jekaterina an. »Ich habe noch Kekse zum Tee.«

»Ich habe auch was zum Tee«, lässt sich Sonja vernehmen. »Das wird uns wärmen …«

Sonja hat in ihrer Tasche zwei Flaschen Wodka, die hat sie aus Warschau von dem Sohn mitgebracht. Eine davon ist schon zur Hälfte geleert. Den Männern im Waggon gibt sie keinen einzigen Schluck ab, weil sie weiß, welche Folgen das hat. Aber die haben sich selber mit Wodka eingedeckt, ganz gierig sind sie, endlich wieder nach Lust und Laune trinken zu können.

Der nächste Halt ist die Grenze. Dort werden ihre Entlassungspapiere kontrolliert, die Zöllner sind gnädig und übersehen den Wodka, immerhin sind sie ja Sowjetmenschen, die aus der deutschen Gefangenschaft in ihre Heimat, in die Arme von Mütterchen Russland zurückkehren, da drückt man beide Augen zu.

»Ein Hübsche bist du«, sagt einer der Zöllner zu Swetlana. »Wirst viel Unheil anrichten mit deinem Gesicht.«

Swetlana lacht und sagt, dass es eine Schande sei, was er für einen Unsinn rede.

»Helle Augen und schwarzes Haar und ein Mund wie reife Kirschen …«, summt er und grinst sie frech an.

»Zu viele Kirschen machen Bauchweh«, sagt sie ebenso frech.

Er lacht und findet den Witz gut.

Am Abend und in der Nacht fahren sie durch die Ukraine, immer wieder hält der Zug aus unerklärlichen Gründen an, flackerndes Laternenlicht gleitet draußen an den Fenstern vorbei, man sieht Schatten, die sich im Schnee bewegen, Türen werden aufgerissen und zugeschlagen, dann rollt der Zug wieder an. Es geht weiter. Gottlob, es geht weiter. Swetlana hat den fiebernden Mischa auf ihren Schoß genommen, seine heiße Wange ruht an ihrer Schulter, sein schmaler Jungenkörper wärmt sie wie ein Ofen. Sie streichelt ihm den Rücken, singt ihm Kinderlieder ins Ohr, tröstet ihn, ist erleichtert, wenn er für kurze Zeit einschläft. Dann lehnt sie erschöpft den Kopf an die harte Trennwand, spürt das Ruckeln und Vibrieren des Zuges und wünscht sich ein Bett herbei. Ein Lager, um sich auszustrecken. Ein weiches Kissen unter dem Kopf. Ein kühles, feuchtes Tuch auf die schmerzende Stirn legen, wie Mama es früher immer tat, wenn jemand in der Familie Kopfschmerzen hatte. Mama – wie freut sie sich darauf, ihre Mutter wiederzusehen. Sie in die Arme zu schließen und mit ihr zu weinen. Vor Freude und auch vor Trauer, denn sie hat erfahren, dass ihr Vater vor einem Jahr an seiner Kriegsverletzung gestorben ist. Boris, ihr älterer Bruder, ist aus dem Krieg zurückgekommen, er hat inzwischen geheiratet, und sie haben zwei Kinder. Ihre beiden Nichten, die sie noch nie gesehen hat. Auch die Schwägerin Irina kennt sie nicht. Manchmal wird ihr ein wenig bang, weil sie ihren Lieben so fremd geworden ist und sich daheim so viel geändert hat.

Am Morgen sehen sie die ersten ukrainischen Dörfer. Wie viele verbrannte Häuser es hier noch gibt! Auch in den Städten sieht man Ruinen, aber es wird fleißig gebaut, vor allem in den Gegenden, wo die Regierungsgebäude stehen.

Erst am späten Nachmittag, als es schon wieder dunkel wird, fährt der Zug in den Bahnhof von Smolensk ein. Sie steigen aus und stehen ratlos auf dem kalten, halbdunklen Bahnsteig herum. Zwei Frauen haben auf ihre Männer gewartet, das Wiedersehen ist herzzerreißend, Sonja muss die Tränen abwischen, Jekaterina schaut verlegen zur Seite. Dann kommt Sonjas Tochter mit Ehemann und zwei Kindern, um die Oma abzuholen. Sonja umarmt die Reisegefährtinnen, sie küssen sich zum Abschied und versprechen, einander zu besuchen. Sonja und ihre Familie verschwinden in der Dunkelheit des Bahnhofsgebäudes, man hört sie noch eine Weile reden und lachen, dann sind sie fort. Ein Bahnangestellter scheucht die letzten Reisenden vom Bahnsteig. Es ist nicht erlaubt, sich hier aufzuhalten, im letzten Monat sind mehrere Leute erfroren, die sich auf eine Bank zum Schlafen gelegt hatten.

Swetlana trägt Mischa eine Weile auf dem Arm, dann wird er ihr zu schwer, und weil er sich weigert, von Jekaterina getragen zu werden, muss er laufen. Es geht ihm heute besser, das Fieber ist fast weg, und er hat großen Hunger, aber Swetlana hat nur noch einen Rest Zwieback übrig. Vor dem Bahnhofsgebäude bleiben sie stehen und versuchen, sich zu orientieren. Sie wissen, dass Smolensk in Trümmern lag, die Deutschen haben es zusammengeschossen, in Brand gesteckt, alle Häuser zerstört. In der schwachen abendlichen Beleuchtung sieht man kaum etwas davon, die meisten Häuser scheinen heil, einige sind eingerüstet, nur hie und da entdecken sie gezackte Mauerreste, die auf eine Ruine hinweisen. Sie nehmen den Jungen in die Mitte und gehen langsam voran, die Simona Petliuri Straße entlang, dann rechts in die Ziljanska hinein. Dann bleibt Jekaterina stehen.

»Dort wohnt meine Schwester«, sagt sie zu Swetlana und zeigt auf ein mehrstöckiges Haus, das im Schein der Straßenlaterne nur unvollständig zu sehen ist. »Sie wartet auf mich.«

Noch ein Abschied, dieses Mal mit Tränen, denn Jekaterina hat Swetlana und den kleinen Mischa liebgewonnen. Vielleicht, weil sie so wenige Freundinnen in ihrem Leben gehabt hat, eigentlich gar keine.

»Du kommst uns mit Mischa besuchen, versprich es, Swetlana!«

»Aber natürlich, Kitti … Du und deine Schwester, ihr seid uns immer willkommen …«

»Und wenn du einmal in Not bist … Wir sind für dich da. Ihr könnt bei uns wohnen, solange ihr wollt …«

»Ach, Kitti … du bist süß! Ich besuche dich so bald wie möglich. Komm gut nach Hause, meine Kleine. Und grüß deine Schwester von mir. Lass dich küssen, Kitti …«

Mischa will auf keinen Fall von Jekaterina geküsst werden, schon Sonjas überschwängliche Küsserei hat er schrecklich gefunden. Immerhin darf Jekaterina ihn umarmen, das hält er gerade noch aus, aber küssen kommt nicht infrage. Schon deshalb, weil Jekaterinas Gesicht ganz nass von ihren Tränen ist und ihre Augen so eklig rot entzündet sind.

Jekaterina dreht sich mehrmals um und winkt ihnen zum Abschied. Schließlich gehen sie weiter, weil sie frieren. Es liegt kein Schnee, aber der Wind ist kalt, und die Dunkelheit lastet wie eine schwere, nasse Decke auf der Stadt.

»Mama, ich kann nicht mehr laufen!«

»Nur noch ein kleines Stück, Mischa …«

Die mehrstöckigen Häuser zeichnen sich wie schwarze Blöcke vor der grauen Dämmerung ab. Hie und da sieht man beleuchtete Fenster, eine Lampe über einem Toreingang. Swetlana hat Mühe, sich an den Weg zu erinnern, zumal es dunkel ist und sie zuletzt vor sieben Jahren hier entlanggelaufen ist. Der Zufall hilft ihr, sie erkennt den Hauseingang an dem rostigen Eisengitter, das in der Nacht mit einer Kette abgeschlossen wird.

»Wir sind da, Mischa.«

Sie hat ihrer Mutter einen Brief geschrieben und die ungefähre Zeit ihrer Ankunft mitgeteilt, also wird man sie erwarten. Im schwachen Licht der Laterne sucht sie nach der Türklingel. Da steht tatsächlich noch der Name ihres Vaters, Petr Kovaleva. Sie ist gerührt, das kleine Schildchen ist das gleiche wie damals, als sie noch ein Kind war. Als wäre die Zeit stehen geblieben.

Sie muss mehrmals läuten, bis endlich jemand herunterkommt, um das Eisengitter aufzuschließen. Im dämmrigen Flur erkennt sie ihren Bruder Boris nicht sofort, er hat sich verändert, ist breiter geworden, das Haar dünner, die Wangen hängen ein wenig herunter.

»Swetlana! Mein Gott! Du bist das. Komm herein … Ist das dein Sohn? Wie groß er schon ist …«

Sie kann seine Schnapsfahne riechen, noch bevor sie einander umarmen. Er schiebt sie gleich wieder von sich und schaut ihr ins Gesicht.

»Eine Schönheit bist du geworden. Damals hast du immer ausgeschaut wie ein mageres Hühnchen …«

Lachend geht er voraus, um Mischa kümmert er sich nicht. Er hat ihn nicht einmal begrüßt. Das verletzt Swetlana. Mischa ist ein uneheliches Kind, das ist eine Schande, aber es war Krieg, und außerdem kann der Junge ja nichts dafür. Das Treppenhaus riecht noch genau wie damals, eine Mischung aus feuchten Kleidern, Kohlgemüse, saurer Milch und den Düften, die aus den Latrinen in den Zwischenstöcken dringen. Swetlana muss Mischa hinter sich herziehen; er weint und will nicht weitergehen.

Oben an der Wohnungstür steht eine alte Frau, schwarz gekleidet, gebeugt, das dünne graue Haar am Hinterkopf zusammengesteckt. Swetlana braucht einen Moment, um ihre Mutter wiederzuerkennen.

»Mama!«, sagt sie leise.

Dann liegen sich Mutter und Tochter in den Armen, ein Moment, von dem sie beide lange geträumt haben und der nun so ganz anders wahr wird, als sie es beide glaubten, denn sie sind nicht mehr die Gleichen. Vor sieben Jahren war Swetlanas Mutter eine energische, tatkräftige Frau – nun ist sie eine Greisin, von der Lungenkrankheit gezeichnet. Swetlana aber, das schüchterne, dünne Hühnchen mit den großen Kinderaugen, hat sich zu einer schönen jungen Frau entwickelt.

»Svetotschka … meine Kleine … Bist du zurückgekommen zu deiner Mutter … Ach, solche Freude …«

»Und das ist Mischa, mein Sohn. Er ist schon sechs und soll bald in die Schule kommen …«

Mama tätschelt Mischa die Wange. »So ein großer Junge … Mein Enkelsohn bist du … Komm zu uns herein, Mischa …«

Die Wohnung kommt Swetlana viel kleiner und enger vor als früher. Auch riecht es furchtbar muffig, wahrscheinlich lüften sie jetzt im Winter nicht, damit die Wärme nicht verloren geht. Es gibt drei Zimmer, das größere diente als Wohnzimmer, früher schliefen dort in der Nacht die Eltern. Die beiden anderen Räume sind sehr klein, es passen jeweils gerade ein Bett und ein Schrank hinein. Eines gehörte ihr und ihrer Schwester Natalja, in dem anderen schlief Boris.

Jetzt ist alles anders. Im Wohnzimmer steht eine unbekannte Frau, das ist Irina, die Ehefrau ihres Bruders Boris. Sie ist groß und hat hängende Brüste, ihr Gesicht ist fleischig, die Augen klein und schwarz. Swetlana sieht sofort den feindseligen Ausdruck in Irinas Gesicht, und sie begreift, dass sie nicht willkommen ist. Irina und Boris bewohnen jetzt das Wohnzimmer, ihre beiden Töchter teilen sich einen der kleinen Räume, in dem anderen wohnt ihre Mutter.

»Setzt euch und trinkt Tee«, lädt Irina sie ein und zeigt auf das Sofa. »Wir haben zwei Tage lang auf euch gewartet.«

Es klingt so, als hätte sie den Tee so lange warm halten müssen und sei darüber rechtschaffen verärgert. Swetlana zieht den Mantel aus, wickelt Mischa aus dem wollenen Tuch, das sie um ihn geschlungen hat, nimmt ihm die Mütze ab.

»Schöne neue Sachen habt ihr an«, bemerkt Irina neidisch. »Haben die Deutschen euch die geschenkt?«

»Nein. Die Amerikaner.«

Swetlana hat keine Lust, Irina weitere Auskünfte über ihre Vergangenheit zu geben. Es geht diese Person nichts an, sie soll sich um ihren eigenen Dreck scheren. Der Tee ist heiß und schmeckt etwas ranzig; sie tut Marmelade in Mischas Teeglas, damit er ihn trinkt.

»Lange könnt ihr nicht hierbleiben«, sagt Irina. »Ihr seht ja, wie eng es ist. Und durchfüttern können wir euch auch nicht.«

»Lass doch«, wehrt Boris ab. »Das findet sich schon alles.«

Mama ist in der Küche, wie es scheint, bereitet sie etwas zu essen vor. Boris schenkt Wodka ein, um auf ihre Rückkehr zu trinken.

»Auf den Generalsekretär der Kommunistischen Partei! Den großen Stalin! Auf unsere Zukunft!«

Swetlana hat nicht viel Gutes über Stalin gehört, weder daheim in Smolensk noch später in Deutschland. Aber das war sicher Propaganda. In Deutschland wurde immer gegen die Sowjetunion gehetzt, weil die Deutschen schreckliche Angst vor den Russen haben. Also trinkt sie mit auf den großen Josef Stalin und merkt gleich, dass ihr von dem Wodka schwindelig wird. Kein Wunder, sie hat den ganzen Tag über nur ein paar Kekse gegessen und etwas Tee getrunken. Boris erzählt, dass er Arbeit in einem Kombinat hat, dass sie neue Häuser bauen, gute Arbeit leisten und das Land wieder hochbringen.

»Die Oblast Smolensk ist stolz darauf, sich nach dem großen vaterländischen Krieg und dem Sieg über die Faschisten aus den Trümmern des Krieges zu erheben.«

Swetlana nickt. Der Satz klingt ziemlich einstudiert – müssen sie den auswendig lernen? Mama bringt Bliny, die sie mit Fisch und Kohlgemüse gefüllt hat, und Irina ruft ihre Töchter herbei, sie sollen mitessen. Die Mädchen sind fünf und vier Jahre alt, zart und flachsblond mit hellblauen Augen. Sie begrüßen ihre neue Tante höflich, nehmen sich scheu einen gerollten Pfannkuchen und setzen sich dicht aneinandergedrückt auf einen Stuhl. Während sie essen, starren sie Mischa an wie ein Wesen von einem fremden Stern. Mischa kaut hungrig, verschlingt zwei Bliny und greift nach dem dritten Stück.

»Zwei sind genug«, sagt Irina und zieht den Teller mit den Bliny weg. »Hast du deinem Sohn nicht beigebracht, sich höflich zu benehmen, wenn er zu Gast ist?«

Swetlana weiß, dass es unklug ist, aber wenn es um Mischa geht, kann sie ihren Zorn nicht bremsen.

»Er hat zwei Tage lang nichts essen können, weil er Fieber hatte«, erwidert sie. »Aber wenn ich gewusst hätte, dass du so geizig bist, hätten wir besser gar nichts gegessen.«

»Nun … nun …«, sagt Boris, und er legt seine Hand auf Irinas Schulter. »Lasst uns nicht streiten … Wo sie doch gerade erst gekommen ist …«

Mama sagt kein Wort; sie schaut nur starr vor sich hin, und Swetlana begreift, dass sie ihre kranke Mutter aufs Altenteil abgeschoben haben, Mama hat hier nichts mehr zu sagen, es regiert die Schwägerin.

»Wer streitet denn hier?«, keift Irina. »Ich lasse mich in meiner eigenen Wohnung nicht beleidigen. Bin ich geizig? Tee habe ich ihnen gegeben, Marmelade und Zucker, Bliny haben sie gegessen, mit Kohl und Fisch gefüllt …«

Nun regt sich die Mutter doch. Sie hebt den Kopf und sieht Irina mit bösen Augen an.

»Was regst du dich auf? Das wurde alles von meinem Geld bezahlt, mit meiner Rente hat du gestern eingekauft!«

Irina holt Luft, um etwas zu erwidern, aber Boris ist schneller, er schlägt mit der Faust auf den Tisch und brüllt: »Ruhe jetzt. Meine Schwester ist zurückgekommen. Das ist ein großer Tag. Und du hältst dein Maul, Irina!«

Swetlana spürt, das Mischa neben ihr erzittert. Er hat Angst vor dem tobenden Onkel, aber er weint nicht. Vielleicht, weil die beiden Mädchen ihn immer noch mit großen Augen anschauen.

Weil Irina jetzt kuschen muss, lässt sie ihren Ärger an ihren Töchtern aus.

»Was sitzt ihr da und glotzt? Ab ins Bett mit euch. Und wehe, wenn ihr an der Tür lauscht!«

Die Mädchen flüchten davon, Irina steht auf und schließt persönlich die Tür hinter ihnen, dann setzt sie sich wieder auf ihren Platz. Niemand wagt mehr zu essen, Boris trinkt seinen Tee aus, Mama starrt wieder vor sich hin.

»Hat ja lange gedauert, bis du den Weg nach Hause gefunden hast«, fängt Irina wieder an. »Der Krieg ist doch schon seit vier Jahren zu Ende. Hat es dir so gut gefallen bei den Faschisten in Deutschland?«

Swetlana schaut zu Boris hinüber, aber der scheint sich an dem anzüglichen Ton, in dem die Frage gestellt ist, nicht zu stören. Was für eine Hexe hat er da geheiratet!

»Ich war nicht freiwillig dort, das wisst ihr«, sagt Swetlana unwillig. »Nach dem Krieg haben die Amerikaner uns in Lagern zusammengefasst und versorgt. Aber weil sehr viele Menschen von den Deutschen verschleppt wurden, dauerte es eben lange, bis Mischa und ich an der Reihe waren und aus dem Lager entlassen wurden.«

Boris nickt und nimmt sich die letzte Blin, kaut bedächtig und schaut dann auf den kleinen Mischa. Er ist blond und hat graublaue Augen. Für sein Alter ist er groß gewachsen.

»Und der da?«, fragt er mit einer Kopfbewegung in Mischas Richtung. »Hat der einen deutschen Vater?«

»Ja.«

Swetlana erfährt, dass alle deutschen Soldaten Schweine seien. Sie hätten hier in Smolensk gehaust wie die Wilden, jedes Mädel von der Straße geholt, nicht mal vor Kindern und alten Frauen hätten sie zurückgeschreckt.

»Irina kann davon erzählen«, sagt Boris mit verhaltener Wut.

»Will sie aber nicht«, gibt Irina zurück. »Gibt nicht viel zu erzählen. Krieg ist Krieg. Augen zu und an was anderes denken. Geht vorbei.«

Swetlana schweigt. Sie weiß sehr gut, wovon Irina spricht, schließlich hat sie Ähnliches erlebt, zweimal ist sie nur knapp einer Vergewaltigung entkommen, den meisten ihrer Leidensgenossinnen ist es schlimmer ergangen. Er hat sie geschützt, ihr Geliebter. Das konnte er, weil er der Lagerleiter war.

»Aber ich hab kein Kind bekommen«, fährt Irina fort. »Weil ich nicht wollte. Nicht von einem dreckigen Faschisten.«

Swetlana begreift nicht gleich. Wird ihr jetzt vorgeworfen, dass sie Mischa nicht abgetrieben hat? Weil er einen deutschen Vater hat? Aber was Irina nun sagt, klingt noch viel irrwitziger.

»Aber wenn eine Spaß daran hat, sich von einem Deutschen vögeln zu lassen, dann kriegt sie halt ein Kind.«

Boris packt Irina am Arm und rüttelt sie. »Was soll das? Wie kommst du darauf, dass sie Spaß dabei hatte?«

»Sonst hätte sie kein Kind bekommen«, sagt Irina seelenruhig. »Das weiß doch jeder, dass eine Frau nur empfängt, wenn sie Spaß dabei hat.«

»Wer hat dir denn diesen Blödsinn erzählt?«, regt sich Swetlana auf.

»Niemand. Das ist so.«

Boris schaut seine Frau ungläubig an, aber Irinas überzeugte Miene macht Eindruck auf ihn. Mama schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. Swetlana hat es jetzt satt. Sie ist hier nicht willkommen, das hat man ihr deutlich gezeigt. Ihre Rückkehr in den Schoß der Familie, von der sie all die Jahre geträumt hat, die sie so sehr ersehnt hat, ist ganz anders verlaufen als gedacht. Sie ist eine riesengroße, bittere Enttäuschung. Aber Swetlana ist keine, die sich still und leise in ihr Schicksal fügt. Wenn sie ohnehin schon gemein zu ihr sind, dann will sie ihnen auch einen Grund dafür geben.

Sie legt vorsorglich den Arm um Mischa, bevor sie antwortet.

»Du hast ganz recht, Irina«, sagt sie mit kühlem Lächeln. »Ich hatte Spaß dabei. Weil ich mich in diesen Deutschen verliebt hatte. Und weil ich unbedingt mit ihm schlafen wollte. Und ich schwöre dir, dass diese eine Nacht mit meinem deutschen Liebsten besser war als alle Nächte, die du jemals mit meinem Bruder gehabt hast!«

Einen Moment lang sind sie still vor Verblüffung. Irinas Gesicht zieht sich in die Länge, weil ihr Kinn heruntergefallen ist, Boris’ Augen quellen so weit hervor, dass man befürchten muss, sie würden gleich in sein Teeglas fallen.

»Faschistenhure!«, sagt Boris mit heiserer Stimme. »Raus aus meiner Wohnung. Verschwinde, du Dreckstück. Verdirbst mir meine unschuldigen Kinder …«

Draußen ist es bitterkalt, mehrere Grad unter null. Aber das ist Swetlana im Augenblick gleich. Sie lässt sich nicht beleidigen, schon gar nicht von dieser dummdreisten Irina, die sich hier breitgemacht und die Herrschaft an sich gerissen hat. Als Papa noch am Leben war, da hätte sie das nicht geschafft, diese Tyrannin. Swetlana rafft ihren Mantel an sich, schlingt das Tuch um Mischa, setzt ihm hastig die Mütze auf.

»Keine Sorge«, schreit sie den Bruder an. »Wir gehen auch so. Hier in dieser Wohnung stinkt es zum Himmel vor Selbstgerechtigkeit!«

Es fliegen noch einige böse Beleidigungen und Widerworte hin und her, dann steht sie mit Mischa unten im dunklen Hausflur. Aber sie kann nicht hinaus, weil die Kette verschlossen ist, die das Gitter zusammenhält. Wütend rüttelt sie am Gitter, dann muss sie sich um Mischa kümmern, der in einer Ecke des Flurs kauert und laut schluchzt. Sie hockt sich neben ihn, schlingt die Arme um ihn und will ihn trösten, doch er stößt sie zurück und weint umso lauter.

»Du bist schuld … Immer schreist du alle an … Immer machst du Streit …«

Sie lässt ihn schimpfen, wartet, bis er sich beruhigt hat, und wischt ihm die Tränen ab.

»Wir gehen jetzt zu Jekaterina. Da können wir die Nacht über bleiben …«

»Wir gehen nicht … wir können nicht raus … Gitter ist zu …«

»Ich läute jetzt an einer Wohnung und bitte die Leute, uns aufzuschließen. Das ist ganz einfach, Mischa …«

»Gar nicht …«, knurrt er.

Sie steht auf und will zu einer der Wohnungstüren im Erdgeschoss gehen, da hört sie Schritte auf der Treppe. Ist es Boris? Aber nein, die Schritte sind leicht und zögerlich.

»Swetlana? Bist du da?«

Es ist ihre Mutter. Das Licht geht für einen Moment an, da steht Mama auf dem Treppenabsatz, hält sich am Geländer fest und schaut suchend nach unten.

»Wir sind hier, Mama. Kannst du uns aufschließen?«

»Kommt«, befiehlt ihre Mutter. »Alle beide. Ihr schlaft bei mir.«

Es klingt entschlossen, fast so wie früher. Trotzdem zögert Swetlana. Sie hat keine Lust, zu Kreuze zu kriechen. Von Irina dort oben in der Wohnung mit höhnischen Worten empfangen zu werden.

»Willst du deinen Sohn erfrieren lassen? Komm jetzt. Ich bin müde, und es fällt mir schwer, die Treppen zu gehen.«

Swetlana gibt nach. Sie darf Mischa, der gerade das Fieber überstanden hat, nicht noch einmal der nächtlichen Kälte aussetzen. Oben in der Wohnung ist es jetzt still, Boris und Irina sind im Wohnzimmer, sie haben die Tür geschlossen. Der Raum, in dem ihre Mutter wohnt, war früher Boris’ Zimmer, es ist winzig klein, und sie schlafen zu dritt in Mamas Bett.

Gegen Morgen wacht Swetlana auf, es ist noch dunkel, sie hört die regelmäßigen Atemzüge ihres Sohnes. Ihre Mutter liegt neben ihr, sie hustet, ihr Körper ist seltsam leicht und ausgetrocknet.

»Stimmt das, was du gestern gesagt hast? Hast du ihn wirklich geliebt?«, will die Mutter wissen.

»Ja, Mama.«

Sie spürt einen kleinen Gegenstand in ihrer Hand, ihre Mutter hat ihr etwas zugeschoben.

»Dein Vater hat mir Kette und Anhänger zur Hochzeit geschenkt«, flüstert ihre Stimme. »Es ist Gold mit zwei Perlen darin. Ich habe es über den Krieg gerettet, und jetzt gebe ich es dir. Verkauf es und nimm das Geld. Du wirst es brauchen, Svetotschka …«

Sie umarmen sich und weinen dabei, denn sie wissen, dass sie einander nicht wiedersehen werden. In aller Frühe machen sich Swetlana und Mischa fertig, um die Wohnung zu verlassen.

Unten schließt sie die Kette mit dem Schlüssel auf, den ihre Mutter ihr gegeben hat, und legt ihn wie versprochen auf einen Mauervorsprung. Als sie das Gitter aufschiebt und mit Mischa auf die Straße tritt, weiß sie, dass sie jetzt endgültig frei ist. Frei von aller Hoffnung und mutterseelenallein.

WILHELM

März 1951

Er verbeugt sich immer wieder, lächelt, breitet die Arme aus, bückt sich, um einen Blumenstrauß, ein kleines Kästchen mit Schleife darum, zwei rote Rosen aufzuheben, die man ihm auf die Bühne geworfen hat. Dann muss er schnell davon, weil der nächste Schauspieler sich verbeugt, das ist Kollege Sandberg, der den Cléante gespielt hat, aber der bekommt lange nicht so viel Applaus wie Willi Koch als dümmlich-eingebildeter Thomas Diafoirus. Er hat den Vogel abgeschossen, seinem Affen Zucker gegeben, und sein Publikum hat es ihm gedankt. Der arme Genzler hat heute als Argan total versagt – da musste doch einer die Aufführung retten. Das hat Willi Koch übernommen.

Als er sich später abschminkt, kommt Dr. Seitz in die Garderobe. Wieder einmal ist er stocksauer, der Herr Regisseur. Zischt ihn an von wegen Eigenmächtigkeiten, die seine Inszenierung gesprengt hätten und die er noch schwer bereuen würde. Die größte Bosheit hebt er sich für den letzten Satz auf.

»Sie sind halt ein Komiker. Wenn Sie nur den Mund aufmachen, fangen die Leute schon an zu lachen!«

Das verdirbt ihm fast den schönen Abend. Weil es einfach nicht wahr ist: Er kann zwar den Clown geben, aber eigentlich will er ins Charakterfach. Zumindest später mal. Doch als er dann mit den Kollegen beisammensitzt und den Abend mit einigen Gläsern Wein ausklingen lässt, hat er das dumme Geschwätz schon wieder vergessen. Die Karin Langgässer schwärmt ihn schon lange an, heute Nacht bringt er sie nach Hause und bleibt noch ein Weilchen. Wie das so ist unter Kollegen. Er kommt erst in den frühen Morgenstunden heim, schleicht auf Socken in sein Zimmer und schafft es gerade noch, seine Hosen ordentlich über die Stuhllehne zu hängen, damit die Bügelfalten drinbleiben. Dann fällt er todmüde ins Bett.