Athen, Paradiesstraße - Sofka Zinovieff - E-Book
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Athen, Paradiesstraße E-Book

Sofka Zinovieff

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Beschreibung

Jetzt als eBook Athen, 2008: Nach über sechzig Jahren kreuzen sich die Lebenswege der beiden verfeindeten Schwestern Antigone und Alexandra erneut. Der Anlass ist traurig: Antigones Sohn, ein Journalist, ist tödlich verunglückt. Ihre englische Schwiegertochter Maud, die von den familiären Verwerfungen nichts weiß, vermutet einen Zusammenhang mit seinen jüngsten Recherchen, und ahnt nicht, dass der Schlüssel zur Wahrheit im Familienhaus in der Paradiesstraße liegt. Inmitten der turbulenten Ereignisse jenes Winters wird eine alte Familienfehde wieder lebendig, die bis in die Tage des griechischen Bürgerkriegs zurückreicht.

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Seitenzahl: 517

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Sofka Zinovieff

Athen, Paradiesstraße

Roman

Aus dem Englischen von Eva Bonné

Deutscher Taschenbuch Verlag

Für Anna und Lara

Die Ölbäume mit der zerfurchten Haut unserer Väter

die Felsen mit dem Wissen unserer Väter

unseres Bruders lebendiges Blut in der Erde

 

Giorgos Seferis

Inhalt

1 · Ein sympathischer Fremder

2 · Mein Herz ist halb russisch

3 · Privatsphäre und Alleinsein sind keine griechischen Vokabeln

4 · Penelopes Tuch

5 · Ein fremdes Land

6 · Fliege in der Milch

7 · Mit feierlichem Gleichmaß

8 · Ein schöner Ruheplatz

9 · Der verbotene Name

10 · Mir träumte, Griechenland könnt’ frei einst sein

11 · Die vielverständigen Stuten

12 · In die Berge

13 · Die Außenseiterin aus England

14 · Mit Blutvergießen, wenn nötig

15 · Im Dezember

16 · Klein-Stalingrad

17 · Wildkräuter und kaltes Wasser

18 · Dreckige bulgarische Huren

19 · Die unheilbare Nekrophilie des radikalen Patriotismus

20 · Lebe wohl, arme Welt, lebe wohl, süßes Leben

21 · Lebe deinen Mythos in Griechenland

22 · Ich, die Unterzeichnete

23 · Die hässliche Stadt brennt schön

24 · Anthropos

25 · Vierzig Tage und vierzig Nächte

26 · Jetzt ist es anders

Anmerkungen der Autorin

Eine kurze Geschichte Griechenlands

Danksagung

1Ein sympathischer Fremder

Maud

Am Tag von Nikitas’ Tod kam seine Tante abends zu mir. Ich lag allein in meinem Zimmer, während das trüborange Zwielicht allmählich der Dunkelheit wich. Die Geräusche des abendlichen Athen waren mir vertraut: kläffende Hunde in der Nachbarschaft, das Jaulen der Mopeds am Berg, Verkehrsrauschen. Alexandra, die sich steif und kerzengerade auf mein zerwühltes Bett gesetzt hatte, sah in ihrer maßgeschneiderten Trauerkleidung aus wie ein Rabe, der versehentlich in einem Wäschekorb gelandet war. Ich lag da und atmete den Duft von Mottenkugeln ein, während sie unbewusst über das Laken strich. Ihre Hand war von Altersflecken übersät, und der goldene Ehering verhinderte, dass ihr ein größerer, der ihres Mannes, vom Finger rutschte. Nun war auch ich eine Witwe.

Alexandra holte tief Luft, bevor sie sprach.

»Da gibt es etwas, das du tun musst. Du solltest deine Schwiegermutter anrufen.« Ich sah sie verwirrt an. Petherá: Das Wort war mir fremd, und in Zusammenhang mit mir war es noch nie gefallen.

»Nikitas’ Mutter. Antigone. Sie muss erfahren, was passiert ist.« Nur mühsam, abgehackt brachte sie die Worte hervor. Gewöhnlich gelang es Alexandra, die Existenz ihrer jüngeren Schwester zu verdrängen, obwohl sie Nikitas, wann immer sie sich besonders über ihn geärgert oder aufgeregt hatte, mit seiner Mutter verglich.

»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Das wird immer so bleiben.« Zu viel Zeit war vergangen, als dass man Antigones Namen beiläufig hätte erwähnen können; vor fast sechzig Jahren hatte sie der Familie den Rücken gekehrt und war nie zurückgekommen. Sie war in der Zeit erstarrt als eine junge Frau, die fortgegangen war, ohne sich noch einmal umzudrehen; und so wurde sie zum Schwarzen Loch der Familie, das Gefühle einsog und nie etwas zurückgab. Sie am Leben zu wissen war belastender, als ihr Tod es gewesen wäre. Es bedeutete, dass die Beleidigung, die Zurückweisung noch andauerte.

Als ich Nikitas kennenlernte, war ich fasziniert von dem Drama, das sich in seiner frühen Kindheit abgespielt hatte. Er zeigte mir ein gerahmtes Bild von seiner Mutter als junger Frau. Das Foto war aus der Froschperspektive aufgenommen: eine Heldin, die versonnen in eine glorreiche Zukunft blickte. Sie trug eine Militäruniform, wirkte aber mit ihrem bestechend schönen Gesicht, den vollen Lippen, den geraden, strengen Augenbrauen und dem offenen, dunklen Haar wie ein Teenager von heute. Kein Zweifel, Antigones äußere Erscheinung zeugte von tragischer Größe, genauso wie die Kompromisslosigkeit, mit der sie ihre Lebensentscheidungen getroffen hatte. Was brachte eine Frau dazu, ihr Kind im Stich zu lassen und aus ihrer Heimat fortzugehen? Anfangs, als ich noch eine Außenstehende war, eine Fremde und neu in der Familie, stellte ich mir Antigone gern als Rebellin vor. Später, vor allem nach Tigs Geburt, war ich so sehr Teil der Familie geworden, dass ich meine Meinung änderte. Für diese sture alte Frau, die sich nie die Mühe gemacht hatte, nach Athen zu kommen und ihre Verwandten zu besuchen, die sie einst zurückgelassen hatte, konnte es keine Entschuldigung geben. Und nun, da ihr Sohn gestorben war, gab es doch erst recht nichts mehr zu bereden.

 

Ich glaube, dass viele verhängnisvolle Tage ganz unschuldig beginnen, und so war auch der Morgen des 29. Oktober 2008 wenig bemerkenswert. Später, als ich versuchte, die Ereignisse zu verstehen, suchte ich nach Omen, nach einem Muster, nach ersten Anzeichen. Ich bemühte mich, die letzten Tage und Wochen in Nikitas’ Leben zu rekonstruieren, bis ich zuletzt sogar über die Ameisen nachgrübelte, die an jenem Morgen in die Küche eingefallen waren, sich als schwarze, gezackte Linie durch einen Spalt im Türrahmen hineingezwängt und zielstrebig das Spülbecken umrundet hatten, um schließlich im Küchenschrank zu verschwinden. Die Beharrlichkeit, mit der sie sich meinen Bemühungen widersetzten, sie mit Spülmittel zu vernichten, war geradezu rührend; wie pflichtbewusste Soldaten, die an die vorderste Front drängen, stolperten sie übereinander hinweg, um nur ja nicht die Kolonne abreißen zu lassen. Während ich ihre zerquetschten, schwarzen Leichen in den Ausguss spülte, dachte ich an Nikitas, aber ich machte mir keine Sorgen darum, dass er am Vorabend nicht nach Hause gekommen war.

Als ich Nikitas fünfzehn Jahre zuvor geheiratet hatte, war mir klar gewesen, dass ich ihn nie in ein gewöhnliches Familienleben würde zwingen können. Offen gestanden passte mir unser Lebensmodell auch ganz gut. Sein Beruf diente ihm als Vorwand, zu ungewöhnlichen Zeiten zu arbeiten, und wenn er vor einem Abgabetermin bis in die Nacht geschrieben hatte oder lange mit Freunden aus gewesen war, schlief er oft in seinem »Büro« – einer winzigen Zweitwohnung in der Sophoklesstraße. Zwei gescheiterte Ehen waren nur einer von vielen Hinweisen darauf, dass Nikitas’ Ausführungen zur Freiheitsliebe keine leeren Worte waren.

»Ich bin Grieche«, sagte er, wie um zu erklären, dass er Bedürfnisse hatte, die ich als Engländerin weder nachempfinden noch verstehen könnte. Für die meisten Griechen stellt die Freiheit eine theoretische Maßeinheit für die Lage der Nation und die Lebensqualität des Einzelnen dar, bei Nikitas hingegen handelte es sich um ein elementares persönliches Bedürfnis. Sein Verlangen, aus dem Haus zu gehen, zu reisen oder spontan alle Pläne umzuwerfen, war vergleichbar mit dem eines Kindes, das es aus der Dunkelheit ins Sonnenlicht zieht.

Der Vortag, der 28. Oktober, war Nikitas’ Geburtstag und zudem ein Feiertag gewesen. Wie immer hatte er sich den »Arschloch-Paraden«, die überall in der Stadt stattfanden, ebenso entzogen wie einer Familienfeier mit Geburtstagstorte. Vor langer Zeit schon hatte er Tig ermuntert, die Schulparade zu boykottieren, sodass sie an diesem Morgen ausschlief, anstatt in blauem Rock und flachen Schuhen neben ihren Klassenkameraden durch die Straßen zu ziehen und weiß-blaue Fahnen zu schwenken.

»Nein sagen! Darin sind wir Griechen gut, immer schön dagegen sein, egal, ob es jemanden interessiert«, hatte Nikitas zu ihr gesagt. »Du solltest dich weigern, nach Faschistenart durch die Gegend zu marschieren – schließlich feiern wir an diesem Tag unseren Widerstand gegen den italienischen Faschisten, der neunzehnhundertvierzig unsere Heimat besetzen wollte. Nicht, dass es uns viel genützt hätte.«

Ich glaube, am Morgen seines Geburtstags hat Nikitas das Haus verlassen, ohne sich zu verabschieden, ich bin mir aber nicht ganz sicher. Vielleicht habe ich seinen Abschiedsgruß überhört. Ich habe seither oft darüber nachgedacht. Vielleicht hat er mich umarmt, und ich habe es vergessen.

Während ich Brot toastete und Tig antrieb, sich für die Schule fertigzumachen, kam mir nicht einmal der Gedanke, Nikitas auf dem Handy anzurufen. Möglicherweise hatte er lange gearbeitet und schlief noch, außerdem hatte er das Gerät meistens ausgeschaltet, weil er es nicht leiden konnte, permanent erreichbar und damit jeder Störung ausgeliefert zu sein. Tig sah so empört und müde aus wie ein Tier, das man aus dem tiefsten Winterschlaf gerissen hatte, und ihr Gesicht verschwand beinahe unter dem langen, fast schwarzen Haar. Sie knabberte ein wenig an ihrem Toast herum und warf den Rest in den Mülleimer. Griechinnen frühstücken nicht, nicht einmal die mit englischen Müttern.

Tig holte ihre Schultasche, und ich dachte nicht daran, nachzusehen, ob mein Handy in meiner Jackentasche steckte. Wir verließen das Haus durch die Hintertür in der Küche und stiegen über die schmiedeeiserne Wendeltreppe in den Hof hinunter. Am Himmel hing ein blassgelber Schleier, und schwüle Böen verwirbelten die Luft. Manchmal weht in Athen ein unruhiger Südwind, der den Sand der Sahara übers Mittelmeer trägt und als rostigen Puder im Stadtzentrum verstreut. Er blieb an unseren Händen kleben, als wir das Geländer berührten, und die Blätter des Zitronenbaums waren terrakottabraun verfärbt. Der Zitronenbaum dominiert den Hof; Alexandras Vater pflanzte ihn in den Zwanzigerjahren, nachdem er das Haus gebaut hatte. Heute reicht er bis an die Fenster des ersten Stocks und trägt das ganze Jahr hindurch Früchte. Im Frühling wird das Haus vom betörenden Duft seiner Blüten geradezu überschwemmt. Die Feuertreppe verläuft neben dem Baum, fast könnte man sagen: in ihm, sodass man unterwegs eine Zitrone pflücken oder ein Blatt abzupfen kann, um es zwischen den Fingern zu zerreiben und den frischen Duft einzuatmen. Tig klettert manchmal hinein, um sich in dem knorrigen Geäst zu verstecken. Tante Alexandra kocht aus den Zitronenschalen einen Sirup, den sie Gästen als »Löffeldessert« anbietet. Im Frühling bestreicht Chryssa den Stamm mit Kalkmilch, um Parasitenbefall und Krankheiten vorzubeugen. Ich habe den Baum seit meinem ersten Tag in der Paradiesstraße geliebt, und in glücklichen Momenten betrachte ich ihn als den stabilen Bezugspunkt der entzweiten Familie, in die ich eingeheiratet habe. Als unseren Totempfahl.

In den vertrauten Hofgeruch nach Katzenurin und Jasmin mischte sich Kaffeeduft aus Alexandras Wohnung im Erdgeschoss. Hinter dem grünen Gitter des Küchenfensters entdeckte ich Chryssa; sie stand vor dem Gaskocher, den sie einem Elektroherd vorzog, und rührte in einer Kanne mit griechischem Kaffee. Als sie uns sah, winkte sie Tig zu.

»Fertig für die Schule, mein Engel? Möge die Jungfrau dich begleiten! Viel Erfolg!« Mit ihrem ausgeblichenen, bedruckten Kleid und dem grauen Haarknoten sah Chryssa wie eine freundliche Märchenhexe aus. Tig winkte zurück und wünschte einen guten Morgen. Zu Chryssa war sie höflicher als zu mir oder Nikitas, die wir beide die unglaubliche Wucht ihres jugendlichen Zorns zu ertragen hatten. Ich sah, wie Chryssas geschickte, knotige Hände den Kaffee (»süß und stark«, traditionell gebrüht) vom bríki in eine Tasse mit Untersetzer umgossen. Gleich würde sie ihn Tante Alexandra servieren, zusammen mit frischen Zimtbrötchen vom Bäcker. Die beiden Alten pflegten den stummen, entspannten Umgang zweier Menschen, die einander für selbstverständlich nehmen, und obwohl ihr offizieller Status sie als Herrin und Dienerin auswies, hatten Jahrzehnte geteilten Lebens die Grenzen verwischt.

Ich mochte die Abläufe im Haus. Sie waren so verlässlich, dass wir am Stadium des Kaffeekochens ablesen konnten, ob wir gut in der Zeit lagen, genauso wie an der Begegnung mit unserer Nachbarin Kyría Lambakis, die um diese Zeit immer auf dem Weg zum Friseursalon am Ende der Straße war (»Guten Morgen, ihr Mädchen! Einen schönen Tag euch beiden!«). Mir gefiel es, dass Tig, anders als ich selbst, an einem Ort verwurzelt war. Meine Kindheit war von Unsicherheit und abwesenden Eltern geprägt gewesen. Während Nikitas sich nach Freiheit sehnte und sie in den Schranken einer Ehe fand, sehnte ich mich nach Vertrautheit und fand sie in einer fremden Kultur. Seltsam, wie ein und dieselbe Ehe den Beteiligten auf so unterschiedliche Weise Zufriedenheit verschaffen kann.

In der Ferne erhob sich der Hymettos. Sein Gipfel war von einer dicken, schleimfarbenen Wolkendecke verhangen, hinter der die Sonne ähnlich schwach schimmerte wie eine einzelne Glühbirne in einem verrauchten Zimmer. Während Tig und ich hinauf zur 13. Athener Gesamtschule liefen, zupfte und zerrte der warme Wind an unserer Kleidung. Tig strich sich immer wieder die dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht, die der Wind über ihre großen, von Schlafmangel und verschmierten Eyelinerresten schwarz umrandeten Augen blies. Sie ging schon seit Jahren nicht mehr rechtzeitig zu Bett. Sie war weder Kind noch Frau, sondern ein Zwischenwesen – auf ihre Art perfekt, aber schwer zu fassen pendelte sie zwischen selbstbewusster Abgeklärtheit und jugendlicher Verletzlichkeit hin und her. Die Wunde des jüngst vorgenommenen Augenbrauenpiercings verlieh ihrer Erscheinung eine dramatische Note; in der Schule durfte sie den kleinen Silberstift nicht tragen, und seine tägliche Entfernung war immer noch ein schmerzhaftes Manöver. Sie hatte sich für die »Verstümmelung«, wie Nikitas es nannte, keine elterliche Zustimmung eingeholt, und es war ihrem Vater nur unzureichend gelungen, seine Empörung zu verbergen.

»Du sagst doch immer, man soll seinen individuellen Stil pflegen und das System hinterfragen«, hatte Tig gesagt, wie um sich mit einem Zitat aus seinem Mund gegen seine Vorwürfe zu verteidigen.

»Außer mir wird niemand von seiner Mutter zur Schule gebracht.« Tig war mit ihrem iPod verkabelt, dessen blecherne, stampfende Bässe im Windgeheul gerade noch zu hören waren.

»Ich möchte nur ein bisschen spazieren gehen. Ich weiß, dass du selbst auf dich aufpassen kannst.«

Tig warf mir einen kühlen Blick zu und zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. Bei der Verabschiedung am Schultor wechselte sie ins Griechische. Ich bemerkte, wie sie Kimon entdeckte und sofort wieder wegsah, einen Jungen, den sie mochte, den anzusprechen sie aber zu schüchtern war. Sie eilte auf den Schulhof. Anders als sonst blieb ich nicht stehen, um abzuwarten, bis die Schuldirektorin zum Gebet rief und Schüler aus Albanien, Bulgarien, Pakistan, China und von den Philippinen sich einreihten, um das Vaterunser zu singen und sich wie die Orthodoxen zu bekreuzigen.

»Bald gibt es an der Schule keine kleinen Griechen mehr, dann kann der Unterricht gleich auf Albanisch stattfinden«, hatte Tante Alexandra neulich angemerkt.

Nikitas hatte das bitterböse kommentiert: »Sie wünscht sich die guten alten Zeiten unter den Obristen zurück, inklusive: ›Hellas den christlichen Hellenen!‹«

Ich war kaum wieder zu Hause, als ich es dreimal energisch an die Tür klopfen hörte – Tante Alexandras Erkennungszeichen, wenn sie heraufkommt. Normalerweise ruft sie dazu noch: »Ich bin’s!«

»Öffne niemals die Tür, wenn du nicht weißt, wer geklopft hat«, pflegt sie mich zu warnen. »Athen hat sich verändert. Inzwischen gibt es so viele Ausländer hier.« Ich mag Tante Alexandra sehr. Sie hat mich mit offenen Armen in die Familie aufgenommen, und trotz der Streitereien zwischen ihr und Nikitas ist sie für Tig wie eine Großmutter. Dennoch bitte ich sie manchmal nur widerstrebend herein. An diesem Morgen hatte ich wenig Lust, mir ihr Gejammer anzuhören (»Solange man noch nicht unter der Erde ist, hat man zu leiden«) oder ihren Bericht von der Spendenaktion, die ihre konservativen Freunde von den Neuen Demokraten organisiert hatten, oder den jüngsten Klatsch über Vater Apostolos und seine Sorgen. Ich war spät dran mit einer Manuskriptabgabe. Diesmal hatte ich im Auftrag eines Historikers die Archive auf der Suche nach Dokumenten aus der Metaxas-Diktatur durchforstet. Die Arbeit als freiberufliche Rechercheurin war nicht immer einfach, obwohl ich inzwischen ein passables Netzwerk aus britischen und amerikanischen Akademikern geknüpft hatte, die entweder kein Griechisch sprachen oder zu wenig Zeit und Geschick hatten, um sich mit den griechischen Verwaltungsbeamten herumzuschlagen. Ich hatte vor, das Paket mit den Kopien und Übersetzungen für Professor Stotter abzuschicken, bevor die Post um vierzehn Uhr schließen würde. In Wahrheit aber wollte ich Tante Alexandra die Tür hauptsächlich deswegen nicht öffnen, weil sie nicht merken sollte, dass Nikitas am Vorabend nicht nach Hause gekommen war. Mir war nie wohl dabei, wenn sie wieder einmal versuchte, mich in eine weibliche Verschwörung einzubeziehen, die mich zum Opfer machte und Nikitas zum bösen Buben.

Erneutes Klopfen, nachdrücklicher diesmal. Ich stellte mir vor, wie sie draußen auf dem Treppenabsatz stand, das bläulich schimmernde Zuckerwattehaar mit Haarspray zu einem Helm geformt, die sorgfältig lackierten Fingernägel, die hohen Absätze, die an einer Fünfundachtzigjährigen leicht exzentrisch wirken. Und dann würde sie sagen: »Guten Morgen, Maud.« Noch wahrscheinlicher allerdings würde sie die Verniedlichungsform meines Namens verwenden und zusätzlich ein besitzanzeigendes Pronomen anhängen: Kali sou méra, Mondoúli mou – »Einen guten Morgen wünsche ich dir, meine kleine Maud.« Ich wurde geschrumpft und in Beschlag genommen, alles im Namen von Nähe und Zuneigung. Bevor ich die Tür öffnete, nahm ich ein paar Blätter in die Hand, um beschäftigt auszusehen und meine Ausrede zu untermauern. Alexandra sah furchtbar aus; ganz offenkundig stimmte etwas nicht. Ihre Stimme klang hoch und gepresst. Die Polizei habe sie angerufen, nachdem ich nicht erreichbar gewesen sei. Nikitas habe am frühen Morgen auf der Küstenstraße einen Autounfall gehabt. Irgendwo bei Várkiza. Mehr wusste sie nicht, nur, dass er schwer verletzt worden war. Ich solle sofort ins Asklipieio-Krankenhaus in Voúla fahren. Sie habe schon Orestes benachrichtigt, der in einem Studio wohnte, das über die Dachterrasse zu erreichen war; er komme gleich.

Im selben Moment sprang mein fünfundzwanzigjähriger Stiefsohn die Treppe herunter, die zur Dachterrasse führte.

»Was zum Teufel ist passiert? Was hat Babás da gewollt?« Orestes war bestürzt, sein Gesicht vom Schlaf verquollen. Er zog sein zerknittertes T-Shirt glatt, als könnte er mit dieser Geste Ordnung ins Chaos bringen. Seit unserer ersten Begegnung vor fünfzehn Jahren, als ich einem schüchternen kleinen Jungen gegenüberstand, war er zu einem bildschönen, großen jungen Mann herangewachsen, dem das dunkle Haar bis auf die Schultern fiel. »Ein echter palikári«, wie Chryssa zu sagen pflegte, »groß und stark wie eine Zypresse!« Sein Gang war träge, beinahe linkisch, und strafte die Aggressionen, die unter der Oberfläche schlummerten, Lügen. Normalerweise war er unrasiert und trug die gleichen weiten, ausgebeulten Klamotten wie seine Kommilitonen, dennoch erinnerte er mich immer noch an den niedlichen Zehnjährigen, der mir bei unserem ersten Treffen die Hand gereicht und uns alle zum Lachen gebracht hatte.

»Ich bringe dich mit dem Motorrad hin, das geht am schnellsten.« Der Gedanke an seine geliebte Maschine, auf der er sich voller Elan und unter großem Getöse durch den Innenstadtverkehr schlängelte, schien Orestes’ Lebensgeister zu wecken.

»Nein, wir rufen ein Taxi«, sagte ich und griff zum Telefon, woraufhin sich Enttäuschung in seinem Gesicht zeigte.

Das Taxi raste über die Syngroustraße auf das bleiche Meer zu und dann weiter auf der Küstenstraße gen Süden. Orestes drehte sich eine Zigarette, öffnete das Seitenfenster einen Spalt und blies den Qualm mit einem theatralischen Seufzer hinaus. Seine Knie wippten vor Nervosität. In meiner Angst erlebte ich einen Moment bizarrer Klarheit, als erblickte ich alles zum ersten Mal: die hellen Linien auf den staubigen Blättern der Oleanderbüsche am Straßenrand, die malvenfarben geschminkten Lippen einer alten Frau, die in Fáliro in die Straßenbahn stieg. Das Adrenalin ließ meine Haut kribbeln; ich hatte kalte Füße und einen Kloß im Hals. Der Wind hatte einen seltsamen Nebel herangeweht, der allen Dingen die Farbe entzog; man konnte kaum noch erkennen, wo das Meer aufhörte und der Himmel anfing, so sehr verlor sich der Blick im Grau.

An der Abbiegung zum Krankenhaus hielten wir an einer Ampel, wo eine dünne, getigerte Katze akrobatisch verdreht im Rinnstein lag. Die rosa gestrichenen Bauten aus den Dreißigerjahren und die dekorativen Blumenrabatten verliehen dem Krankenhaus das Aussehen eines Hotels am Meer; es roch nach Pinien und Eukalyptus. Unter einem Schild mit der Aufschrift »Information« saß eine grell geschminkte Blondine mit lila lackierten Fingernägeln hinter der Trennscheibe und schälte einen Apfel. Ich beugte mich hinunter, um durch die Öffnung im Glas zu sprechen, aber die Worte waren wie geronnen, als hätte ich mein Griechisch vergessen.

»Mein Ehemann, Nikitas Perifanis …« Ich hielt inne und musste mir eingestehen, dass diese Sprache, die ich seit zwanzig Jahren lernte und die mich so fest im Griff hatte, sich einfach von mir zurückzog, sobald ich müde oder gestresst war. Es reichte nicht aus, sich ihr zu widmen, Gedichte zu lesen, in ihr zu träumen, zu singen, zu streiten und zu lieben; Griechisch war einfach nicht meine Muttersprache. In Zeiten der Not erwies es sich als treuloser Deserteur.

Wir wurden auf eine Station geschickt und warteten vor dem Schwesternzimmer auf den Arzt. Zitternd und mit hängenden Köpfen standen wir im Korridor neben einer langen Reihe orangefarbener Plastikstühle, auf denen müde Patienten saßen. Ein Arzt in Jeans und weißem Kittel erschien, führte uns einige Schritte beiseite, um annähernd ungestört mit uns sprechen zu können. Er mochte nur wenige Jahre älter als Orestes sein, aber er hatte ganz offensichtlich ein Vielfaches an Leid und Schmerz gesehen. Sein mitfühlender, erschöpfter Blick reichte mir, den Sinn seiner Aussage zu erfassen, noch bevor ich die Worte verstand.

»Ich habe keine guten Nachrichten.« In der Ferne ein Brummen, als berührten sich zwei Stromkabel. Es verschlug mir den Atem, so intensiv, dass meine Knie fast nachgaben.

Irgendwann in der Nacht war Nikitas’ Auto von der Straße abgekommen. In der Nähe der Limanákia, der »kleinen Häfen« von Várkiza, war es gegen einen Felsen geprallt. Ein Schwimmer hatte das Wrack am frühen Morgen vom Meer aus entdeckt. Mein Ehemann war zu dem Zeitpunkt bereits tot. An dem Unfall waren keine anderen Fahrzeuge beteiligt gewesen. Es würde eine Untersuchung geben und eine Autopsie. Die Faktenlage sei eindeutig, sagte der Arzt, trotzdem müssten wir auf dem Polizeirevier eine Aussage machen. Orestes klammerte sich an meinem Unterarm fest wie ein kleiner Junge, der nicht allein im Kindergarten zurückgelassen werden will. Er war so blass, dass seine Haut fast bläulich schimmerte.

Schon oft hatte ich mir Nikitas’ Tod vorgestellt. Er war zwanzig Jahre älter als ich, und ich hatte die Augen nicht vor der Realität verschlossen. Lange vor mir hatte er den Kampf gegen das Altern aufgenommen, und sein Vorsprung war mir wie ein Schutzschild vorgekommen. Als ich vor einigen Jahren vierzig geworden war, hatte ich mich neben ihm, dem Sechzigjährigen, erfreulich jung gefühlt. Obwohl Nikitas es als selbstverständlich ansah, dass ich diejenige sein würde, die allein zurückblieb und er mich oft mit seinem »Wenn ich tot bin …« geneckt hatte, wirkte er nicht alt. Ich nahm zwar wahr, wie er alterte (sein muskulöser Oberkörper wurde weicher, sein Brusthaar ergraute), aber sein Charisma war noch so überwältigend und lebendig wie bei unserer ersten Begegnung. Auch wenn Tig sich manchmal dafür schämte, dass die Leute ihn für ihren Opa hielten, benahm er sich nicht so; er warf sie in die Luft, bis sie kreischte.

»Kümmere dich nicht darum, was andere denken. Sie irren sich meistens.«

Ich unterschrieb mehrere Dokumente, ohne sie zu verstehen, dann gab man mir die Anschrift der Polizeiwache, die für den Fall zuständig war. Ich konnte mir nicht erklären, warum Nikitas nachts auf jener Straße unterwegs gewesen war. Ein Mann, möglicherweise einer der Pfleger, begleitete uns in den Leichenraum im Keller des Krankenhauses. Er sprach kein Wort, während er mit geübter Geste den Hebel an einer der Metalltüren herunterdrückte und eine lange Rollbahre herauszog. Er schlug das Laken aus grobem Leinen zurück und trat diskret beiseite. Der Tote sah Nikitas nicht ähnlich. Das lag nicht an den dunklen Hämatomen in seinem Gesicht, sondern an seiner absoluten Reglosigkeit. Nikitas war immer in Bewegung gewesen. Selbst im Schlaf seufzte und zuckte er, er wälzte sich und stieß Laute aus wie ein träumender Hund. Im Wachzustand war jeder Gesichtsausdruck übertrieben, jede Geste weit ausholend, die Stimme immer lauter – oder theatralisch leiser – als bei anderen. Er aß und trank mehr und riss uns zu herzlichen Umarmungen an sich, die seine Zuneigung und gleichzeitig die potenziell gefährliche Kraft eines Bären offenbarten. Ruhig wurde er nur im Zustand größter Wut; dann war er der Bär kurz vor dem Angriff. Nun sah er aus wie ein sympathischer Fremder. Ich legte ihm eine Hand auf die Brust, bis Orestes an meinem Ärmel zerrte.

»Können wir bitte gehen? Hier stinkt es.«

Wir flohen aus dem Raum, ließen den Pfleger und den stechenden Geruch nach Schwimmbad und Chemielabor hinter uns. Ich sagte: »Danke sehr.« Nicht umsonst war ich in England aufgewachsen.

Orestes eilte voraus, zur Tür hinaus und zum nächsten Gebüsch, wo er sich übergab. Ich legte ihm eine Hand auf den Rücken und eine an die Stirn, so wie früher bei Tig, wenn sie sich übergeben musste. Als er fertig war, führte ich ihn langsam zu einer Bank unter einem Jasminstrauch, der neben der Krankenhauskapelle wuchs. In der Nähe standen zwei Schwestern herum, sie plauderten und aßen mit Käse gefüllten Blätterteig aus Papiertüten. Um ihre Füße tänzelten Tauben, die sich auf die herabfallenden Flocken stürzten.

2Mein Herz ist halb russisch

Antigone

Wenn ich in letzter Zeit im Sessel am Fenster sitze, sehe ich nicht mehr die vertrauten grauen Wohnblocks der Moskauer Außenbezirke, sondern das Athen meiner Kindheit. Mein Leben lang habe ich versucht, nach vorn zu schauen und für die Zukunft zu kämpfen, für eine bessere Welt. Ich habe an den Beginn von etwas Neuem geglaubt, das sich nie eingestellt hat. Und jetzt, da es auf das Ende zugeht und mich nichts erwartet als die ewige Nacht im Grab, wende ich mich meinen eigenen Anfängen zu. Meistens denke ich an das Gute, an die frühen Jahre, an meine Eltern und das Haus in der Paradiesstraße, wie es vor dem Krieg war. An dem Punkt versuche ich aufzuhören, bevor die anderen Erinnerungen hochsteigen.

Russland war gut zu mir. Ein Teil von mir gehört hierher, so als hätte es für mich nie etwas anderes gegeben. Mein Herz ist halb russisch. Selbst in den Jahren nach Igors Tod fand ich Trost und Lebensmut. Die Wohnung ist nicht groß, aber warm und gemütlich. Aus dem zehnten Stock kann ich den unendlich weiten russischen Himmel sehen, der so ganz anders ist als der über Griechenland. Die Moskauer Ringstraße mag nicht der schönste Ort Russlands sein, aber gleich hinter dem Wohnblock nebenan beginnt der Wald. Ich bin dort oft mit Natalja spazieren gegangen, bevor ihre Beine zu schwach wurden. Ich habe nicht mehr viele Freunde, aber Natalja ersetzt mir die Familie – inzwischen kenne ich sie länger als mein eigen Fleisch und Blut. Wir sehen uns fast täglich und stehen uns nah genug, um schweigend beieinander sitzen zu können und Tee zu trinken. Nicht, dass sie oft um Worte verlegen wäre. Ich hingegen bevorzuge die Schriftform und schaffe es an den meisten Tagen immer noch, etwas zu Papier zu bringen. Gott weiß, warum. Vielleicht um zu beweisen, dass ich noch am Leben bin. In meinem Schrank stapeln sich die Tagebücher.

Als Natalja und ich Freundinnen wurden, waren wir beide Ende zwanzig. Sie hatte rosige Apfelbäckchen und eine üppige Figur, die der Großzügigkeit ihres Charakters entsprach. Inzwischen ist sie so dick, dass sie beim Gehen hin und her schaukelt wie ein Boot im Wasser. Manchmal gehen wir gemeinsam in das nächstgelegene Dampfbad, und während wir tropfend im miefigen Nebel sitzen, kann ich Nataljas Ausmaße studieren. Ihre schweren Brüste hängen fast bis auf die spärlichen Überreste des Schamhaars, ihre Schenkel sind stramm und rosig. Neben ihr fühle ich mich wie eine eingetrocknete Frucht mit harter, runzliger Schale, die man in der Sonne vergessen hat. Meine Knochen stehen hervor, wo früher nur glatte Haut zu sehen war, was mich daran erinnert, dass von uns nur Knochen übrig bleiben. Im Umkleideraum schlüpft Natalja in ihre weite Unterwäsche und breitet einen »kleinen Imbiss« für uns aus: Schwarzbrot, in Wachspapier gewickelte Reste von bitkí, ein Stück Weißkäse. Und selbstverständlich ein Fläschchen Wodka, mit dem wir uns später bei der einen oder anderen Zigarette zuprosten. Im Laufe der Zeit werden solche kleinen Freuden immer wichtiger.

Gestern saßen wir in meiner Küche und schauten zu, wie das Nachmittagslicht verblasste und der Himmel die Farbe von Eisen annahm. Nataljas Worte überspülten mich wie sanfte Wellen, und ich wachte erst aus meinen Gedanken auf, als sie ihre Frage wiederholte.

»Also, Antigone, was meinst du? Soll ich fahren?« Sie steckte sich einen weiteren Keks in den Mund und wartete auf eine Antwort.

»Na ja, kommt darauf an.« Ich suchte nach einer Plattitüde, um meine Unaufmerksamkeit zu überspielen. »Die Hinreise ist nicht das Problem … schwieriger ist die Rückkehr.« Zum Glück ging Natalja nicht weiter darauf ein, sondern stürzte sich auf ein Thema, über das ich mir in letzter Zeit schon viel zu viel hatte anhören müssen – ihre Tochter Ljuba.

Ljubas Ehemann ist ein Neureicher, der Typ Mann, der in den Neunzigerjahren wie aus dem Nichts auftauchte, ähnlich den Kakerlaken aus dem Müllschlucker in meiner Küche. Wir hatten ihn stets für eine Art Ingenieur gehalten, bis er eines Tages im Mercedes vorfuhr, sich mit Leibwächtern umgab und Urlaub in Italien machte. Als um uns herum die Sowjetunion zusammenbrach und damit alle Ideale und alle Opfer bedeutungslos wurden, hofften wir auf einen positiven Neuanfang. Niemand hatte das bisherige System für unfehlbar gehalten, aber wir Älteren träumten weiterhin von Freiheit und Gerechtigkeit. Doch die neuen Russen waren anders; sie führten sich auf wie Cowboys. Heutzutage haben Überzeugungen und Prinzipien keinen Wert mehr, und es gibt keine Ziele außer dem einen: Geld anzuhäufen. Wir Übriggebliebenen wurden davongespült wie Treibholz von der Flut, und all unsere Kämpfe, unser Glaube zählten nichts mehr. Und da es im Land bald zu viele Cowboys und zu viele Schießereien gab, machte Ljubas Mann sich eines Tages auf nach London, zusammen mit Frau und Tochter. Hier bei uns flog zu viel Blei durch die Luft, als dass man noch in Frieden hätte leben können.

»Ljuba hat mir eine eigene Wohnung versprochen, direkt neben ihrer, und ein Dienstmädchen noch dazu.« Natalja versuchte, ihre Ängste kleinzureden und schon vorab in dem Luxus zu schwelgen, der sie erwartete – was ihr aber nicht gelang. Wir beide wussten von Ljubas Alkoholproblem, von ihren Ausflügen in die Entzugsklinik, von den Launen ihres Mannes. Probleme. Problemi. Provlímata. Sie sind immer gleich, egal in welcher Sprache. Was soll man machen? Es ist, wie es ist. Die arme Natalja starrte auf ihre drallen, sorgfältig gepflegten Hände. Auf den Nägeln trug sie Perlmuttwolke, seit Jahrzehnten dieselbe Farbe; sie glaubte fest daran, dass die Maniküre maßgeblich über das Erscheinungsbild einer Frau entscheidet.

»Ich war noch nie im Ausland.«

Diesmal schwieg ich. Natalja lachte kurz auf.

»Ljuba sagt, in London wohnen inzwischen so viele Russen, dass man es das ›Moskau an der Themse‹ nennt.«

Ich hatte Natalja im April 1952 nach meiner Ankunft in Moskau kennengelernt. Seit über einem halben Jahrhundert erörterten wir nun schon ihre Probleme. Sie war Technikerin bei dem internationalen Radiosender, der mich eingestellt hatte. Als ich die Morgensendung Hier ist Moskau! zum ersten Mal moderieren sollte, bemerkte sie meine Nervosität und kam lächelnd auf mich zu.

»Hüte dich vor Griechen, die Geschenke bringen«, sagte sie, »aber von einer Russin kannst du bedenkenlos etwas annehmen.« Mit diesen Worten reichte sie mir ein Gläschen Wodka, und obwohl ich normalerweise keinen Alkohol trank, kippte ich ihn hinunter und aß ein Stückchen Schwarzbrot dazu – »damit du nicht sofort betrunken bist«. Danach verlas ich die Nachrichten, auf Griechisch, und ich versuchte, nicht an diejenigen zu denken, die mich in Griechenland hören konnten oder, was noch schlimmer war, nicht hören konnten, weil sie entweder eingesperrt waren oder tot.

»Du bist ein Leuchtfeuer, das einen hellen Lichtstrahl in die monarchistisch-faschistische Finsternis hinausschickt«, sagte der Sendeleiter. Also stellte ich mir vor, ich wäre ein Leuchtturm im Automatikmodus, eine Maschine. Danach war meine Nervosität wie weggeblasen. Vorwärts, hinan, mit Traktoren, die eine bessere Welt pflügen, mit Raketen, die in den Weltraum vordringen, mit Plänen, Kraft und Arbeit. Wir waren voller Optimismus. Zwei meiner Kolleginnen beim Sender hatten ihre Namen zu Ehren der glorreichen und aufstrebenden Sowjetunion erhalten: Elektrifikazija (Elektrifizierung) und Pjatiletka (Fünfjahresplan). Niemand fand das lächerlich.

Natalja und ich freundeten uns an. An den Wochenenden nahm sie mich auf lange Spaziergänge durch die Birkenwälder mit, und sie weihte mich ins Pilzesammeln ein (»Man darf niemandem verraten, wo man welche gefunden hat«, lautete ihre oberste Regel). Bei gutem Wetter gingen wir picknicken, und nach dem Essen streckten wir uns im Gras aus und rauchten Aurora-Zigaretten, die Natalja wegen des lachenden Seemanns auf der Packung am liebsten mochte. Oft drehte sich unser Gespräch um einen ihrer unzulänglichen Verehrer und ob sie mit ihm schlafen sollte oder nicht. Wir wirkten wie zwei junge, unbeschwerte Frauen, die das ganze Leben noch vor sich hatten. Ich redete nicht über meine Vergangenheit. Ich erzählte Natalja nur das Nötigste von unserem Kampf in Griechenland, der Niederlage und meiner anschließenden Flucht in die weit geöffneten Arme von Onkel Josef, ins sowjetische Vaterland. Ins Stiefvaterland? Wozu in der Vergangenheit herumwühlen. Man kann die Dinge ohnehin nicht rückgängig machen. Es ist, wie es ist.

Obwohl ich schon längere Zeit in der Sowjetunion gelebt hatte, war Natalja die erste Russin, die ich näher kennenlernte. Die Griechen in Taschkent hatten zusammengehalten. Es war eine Reaktion auf den erlittenen Verlust; wenn man den Kampf und die Heimat verloren hat, fürchtet man, als Nächstes sich selbst und seine Vergangenheit zu verlieren. Die Jahre des Krieges und der Gefangenschaft hatten uns ausgelaugt und gedemütigt, und doch klammerten wir uns an alles Griechische. Man mochte uns mitten in Usbekistan ausgesetzt haben, aber wir druckten griechische Zeitungen, sangen griechische Lieder, kochten griechisches Essen und feierten bald die ersten griechischen Hochzeiten. Die Russen sahen uns gern beim Tanzen zu und erkannten alte orthodoxe Rituale wieder, die bei ihnen schon lange nicht mehr praktiziert wurden. Anders als die meisten Flüchtlinge hatte ich jedoch nicht vor, an dem Land festzuhalten, das ich verlassen hatte und in das ich, das hatte ich mir geschworen, nie zurückgehen würde. Ich hegte keine Rückkehrträume. Ich war jung und dickköpfig genug, die Vergangenheit vergessen zu wollen und stattdessen einer besseren Zukunft entgegenzublicken. Ich war erleichtert, als die zuständigen Instanzen mich auswählten, nach Moskau zu gehen und beim Radio zu arbeiten.

Ich war schon seit zwei Jahren in Usbekistan, als sie in der Fabrik auftauchten. Viele Griechen arbeiteten dort; wir stellten Bauteile für Wasserkraftanlagen her. In meinen ersten Russischlektionen überwogen technische Vokabeln, die mir damals ziemlich poetisch erschienen: Turbinengeneratorwelle, Pumpspeicherwerk, beschichtete Stahlschornsteine … Der Vorarbeiter sagte: »Antigona Petrowna, bitte komm mit«, und dann wurde ich in einen Raum gebracht, wo mich ein Mann und eine Frau aus Moskau baten, einen griechischen Text vorzulesen. Sie befanden meine Stimme für geeignet, und eine Woche später saß ich im Zug nach Moskau. Obwohl ich mich von vielen Menschen verabschieden musste, die Ähnliches oder Schlimmeres durchgemacht hatten als ich, war ich erleichtert. Es war, als hätte ich in der Lotterie gewonnen. Ich ließ die windgepeitschte Steppe und die Notunterkünfte mit den vielen Einwanderern hinter mir, die immer noch hofften, in der Sowjetunion ihren Traum leben zu können. Endlich konnte ich die Tür hinter mir schließen und von vorn beginnen.

Die Freundschaft mit Natalja half mir, meine zweite Heimat besser zu verstehen. Russen und Griechen haben viel gemeinsam, doch die Russen tragen eine dunkle, stille Quelle im Herzen. Wir Griechen sind immer in Bewegung. Wenn wir auf ein Problem stoßen, gehen wir einfach weg, wir klettern über den Berg, besteigen ein Boot, das uns in fremde Länder bringt, und versuchen etwas Neues. Der Russe bleibt, wo er ist, weil er fürchtet, das Problem mit über den Berg zu nehmen. Er hält sich für das Opfer eines besonders geschmacklosen Witzes. Wozu soll ein Mensch sich anstrengen, wenn sich ohnehin die ganze Welt gegen ihn verschworen hat? Griechen glauben, dass es immer einen Ausweg gibt. Wie Odysseus sind wir davon überzeugt, den Zyklopen überlisten und an den verführerischen Sirenen vorbeisegeln zu können. Natürlich verspüren auch wir Griechen jene besondere Art von Nostalgie und Heimweh, wenn wir zu einem Leben im Exil gezwungen werden. Wir sind gegangen und träumen doch immerzu von der Rückkehr, und sei es nur, um in dem Boden begraben zu liegen, der sich schon das Fleisch unserer Ahnen einverleibt hat. Ich war jedoch fest entschlossen, es dazu nicht kommen zu lassen.

Über Nataljas Freundeskreis lernte ich Igor kennen. Er hatte eine blasse, milchige Haut, blondes Haar und einen schmalen Jungenkörper. »Nord und Süd«, so wurden wir genannt, weil ich fast schwarzes Haar und einen südländischen Teint hatte; ich wurde braun, sobald ich in die Sonne ging. Als ich Igor kennenlernte, arbeitete er bereits an der weiterführenden Schule, an der er sein Leben lang bleiben sollte. Er unterrichtete russische Literatur und schleppte ständig eine riesige Einkaufstasche mit sich herum, in der abgewetzte Bücher von Puschkin und Tschechow und überquellende Mappen mit den Aufsätzen seiner Schüler steckten. Er war ein sanftmütiger Mensch und akzeptierte, dass ich mich über meine Vergangenheit ausschwieg. Anfangs lebte er noch bei seinen Eltern und besuchte mich in der Wohnung, die ich mir mit zwei Kolleginnen vom Sender teilte. Wir lagen in meinem schmalen Bett unter der Steppdecke und liebten uns lautlos, um die anderen nicht zu stören, wir hörten Musik, lasen, schliefen umarmt ein und standen nur auf, um uns ein Omelett zu braten. Wir waren von Anfang an Gefährten. Kameraden. Nicht die schlechteste Voraussetzung für ein gemeinsames Leben.

Nachdem Natalja Arkadi geheiratet hatte, machten wir oft zu viert Urlaub. Meistens fuhren wir in das sendereigene Erholungsheim bei Sotschi. Der Geruch des Schwarzen Meeres erinnerte mich an zu Hause, an Ausflüge mit meinen Eltern nach Fáliro. Salzverkrustete Felsen, das duftende Harz der Pinien, Sonne, die die Haut wärmt. Arkadi war ein Spaßvogel, der uns zum Lachen brachte, bis uns die Tränen kamen. Dann wurde ich traurig, weil ich mich daran erinnerte, dass ich seit Ewigkeiten nicht mehr so gelacht hatte, nicht seit Ausbruch des Krieges. Ich dachte an Markos und wie wir uns als Kinder vor unseren Eltern versteckten, bis sie, wüste Drohungen ausstoßend, durch die Straßen liefen; wie wir einander den Mund zuhalten mussten, um uns nicht durch unser Gekicher zu verraten. Während Arkadi mit der nächsten Anekdote anfing oder Natalja drückte, bis sie kreischte, stand ich auf und ging weg, damit niemand mein Gesicht sehen konnte.

»Ah, die tragische griechische Heldin mit der geheimnisvollen Vergangenheit!«, rief Arkadi mir dann in gespielt theatralischem Tonfall hinterher.

Als Ljuba zur Welt kam, wünschte Igor sich ebenfalls ein Kind. Ich wurde nicht schwanger. Ich erzählte ihm nichts von Nikitas. Es war unmöglich. Wo hätte ich anfangen sollen? Welche Frau verlässt schon ihr eigenes Kind? Wenn ich Ljuba sah, wurde der Schmerz fast unerträglich. Die Speckfalten an ihren Beinchen, der kleine, weiche Bauch, der sich im Schlaf hob und senkte wie der eines Welpen, ihr Schmatzen und Schlürfen beim Stillen rissen alte Wunden auf, die ich längst verheilt geglaubt hatte. Natalja hielt mich für neidisch und war überzeugt, all das würde sich legen, sobald ich mein eigenes »Schätzchen« im Arm hielt, und Arkadi gab Igor humorvolle Tipps, wie er mir am besten einen »Braten in die Röhre« schieben könne.

Natürlich wusste Igor von meinen Unterleibsbeschwerden. Ich litt seit meiner Zeit in den Bergen daran, so wie alle Frauen, die damals dabei gewesen waren. Schließlich bestand Igor darauf, einen Arzt aufzusuchen, und als mir keine Ausreden mehr einfielen, gingen wir zu Nataljas Gynäkologin. Ich musste ein Formular ausfüllen; eine der Fragen betraf die »Anzahl vorheriger Schwangerschaften«. »Keine«, behauptete ich, aber als Olga Konstantinowna mich untersuchte, nahm sie kein Blatt vor den Mund.

»Antigona Petrowna, wenn du mich anlügst, kann ich dir nicht helfen.«

Igor sah mich an. Beide warteten auf eine Antwort. Ich konzentrierte mich auf Olga Konstantinownas weißen Kittel, das Namensschild, ihren großen Haarknoten.

»Ich habe einen Sohn geboren, aber er ist gestorben.« Daraufhin musste ich so viele Lügen erfinden, dass ich die Übersicht verlor und irgendwann selbst Igors Geduld erschöpft war.

»Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Wir sollten sie ruhen lassen«, sagte ich. »Es ist, wie es ist.« Igor liebte mich, aber seit diesem Tag war er spürbar zurückhaltender.

Olga Konstantinowna verschrieb mir eine Medizin und schickte mich zu einer zweiwöchigen Kur nach Jalta. Ich wurde allerdings nicht wieder schwanger. Igor hing sehr an Ljuba, die ihn »Onkel« nannte und ihn ständig bat, ihr vorzulesen, so wie alle kleinen Kinder es tun. Manchmal ging er mit ihr Eis essen oder ins Museum, dabei hielt sie sich an seiner Hand fest. Zu Igors Beerdigung reiste Ljuba aus London an, und sie weinte nicht weniger als bei der Beisetzung ihres eigenen Vaters. Was mich betraf, so hielt ich mich von Ljuba fern. Nach ihrem dritten Geburtstag wurde es besser, da ich keine vergleichbaren Erinnerungen an Nikitas mehr hatte. Im Laufe der Jahre verlängerten sich Ljubas pummelige Grübchengliedmaßen und verschlankten sich zu denen eines Schulkindes, bis irgendwann nichts mehr die körperliche Erinnerung an Nikitas wachrief, den ich im Arm gehalten, gebadet und unter Zuhilfenahme sämtlicher Tricks gefüttert hatte. Natürlich stellte ich mir oft vor, wie er wohl aussah, was er aus seinem Leben gemacht hatte.

Ich dachte an Nikitas’ Geburt: Als die Wehen einsetzten, brachte man mich in einem mit einer Plane abgedeckten Lastwagen ins Krankenhaus. Die Ladefläche stank nach menschlichen Ausscheidungen. Ich wusste, warum – panische Angst führt unmittelbar zu körperlichen Reaktionen. Ich trug meinen Teil zu der Schweinerei bei, als die Fruchtblase platzte. Mein Körper gehorchte einem eigenen, geheimnisvollen Rhythmus, und es dauerte lange, bis Nikitas da war. Ich drang in eine unbekannte Welt ein, wurde von Schmerzspiralen in ungekannte Tiefen gezogen. Es war, als würde ich im Meer tauchen, bis meine Lunge beinah platzte. Bei jedem Auftauchen sammelte ich meine Kräfte und machte mich auf den nächsten Tauchgang gefasst. Von dem, was um mich herum vor sich ging, war ich weit entfernt. Als ich das Baby sah, das bläulich angelaufen war und mich aus einem geöffneten Auge betrachtete, glaubte ich, ein Urtier vor mir zu haben, mehr Fisch als Mensch. Ein unabhängiges Lebewesen, für das ich zufälligerweise der Brutkasten gewesen war. Das nichts mit meiner Vergangenheit zu tun hatte.

3Privatsphäre und Alleinsein sind keine griechischen Vokabeln

Maud

Auf dem Heimweg vom Krankenhaus fuhren Orestes und ich bei der Polizeiwache vorbei, wo ich verschiedene Dokumente in dreifacher Ausfertigung unterzeichnen musste und die Aussage des Schwimmers zu lesen bekam, der das Autowrack entdeckt hatte. Sobald ich Tante Alexandra telefonisch benachrichtigt hatte, trat sie in Aktion; sie wusste, was zu tun war. Als Orestes und ich die Haustür öffneten und in den großen, von allen genutzten Flur traten, kam sie von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet aus ihrer Wohnung. Sie streckte beide Arme zur schicksalsergebenen Umarmung aus, zog erst mich an sich und dann den wehrlosen, bleichen Orestes, dem anscheinend immer noch übel war. Chryssa kam unter lautem Klagegeheul herbeigeeilt. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, ihre Augen gerötet.

»Lang sollt ihr leben, Kinder! Gott möge ihn in Frieden ruhen lassen. Gott möge ihm vergeben.«

Ich umarmte Chryssas schmale Gestalt, wozu ich mich hinunterbeugen musste. Ich fühlte ihre Tränen an meiner Wange, die, so tief saß der Schock, immer noch trocken war.

Tig war tapfer. Um halb zwei stieg ich den Hügel zum zweiten Mal an diesem Tag hinauf, um in einiger Entfernung vom Schultor auf sie zu warten. Als sie mich entdeckte, waren sie und ihre Freundin Eurydike gerade dabei, sich eine Zigarette anzuzünden. Sie warf die Zigarette in den Rinnstein und kam mit ärgerlicher und zugleich zerknirschter Miene heranstolziert.

»Was willst du denn hier?« Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich hatte eine der Beruhigungspillen geschluckt, die Nikitas im Badezimmer aufbewahrte. Obwohl das Verfallsdatum längst abgelaufen war, hatte eine Tablette gereicht, um mein Gesichtsfeld an den Rändern stark zu verwischen, umso mehr, als der rote Saharasand die Umrisse der Häuser verschwimmen ließ.

Früher hatte ich mir immer vorgestellt, die Nachricht vom Tod des Ehepartners würde einen Orkan der Trauer auslösen, in dem alles andere untergeht. Aber so einfach war das nicht. Es gab so viel zu regeln und zu erledigen, und ich fühlte mich die meiste Zeit so ausgehöhlt, dass ich kaum noch wusste, wer ich war. Ich war nur noch ein Rädchen in der Maschinerie, die bei einem Todesfall anläuft. Später – und ohne jede Vorwarnung – füllte unaussprechliches Grauen meine innere Leere. Ich war wie das Männchen im Cartoon, das über den Abgrund hinausschießt und plötzlich merkt, dass es keinen Boden unter den Füßen mehr hat. Ich stürzte in den Abgrund und stöhnte dabei, als fiele ich tatsächlich. Der Tod schien so nah.

Den ganzen Nachmittag hindurch riefen Freunde und Verwandte an, die mehr erfahren wollten. Fragen, Ungläubigkeit, noch mehr Fragen. Ich verständigte meine Eltern, die sich erschüttert und mitfühlend zeigten, aber dennoch in der vertrauten Distanziertheit verharrten, die unser Verhältnis seit meiner Kindheit prägte. Ich bat sie, nicht nach Griechenland zu kommen, und sie bestanden auch nicht darauf. Sie hatten mir niemals nahe genug gestanden, um mein Leben zu verstehen, und mittlerweile war ich es müde geworden, mich zu erklären. Dies war nicht der geeignete Zeitpunkt, um Veränderungen in Angriff zu nehmen.

Als am Ende des Tages das letzte Licht aus den lastenden Wolken wich, lag ich wie gelähmt auf dem Bett. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, fühlte mich wie unter einer schweren Bürde. In dem Moment fragte ich mich ernsthaft, ob ich von hier fortgehen sollte. Ich könnte Tig nehmen und einfach verschwinden, als wäre nichts geschehen. Ich könnte Griechenland aus meinem Leben tilgen, es abhaken wie eine beendete Affäre und in ein imaginiertes Parallelleben zurückkehren – jenes Leben, das ich geführt hätte, wenn ich in England geblieben wäre. Mit diesem Trick könnte ich die Katastrophe hinter mir lassen. Aber noch während ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass es unmöglich wäre. Nach so vielen Jahren war Athen zu meiner Heimat geworden. Dass ich ewig eine xéni bleiben würde – es hatte mich immer verletzt, in Behörden und Geschäften so bezeichnet zu werden –, war mir plötzlich egal. Das Wort schien immer betont zu haben, was ich nicht war, was mir fehlte, mir, der Fremden, der Ausländerin, der, und das war das Schlimmste, Nicht-Griechin. So lange hatte ich gekämpft, hatte dazugehören, das Richtige tun, mich anpassen wollen, obwohl mir mein Dasein als Randfigur auch gewisse Freiheiten eröffnete. Ich liebte Griechenland trotz allem und wusste, dass eine Rückkehr nach England keine Lösung war. Ich hatte mich zu einer seltsamen Mischform entwickelt, die nirgendwo hingehörte – ne carne, ne pesce, wie eine italienische Freundin zu sagen pflegte, weder Fisch noch Fleisch.

Die Entscheidung, nach Griechenland zu ziehen, war vor zwanzig Jahren eher zufällig gefallen. Ich wollte eine Doktorarbeit in Sozialanthropologie schreiben; die meisten anderen Doktoranden in Cambridge hatten sich vorgenommen, den Amazonas stromaufwärts zu paddeln und den unberührten Regenwald zu erkunden oder in irgendeiner abgelegenen Gegend Afrikas Lehmhütten zu bauen. Mein Thema, »Der Wandel der Initiationsriten auf den griechischen Inseln«, wirkte vergleichsweise unspektakulär. Meine Kommilitonen zogen mich auf und witzelten, ich hätte es lediglich darauf abgesehen, im Mittelmeer zu baden, am Strand zu liegen und eimerweise rosaroten Taramosalata zu futtern. Tanzende Männer mit Schnauzbart und »Ein Schiff wird kommen« auf der Bouzouki, am besten noch vor dem fototapetentauglichen Hintergrund der Akropolis bei Sonnenuntergang.

Ich wusste, dass mein Großvater sich über meine Wahl ärgern würde. Desmond war Altphilologe, hatte viele Jahre am Londoner King’s College unterrichtet und sein Leben dem Studium der griechischen Antike gewidmet. Sein Steckenpferd war Parmenides, Sokrates’ Lehrer und Vater der griechischen Philosophie, den er ständig mit rätselhaften Aussprüchen zitierte, die ich als Kind nicht verstand. Zu seinen Lieblingsthemen gehörten die »vielverständigen Stuten«, »den Wagen ziehend mit gewaltiger Kraft«. Er hielt das für eine passende Metapher für das Leben: Als Wagenlenker müssen wir unseren Pferden die Freiheit geben voranzustürmen, aber gleichzeitig müssen wir sie zügeln, um nicht vom Weg abzukommen. »Die Jungfrauen wiesen den Weg«, fügte er auf Altgriechisch hinzu und erhob damit den Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Wurde ich, wie er es nannte, »gefühlig«, sagte er: »Halte die Pferde im Zaum, Maud. Überlasse ihnen nicht die Führung.« Wenn meine Großmutter Lucy in der Nähe war, mischte sie sich ein: »Lass den Pferden ihren Spaß, das ist meine Meinung. Lass sie einfach laufen!«

Von meinen Eltern hingegen bekam ich wenig mit. Sie hatten sich am Royal College of Music kennengelernt und gerade ihr erstes Engagement in einem Ensemble ergattert, das Alte Musik auf Originalinstrumenten spielte, als ich auf die Welt kam. Um meinen kindlichen Verdruss noch zu steigern, hatten sie mir einen Vornamen gegeben, den ich wegen seines altmodisch-derben Klangs verabscheute. Keine meiner Altersgenossinnen hieß Maud, und dass der Name in der Familie meiner Mutter eine gewisse Tradition genoss, war mir kein Trost. Meine Urgroßmutter mütterlicherseits hatte Maud geheißen, und als sie kurz vor meiner Geburt starb (und uns fünftausend Pfund hinterließ), fühlten meine Eltern sich ihr moralisch verpflichtet. Mein Großvater wurde nicht müde, Tennysons Gedicht »Maud« zu zitieren. Den Vers »Komm in den Garten, Maud« konnte ich schon im zarten Alter von fünf Jahren nicht mehr hören. Maud Thomas. Das klang handfest und sehr englisch. Dabei war ich eigentlich eine Tomaszewki, aber die Großeltern meines Vaters hatten nach ihrer Ankunft in London kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihre polnische Vergangenheit so schnell wie möglich abgeschüttelt. Obwohl ich oft versucht war, mit dem Namen Maud ähnlich zu verfahren, habe ich es nie geschafft. Später wurde er hellenisiert, da er für die Griechen nahezu unaussprechlich war. Man nannte mich Mad, Maood, Mood, Moody, am häufigsten jedoch Mond, Μοντ, das im Griechischen auf »nt« endet, weil das Alphabet den Einzelbuchstaben »d« nicht kennt. So kam es, dass ich fast immer »Mond« oder, weicher noch, »Mondy« genannt wurde. Alles war besser als Maud.

Als ich noch ganz klein war, nahmen meine Eltern mich auf ihre Konzertreisen mit. Ich erwies mich aber schon bald als überschüssiges Gepäckstück, das zusätzlich zu den Viola-da-gamba-Koffern in Flugzeuge und Züge geschleppt werden wollte. Es war vernünftiger, mich bei den Großeltern zu lassen. So kam es, dass ich bei meinen Eltern zwar die Ferien verbrachte, meinen Alltag jedoch mit Desmond und Lucy teilte, denen die Namen meiner Lehrer geläufig waren und die wussten, welche Sorte Cornflakes ich am liebsten zum Frühstück aß. Ich entwickelte keine enge Bindung zu meinen Eltern. Und weil sie mich als Kind zurückgelassen hatten, ließ ich als Erwachsene sie zurück. Tig hatte ihre Großeltern kaum ein Dutzend Mal gesehen.

Als ich ein Teenager war, beneideten meine Freundinnen mich um meine Freiheit. Mit sechzehn bezog ich die kleine, moderige Souterrainwohnung im Haus meiner Großeltern in Bayswater und konnte kommen und gehen, wie es mir passte. Desmond war viel zu beschäftigt, darauf zu achten, und Lucy hatte es vor langer Zeit schon aufgegeben, sich Sorgen um das Treiben in meiner »Bude« zu machen. Desmond hatte in jungen Jahren Griechenland bereist und war sich im Klaren darüber, dass das Land sich den Werten und Errungenschaften seiner fernen Vergangenheit entfremdet hatte. Er war der Überzeugung, die antiken Philosophen, Bildhauer und Politiker stünden ihm und der britischen Wissenschaft zu; für die zeitgenössischen Griechen hatte er nur Verachtung übrig.

»Sie haben das Land heruntergewirtschaftet. Außerdem sind sie nicht einmal echte Griechen. Ein jeder hält sich für Perikles’ Enkel, dabei haben die Leute mit den Alten Griechen nichts gemein. In Wahrheit sind sie Türken, Slawen und Albaner … eine Balkanmischung aus ehemaligen Untertanen des Osmanischen Reiches, die Renaissance und Aufklärung verschlafen haben.« Er hatte immer gehofft, ich würde die Sozialanthropologie als »Fischen im Trüben« abtun und stattdessen Altphilologie studieren. Als ich tatsächlich einen Studienplatz in Cambridge bekam, sagte er: »Schade.« Ich beschloss, meine Feldforschungen in Griechenland durchzuführen, obwohl ich wusste, dass es ihm missfallen würde. Er zitierte Byron, um mich zu ärgern: »Schön Hellas, einst’ger Glorie Schatten du!« Dieser Ausspruch wurde später zu einem Insiderwitz zwischen Nikitas und mir, den wir machten, wann immer Griechenland uns nervte: »Schatten du«, sagten wir, wenn wieder ein Politiker wegen Korruption angeklagt wurde oder ein Brandstifter einen bewaldeten Hügel im Athener Umland abgefackelt hatte, um ihn als teures Bauland verkaufen zu können.

Tig kam zu mir ins Schlafzimmer. Fassungslos und trockenen Auges lagen wir nebeneinander. Bald kam Orestes dazu, er stieß die Tür auf, streifte die ausgetretenen Turnschuhe ab und warf sich neben Tig aufs Bett. Er bebte kaum merklich – vor Zorn, denn er hatte sich vorgenommen, der Tragödie mit männlicher Hitzköpfigkeit und lautstarkem Geschimpfe zu begegnen, so wie sein Vater es vermutlich auch getan hätte.

»Mehr hat er nicht zustande gebracht, in seinem ganzen Leben nicht, als mich allein zu lassen. Seit ich zwei Jahre alt war. Immer musste sich alles um ihn drehen. Nun hat er es endgültig geschafft …« Orestes’ seltsam verzerrte Stimme überschlug sich wie die eines Jungen in der Pubertät. »Ich glaube, er hat es absichtlich getan.«

»Nein. Die Polizei geht von einem Unglück aus.« Tig zuliebe wollte ich überzeugt klingen, aber meine Stimme zitterte. Ihr flüchtiger Blick verriet mir, dass sie mir nicht glaubte. »Morgen bekommen wir den Autopsiebericht. Es war ein Unfall.«

»So wie wenn man auf eine Ameise tritt? Aus Versehen?« Auch Tig wirkte wütend, und es war, als schuldete ich den beiden eine Erklärung. Ich rollte mich auf die Seite und zog die Knie an, so als könnte ich mich in dieser Position besser zusammenreißen.

Kurz darauf sprang Orestes auf, streckte sich und schlüpfte hektisch in seine Turnschuhe. Wenn er die Möglichkeit hat, sich zu bewegen, bleibt er nur selten länger an einem Fleck.

»Kommst du mit rauf?« Er hielt Tig eine Hand hin. »Komm, Spätzchen.« Nach endlosen Streitereien mit seiner Mutter und seinem Stiefvater war Orestes mit sechzehn zu uns gezogen, in das Studio – und bis heute dort geblieben. Diese Art von Unterkunft wird in Griechenland treffenderweise garsoniéra genannt, Junggesellenwohnung, was Orestes wörtlich nahm. Er strich die Wände lila, wobei von der Farbe kaum noch etwas zu sehen war, weil er sie mit provokanten Graffiti besprüht und mit Postern seiner Revolutionshelden überklebt hatte. Die Vorhänge wurden nur selten aufgezogen und die Fenster blieben meistens geschlossen, sodass es in dem Raum nach Marihuana und Pizzaresten stank, darüber lag ein Hauch von Parfum, den die weiblichen Besucher hinterließen.

Von Anfang an war Tig Orestes’ Maskottchen gewesen, das ihn und seine Schulfreunde mit ausgefallenen, frühreifen Fragen becircte. Später dann begriffen Orestes’ Freundinnen immer schnell, dass sie sich, wollten sie ihre privilegierte Stellung nicht verlieren, Tig zur Verbündeten machen mussten; trotzdem schaffte es keine, sich länger zu halten. Orestes war ständig von Mädchen umgeben, aber jede Beziehung hielt nur so lange, bis etwas noch Interessanteres in sein Blickfeld geriet. Er schaffte es immerhin, mit den meisten seiner Exfreundinnen befreundet zu bleiben, und es gab unzählige hübsche junge Damen, deren Verwandlung vom heulenden Häuflein Elend an meinem Küchentisch (»Kyría Moody, ich weiß gar nicht, was los ist«) zur loyalen Anhängerin ich beobachtet hatte.

In jener Nacht schlief Tig bei mir, zusammengerollt auf der Bettseite ihres Vaters.

»Das Kissen riecht nach Babás«, sagte sie. »Es ist, als wäre er noch da.« Sie fing an zu weinen, schlief aber kurz darauf ein, so erschöpft war sie. Ich lag dicht neben ihr, atmete den warmen Duft ihrer Haare ein, die nach fruchtigem Shampoo rochen, nach Äpfeln im Heu. Ich roch am Kissen. Es war mir ein Rätsel: Wie konnte er tot sein, ein Leichnam, der schon dabei war, in einem Metallfach zu verwesen, wenn seine Zellen noch hier waren und den vertrauten, lebendigen Duft verströmten? Ich sog seine körperliche Gegenwart durch meine Nasenlöcher ein wie einen verdampfenden Geist, der von nun an verblassen würde, Atom für Atom. Ich wusste nicht, wie ich diesen schrecklichen Vorgang überleben sollte.

 

Am nächsten Morgen nahm mich Alexandra mit zu Kyríos Katsaridis, dem Bestatter, der eine Straße weiter wohnte. Wir gingen langsam. Sie wollte wissen, ob ich Nikitas’ Mutter angerufen hätte.

»Sei vorsichtig«, sagte sie, als ich ihr von dem Telefonat erzählte. »Meine Schwester gehört zu jenen gefährlichen Menschen, die die Welt retten wollen und sie dabei nur zerstören. Wenn du das nächste Mal mit ihr sprichst, darfst du ihr nicht jedes Wort glauben. Ich war immer schon der Meinung, dass man auf der Hut sein muss vor Leuten, die hochtrabende Pläne schmieden und billigend in Kauf nehmen, wenn beim Hobeln Späne fallen. Sie hat sich für Stalin entschieden, vergiss das nicht!« Schon hatte Alexandra sich bei mir untergehakt, sie tätschelte meinen Arm und beendete das Thema mit den Worten: »Du bist eine starke Frau, Mondy. Und du musst stark bleiben, deiner Tochter zuliebe. Meine Schwester soll bleiben, wo sie ihre zweite Heimat gefunden hat.«

Ich war oft an Katsaridis’ Ladenlokal vorbeigelaufen, ohne wirklich Notiz davon zu nehmen. Da wir in der Nähe des größten Friedhofs in Athen lebten, hatte ich mich längst an das Geschäft mit dem Tod gewöhnt: an die unzähligen Floristen, Steinmetze und auf Trauergebäck spezialisierten Konditoren, in deren Schaufenstern Tortenattrappen standen, die mit den Namen von Verstorbenen verziert waren. »Nicht bei uns!«, riefen die Leute für gewöhnlich, wenn es um das Thema Tod und Sterben ging, nur in unserem Viertel war es anders. Die meisten Griechen pflanzen in ihren Gärten keine Zypressen, weil der Baum sie unweigerlich an den Friedhof denken lässt; ich hingegen fand seine hohe, schlanke, menschenähnliche Silhouette immer schon ausnehmend hübsch. In unserem Viertel war es ganz normal, unter den Zypressen spazieren zu gehen, und der Anblick einer in Schwarz gekleideten Frau, die mit verweinten Augen den Hügel herunterkam, war ebenso alltäglich, wie einem Ehepaar auf dem Weg zur Grabpflege zu begegnen oder einer ganzen Gruppe von Trauergästen, die neben den Blumenständen auf die nächste Beerdigung warteten. Es wurde ebenso viel gelächelt wie geweint, ganz im Sinne der Platitüde, derzufolge eine Trauerfeier zu beidem einlädt. Früher war ich dem Irrglauben aufgesessen, die praktischen, organisatorischen Aspekte würden dem Tod etwas von seinem Mysterium nehmen – als könnte man ihm ein Schnippchen schlagen, einfach indem man sich lange genug mit ihm beschäftigte.

Kyríos Katsaridis war jünger und freundlicher, als ich erwartet hatte, und er unterstützte meinen Widerstand gegen Alexandras Vorschlag, Nikitas über Nacht nach Hause zu holen. Ich wollte keine Totenwache. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, die ganze Nacht in einem überfüllten Zimmer sitzen und seinen Leichnam anstarren zu müssen.

»In Athen verzichten heutzutage die meisten Hinterbliebenen darauf, den Verstorbenen zu Hause aufzubahren«, sagte Kyríos Katsaridis. Er hatte ein glattes, beinahe jungenhaftes Gesicht, aber seine Stimme war tief und beruhigend. Ich fragte mich, wie dieser junge Mann lebte, was er trank, wenn er mit seinen Freunden ausging, wie er zu seinem Geschäft gekommen war. Ganz bestimmt durch seinen Vater, ganz nach griechischer Tradition. Bestatter war ein Beruf, von dem wohl kein Kind träumte.

Dass es eine orthodoxe Trauerfeier geben würde, stand außer Frage. Zwar hatte Nikitas nicht an Gott geglaubt, er hatte sich für die Trennung von Staat und Kirche eingesetzt und kritische Artikel über die Mönche auf dem Berg Athos veröffentlicht, die es sich gut gehen ließen, ihre Zellen mit teuren Fernsehern ausstatteten und per Handy Geschäfte machten. Allein der Anblick einer schwarzen Priesterrobe auf der Straße galt ihm als schlechtes Omen. »Schnell, Eier berühren!«, raunte er Orestes jedes Mal verschwörerisch zu. Er konnte es nicht ausstehen, wenn Tante Alexandra der Sitte folgte und einen Priester mit Handkuss begrüßte, und in seinen schlimmsten Flüchen kamen entweder Christus oder die Jungfrau vor. Doch so wie die meisten seiner Landsleute zögerte Nikitas keine Sekunde, wenn es darum ging, den Priester zum Zeremonienmeister wichtiger Lebensereignisse zu machen. Wir hatten nur deswegen nicht kirchlich geheiratet – anders als Nikitas und seine erste und zweite Frau –, weil ich nicht griechisch-orthodox war. Tig und Orestes waren beide im Alter von neun Monaten getauft worden, man hatte sie mit Öl übergossen, unter Wasser getaucht, ihr Haar geschnitten und sie mit einem Kreuz geschmückt. Und sie hatten endlich einen Vornamen bekommen, den keiner kannte, bis der Taufpate ihn vor dem Priester laut aussprach.

Wir suchten einen Sarg aus, der wie eine glänzende Mahagonitruhe mit eleganten Messinggriffen aussah. Es gab keine handgeflochtenen Weidenkörbe und keine organisch abbaubaren Kokons, wie sie heutzutage in England in Mode sind, aber das war mir egal.

»Wir haben eine Grabstätte in bester Lage gefunden. Hoch oben in dem Teil des Friedhofs, den wir die Künstlerecke nennen. Dort liegen viele bekannte Persönlichkeiten – Sängerinnen, Schriftsteller, Schauspieler. Nikos Xilouris, Viki Moscholiou …« Kyríos Katsaridis machte einen zufriedenen Eindruck. Ich nickte und lächelte, um den jungen Mann nicht zu enttäuschen. Erst später erfuhr ich, dass es Tante Alexandras unzähligen Kontakten und ihrem savoir faire zu verdanken war, dass wir ein so schön gelegenes Grab zugeteilt bekamen. Mittlerweile ist nur den berühmtesten und einflussreichsten Stadtbewohnern eine Ruhestätte auf dem Ersten Friedhof sicher, und zusätzlich zur happigen Monatsmiete, die zukünftig anfallen würde, war mindestens eine inoffizielle Zahlung fällig gewesen. Eine Grabstätte dauerhaft zu erwerben war praktisch unmöglich – die Preise lagen bei fast hunderttausend Euro.

Während der Tag sich voranwälzte, fanden sich Freunde, Bekannte und Nikitas’ Kollegen aus der Redaktion in der Paradiesstraße ein. Ich kannte diese Leute teilweise gar nicht, und doch hatten sie ihn alle gern gehabt. Morena, die gute Seele, die an diesem Tag eigentlich in einem anderen Haushalt hätte putzen sollen, kam vorbei, um zu helfen, und nach einer Weile ging es in unserem Haus zu wie am 15. September, dem Tag des Heiligen Nikitas. Jedes Jahr an diesem Tag stand das Telefon nicht still und die Haustür offen, die Leute brachten Süßes, Blumen und Geschenke und blieben meistens bis zum späten Abend. Nikitas stand in der Küche und heizte mit Wein, lustigen Anekdoten, Essen und Musik das kéfi