Atemhaut - Iris Blauensteiner - E-Book

Atemhaut E-Book

Iris Blauensteiner

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Beschreibung

Edin bekommt keine Luft mehr. Nachdem er seinen Job in einem Logistikunternehmen verliert, landet er knallhart in der Orientierungslosigkeit. Vor seiner Freundin Vanessa schämt er sich aufgrund des Schicksalsschlags und flüchtet sich weiter und weiter in imaginäre Welten. Wie Granaten schlagen sich die Eindrücke seiner Gegenwart – die Jahrtausendwende steht kurz bevor – im Universum seiner Gefühle nieder und wecken Erinnerungen an Erlebnisse im Jugoslawienkrieg. Nur in Computerspielen ist Edin der Egoshooter-Held, der alles unter Kontrolle hat. Doch wird er auch im Alltag, der ihn wie eine lärmende Geräuschkulisse überrollt, das nächste Level erreichen? In ihrem zweiten Roman, zu dem die Klangkünstlerin Rojin Sharafi den passenden Soundtrack komponiert hat, zeichnet Iris Blauensteiner ein feinfühliges und zutiefst poetisches Porträt eines jungen Mannes, der seine Identität in einer Welt voller Automatisierungsprozesse neu definieren muss. Was ist er als Mensch noch wert, wenn seine Leistung nicht mehr benötigt wird? "Du siehst Verzweigungen, unzählige Pfade, die von dir wegführen, siehst, dass parallele Möglichkeiten in dir existieren. Die Zukunft ist immer woanders."

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Iris Blauensteiner

ATEMHAUT

Roman

Mit einem Soundtrackvon Rojin Sharafi

Inhalt

Atemhaut Track A

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Atemhaut Track B

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Atemhaut Track C

Kapitel X

Du bewohnst den Körper eines Helden. Du siehst deine Heldenhände vor dir. Du hörst deinen Körper beim Laufen keuchen und beim Springen stöhnen. Wenn du erschrickst, schreist du manchmal auf. Dein Atem ist stabil, keine Unregelmäßigkeiten. Du befolgst die Regeln. Und du lernst, wie du gewinnst. Du setzt Handlungen, entscheidest, du bereust nichts. Nach einem Erfolg seufzt du. Du trainierst, ahnst immer deutlicher die Geheimnisse, die Schwellen zum nächsten Level, die Fehler, Fallen und Hinterhalte. Die Zonen, in denen Funktionen ausfallen werden, witterst du. Du erkennst die Waffen, die einwandfrei losfeuern werden, und hältst dich nicht mit denen auf, die im entscheidenden Moment blockieren. Du leistest, so viel du kannst, kämpfst für dein Leben. Du verteidigst deinen Platz, funktionierst in der Ordnung. Beweise genug dafür, dass es dich, diesen Helden, gibt.

AtemhautTrack A

https://www.irisblauensteiner.com/de/literatur/atemhaut-track-a/

I

Du stolzierst im Neonlicht. Mit weitem Blick nimmst du die Wege, die Hindernisse, die enormen und die geringsten Bewegungen wahr. Es scheint dir, als stöben deine Knochen auseinander wie in einem luftleeren Raum, kein Druck hält deinen Körper zusammen. Die Wangen locker, der Kiefer fällt, dein Mund klappt beinahe auf. Die Schultern liegen am Brustkorb. Du fühlst die Oberschenkelmuskelfasern, trittst in sicheren Schritten auf breiten Sohlen.

Die Fäuste lösen sich und in den Fingern sammelt sich die Kraft. So gehst du zwischen den Greifarmen und Laufbändern, den Wägen und Gabelstaplern, den Kollegen und Kolleginnen an den Geräten und den Waren hindurch, die sich zu den perfekten Uhrzeiten an den vorgesehenen Stellen im System befinden. Du bist überzeugt, dass dich jeder sieht, dass du auffällst. An deiner pfeilgeraden Wirbelsäule ist der kräftige Rest montiert, sie ist ein Gerüst für das perfekte Modell. Du fühlst ein Kraftfeld um dich, das wie ein Magnet Partikel anzieht und aufnimmt. Du dehnst dich aus. Du bist eine Sonne, die es schafft, aus voller Kraft zu strahlen. Ausatmen und vertrauen, dass der nächste Atemzug kommen wird, von selbst. Das ist dein Raum. Der Raum ist Teil von dir. Das ist dein Körper. Dein Körper gehört zur Maschine. Du empfindest deine Struktur darin deutlich. Die Maschine arbeitet, Tag für Tag. Und dennoch, was ist das? Du fühlst einen zusätzlichen Herzschlag, aus dem Takt.

Listen schieben dich durchs Leben, Zahlen laufen aus der stotternden Druckermaschine, Bestellscheine fahren entlang ihrer Perforierungen durch die Räder, Tabellen, schwarze Schrift. Die Scannercodes zeigen, was geholt, was eingelagert, was nachbestellt werden muss, welche Plätze voll, welche Plätze frei sind. Das System des Warenlagers leistet viel, es läuft sieben Tage die Woche vierundzwanzig Stunden, es dirigiert die Lagerarbeiter. Doch seine Einzelteile setzen ständig unerwartet aus und müssen repariert werden. Eine kurze Störung und der gesamte Ablauf ist außer Kontrolle, aber ihr Arbeiter habt Ideen, wie dennoch der Betrieb in der Halle aufrecht bleibt, und am Ende fallen die Pakete immer reihenweise in die Container.

Vorsortiert wird noch in der Nachtschicht, damit die Leute der Tagschicht, wenn sie kommen, gleich wieder die Bänder befüllen können. Ihr entfernt Sperrgut aus den Rollcontainern, wuchtet sie durch die Hallen. Im Lärm macht ihr euch so verständlich wie möglich: »Tür zu!«, »Tür auf!«, »Zum Chef!«, »Paketrutsche, Stau!«.

Ihr versammelt euch um ein Fließband, werdet neu eingeteilt, denn das Laufband X2000 ersetzt die Arbeiter in Halle drei.

Ihr zählt die Sekunden und verliert die Tage. Das rote Licht des Scanners trifft den Barcode. Piep. Artikel eingelagert. Piep. Fehler. Nicht eingelagert. Piep. Wenn du auf die Displays schaust, wirken die Prozesse glatt.

Das Regalsystem ist das Zentrum des Lagers, zu erreichen über vier Ebenen, verbunden durch Aufzüge und Treppen bietet es Zugang zu zwei Millionen Artikeln. Das Gerät zeigt, welche Gänge du ansteuern, welcher Regalnummer du folgen musst, auf welchem Brett und an welcher Position die gesuchte Ware zu finden ist. Auf dem Weg weichst du den Stapelwagen aus, die die Artikel einlagern. Gang C105, H457, N56, fünfzehn Kilometer pro Schicht. Packlisten, Transportarten, Waren, Menge, Masse, Wert. Im Frühjahr: Bäume. Im Sommer: Gartenmöbel. Im Herbst: Autoreifen. Zu Weihnachten fahren Fluten von kleinen Paketen und Retouren von euren Händen aufs Förderband gelegt durch die Hallen. Die Barcodes leiten die befüllten Kisten auf dem Band automatisch weiter zur Verpackungsabteilung. In einem Labyrinth aus Wegen, geordnet nach Zustellgebieten, Zustellarten und Zustellern, gelangen die fertigen Pakete weiter zum Versand. Jedes von ihnen fällt auf die richtige Rutsche für den LKW und damit aus eurer Verantwortung heraus.

Wenn du Vanessa zwischen den Kollegen begegnest, ihr aneinander vorübergeht, spürst du kurz ihren Atem. Du hörst ihren Klang und weißt, dass dieser Klang zu deinem passt. Es ist das Rauschen der Nervenbahnen, die um Erlebtes wachsen, das Säuseln der Verästelungen. Du kannst es mit geschlossenen Augen erkennen. Alles, was du willst, sind dieselben Schichten wie Vanessa, damit ihr auch dieselben freien Zeiten zu Hause habt, und einen der Stühle neben ihr während der Pause. Ihr wechselt einen Blick, eine Berührung, ein freundliches Wort. Manchmal besprecht ihr heimlich im Aufzug, wer heute die Einkäufe erledigen wird. Das Gelb ihrer Warnweste leuchtet am hellsten von allen.

Du liebst, dass ihr immer etwas zu lachen findet, bis die Backen wehtun und der Bauch. Sie lacht über deine Witze und du über ihre, meistens, weil ihr sie wirklich lustig findet. Und oft, weil das Lachen ein schönes Gefühl ist und du ihr dabei nahe bist. Ihr Lachen hat etwas Gewaltiges, das plötzlich hereinbricht, das man gar nicht überhören kann, manchmal verunsichert es dich auch. Oft geht es in ein Husten über, weil Vanessa viel raucht. Aber genau dieses Lachen, so wie es ist, gefällt dir.

Ihr teilt mehrere graue T-Shirts, manchmal trägt sie eines und manchmal du, sie gehören euch beiden. Mittlerweile sind sie verwaschen und weich. Wenn du siehst, dass Vanessa eines eurer T-Shirts anhat, fühlst du dich mit ihr verbunden, egal an welcher Stelle der großen Maschine sie gerade ist.

Mit der Zeit hast du bemerkt, dass du dich nicht nur auf sie freust, sondern dass du sie brauchst, als wärst du mit Klebstoff beschmiert und sehntest dich nach einer Fläche, mit der du dich verbinden kannst, bevor der Klebstoff wieder trocknet.

Vanessa arbeitet beim Retourenmanagement, prüft Gründe für Rücksendungen von Waren und bestimmt die weiteren Verfahrensweisen. Sie achtet auch auf die Optimierung des Barcodesystems und bringt Vorschläge, denn im System läuft sowieso etwas grundsätzlich falsch. Pakete mit ruinierten Codes, unlesbaren Adressen und Nummern oder beschädigten Aufklebern werden aussortiert oder fahren aufsichtslos im Kreis. Manchmal wird nach einem einzelnen gesucht, aber eigentlich braucht diese Pakete niemand mehr. Fallen sie aus dem System, weiß dieses nur, dass die Zustellung unmöglich ist, aber selten, was passiert sein könnte oder wo sie sich befinden. Diese Pakete lagern im Rollcontainerwagen am Ende der Halle, monatelang bis zur nächsten Inventur. Nach fünf Jahren bist du geübt darin zu erahnen, was die Pakete beinhalten, ihr Arbeiter macht manchmal ein Ratespiel daraus. Einige der obsolet gewordenen Gegenstände könntet ihr selbst gut gebrauchen. Doch etwas nach er Inventur zu behalten, ist verboten. Die Pakete werden zu Abfall, ihr schiebt sie zum Müll.

Ihr stoßt, hebt, drückt, zieht die Artikel durch die Hallen. Heimtückisch sind die unberechenbaren Pakete, in denen das Gewicht ungleichmäßig verteilt ist. Oder die, in denen der Inhalt verrutscht, in denen das Innenleben sich bewegt, die ohne Füllmaterial verpackt sind. Sie brauchen Balance und einen wachen Geist. Du transportierst Pakete, malst dir die Geheimnisse aus, die hinter den Kartons, der Wellpappe, den Codes und Adressen stecken: massive Küchenmaschinen, überdimensionierte Stofftiere, moderne Soundanlagen, teure Computertechnik. Du stellst dir vor, dass sich jemand für diese Gegenstände aus dem Katalog entschieden hat. Ob sich die Person freut, wenn das Paket ankommt? Oder ob der Gegenstand doch nicht ihr Bedürfnis erfüllt?

Diese Gedanken wirbeln in dir, während du die Pakete beförderst. Du verschiebst ihre Plätze, stellst sie dorthin, wo sie hingehören, so wie der Plan es vorgibt, schaffst Ordnung, in der Pakethalle und auch in dir.

Wenn du darüberstreichst, fühlst du an zwei Stellen deines Bauches kleine Knubbel, Risse in der Muskeloberfläche. Schmerz zieht in den Rücken. Zu wenig Tabletten zeigen keine Wirkung, von zu vielen Tabletten wird dir übel und schwindelig. Die Übelkeit kriecht vom Magen in den Unterbauch und wieder zurück. Schweiß sickert aus den Poren und trocknet kalt auf der Stirn.

Vanessas Kompliment kreist in deinem Kopf: »Kein anderer ist so gut beim Heben der Dreierkisten wie du, Edin.«

Du stemmst, hievst, schiebst. Das Gefühl, den Aufgaben nicht mehr hinterherzukommen. Der eigene Wille, das eigene Tempo stoppen den großen Plan, die Liste, die über allem schwebt. Du schaffst die Stückzahl nicht mehr, am Ende der Schicht bleiben dir seitenlange Posten übrig. Auf den Listen der anderen sind es vielleicht zwei oder drei der großen Pakete.

Du schaust, wie die anderen sich bewegen, ob sie ergonomischer heben und tragen, aber da ist kein Unterschied zu dir. Du versuchst den Rücken gerade zu halten, dich mit der Kraft der Beine hochzudrücken, doch die Wirbel reiben aneinander. Dein Körper nutzt sich bereits ab. Stiche blitzen durch die Krümmung der Wirbelsäule, als würde sie zusammengestaucht werden, als würden mit jeder Bewegung Nerven verschoben. Der Kiefer sitzt angespannt im Schädel. Viele kleine Muskeln halten ihn fest. Dein Knie knirscht. Ein Blick. Du willst kein Mitleid. Du hast alles im Griff. Du sorgst für dich, wirst weiterarbeiten, du wirst sagen: »Der, der das alles geschafft hat, bin ich!«

Du kämpfst stolz weiter. Das hier ist deine Aufgabe, dein Platz. Das Herz hat Ausdauer, ein Menschenleben, drei Milliarden Schläge.

Das Schmerzgel ist heiß auf der Haut und rötet sie. Mit deinen Bewegungen verteilt sich der Geruch im Raum und jeder kann wittern, dass du beinahe entzweibrichst. Wenn es wieder knackt, reagierst du nicht, vielleicht bemerken es dann die anderen auch nicht. Du musst aufpassen, was du sagst und was du verheimlichst, du bekommst schlecht Luft. Was, wenn du dich plötzlich nicht mehr rühren kannst? Dein Herz pocht, du hoffst, dass dein Körper nicht plötzlich nachgibt. Mehr Magnesium sollst du zu dir nehmen, zusätzliche Tabletten. Du versteckst die Pillen. Du weißt, dass du dich nicht für deinen Körper schämen musst, doch das Wissen löscht die Scham nicht aus.

Der Körper ist mächtig. Der Körper ist schwach. Der Körper kann heilen, er erwacht pausenlos aufs Neue. Du wünschst dir, dass die Einzelteile einrasten in ihrer störungsfreisten Anordnung.

Samir zwinkert dir zu, nimmt deine Liste mit und bringt sie mit dem Vermerk zu den Positionen wieder, die er für dich erledigt hat. Du gibst deine Liste beim Schichtleiter ab.

Ihr verlasst nach der Schicht miteinander die Halle. Der Schichtleiter steigt in sein Familienauto. Du nimmst den Bus.

Früher warst du immer unter den Besten, wenn ihr die Listen verglichen habt, der Schichtleiter lobte dich. Und er lobte dich wieder, aber etwas weniger, und immer weniger, und irgendwann war dein Tempo für ihn und die anderen normal, schon während der Lehre und auch in den zwei Jahren seither. Ältere Kollegen meinten, ob du dich nicht übernehmen würdest und dass man auch, wenn man jung ist, auf die Gesundheit achten muss, der erste Bandscheibenvorfall wäre ein Schock. Trotzdem wuchtetest du mehrere von den schweren Paketen auf einmal, während die anderen dich ehrfürchtig anblickten.

Was du tust, ist richtig. Du arbeitest acht bis zehn Stunden am Tag. Du funktionierst, kennst die Abläufe, weißt genau, was zu tun ist. Du kannst dich behaupten, du gehörst dazu, du bestehst im Kampf ums Überleben.

Du sagst dir: »Du siehst nicht kräftig aus, bist nicht groß oder muskulös, aber keine andere Wirbelsäule leistet so viel wie deine, jedem Paket zum Trotz.«

Du willst es ihnen beweisen, es ist nur vorübergehend, dass du im Ranking unter den Letzten bist. Und du vergisst den kurzen Zweifel und lässt dich für Überstunden einteilen.

Die Arbeit besitzt den Tag. Im Anschluss nach Hause, einkaufen, essen, Kleidung in die Waschmaschine werfen, duschen, den schwarzen Belag von den Händen schrubben, Pflaster auf die Schrammen kleben, online gehen, den nächsten Level erreichen, dich mit Vanessa darüber freuen, wenn im Radio das Lied läuft, das euch beiden gerade am besten gefällt, dich ins Bett werfen, Schäfchen zählen, weil du noch nervös bist, schlafen, und wieder der Wecker, rechtzeitig vor Schichtbeginn läutet er, den Mond oder die Sonne anschauen, sich aufraffen, zur Arbeit hasten, tragen, schlichten, schupfen.

Eilschritt, die Hektik trägst du mit. Du fauchst, wenn dir einer zu langsam geht, zu langsam an der Kassa das Geld zählt, den Einkauf im Schneckentempo einpackt oder wenn du vor der Ampel wartest. Wenn ein Verkäufer oder eine Busfahrerin ihre Handgriffe nur träge ausführen, stehlen sie dir die Zeit.

Schweißgeruch und Müdigkeit, du hast den Tag erledigt. Die Luft ist staubig. Ihr bringt den Staub von draußen mit. Jeder kann ihn euch ansehen, die Jacken, Hosen, Pullover, die Haare sind von einer grauen Schicht bedeckt.

»War es heute anstrengend?«, fragst du Vanessa.

»Unglaublich, ja.«

»Wie wäre es mit Obst?«

Ihr grabt die Zähne in die saftigen Fasern einer Orange, saurer Saft auf euren Zungen. So satt wirst du nur nach der Arbeit. Du magst es, die Schuhe auszuziehen und die Füße hochzulegen, die Packung einer Chipssorte zu öffnen, deren Geschmack du vergessen hast, du magst es zu merken, dass du ein scheinbar unüberwindbares Problem doch überwunden hast. Ein sekundenlanger Blickwechsel, der dich zum Leuchten bringt. Du ertappst dich beim Träumen, von Urlaub am Strand, vom grauen Ledersofa, über das Vanessa schon mehrmals gesprochen hat, von einem Fußballpokal mit deinem Namen darauf, von einer Wohnung mit drei Zimmern und einem Kabinett, von einer Hängematte auf einem eigenen Balkon, von Namen, die ihr einem gemeinsamen Kind geben könntet.

Der Rücken ächzt, das Hüftgelenk und das Knie knarren, du bist erleichtert, die Knochen sinken wieder in ihre Positionen zurück.

Du kümmerst dich gern um eure Wohnung, zahlst die Miete, die Strom- und Heizungskosten ein, du empfängst den Rauchfangkehrer, organisierst die Thermenreparatur, versuchst die Internetausfälle zu beheben. Du verspachtelst Schrammen in den Wänden, überstreichst dunkle Stellen, du wechselst die Glühbirnen und Staubsaugerfilter, reinigst die Abflüsse und putzt die Fugen. Deine Hände sind klein, die Nägel abgekaut, doch mit ihnen reparierst du sogar die winzigen Scharniere eurer Regenschirme, du nähst in feinen Stichen und spannst den Stoff, der euch vorm Regen schützt, straff auf.

Ein Funke von Bewunderung in Vanessas Augen ist wie eine warme Dusche, ein gemütlicher Frühstücksmorgen, kühler Bierschaum am Nachmittag und die Option auf eine andere Welt, eine wählbare Abzweigung, manchmal.

Enter. Du durchquerst drei mit Maschendrahtzaun umwickelte Tore. Sonnenuntergang. Jedes Mal, wenn du die Schleuse betrittst, kommst du zu dir. Du hörst das metallische Quietschen, mit dem sich das erste Tor hinter dir schließt. Dir gehen vergangene Erfolge durch den Kopf. Zehn Levels hindurch suchst du nach der finalen Schwelle, die unsichtbare Tür ist scharf bewacht. Ein Hund heult irgendwo. Nacht. Hinter dem zweiten Tor beginnt der neue Level. In dem noch unbetretenen Gebiet kann man nichts vorhersehen, aber du verlässt dich auf deine Kraft, weil du auch vor diesem Level schon so viele geschafft hast, du läufst dem Mond auf dem Wüstenweg entgegen, Routine, Zentimeter für Zentimeter.

Du ziehst deine Handschuhe zurecht, deine starken Hände werfen keine Schatten vor dem Licht der Explosion. Diese Hände, denen du dein Leben anvertraust, die für dich handeln, in jeder Situation, deine Werkzeuge, dein Können. Deine Hände vor der dunklen Sonne, die Hände in der hellen Nacht. Du führst sie wieder zum Körper.

Entschlossen gehst du durchs Feuer. Du hast viel erlebt, Erfahrungspunkte gesammelt. Dein Atem begleitet dich.

Die Sonne wandert von Ost nach West, beleuchtet die Inselstadt im Ozean. Der Himmel ist eine purblaue Fläche. Das Licht wird als Glitzern im Asphalt, im Lack der Autowracks, auf deiner Lederjacke reflektiert. Die Gebäude der Stadt sind als ziegeltexturierte Flächen, als dreidimensionale Objekte in den Raum gesetzt. Aus der Ferne wirken die Umgebungsschatten plastisch, aus der Nähe wirken sie wie unabhängige Objekte. In manchen Momenten glaubst du der Darstellung dieser Realität, in anderen Momenten wirkt sie künstlich, du bewegst dich unbesorgt darin.

Du schaust zu Vanessa hinüber, sie ist neben dir im Zimmer und ihr Wolf sprintet knapp hinter dir auf den Straßen der Inselstadt. Eure Raster legen sich zweifach übereinander, ihr haltet euch in denselben Zonen auf.

»Weg vom Fenster! Er kann uns sehen.«

Vanessas Wolf dreht sich zu dir um, reißt den Schlund auf, das Gewehr hält er bereit, den Lauf noch auf den Boden gerichtet. Seine Pupillen leuchten. Staubige Straßen vor euch, gelber Wüstensand. Der Wind dreht zwischen den Häuserfronten.

»In Deckung!«