Atheismus - Winfried Schröder - E-Book

Atheismus E-Book

Winfried Schröder

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Beschreibung

Wirft man einen Blick auf die greifbare Literatur zum Atheismus, stellt man rasch eine Lücke fest. Zwar gibt es eine Reihe von ausgezeichneten Darlegungen atheistischer Positionen (Ansgar Beckermann, Norbert Hoerster, John L. Mackie), nicht aber eine Diskussion der gegen den Atheismus erhobenen Einwände. Darunter sind etwa die folgenden: Atheisten könnten die Nichtexistenz Gottes nicht beweisen (verträten also eine dogmatische Position); prominente atheistische Argumente (etwa Russells »teapot argument«) seien Fehlschläge; die atheistische Weltsicht sei im Lichte neuerer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse unplausibel; Atheisten bezögen sich auf einen veralteten Gottesbegriff, der nicht mehr der heutigen Theologie entspreche; der Atheismus sei in existenzphilosophischer Perspektive defizitär und mit Verlusten verbunden. Schröder diskutiert diese Einwände mit großer Genauigkeit und kommt zu einem abgewogenen Urteil. Sein Buch leistet einen wichtigen Beitrag zu einer noch längst nicht abgeschlossenen Debatte.

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Winfried Schröder

Atheismus

Fünf Einwände und eine Frage

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-4509-0

eISBN (ePub) 978-3-7873-4510-6

2., durchgesehene und aktualisierte Auflage 2023

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH www.meiner.de

INHALT

EINLEITUNG

Theismus, rationale Theologie, Atheismus

ERSTES KAPITEL

Atheismus und Dogmatismus

ZWEITES KAPITEL

Atheismus und Ontologie

DRITTES KAPITEL

Atheismus und Erklärungslücken

VIERTES KAPITEL

Atheismus, Politik und Moral

FÜNFTES KAPITEL

Atheismus und alternative Gotteskonzeptionen

SECHSTES KAPITEL

Ist der Atheismus mit Verlusten verbunden?

SCHLUSS

Anmerkungen

Bibliographie

Namenregister

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Seit der ersten Auflage dieser Abhandlung ist eine Reihe wichtiger Publikationen erschienen, die in die Anmerkungen und die Bibliographie eingearbeitet wurden. Der Haupttext wurde inhaltlich nicht verändert. Auf eine Diskussion der unten aufgeführten Rezensionen und Kritiken habe ich verzichtet. Besonders hinweisen möchte ich jedoch auf die kritischen und weiterführenden Überlegungen von Robert Schnepf in seinem genannten Beitrag.

L. Kreimendahl, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 75 (2021) 614–619.

H.-M. Barth, in: Zeitschrift für Religion und Weltanschauung (3/2022).

R. Lüthe, in: Philosophischer Literaturanzeiger 75 (2022) 273–277.

J. Elberskirch, in: Theologische Revue 118 (Februar 2022)

A. Pfahl-Traughber, in: Aufklärung und Kritik (2021) 249f.

H. von Sass, in: Theologische Literaturzeitung 146 (2021) 1242–1244.

M. Küpper, in: Aufhebung 6 (2021) 89–92.

K. D’huyvetters, in: humanistisch verbond (23.3.2022).

J. Drescher, in: Eulenfisch (2021) H.2, 60f.

U. Buhlmann, in: Die Tagespost (2.2.2022).

M. Mindach: Schröders Atheismus, in: Aufklärung und Kritik (2022) H.2, 113–126

R. Schnepf: »Du musst nur die Laufrichtung ändern«. Bemerkungen anlässlich Winfried Schröders ›Atheismus. Fünf Einwände und eine Frage‹, in: Methodus 10 (2021) 110–145.

EINLEITUNG

THEISMUS, RATIONALE THEOLOGIE, ATHEISMUS

1 Vor bald zweieinhalbtausend Jahren hat Platon – in Abgrenzung von der mythischen Vorstellung von Göttern, die als übermenschliche Wesen den Kosmos bewohnen – im 10. Buch der Nomoi die erste Skizze einer nicht auf Glaube und Tradition, sondern auf Argumente gestützten philosophischen Theorie entworfen, die wir heute ›Theismus‹ nennen. Sie besagt, dass es eine transzendente göttliche »Ursache von allem« gibt, die die Prozesse im Kosmos lenkt (896a ff.). Seither stehen verschiedene Varianten eines monotheistischen Gottesbegriffs1 auf der Tagesordnung der Philosophie. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die gegenüber Platons Skizze erweiterte Gestalt des Theismus – der sogenannte ›Standardtheismus‹ – ist Gegenstand von Debatten, die mit ungeminderter Intensität geführt werden: Lässt sich die Annahme begründen, dass es einen Gott – eine transzendente Person, die allmächtig, allgütig, allwissend und der Schöpfer und Lenker des Universums ist – gibt? Dass diese Debatten nach wie vor in der Philosophie geführt werden, ist keineswegs selbstverständlich; man denke an das neopositivistische Verdikt gegen jede Form von Metaphysik, dem zufolge alle Aussagen über Gott – affirmative wie negative – sinnlos sind.2 Aber dem wird seit langem kaum mehr Beachtung geschenkt. Nicht wenige Atheisten halten zentrale doktrinale Elemente des Theismus keineswegs für sinnlos, sondern für grundsätzlich wahrheitsfähig, wenngleich sie sie als falsch zurückweisen.

Die Stichworte ›Gott‹ und ›Religion‹ lassen an eine Reihe von gegenwärtig intensiv diskutierten Fragestellungen und Theorien denken: Fragen im Schnittfeld von Religionsphilosophie und Sozialwissenschaften sowie Politikwissenschaft, etwa zur gemeinschaftsstiftenden Funktion religiöser Praxis und kirchlicher Institutionen (vgl. Crane: Die Bedeutung des Glaubens) und zum Zusammenhang von Religion und Gewalt (vgl. Assmann: Die mosaische Unterscheidung); im engeren Sinne religionsphilosophische Fragen, die die Epistemologie des religiösen Glaubens und seine psychologische Dimension sowie göttliche Offenbarungen in heiligen Schriften betreffen; die Frage nach der Möglichkeit und dem Sinn einer »Religion ohne Gott« (Dworkin) oder einer »Spiritualität ohne Gott« (Comte-Sponville); und schließlich theologische, auf die Autorität von Offenbarungen gestützte und diese auslegende sowie systematisierende Theorien. Diese Themen liegen außerhalb des hier gewählten Rahmens und werden allenfalls am Rande (letzteres etwa im Schlusskapitel) angesprochen. Es wird vielmehr um die Debatten über die metaphysische These gehen, dass ein allmächtiger und allgütiger göttlicher Welturheber existiert.

Eine Darstellung, Vertiefung oder Erweiterung des Arsenals von Argumenten gegen den Theismus wird im Folgenden nicht geboten. Das leisten mehrere Bücher, insbesondere von Mackie, Martin, Hoerster und Beckermann, deren Ausführungen hier nicht wiederholt und diskutiert werden sollen. In den einschlägigen Debatten trifft man jedoch eine Reihe von Einwänden gegen den Atheismus an, die eine nähere Auseinandersetzung verlangen (im Einzelnen unten Abschnitt 5). Um sie geht es in diesem Buch.

2 Die philosophische Disziplin, die mit der Frage nach der Existenz Gottes befasst ist, trug und trägt mehrere Namen. Am verbreitetsten sind ›philosophische Theologie‹, ›natürliche Theologie‹ und ›Rationaltheologie‹/›rationale Theologie‹. Wenn im Folgenden der Terminus ›rationale Theologie‹ bevorzugt wird, ist damit keine Positionierung in der Sache angezeigt. Denn im Kern sind diese Bezeichnungen gleichbedeutend. In allen Fällen ist das Vorhaben gemeint, mit ›bloßer Vernunft‹, also ohne jeden Rekurs auf religiöse Offenbarung, wahre und begründete Aussagen über Gott, seine Existenz und seine Eigenschaften zu treffen. Dieser Begriffsgebrauch hält sich von der mittelalterlichen, aber schon in der Antike vorbereiteten theologia naturalis bis zur Gegenwart durch (vgl. Schröder: Religion, natürliche). In der klassischen Disziplineneinteilung der Philosophie ist die rationale Theologie eine Sektion der ›speziellen Metaphysik‹, also eine der drei ›Bereichsmetaphysiken‹ neben der ›rationalen Psychologie‹ und der ›rationalen Kosmologie‹. Wie Metaphysik überhaupt, hat die rationale Theologie nichts mit Glauben zu tun, sondern zielt auf Wissen über ihren Gegenstand. Auch heute fragt sie danach, welche Aussagen über die Existenz und die Eigenschaften Gottes sich als wahr oder wahrscheinlich ausweisen lassen. Wenn wir die ›rationale Theologie‹ durch diese Fragen definieren, sind ihr auch atheistische oder agnostische Theorien zuzurechnen.

Wichtig für die folgenden Überlegungen ist das Verhältnis, in dem die rationale Theologie zu den im eigentlichen Sinne religiösen Lehren steht, die nicht aus bloßer Vernunft gewonnen, sondern durch Offenbarungstexte göttlichen Ursprungs bekannt gemacht und beglaubigt worden sind. Die klassische, auch gegenwärtig zumeist als angemessen betrachtete Verhältnisbestimmung sieht die Aufgabe der rationalen Theologie darin, die Grundlagen der geoffenbarten Glaubenswahrheiten mit philosophischen Argumenten zu sichern und zu verteidigen. Der Glaube an eine göttliche Offenbarung setzt ja voraus, dass es Gott, ihren Urheber, gibt. Thomas von Aquin bezeichnet in diesem Sinne die Aussagen der rationalen Theologie (der theologia naturalis) als »praeambula fidei«, also als rational gesicherte Annahmen über Gott, die den Glaubenswahrheiten als deren Voraussetzungen ›vorausgehen‹.3 Dabei handelt es sich um Aussagen über die Existenz, Allmacht, Allgüte, Allwissenheit sowie die Schöpfertätigkeit und die Vorsehung Gottes. Über diese können wir Thomas und der Tradition zufolge, gestützt auf Beweise, Wissen erwerben.4 Manche Philosophen sagen es vorsichtiger: Wir können zeigen, dass sie wahrscheinlich oder rational zulässig sind. Nur dann kann ein rationaler Adressat der Offenbarung den eigentlichen Glaubensinhalten, von denen auch aus theologischer Sicht kein Wissen möglich ist (die Dreifaltigkeit, die zwei Naturen Christi, das Jüngste Gericht, die Verheißung ewigen Lebens), glaubende Zustimmung geben bzw. eine »vernünftige Hoffnung«5 auf sie richten. In diesem Sinne kann man von einer fundierenden Beziehung von rationaler Theologie und Offenbarungsreligion sprechen.

Ein Blick auf das Großprojekt Richard Swinburnes, eines der führenden Rationaltheologen der Gegenwart, macht die Plausibilität dieser Verhältnisbestimmung von rationaler Theologie und Offenbarung anschaulich. In einem ersten Schritt bemüht sich Swinburne darum, die Nichtwidersprüchlichkeit des standardtheistischen Gottesbegriffs aufzuzeigen (The Coherence of Theism; 1977). Erst dann entwickelt er Gottesbeweise (The Existence of God; 1979). Schließlich versucht Swinburne zu zeigen, dass göttliche Offenbarung möglich ist und ihren Lehren Glauben geschenkt werden kann (Revelation; 1991). Die rationale Theologie gelangt jedoch nicht mit eigenen Mitteln zu Aussagen über Gott, die über seine Existenz und seine basalen Eigenschaften wie Allgüte, Allwissenheit und Allmacht hinausgehen.

Mit dieser auch aus atheistischer Perspektive angemessenen Verhältnisbestimmung ist der rationalen Theologie eine klare Grenze gesetzt: Sie hat nicht die Mittel und ist aus theologischer Sicht auch nicht befugt, freihändig über Eigenschaften Gottes zu spekulieren, die jenseits der Fassungskraft der Vernunft liegen. Wie sollte sie auch dazu imstande sein, rational gerechtfertigte Aussagen über den trinitarischen Gott, die Bedingungen des Heils oder über Lohn und Strafe im Jenseits zu machen? Dennoch haben nicht wenige Philosophen versucht, diese Grenze in freier Spekulation zu überschreiten. Nicht alle haben wie Michael Theunissen (Philosophie der Religion oder religiöse Philosophie?) mit der gebotenen Klarheit festgehalten, dass eine solche »religiöse Philosophie« von rationaler Theologie und Religionsphilosophie strikt unterschieden ist.

Aus der Beschränktheit rationaler Theologie folgt ihre Ergänzungsbedürftigkeit. Denn wenn es gelingen sollte, die Existenz und die basalen Eigenschaften Gottes argumentativ zu sichern, wäre ein Theist damit noch nicht am Ziel angelangt. Es sind weitere Schritte zu tun, um das zu erreichen, worum es ihm letztlich zu tun ist: eine konkrete Orientierung für die Lebensführung und ein konkretes Heilsversprechen. Das kann die rationale Theologie mit ihren »kärglichen Präambula fidei« (Wagner: Religionsbriefe, 125), die lediglich Aussagen über einen allgütigen und allmächtigen Weltschöpfer beinhalten, keineswegs bieten. Aussagen über die Bedingungen der Erlösung oder über das Schicksal der Menschen nach dem Tode können allenfalls aus übernatürlicher Offenbarung bezogen werden. Die von ihren Vertretern eingestandene, ja betonte inhaltliche Beschränktheit der rationalen Theologie und ihre Ergänzungsbedürftigkeit durch Offenbarung (vgl. Ricken: Glauben weil es vernünftig ist, 41ff.) werden im Folgenden mehrmals wichtig werden.

3 In der Philosophie bezeichnet der Terminus ›Atheismus‹ seit der Antike6 die These, dass es keinen Gott bzw. keine Götter gibt. Üblicherweise spricht man von ›positivem Atheismus‹, wenn wir es mit der Behauptung der Nichtexistenz Gottes zu tun haben. Der Begriff des ›negativen Atheismus‹ bezeichnet demgegenüber das bloße Nichtvorhandensein der Meinung, dass es einen Gott gibt (dazu unten Kapitel 1.3). So verstanden, ist der Atheismus keine philosophische These. Aber genau das ist er zumeist in den heutigen philosophischen Debatten, und er war es in den historischen Kontroversen seit der Antike, in denen der Atheismusbegriff eine metaphysische Position bezeichnete, über deren Wahrheit gestritten werden kann. In diesem Sinne wurde der Satz »Es ist kein Gott« verstanden, den die Bibel (Psalmen 14 und 53) einem fiktiven ›Toren‹ (insipiens) in den Mund legt. Dieser ›Tor‹, der die Existenz Gottes bestreitet (dem also diese Überzeugung nicht bloß fehlt), war seit Anselm von Canterbury der Adressat der Gottesbeweise, die in der Geschichte der Philosophie entwickelt wurden (vgl. Bromand/Kreis: Gottesbeweise). Nicht anders wird auch heute die These, dass Gott kein Teil der Gesamtwirklichkeit ist, also der positive Atheismus, diskutiert. Was die heutige Debattenlage von den rationaltheologischen Kontroversen der Vergangenheit unterscheidet, ist, dass zusätzlich auch der negative Atheismus ein Thema ist. Im Folgenden wird deshalb auf beide Varianten des Atheismus einzugehen sein.

Eine weitere Besonderheit des Terminus ›Atheismus‹ ist noch eigens hervorzuheben. Normalerweise zeigt die Wortendung »-ismus« an, dass wir es – wie im Falle von ›Empirismus‹ oder ›Rationalismus‹ – mit einer Theorie zu tun haben. So ist ›Theismus‹ ein Sammelbegriff für verschiedene mehr oder weniger komplexe Theorien über Gott, seine Eigenschaften und sein Verhältnis zur Welt (Monotheismus, Polytheismus, Standardtheismus, dualistische Spielarten wie der Manichäismus usw.). ›Atheismus‹ dagegen steht für die These, dass Gott nicht existiert – und nicht für eine Theorie, die mehr beinhaltet als diese negative Existenzaussage. Allerdings begegnen wir der Negation der Existenz Gottes zumeist in Verbindung mit anderen (ontologischen, erkenntnistheoretischen oder moralphilosophischen) Annahmen; es ist dann häufig von einem ›naturalistischen‹, ›skeptischen‹ oder ›politischen Atheismus‹ die Rede. So hat es sich, obwohl dies streng genommen nicht korrekt ist, eingebürgert, ›Atheismus‹ als Sammelbegriff für verschiedene komplexe Theorien zu verwenden, in die die Negation der Existenz Gottes eingebettet ist.

4 Der Atheismus hat eine zwar nicht übermäßig lange, aber doch mehrere Jahrhunderte zurückreichende Geschichte. Das älteste Dokument, das wir kennen, ist ein anonymer, im Jahre 1659 verfasster Text – kein Pamphlet, sondern ein umfangreicher, sorgfältig argumentierender Traktat – mit dem Titel Theophrastus redivivus.7 Auskünfte über Atheisten der Antike, des Mittelalters und der Renaissance (Minois: Geschichte des Atheismus) halten einer Überprüfung an den Quellen nicht stand (vgl. Schröder: Ursprünge des Atheismus, 45ff.). In den Texten, die seit dem Theophrastus redivivus entstanden (vgl. Mori: Early Modern Atheism), treffen wir eine bemerkenswerte Vielfalt von Begründungen des Atheismus und eine große Zahl von Verbindungen mit diversen ontologischen und erkenntnistheoretischen Annahmen an. Sie sind außerhalb von Expertenkreisen kaum und in der heute tonangebenden anglophonen Forschung durchweg nicht bekannt. Völlig unzureichend, auch was die Aufarbeitung der einschlägigen Quellen und der internationalen philosophiehistorischen Forschung angeht, sind die Companions und Handbooks von Martin (2006), Bullivant/Ruse (2013 und 2021) und Oppy (2019). Das hat Folgen auch für ein nicht historisch, sondern systematisch ausgerichtetes Nachdenken über den Atheismus. Die einschlägigen Ansichten zeitgenössischer Philosophen, etwa Charles Taylors (A Secular Age), stützen sich auf ein jenseits von Kanal und Atlantik geradezu kanonisches Buch, Michael Buckleys At the Origins of Modern Atheism (1987; 22010). In völliger Unkenntnis der wichtigsten historischen Quellen sowie der nichtanglophonen Forschung meinte Buckley, der Atheismus sei ein Kind des 18. Jahrhunderts und erstmals in den Schriften des rabiat antiklerikalen Jean Meslier (s. u. S. 70) und der französischen Materialisten Holbach und Diderot entfaltet worden.8 Diese Behauptung hat zu weitreichenden und pauschalisierenden Schlussfolgerungen geführt. So ist häufig zu lesen, der Atheismus sei per se – wie dies in Holbachs Système de la nature (1770) tatsächlich der Fall ist – durch eine materialistische Ontologie begründet. Oder er sei im Grunde nur eine politisch motivierte Kampfansage an die christliche Kirche und folglich gar keine philosophisch satisfaktionsfähige Position. Der Blick auf den Theorienfundus, der im Corpus der atheistischen Texte seit den Anfängen im 17. Jahrhundert bereitliegt, kann diese Ansichten zurechtrücken. Er ist auch hilfreich, um eine Reihe weiterer Annahmen über den Atheismus zu überprüfen, die üblicherweise fraglos akzeptiert werden.

5 In den gegenwärtigen Debatten sieht sich der Atheismus mit einer Reihe von sehr unterschiedlichen Einwänden konfrontiert. So ist die Auffassung verbreitet, dass die Bestreitung der Existenz Gottes eine dogmatische Behauptung ist, die sträflich die unüberwindlichen Schwierigkeiten verkennt, die grundsätzlich mit dem Vorhaben eines Nichtexistenz-Beweises verbunden sind. In diesem Zusammenhang wird nicht selten der Agnostizismus, der auf die Negation wie auf die Affirmation der Existenz Gottes verzichtet, als die dem Atheismus überlegene Position ins Spiel gebracht (Kapitel 1). Gelegentlich wird behauptet, der Atheismus sei auf eine materialistische Ontologie festgelegt. Er stehe deshalb – anders als ein idealistischer oder dualistischer Theismus – einer Erklärung der Existenz des Mentalen, also der Tatsache, dass Wesen mit einem Ich-Bewusstsein in einer physikalischen Welt existieren, im Wege (Kapitel 2). Ein weiterer Einwand bezieht sich auf ein anderes, womöglich fatales Defizit des Atheismus: Wie können beispielsweise die im Universum zu beobachtenden Ordnungsstrukturen, wie kann die geradezu unwahrscheinliche Feinabstimmung der Naturkonstanten erklärt werden, ohne eine göttliche Intelligenz als deren Urheber anzunehmen? Der Atheismus scheitert, so heißt es oft, an den Erklärungslücken, die er nicht zu füllen vermag (Kapitel 3). Die These, dass der Atheismus eine Erosion der Moral nach sich zieht, und die oben erwähnte Behauptung, dass der Atheismus bloß ein philosophisch kostümierter, in Wahrheit jedoch politischer, antiklerikaler Angriff auf das Christentum und seine Institutionen ist, sind Thema des 4. Kapitels. Schließlich wird häufig geltend gemacht, dass der Atheismus sich kritisch auf eine historisch wirkmächtige, aber inzwischen obsolete Form des Theismus bezieht. In Abkehr vom Standardtheismus seien alternative Gotteskonzeptionen entwickelt worden, die die atheistischen Einwände ins Leere laufen lassen. Diverse Varianten eines modifizierten Theismus scheinen daher ernstzunehmende und kritikresistente Optionen zu sein (Kapitel 5).

Bei einem Buch, das sich die trockene Aufgabe gestellt hat, die wichtigsten Einwände gegen den Atheismus darzustellen und zu diskutieren, versteht sich eines von selbst: Es soll keine säkularistische ›frohe Botschaft‹ verkündet werden, wie man sie gelegentlich in den Verlautbarungen atheistischer oder ›humanistischer‹ Organisationen vernehmen kann und wie sie in der unter anderem von Richard Dawkins unterstützten Atheist Bus Campaign des Jahres 2008 spektakulären Ausdruck gefunden hat. Der Slogan, mit dem die damals durch die Londoner Innenstadt geschickten Busse plakatiert waren, klang tatsächlich fröhlich: »There’s probably no God. Now stop worrying and enjoy your life.« (vgl. Tomlins/Bullivant: The Atheist Bus Campaign, 1). Es wäre jedoch unredlich, diejenigen Aspekte und Implikationen des Atheismus mit Schweigen zu übergehen, die alles andere als erfreulich sind. Deshalb soll im abschließenden Kapitel die Frage nach den Verlusten, die der Atheismus uns womöglich zumutet, angesprochen werden.

ERSTES KAPITEL

ATHEISMUS UND DOGMATISMUS

1 Die Reichweite der These, dass es keinen Gott gibt, variiert in den historischen und aktuellen Spielarten des Atheismus. Der ›globale Atheismus‹ bestreitet die Existenz eines jeden, wie auch immer beschaffenen Gottes; ›lokale‹ Varianten negieren bestimmte Gottesvorstellungen, insbesondere die des Standardtheismus, die denen der abrahamitischen Religionen entspricht (vgl. Diller: Global and Local Atheisms). Auch der epistemische Status der Negation der Existenz Gottes wird unterschiedlich gefasst. Manche Atheisten erheben für ihre Überzeugung einen Wissensanspruch. Andere halten sie insoweit für begründet, als sie als wahrscheinlich zu gelten hat. Allen ist jedoch der Anspruch gemeinsam, dass sie eine argumentativ gesicherte philosophische These vertreten, bei der es sich um mehr als eine bloß rational zulässige Meinung handelt.

Dieses Selbstverständnis ist aus der Sicht vieler Kritiker des Atheismus »dogmatisch«.9 Mit diesem Vorwurf ist zumeist gemeint, dass Atheisten für die Überzeugung von der Nichtexistenz Gottes einen Wissensanspruch erheben, obwohl sie mangels durchschlagender Argumente tatsächlich »nur den Status eines Glaubens« (Rohs: Der Platz zum Glauben [2016], 519) besitze. Die Militanz mancher Atheisten verdecke nur, dass die Negation der Existenz Gottes letztlich ein Glaubenssatz und nicht mehr als der Ausdruck einer »fundamentalistischen« weltanschaulichen Entscheidung, eine säkularistische und zugleich dogmatische »Quasi-Religion« sei.10

Dem Dogmatismus-Vorwurf sieht sich nicht nur der globale, sondern auch der lokale Atheismus ausgesetzt. Auch seinen Vertretern wird vorgehalten, sie erhöben für ihre Behauptung, dass der standardtheistische Gott nicht existiert, einen Wissensanspruch, den sie de facto nicht einlösen oder gar prinzipiell nicht einlösen können. Unstrittig ist, dass Nichtexistenz-Behauptungen nur in bestimmten Fällen begründet werden können. Dass zwischen mir und meinem Schreibtisch keine Autobahn verläuft, lässt sich, wenn denn mein Wahrnehmungsapparat verlässlich funktioniert, empirisch feststellen. Der Begriff eines viereckigen Kreises ist widersprüchlich und kann infolgedessen nicht instantiiert sein. Sollte nun auch der standardtheistische Gottesbegriff widersprüchlich sein, würde ihm gleichfalls nichts in der Realität entsprechen. Tatsächlich haben manche Atheisten geglaubt, dass sich ein unauflösbarer logischer Widerspruch zwischen den Gottesprädikaten aufzeigen lässt. Damit wäre die Behauptung der Nichtexistenz Gottes gerechtfertigt; sie wäre als Wissen auszuzeichnen und nicht als ›dogmatisch‹ abzuqualifizieren.

Das in diesem Zusammenhang klassische Argument ist der Theodizee-Einwand: Die Gottesprädikate Allmacht und Allgüte sowie die Annahme, dass Gott diese Welt voller Übel erschaffen hat, lassen sich nicht kohärent zusammendenken. Entweder, so lautet das sogenannte Epikur-Trilemma (überliefert von Laktanz: Vom Zorn Gottes, 13), wollte Gott das Übel verhindern und konnte es nicht – dann ergibt sich ein Widerspruch mit seiner Allmacht. Oder er konnte es, wollte es aber nicht – dann ergibt sich ein Widerspruch mit seiner Allgüte. Und die Annahme, dass er es weder wollte noch konnte, ist mit den beiden genannten Gottesprädikaten unvereinbar. Daher, so wurde oft geschlossen, ist es nicht möglich, dass ein allmächtiger und allgütiger Gott der Urheber dieser übelbehafteten Welt ist. Wir stellen also nicht die dogmatische Behauptung auf, dass Gott nicht existiert – wir wissen es.

Auf den ersten Blick scheint dieser Einwand durchschlagend zu sein. Tatsächlich ist er jedoch problematisch. Seine Achillesferse ist die Stärke der Behauptung, es sei nicht möglich, dass Gott das Übel zugelassen hat, und infolgedessen notwendig wahr, dass er nicht existiert. Dagegen wird von theistischer Seite erwidert, dass die Zulassung des Übels durch einen allmächtigen und allgütigen Gott durchaus widerspruchsfrei denkbar, also möglich ist. Dazu werden diverse Zusatzthesen ins Spiel gebracht. Der Wille Gottes, die Menschen als frei handelnde Wesen und nicht als determinierte Automaten zu erschaffen, kann (weil die menschliche Freiheit ein überragend wertvolles Gut ist) möglicherweise als ein guter Grund dafür betrachtet werden, die durch frei handelnde Menschen bewirkten Übel zuzulassen. Auch die Zulassung physischer Übel wie Krankheiten und Naturkatastrophen durch einen allmächtigen und allgütigen Gott ist nicht schlechterdings unmöglich. Es ist (auch wenn wir nicht wissen, dass es so ist) denkbar, dass »andere frei handelnde Wesen, d. h. gefallene Engel, für die natürlichen Übel verantwortlich sind«.11 Solche Zusatzthesen sind allerdings höchst umstritten. Angesichts des Hin und Her beim Schlagabtausch zwischen Atheisten und Theisten über diese Frage ist kaum zu erwarten, dass ein deduktives (aus dem Widerspruch zwischen den Gottesprädikaten und der Existenz des Übels abgeleitetes) Argument entwickelt werden wird, das den Streit endgültig zugunsten des Atheismus entscheidet (vgl. jedoch Beckermann: Das logische Problem des Übels ist nicht gelöst). Daher wird von vielen Atheisten eingeräumt, dass es logisch möglich ist, dass ein allmächtiger und allgütiger Gott diese übelbehaftete Welt erschaffen hat. Es wird also die Behauptung fallengelassen, dass das Theodizeeproblem auf einem logischen Widerspruch beruht. Vielmehr wird zumeist geltend gemacht, dass angesichts des Ausmaßes des Übels die Existenz eines allmächtigen und allgütigen Weltschöpfers derart unwahrscheinlich ist, dass sie nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen ist. Der Unterschied zwischen dieser Kritikstrategie und dem strikten (deduktiven) Beweis der Unmöglichkeit der Existenz Gottes liegt auf der Hand. Der Ausmaß-Einwand erweist den Theismus als unplausibel, ist aber kein strenger Beweis der Nichtexistenz Gottes. Auf jeden Fall ist es also ein Irrtum zu meinen, mit dem Theodizee-Einwand ließe sich dem Standardtheismus ein ›kurzer Prozess‹ machen. Die Attacke der Atheisten gegen den Theismus, die beim Problem des Übels ansetzt, ist, wie Richard M. Gale treffend sagt, kein »Mike-Tyson-fight« (On the Nature and Existence of God, 90).

Lassen wir zunächst offen, ob der Atheismus, wie seine Kritiker behaupten, in seiner globalen wie in seiner lokalen Gestalt tatsächlich hoffnungslos dogmatisch ist. Sollte er es sein, käme jedenfalls der Agnostizismus ins Spiel. Denn er ist, weil er sich jeden Urteils über die Existenz Gottes enthält, in dieser Debatte die undogmatische Position par excellence (1.2). Aber möglicherweise sind auch drei Varianten des Atheismus von dem Dogmatismus-Vorwurf nicht betroffen: der ›negative Atheismus‹ (1.3), die Präsumtion der Nichtexistenz Gottes (1.4 und 1.5) und die Negation der Existenz Gottes mithilfe des von Bertrand Russell entwickelten Teekannen-Arguments (1.6).

2 Der Agnostizismus wird üblicherweise als diejenige Position definiert, die die Existenz Gottes weder behauptet noch bestreitet. Es leuchtet unmittelbar ein, dass er gegen den Dogmatismus-Vorwurf immun ist, und so scheint es, dass er seinen ›dogmatischen‹ Konkurrenten, dem Atheismus und dem Theismus, vorzuziehen ist. Der Agnostizismus ist im Übrigen nicht notwendig areligiös oder antireligiös. Auch ein religiöser Glaube, der nicht mit einem Wissensanspruch verbunden ist, wird gelegentlich als Agnostizismus bezeichnet (vgl. Gutting: Religious Agnosticism; Boscaljon: Agnostic Theology; Fallon/Hyman: Agnosticism).

Wenn wir uns an die Etymologie des Ausdrucks halten, können wir die Definition präzisieren: Agnostiker ist, wer keine gnôsis, also keine Erkenntnis, kein Wissen von der Existenz oder Nichtexistenz Gottes zu haben beansprucht. Wir können hierüber nichts wissen; weder die Behauptung noch die Bestreitung der Existenz Gottes lässt sich begründen. Es besteht ein Patt zwischen Theismus und Atheismus. Die Gründe für die eine oder die andere Seite mögen eine höhere Plausibilität besitzen, doch liegt insofern ein Patt vor, als für beide gleichermaßen gilt, dass die für sie vorgebrachten Gründe nicht ausreichen, um die jeweilige Annahme zu rechtfertigen (vgl. Benn: Some Uncertainties about Agnosticism, 173). Die Griffigkeit dieser landläufigen Definition ist jedoch trügerisch. Man kann nur staunen, wie viele deutlich voneinander unterschiedene Positionen unter der terminologischen Flagge des ›Agnostizismus‹ segeln. Versuchen wir also zunächst, einen Überblick über die wichtigsten Varianten zu geben.

Die Position von Thomas Henry Huxley, der diesen Terminus prägte, hat wenig mit den Vorstellungen gemein, die landläufig mit diesem Ausdruck verbunden werden. (a) Für Huxley ist der Agnostizismus »kein Glaube/keine inhaltliche Überzeugung, sondern eine Methode [not a creed, but a method], die im Wesentlichen in der rigorosen Anwendung eines einzigen Prinzips besteht«: Es ist die Anweisung, bei beliebigen Aussagen der Rechtfertigungspflicht (»to give reason«) zu genügen (Selected Works, Bd. 5, 245f.; vgl. auch 310). (b) Anwendung soll dieses Prinzip Huxley zufolge in allen Bereichen finden, in denen Wissensansprüche erhoben werden. Es ist keineswegs auf die Frage nach der Existenz Gottes eingeschränkt. Huxley selbst hat sich übrigens nie zu dieser Frage geäußert – ob aus Vorsicht, muss hier (oder sogar grundsätzlich) offen bleiben. (c) Huxleys Agnostizismus ist auch vom globalen Skeptizismus zu unterscheiden, in dessen Zentrum die These steht, dass wir grundsätzlich nichts wissen können. Huxley selbst weist ausdrücklich die Auffassung der pyrrhonischen Skeptiker (Näheres dazu unten S. 26f.) zurück, dass zu allen Behauptungen gleichstarke Pro- und Contra-Argumente beigebracht werden können, so dass in Bezug auf profane wie religiöse Gegenstände generell kein Wissen möglich ist (Bd. 5, 205). Der für den landläufigen Agnostizismus-Begriff zentrale Gedanke, dass es stets ein solches Patt gibt, ist ihm völlig fremd. (d) Die Anwendung des von Huxley etablierten methodologischen Prinzips resultiert nicht notwendig in Urteilsenthaltung (»suspension of judgment«). Zwar ist in manchen Fällen Urteilsenthaltung geboten. In anderen Fällen jedoch ist die Negation (»denial«) der in Frage stehenden Behauptung angezeigt (Bd. 5, 310f.). Als Beispiel nennt Huxley die Auffassung, es gebe gute und böse Geister. Bei genauer Prüfung bleibt diese Frage nicht in der Schwebe. Als Antwort ist – wie immer, wenn »keine logisch befriedigenden Belege [logically satisfactory evidence]« zugunsten der betreffenden Annahme vorliegen (Bd. 5, 310) – ein negatives Urteil geboten: »Ich weise ohne Zögern den Glauben an diese Lehre zurück und bestreite, dass diesen spirituellen Lehren eine Realität entspricht.« (Bd. 5, 349).

Genau das, was Huxley von seiner Version des Agnostizismus fernhalten wollte – »the pretension to be a religious philosophy« (Bd. 5, 310) – macht den Kern der Position aus, die sein Zeitgenosse Herbert Spencer gleichfalls als »agnosticism« bezeichnete (vgl. Fitzgerald: Herbert Spencer’s Agnosticism; Pyle: Agnosticism). Denn er verteidigt die Annahme eines »Unknowable«, einer ›höheren Realität‹, von deren Eigenschaften wir nichts wissen können. Allerdings lässt er seinen Spekulationen insoweit erstaunlich freien Lauf, als er diese als »Infinite and Eternal Energy« bestimmen zu können meint (Religion, 95ff.). Auf eine kurze Formel gebracht, lässt sich von einem (allerdings nicht konsequent durchgehaltenen) ›Eigenschafts-Agnostizismus‹ sprechen, während der heute zumeist diskutierte ›Existenz-Agnostizismus‹ nicht nur in der Schwebe lässt, welche Eigenschaften Gott besitzt, sondern auch, ob er existiert. Des Weiteren ist Spencers »Unknowable« Gegenstand religiöser Verehrung (»worship«), was Nietzsche mit seiner maliziösen Bemerkung kommentierte, die »Agnostiker« seien »Verehrer des Unbekannten und Geheimnisvollen an sich«, die »das Fragezeichen selbst jetzt als Gott anbeten« (Zur Genealogie der Moral, III, § 25). Manche haben in Spencers religiös gefärbtem Agnostizismus unter inhaltlichen Gesichtspunkten nurmehr ein blutleeres »Gespenst der Religion« erblicken können (Harrison: The Ghost of Religion). Aus heutiger Sicht mutet Spencers »reverent agnosticism« (Berman: Atheism in Britain, 216) wie eine Vorwegnahme alternativer Gottesvorstellungen an, die zur Zeit etwa unter dem Etikett ultimism vertreten werden (s. u. Kapitel 5.3).