Mad Boy, Lord Berners, meine Großmutter und ich - Sofka Zinovieff - E-Book

Mad Boy, Lord Berners, meine Großmutter und ich E-Book

Sofka Zinovieff

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Beschreibung

Ein Blick hinter die Kulissen der britischen High Society Eine skandalöse Ménage-à-trois in der britischen High Society: Als Sofka Zinovieffs Großeltern 1942 heiraten, lebt der als ›Mad Boy‹ bekannte Robert Heber-Percy bereits seit Jahren mit dem gut drei Jahrzehnte älteren Lord Gerald Berners zusammen. Die beiden gelten als unwiderstehlich exzentrisch und sind die perfekten Gastgeber rauschender Feste, auf denen sich die Haute Volée Englands trifft. In ihrem hinreißenden Memoir geht Sofka Zinovieff Familiengeheimnissen auf den Grund und verbindet einen Jahrmarkt der Eitelkeiten mit der englischen Zeit- und Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu einem mondänen Pageturner. Großformat in bibliophiler Sonderausstattung mit zahlreichen Fotos.

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Seitenzahl: 835

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Sofka Zinovieff

Mad Boy, Lord Berners, meine Großmutter und ich

Aus dem britischen Englisch von Gregor Runge

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Vassilis

EINSJennifers Handtasche

☜Der Salon von Faringdon: Porträt von Robert Heber-Percy in jungen Jahren; Porträt von Lord Berners mit einem Hummer, von Gregorio PrietoPrieto, Gregorio; Jennifers Handtasche auf dem Sessel und eine der pinkfarbenen Tauben

CH WAR SIEBZEHN, als meine Mutter mich zum ersten Mal mit zu ihrem Vater nahm. Ich wusste, dass sie nicht viel für ihn übrig hatte, dass er homosexuell war und ein beeindruckendes Haus besaß. Von London aus waren es mit dem Auto weniger als zwei Stunden Fahrt bis in die Grafschaft von Oxfordshire. Als wir die Kleinstadt Faringdon erreichten, war ich voller Vorfreude. Wir näherten uns der Kirche und fuhren durch ein altes Steintor auf einen fast unheimlich anmutenden dunklen, heckengesäumten Zufahrtsweg. Das Städtchen lag hinter uns. Zwischen den Bäumen öffnete sich unerwartet ein spektakulärer Blick auf die weitläufige Landschaft. Nach einer schwungvollen Rechtskurve hielten wir unversehens vor dem Haus, einem quadratischen grauen Gebäude, herrschaftlich, ohne einschüchternd zu wirken, mit dem verspielten Charme eines gregorianischen Puppenhauses.

Der Schotter knirschte mondän, und voller Staunen sah ich, als handle es sich um eine Sinnestäuschung, einen Schwarm regenbogenfarbener Vögel auffliegen: blaue, grüne, orange, pinke und violette Tauben zogen ein paar majestätische Runden über dem Haus, bevor sie unweit von uns landeten und sich prosaisch daranmachten, tote Insekten aus dem Profil der Reifen unseres Wagens zu picken. Meiner Mutter zufolge hatte Lord Berners die Tradition der gefärbten Tauben schon vor Jahrzehnten eingeführt. Ich hatte einiges über ihn herausgefunden, allem voran, dass mein Großvater Robert sein Lebensgefährte und er selbst Komponist, Maler, Schriftsteller und ein Exzentriker gewesen war. Robert hatte Faringdon House von ihm geerbt. Die Glanzzeit der beiden lag in den Dreißigerjahren, als der Ästhet Gerald Berners aus Faringdon House ein Paradies für die Sinne machte. Hier wurden den Geistesgrößen, Schönheitsgöttinnen und Konversationsgenies ihrer Zeit die erlesensten Speisen kredenzt. Zu den Gästen zählten die MitfordsMitford-Schwestern, die SitwellsSitwell-Familie, aber auch Igor StrawinskyStrawinsky, Igor, Gertrude SteinStein, Gertrude (1874–1946), Salvador DalíDalí, Salvador (1904–1989), H.G. WellsWells, H.G., Frederick AshtonAshton, Frederick (1904–1988) und Evelyn WaughWaugh, Evelyn (1903–1966). Meine Mutter konnte sich für den Glamour und die berühmten alten Freunde nicht begeistern. Faringdon – das war für sie Snobismus, schlechtes, affektiertes Benehmen, mangelnde Liebe und Zuneigung. Sie hatte diese Welt so weit wie möglich hinter sich lassen und ihre Kinder vor ihr schützen wollen.

Robert ging auf die siebzig zu. Er stand unter dem kleinen Säulenvordach mit dem Kristallleuchter, in einem gut sitzenden Anzug, Drink und Zigarette in der Hand, zu seinen Füßen ein massiger Boxer. Stahlgraues Haar fiel ihm in die Stirn, die struppigen Augenbrauen standen in einem verwegenen Winkel über der Nasenwurzel. Ich gab ihm zur Begrüßung einen Kuss, auch wenn wir uns noch nie begegnet waren. Schließlich waren wir miteinander verwandt. Damals wusste ich noch nicht, dass man ihn seit vielen Jahren »Mad Boy« nannte. In seiner Miene lag tatsächlich etwas Boshaftes, und sein Lachen klang wie heiseres Gebell. Er hat sich insgeheim bestimmt amüsiert, als wir ihm unsere Begleiter vorstellten. Meine Mutter war damals fünfunddreißig und ihr Freund um einiges jünger, bei mir war es umgekehrt; man schrieb das Jahr 1979. Für Robert gaben wir bestimmt eine gute Anekdote ab, mit der er bei den nächsten Wochenendgästen punkten konnte.

Wir betraten das Vestibül mit den vielen Gemälden und Pflanzen, gingen unter der Doppeltreppe hindurch, die über unseren Köpfen zu einer ungewöhnlichen brückenartigen Konstruktion zusammenlief, und gelangten schließlich in den Salon. Er lag nach hinten hinaus und erstreckte sich über die gesamte Länge des Hauses. Die eine Hälfte des Raumes war in lichten Farben gehalten, die andere in Dunkelgrün, es war hier so hell, als befänden wir uns in großer Höhe, und durch fünf große Fenster blickten wir über die Themse-Niederung bis hinüber zu den Cotswolds, die am Horizont im Dunst verschwammen. Zur einen Seite hin führte eine baumbestandene Senke zu einem See mit einer steinernen Brücke, zur anderen weideten Kühe im hohen Gras jenseits des Ha-Has.

Robert servierte Champagner in Zinnkrügen, während wir den Raum auf uns wirken ließen. Er war voller Gegenstände, die aus Lord Berners’ Tagen stammten: Spiegel in verschnörkelten Goldrahmen, Gobelins aus Aubusson, eine bemalte Chaiselongue, ein Flügel, antike Globen, ausgestopfte Vögel unter Glasstürzen und eine Sammlung alter mechanischer Aufziehspielzeuge. Bouquets aus langstieligen Gartenblumen schmückten den Raum, und an den Wänden hingen dicht an dicht Gemälde, darunter mehrere CorotsCorot, Jean-Baptiste Camille und eine Reihe von Landschaftsmalereien ähnlich zurückgenommenen Stils, die Gerald gemalt hatte.

Auf einem vergoldeten Rokoko-Sessel lag eine Handtasche aus Korbgeflecht in Form eines Fisches, der Griff war aus Bambus. »Die hat deiner Großmutter Jennifer gehört«, sagte Robert zu mir und lächelte. »Sie hat sie vergessen, als sie Faringdon verließ, und seitdem liegt sie dort.« Wie so oft in Faringdon blieb unklar, ob es sich um einen Scherz handelte. Ein Holzschild an der Haustür verlangte: »HÜTE MÜSSEN OHNE AUSNAHME ABGESETZT WERDEN«, Schilder im Garten warnten: »AGAPANTHUS BETRETEN VERBOTEN!« oder: »WER DIESES SCHILD MIT STEINEN BEWIRFT, WIRD STRAFRECHTLICH BELANGT«. Robert deutete auf ein ungerahmtes Porträt von Jennifer, das an der Wand lehnte und ebenfalls von Gerald stammte: eine junge Frau mit vollen roten Lippen, rosigen Wangen und schwungvoll frisiertem brünettem Haar.

Jennifer, porträtiert von Gerald

Aus dunkel schimmernden Augen blickt sie fragend zur Seite. Gerald hat nicht mit Liebreiz gegeizt, Jennifer sieht umwerfend aus, aber nicht glücklich. Vielleicht hatte sie Faringdon tatsächlich so überstürzt verlassen, dass sie ihre Handtasche vergaß?

Die viktorianische Spieluhr im Vestibül rief zum Lunch, und Robert wies uns mit einer gewissen Förmlichkeit unsere Plätze an dem runden Tisch im Esszimmer zu. Hier begegnete ich RosaProll, Rosa (gest. 2010) zum ersten Mal. Die österreichische Hausangestellte lebte schon seit vielen Jahren in Faringdon, und es hieß, dass sie alljährlich HitlersHitler, Adolf Geburtstag feierte. Ihr dunkles Haar mit den grauen Strähnen trug sie in einem strengen Dutt, und ihre Wangen waren gerötet. Obwohl sie einen etwas verwirrten Eindruck auf mich machte, begriff ich rasch, dass sie die Geschicke des Hauses fast so sehr bestimmte wie Robert.

Die ledige und äußerst arbeitsame RosaProll, Rosa (gest. 2010) schloss abends, wenn sich die Gäste zurückgezogen hatten, die hölzernen Fensterläden im Salon, bevor sie als Letzte ins Bett ging, und morgens stand sie als Erste wieder auf, machte Feuer (sogar im Sommer, sobald ein auch nur andeutungsweise frisches Lüftchen ging) und bereitete das reichhaltige Frühstück vor. Ihre Hände waren rot und geschwollen, aber zu herrlichen Dingen imstande – Rosa hatte ein exquisites Mahl für uns zubereitet.

Wenn ich an jenen warmen Julitag zurückdenke, kommen mir kalte pochierte Seezungenfilets an sahniger Meerrettich-Sauce und winziges Gartengemüse in den Sinn. Die wachteleigroßen, in Butter geschwenkten Frühkartoffeln und die Karotten mit ihren grünen Strünkchen hätten auch auf einen Puppenteller gepasst. Als Dessert gab es Summer Pudding, dessen Beerenfüllung die Sahne auf unseren Tellern blutrot färbte. Robert als Zeremonienmeister forderte den jeweils nächsten Gang an, indem er eine unter dem Tisch angebrachte elektrische Klingel betätigte, und bat die Damen, sich in absteigender Altersfolge von der Anrichte zu bedienen. Sobald wir wieder auf unseren Plätzen saßen, waren die Herren an der Reihe. Wir tranken lieblichen Weißwein, zwischen den Gängen rauchte Robert und füllte nach und nach den gläsernen Aschenbecher mit dem geätzten Rennpferdmotiv, der in gleicher Ausführung vor jedem Gedeck stand. Der Humor meines Großvaters war gewagt, ständig machte er provokante Bemerkungen, vergaß dabei aber nie die Etikette. Ich nahm an, dass es schon immer so gewesen war, jedenfalls schienen sich seine Umgangsformen über einen langen Zeitraum bewährt zu haben.

Am Nachmittag spazierten wir durch den Park. In der Orangerie aus dem 18. Jahrhundert hingen zahllose Spiegel und großformatige Ölgemälde. »Geralds Vorfahren«, erläuterte Robert und fügte hinzu, dass Lord Berners nicht zu viele hochmütige Ahnen um sich haben wollte, weswegen er den ein oder anderen erst in die Stallungen und dann in die Orangerie verbannt habe. Zwar kroch Schimmel an der Krinoline einer der ausgestoßenen Damen hinauf, aber der Gesamteindruck war so bezaubernd, als müsste das so sein. Betörender Engelstrompetenduft schwängerte die Luft. Einst hatte man aus der giftigen Pflanze halluzinogene Liebes- und Hexentrünke gebraut. Vor der Orangerie befand sich ein Lilienteich, aus dessen Mitte ein backenbärtiger Gentleman ragte – »als wäre er der Kapitän eines […] gesunkenen Schiffs, der nun allein an Deck steht, auf ewig in Habachtstellung, das Wasser bis zum Kinn«.[1]»General HavelockHavelock, General«, erklärte Robert und deutete auf den degradierten Militär. Eines zeichnete sich jetzt schon ab: Faringdon war über Wichtigtuerei und ironiefreie Prunksucht erhaben und wartete mit immer neuen Überraschungen auf.

An diesem Nachmittag fuhr Robert uns in seinem Range Rover zu Geralds Folly[1]. Er war ein unglaublich lausiger Fahrer, andere Autos schienen für ihn nicht zu existieren. Er bog von der Straße auf einen unbefestigten Weg, bretterte unbekümmert über die Bodenwellen, rauchte und redete. Gerade noch rechtzeitig kam er vor ein paar überraschten Spaziergängern, die mit ihren Hunden unterwegs waren, zum Stehen. Robert deutete auf einen hohen Backsteinturm hinter den Kiefern. »Den hat Gerald zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag erbauen lassen«, sagte er. »Ich sagte ihm, ich hätte lieber ein Pferd gehabt.« Er kramte einen Schlüssel hervor, und schon stiegen wir die knarrende Holztreppe bis zu einem kleinen Raum hinauf. Von hier aus gelangte man über eine Falltür auf die zinnenbewehrte Aussichtsplattform. Über die Wipfel der Bäume bot sich nach allen Seiten eine herrliche Aussicht. Man übersah mehrere Grafschaften, von den Cotswolds im Norden bis zu den Berkshire Downs im Süden, wo die kreideweiße Silhouette einer riesigen prähistorischen Gestalt über die grünen Hügel galoppierte: das Weiße Pferd von Uffington[2].

Am frühen Abend zogen wir uns zurück, um uns für das Dinner umzuziehen. Als unverheirateten Paaren wurden uns getrennte Gemächer zugeteilt, ich bekam das Kristallzimmer mit seinem mit Kristallsteinen und cremefarbenem Chiffon verzierten Himmelbett samt gläsernen Eckpfosten. Ich legte mich auf die samtene Tagesdecke und ließ die kuriose Tatsache auf mich wirken, dass ich in einem Bett lag, in dem einst Gäste wie Igor StrawinskyStrawinsky, Igor und Nancy MitfordMitford, Nancy (1904–1973) geschlafen hatten. Nancy Mitford hatte viel für Lord Berners und Faringdon übriggehabt. In ihrem Roman »Englische Liebschaften« lässt sie Gerald in Gestalt eines gewissen Lord Merlin auftreten, über dessen Haus Merlinford es heißt: »Es war ein Haus zum Wohnen, kein Unterschlupf, aus dem man tagein, tagaus Feinden oder Tieren auflauerte. Für einen Junggesellen oder ein Ehepaar mit einem, allenfalls zwei schönen, klugen, zarten Kindern war es gerade richtig.«

Mein Zimmer lag nach vorne hinaus, wo eine weite Rasenfläche in makellosen grünen Streifen auf die Kirche zuführte. In den schütteren Kiefern krächzten die Saatkrähen, es dämmerte allmählich. Ich hatte ein eigenes Badezimmer, dessen Wandmalereien mich an Henri Rousseau erinnerten. Badewanne und Waschbecken waren rosa. Im duftenden Schaumbad fühlte ich mich wie in einer Bambushütte: Tropische Blumen und Vögel belebten die Dschungel-Fantasie, und während sich eine Expeditionsreisende aus dem 19. Jahrhundert ihren Weg durch das Unterholz bahnte, schaute ein freundliches schwarzes Gesicht zu mir herein.

An jenem ersten Wochenende fiel mir ein großes Fotoalbum in die Hände, das einigermaßen willkürlich mit unbeschrifteten Bildern aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren bestückt war. Ich erkannte kaum jemanden, auch wenn offensichtlich viele Schönheiten und Berühmtheiten abgelichtet worden waren – im Badeanzug am Strand in Italien, im Abendkleid in Faringdon, zumeist in skurrilen Posen, an Leitern lehnend, halb verborgen hinter üppigen Pflanzen. Sie mussten sich prächtig amüsiert haben.

Eine Schwarz-Weiß-Fotografie stach mir sofort ins Auge. Der Fotograf Cecil BeatonBeaton, Cecil (1904–1980), ein regelmäßiger Gast des Hauses, hatte das Familienporträt im grünen Teil des Salons aufgenommen.

Cecil BeatonsBeaton, Cecil (1904–1980) Gruppenporträt von Gerald, Robert, Jennifer und VictoriaZinovieff, Victoria Gala Heber-Percy (geb. 1943) im Salon, 1943

Elegant und kapriziös wirkt Jennifer in ihrem figurbetonten Sommerkleid, mit ihrer perfekten Frisur und den geschminkten Lippen erinnert sie an Ava Gardner. Robert blickt an dem Fotografen vorbei. Er ist leger gekleidet, mit Pullover und in Gummistiefeln, als komme er gerade aus den Stallungen. In seinen Armen hält er einen Säugling in weißer Spitze, man erkennt den Trauring an seiner Hand. Links im Bild, im Halbschatten, sieht man eine rundliche, großväterliche Figur mit zwergenhaftem Profil. Der Mann sitzt auf dem Sofa, im Anzug, mit Slippern und einer Kappe, und liest. Alles erinnert an typische Porträts privilegierter Familien: Schnittblumen, ein Porträt von Henry VIIIHenry VIII., goldgerahmte Spiegel an dunklen Wänden, und ein gekonnt im Vordergrund platzierter Hahn, Symbol für Extravaganz, Überheblichkeit oder auch Untreue.

Es ist zwar ein Allgemeinplatz, dass Bilder lügen, aber wie sehr diese Fotografie den Betrachter zu täuschen vermag, ist erstaunlich. 1943 war Krieg, und die US-Army hatte sich in Faringdon einquartiert. Der vermeintliche Großvater ist Lord Berners, und der Vater des Kindes Mad Boy – seit über zehn Jahren sein Geliebter.

Die beiden Männer hätten unterschiedlicher kaum sein können: Gerald war ein untersetzter, sensibler und nicht mehr ganz junger Intellektueller, der noch im Viktorianischen Zeitalter zur Welt gekommen war und Monokel und Gamaschen trug. Ihm ist anzusehen, dass er sich auf Botschafts- und Salonempfängen genauso wohlfühlte wie in der Welt des Balletts und Theaters. Robert dagegen war körperbetont und alles andere als ein Akademiker, ein junger Hitzkopf, der Nachtclubs und Cocktails geistigen Aktivitäten vorzog und gern im Adamskostüm über die Wiesen galoppierte. Wenn beide zu einer Zeit, als Homosexualität noch unter Strafe stand, ein ungewöhnliches Paar abgaben, so war die Tatsache, dass mit Jennifer Fry 1942 eine schwangere Frau in Faringdon einzog, noch erstaunlicher. Sie war eine jener Königinnen der Nacht, die man im Gargoyle Club in Soho antraf, bekannt für ihren Stil und ihren Charme. Der Schauspieler David NivenNiven, David (1910–1983) erklärte, es habe in ganz Hollywood kein schöneres Paar Beine gegeben. Einmal soll Jennifer beim Verlassen des Ritz an heikler Stelle ein Gummibündchen gerissen sein, worauf sie nonchalant aus ihrem Höschen stieg und das seidene Etwas einfach auf dem Gehweg liegen ließ. Sie war nicht weniger impulsiv und begierig auf erotische Abenteuer als Robert. Was mochte sie dazu bewogen haben, einen Mann zu heiraten, der engen Beziehungen mit Argwohn begegnete und Männern ganz offensichtlich den Vorzug gab? Wie ist es wohl für sie gewesen, mit Robert und Gerald in einer Ménage-à-trois zu leben? In späteren Jahren hielt sich Jennifer im Hinblick auf ihre kurze Ehe und ihre Zeit in Faringdon bedeckt, allerdings sagte sie, Gerald sei stets »sehr freundlich« gewesen.

Ich erinnere mich gut daran, wie sehr es mich beeindruckte, in die sonderbare und schillernde Welt meines Großvaters einzutauchen, den ich erst so spät kennengelernt habe. Was er wohl von mir hielt? Ein Blick auf mein Secondhand-Outfit, meine Turnschuhe, mein hüftlanges Haar, und ihm muss klar gewesen sein, dass ich aus einer völlig anderen Welt kam als er. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, als ich elf war, inzwischen lebte ich bei meinem Vater, der in unserem Haus in Putney, London, das erste Tonstudio für elektronische Musik in Großbritannien betrieb. Wenn ich in den Siebzigerjahren von der Schule nach Hause kam, saßen nicht selten irgendwelche Popmusiker oder Avantgardekomponisten in unserer Küche und aßen zu Mittag, bevor sie sich im Kellerstudio wieder an die Arbeit machten. Die kleinwagengroßen Computer und die Vorläufer moderner Synthesizer mit ihren Hunderten von Knöpfen und Kabeln jaulten und heulten, was das Zeug hielt. In meiner Kindheit verbrachten wir jeden Urlaub, sommers wie winters, auf einer abgelegenen Hebriden-Insel, in einem Haus ohne Strom und Telefon. Wir lasen viel, machten lange Spaziergänge, gingen auf Fossiliensuche – mein Vater war in seinem früheren Leben Geologe gewesen – und campten an menschenleeren Stränden. Ich war ein komisches Zwischenwesen. Einerseits war ich eins der »ungezogenen« Mädchen, die in der Schule Ärger machten, bei den Fahrradunterständen rauchten und Sicherheitsnadeln im Ohr trugen, andererseits spielte ich Schubert, las Dostojewski und konnte diverse Kuchen aus dem Kochbuch meiner russischen GroßmutterSkipwith, Sofka backen – und zwar mit links.

Was das Landhausleben, die Jagd und den Reitsport anging, Dinge, die in Roberts Leben eine große Rolle spielten, war ich völlig unbeleckt. Dass mein Großvater wohlhabend und privilegiert war, ein sogenannter Lord of the Manor, ausgestattet mit all den undurchschaubaren Rechten und Pflichten, die mit diesem Titel einhergingen, beeindruckte mich herzlich wenig. Und doch war ich hin und weg: In dem Moment, als wir durch das Tor des Anwesens fuhren, trat ich in eine mir fremde, aber ungeheuer verlockende Welt. Das Tor war dem Wandschrank voller Pelzmäntel, durch den man nach Narnia gelangt, nicht unähnlich. Auch in Faringdon gab es seltsame Wesen und die kuriosesten Dinge. Am Ende meines ersten Besuchs trug ich mich in das Gästebuch ein. Ich hatte keinen Schimmer, ob ich je wiederkommen würde. Wie hätte ich auch ahnen können, dass Robert acht Jahre später sterben und ich sein Anwesen erben würde?

 

ACH ROBERTS TOD waren die Geister der Vergangenheit in Faringdon geradezu übermächtig. Gerald war zweifellos der Genius Loci, aber mich beschäftigte die Frage, welch rätselhaftes Geschick Robert und Jennifer unter seinem Dach zusammengebracht haben mochte. Und ob es mir nun gefällt oder nicht: Auch ich wurde Teil ihrer Geschichte. Fünfundzwanzig Jahre mussten vergehen, bis ich endlich spürte, dass ich diese Geschichte erzählen und der Fisch-Handtasche und den alten Fotografien auf den Grund gehen wollte.

In gewisser Weise waren Gerald, Robert und Jennifer allesamt Rebellen, es drängte sie, die althergebrachten Regeln zu brechen und die Erwartungen ihrer Eltern zu durchkreuzen. Keiner von ihnen hatte studiert, und doch waren sie intelligent – auf ihre je eigene und bisweilen überraschende Art und Weise. Dennoch besteht die Gefahr, dass man es sich mit ihnen zu leicht macht. Wegen ihres ausschweifenden Lebensstils, der heute so nicht mehr denkbar wäre, und aus dem modernen, egalitären Blickwinkel heraus liegt es nahe, die Faringdoner Clique abzuwerten: wie die Bright Young Things[3] wären sie verdientermaßen in den Orkus der Geschichte eingegangen.

Lord Berners lässt sich nur allzu leicht auf den reichen Amateur reduzieren, den Exzentriker mit den vielen Masken, den launigen Gastgeber, der sich mit Blendwerk und berühmten Freunden umgibt. Tatsächlich war der ehemalige Diplomat ein introvertierter und unermüdlich arbeitender Künstler, der zu Depressionen neigte und sich zu einer Zeit, als Homosexualität noch illegal war, einen halb so alten Mann zum Lebensgefährten auserkor, der nicht nur unverschämt sexy, sondern auch schrecklich unsolide war.

Noch größeres Witzfigurenpotenzial hat Robert: Auf den ersten Blick scheint er nichts erreicht zu haben. Er kommt nicht einmal aus dem Künstlermilieu, in dem Gerald sich bewegte. Sieht man aber genauer hin, zeigt sich, dass er sich Faringdon gegenüber stets verpflichtet fühlte und Gerald Berners’ Vermächtnis mit großer Hingabe bewahrte und pflegte.

Auch Jennifer könnte man mit Leichtigkeit abtun – als glamouröses Partygirl auf »Zwischenstopp« in Faringdon. Tatsächlich aber war sie eine kluge und einnehmende Frau. Sie brachte eine feminine und familiäre Note in eine männerdominierte Welt, und indem sie eine Tochter bekam, die ihr schließlich eine Enkelin schenkte, sorgte sie in dieser Hinsicht für Kontinuität.

Die irrwitzige und dekadente Welt von Faringdon House Mitte des vergangenen Jahrhunderts mag wie eine absurde Komödie anmuten, sogar wie eine Farce. Aber es hat einmal jemand gesagt, gemeinhin liege Komödien etwas Tragisches zugrunde, nur mit Distanz – und das Dreieck, das meine Großeltern und Lord Berners formten, kann aus beiden Blickwinkeln betrachtet werden. Wie dem auch sei, wenn ich heute durch das Tor von Faringdon fahre, ist es noch immer so, als würde ich durch einen Spiegel das Wunderland betreten – wo Schönheit und das Unvorhersehbare gleichermaßen von Bedeutung sind.

ZWEIDas Schaukelpferd

ERALD BERNERS UND ROBERT Heber-Percy lernten sich auf einer Party kennen, 1931 oder 1932, ganz genau scheint es niemand zu wissen. Gerald war mit seinen achtundvierzig Jahren bereits ein arrivierter Ästhet und in gehobenen Kreisen bekannt für seinen Charme, seine Intelligenz und seine Kompositionen. Er war klein und kräftig gebaut, hatte nur noch wenige Haare und trug einen akkurat gestutzten Oberlippenbart. Außerdem gehörten zu seinem Erscheinungsbild ein Monokel, eine gehobene Augenbraue und, in seinen Worten, »sanfte Augen«. Sein ruhiger, aufmerksamer Blick stand in einem merkwürdigen Kontrast zu dem nervösen Zittern der Hände, das einen seiner Freunde an Lewis Carrolls weißes Kaninchen erinnerte.[2]

Robert war zwanzig und eigentlich nur für sein schlechtes Benehmen bekannt. Er war schlank, mittelgroß und wirkte mit seiner geschmeidig-athletischen Figur wie ein sportlicher Hasardeur. Er war attraktiv, hatte ein markantes Kinn, dunkle Haare und Augen und einen unbändigen Charme – gepaart mit einem Upperclass-Akzent. Bei Robert wusste man nie, was als Nächstes geschehen würde. Damals waren extravagante Haustiere in Mode – Löwen und Lemuren zum Beispiel, die zwar beißen oder Gardinen zerfetzen konnten, aber auch für viel Heiterkeit sorgten. Robert war so verführerisch und gefährlich wie ein junger Leopard. Gerald liebte es, sich zu amüsieren, und dieser verrückte Junge war einfach unwiderstehlich.

Die beiden grundverschiedenen Männer lernten sich in Nordwales bei Sir Michael DuffDuff, Sir Michael (1907–1980) kennen. Ihr Gastgeber war vierundzwanzig, kannte Robert von Kindesbeinen an und sollte, so wie dieser, gleich zweimal heiraten, obwohl man allgemein annahm, dass er Beziehungen zu Männern bevorzugte. Dem eigenwilligen, schlaksigen, stotternden Michael gehörte das weitläufige Anwesen Vaynol, das trotz seiner abgeschiedenen Lage für ausschweifende Partys und den luxuriösen Lebensstil seiner Bewohner bekannt war. Überall im Park wuchs Rhododendron, und um den See herum versammelte DuffDuff, Sir Michael (1907–1980) seine Menagerie exotischer Tiere, darunter eine Giraffe und ein Nashorn, denen das feuchte walisische Klima überhaupt nicht gut bekam. Das Haus war von der angesagten Innenarchitektin Syrie MaughamMaugham, Syrie ganz in Nilgrün, Gold und Rosa eingerichtet worden, und die Schlafzimmer, in denen insgesamt dreißig Gäste beherbergt werden konnten, verfügten luxuriöserweise jeweils über ein eigenes Badezimmer.[3] Gerald war ein langjähriger Freund von Lady Juliet DuffDuff, Lady Juliet, Michaels hochgewachsener, unterkühlter Mutter, und Michael seinerseits kannte viele der jungen Männer aus Geralds Umfeld, darunter Cecil BeatonBeaton, Cecil (1904–1980) und Peter WatsonWatson, Peter »Pierre«. Zeitlebens ein Anhänger der Königsfamilie, glänzte Michael auf Partys in der Rolle der Queen MaryMary, Queen. Er verkleidete sich und forderte seinen Butler auf, ihn mit »Eure Majestät« anzusprechen.

Wie sich die erste Begegnung zwischen Gerald und Robert genau abgespielt hat, wissen wir nicht. Aus irgendeinem Grund hielt Robert den älteren Mann für einen südafrikanischen Goldmagnaten. »Dann habe ich gehört, dass er sich mit Kunst auskennt.«[4] Wahrscheinlich hat Robert ihn mit zweideutigen Witzen und schamlosem Klatsch zum Lachen gebracht. Gerald war damals vielen Menschen, Männern und Frauen gleichermaßen, ein sehr guter Freund, aber von einer intimen Beziehung wusste niemand. Möglicherweise beherrschte er einfach nur die Kunst der Diskretion – schwer vorstellbar, dass ein gefühlvoller Mann ein solches Alter erreicht, ohne je eine wie auch immer geartete Liebesbeziehung erlebt zu haben. Robert wiederum war sexuell sehr aktiv, und obwohl er eine Vorliebe für Männer hatte, ließ er sich gelegentlich mit Frauen ein. Auch wenn nichts über ihre erste Begegnung überliefert ist, das Treffen in Vaynol war eindeutig ein Wendepunkt für die beiden. Wer Gerald kannte, sprach von Liebe auf den ersten Blick. Bereits kurze Zeit später begannen sie ihr gemeinsames Leben.

 

ITEL, TALENT, REICHTUM – es wäre einfach, in Lord Berners einen exzentrischen Spaßvogel zu sehen. Maskeraden und Marotten, glanzvolle Partys und regenbogenfarbene Tauben – Geralds Image wirkt so kalkuliert wie das eines modernen Stars, unverwechselbarer Stil und PR-Blendwerk inklusive. Er versteckte sich hinter getönten Brillengläsern, erschien auf Partys in den abenteuerlichsten Outfits und posierte für Fotos mit allen erdenklichen Masken (sogar eine Gasmaske aus dem Ersten Weltkrieg war darunter); das Groteske fürchtete er nicht. Gerald hatte eine Leidenschaft für Bühnenbilder, Aufziehspielzeuge sowie dekorative Paravents und wusste nicht nur, wie befreiend es sein konnte, sich zu verkleiden, sondern auch, wie man sich in der passenden Umgebung in Szene setzte.

Viele seiner berühmten und betuchten Freunde haben Gerald in ihren Biografien erwähnt, und obwohl sie hier und da seinem künstlerischen Schaffen Anerkennung zollen, ist ihm meist nur ein launiger Kurzauftritt vergönnt, als generöser Gastgeber und Feinschmecker. Der Schriftsteller Harold ActonActon, Harold beschrieb ihn als einen Mann, der nur so sprudelte vor »absurden Einfällen und Insiderwitzen« – bezeichnender noch: »Er schlüpfte ständig in eine andere Haut und erfreute sich am Verwirrspiel um seine Person.«[5] Auch der Schriftsteller Siegfried SassoonSassoon, Siegfried (1886–1967), einer von Geralds Freunden, die nicht nur Höflichkeitsfloskeln austauschen wollten, war gelegentlich frustriert von dem »unerschütterlichen Peer mit seinem Monokel und seinem Bowler«. Im Jahr 1921 notierte Sassoon in sein Tagebuch: »Er trägt immer ein und dieselbe Maske (es ist eine Maske, mit der er auf mich seelenlos und immer hübsch gefällig wirkt).«[6] Sassoon sollte seine Meinung später revidieren, aber es stimmt, dass Geralds Maskeraden und seine scheinbare Oberflächlichkeit den Blick auf seine komplexe Persönlichkeit verstellten. Die Kreise, in denen er verkehrte, die gut aussehenden Männer und Frauen, mit denen er sich bevorzugt umgab, tun ihr Übriges: Auch sie lenken den Blick von ihm ab.

Umso aufschlussreicher ist es, Geralds Kindheit und Jugend zu betrachten. Mit »First Childhood«, »A Distant Prospect«, »The Château de Résenlieu« und »Dresden« liegen gleich vier Memoirenbände vor, die in dieser Hinsicht Anhaltspunkte liefern, auch wenn Gerald bereit war, den Fakten für eine gute Geschichte hier und da ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Die Autoren Mark AmoryAmory, Mark und Peter DickinsonDickinson, Peter haben mit ihren Büchern »Lord Berners: The Last Eccentric« und »Lord Berners: Composer, Writer, Painter« sehr dazu beigetragen, das ein oder andere Vorurteil aus dem Weg zu räumen – jedenfalls handelt es sich um eine wertvolle Lektüre für alle, die mehr über Gerald erfahren wollen.

Gerald begrüßte die Bilderstürmer und Avantgardisten des 20. Jahrhunderts, war und blieb allerdings ein Kind des 19. Jahrhunderts. Er war zeit seines Lebens Konformist und Aufrührer zugleich – er liebte den Luxus und die Bequemlichkeit, ohne dass seine Arbeitsmoral je gelitten hätte, und auch wenn er den Narren gab, verlor er nie sein künstlerisches Schaffen aus dem Blick.

Seine Kinder- und Jugendjahre stehen ganz im Zeichen der viktorianischen Upperclass, die er in seinen Erzählungen und Romanen zum Leben erweckt: strenge und nicht greifbare Eltern, allgegenwärtige Gouvernanten und Hausbedienstete und die Zwangsvorstellungen eines freudlosen Christentums. Dieses erstarrte und hermetische Milieu war seine Spielwiese, hier, wo jeder um seinen Platz wusste und Klassengrenzen strikt eingehalten wurden, verstieß er gegen die Normen und trieb Spaß mit Vikaren und gut betuchten Ladys mit Schoßhunden.

Die Lektüre von »First Childhood« lässt allerdings Fragen offen. Zwar behauptet Gerald, er könne sich glücklich schätzen, aus seiner Kindheit keine seelischen Narben davongetragen zu haben – und falls doch, seien »sie verborgen in der Tiefe meines Unterbewusstseins, und ich muss dankbar sein, dass keine schwerwiegenden Komplexe, Hemmungen oder Gefühle der Unfreiheit aus ihnen erwachsen sind« –, zeichnet aber zugleich das Bild eines einsamen Jungen, der unter seinen Eltern litt und in der Schule zutiefst unglücklich war. Es liegt nahe, das mutmaßliche Fehlen an intimen Beziehungen in Geralds Erwachsenenleben mit dem distanzierten Verhältnis seiner Eltern zueinander und dem, was er als mangelnde Wärme ihm gegenüber empfand, in Zusammenhang zu bringen.

Gerald Hugh Tyrwhitt, geboren 1883 und Einzelkind, entstammt der Verbindung zweier benachbarter Familien in der Grafschaft von Shropshire. Seine Mutter JuliaTyrwhitt, Julia Foster Foster war einunddreißig, als sie den vier Jahre jüngeren Marineoffizier Hugh TyrwhittTyrwhitt, Captain Hugh (gesprochen »Tiritt«) heiratete. Trotz ihres trägen Blicks unter schweren Lidern wirkt sie auf Fotos streng und kompromisslos. Gerald vermutete, sein verschuldeter Vater habe sich weniger von ihren Reizen als von ihren Vermögenswerten anziehen lassen. Und doch dürfte auch Hugh wegen seiner adeligen Vorfahren eine gute Partie gewesen sein; Julia übernahm die Berners-Baronie, einen besonderen Adelstitel, der auch in weiblicher Linie vererbt werden konnte.

Julia und Hugh bemühten sich kaum um ihre Ehe. Gerald vergleicht sie mit »zwei Zahnrädern, die einander nichts als Widerstand boten«.[7] Seinen Vater, der meist zur See fuhr und für seine Teilnahme an der zur Unterstützung von General GordonGordon, General Charles nach Khartoum entsandten Nil-Expedition (1884–1885) einen Orden erhielt, bekam er nur selten zu Gesicht. Er hebt seinen Scharfsinn und seine vornehme Erscheinung hervor und schreibt, obwohl klein von Wuchs, habe er so »eindrucksvoll einherzuschreiten« verstanden, dass man ihn für einen »Abkömmling des Königshauses« halten konnte. Hugh war »weltgewandt, zynisch, unduldsam gegenüber jeglicher Form von Unterlegenheit, reserviert, selbstbeherrscht« und interessierte sich offenbar derart wenig für die Erziehung und das Wohl seines Sohns, dass dieser sogar enttäuscht war, als sein Vater auf irgendein Vergehen hin verkündete, ihm stehe nicht der Sinn danach, Gerald den Hintern zu versohlen.

Gerald selbst vermutet, die Indifferenz seines Vaters könne seine Haltung in Glaubensdingen beeinflusst haben. »Es heißt, das Gottesbild eines Kindes beruhe zumeist auf den Eigenschaften des Kindsvaters«, schreibt er. Einmal warnte ihn ein Kindermädchen: »Eines Tages kommt Gott hinter einer Wolke hervorgesprungen und verpasst dir eine tüchtige Backpfeife.« Gerald antwortete: »Quatsch! Gott ist völlig egal, was wir tun!«[8] Sein Misstrauen der Religion gegenüber blieb bestehen, auch wenn es Zeiten gab, da er sich nach einem Glauben sehnte und seine fehlende »Tauglichkeit« bedauerte, in der Annahme, es handele sich dabei, wie im Fall des absoluten Gehörs, um etwas Angeborenes. Als lustvoller Querdenker erinnerte sich Gerald gern an seine kindlichen Lesarten der Bibel, daran, wie er sich instinktiv auf die Seite von Sündern wie Adam, Eva oder Kain schlug. Später griff er die Sprache der Kirche auf, um sie lächerlich zu machen: »Der Legende nach soll der Herr verkündigt haben, ›Selig seien die Flatterhaften, denn ihnen gehört das Himmelreich‹, aber das hat uns Paulus unterschlagen.«[9] Durch eine von Geralds Romanfiguren scheint der Autor selbst zu sprechen: »Als Kind war ich fest davon überzeugt, dass wir am Jüngsten Tag alle zusammen Gericht halten würden – über Gott. Ich halte das nach wie vor für eine gute Idee.«[10]

In solchen Scherzen scheint der Schmerz eines Jungen auf, der von seinem mürrischen, meist abwesenden Vater ignoriert wurde und sich unbedeutend und wertlos fühlte. Und trotzdem galt Gerald der Ausspruch seines Vaters »Traue keinem Mann mit Kummer« zeitlebens als eine Art Mantra. Wenn es schon nichts gab, womit sich das Lob und die Liebe seines Vaters gewinnen ließen, blieb eben nur die Provokation. Indem Gerald den Narren gab, sorgte er nicht nur dafür, dass man auf ihn aufmerksam wurde, sondern er unterlief auch die Autorität des Vaters – ein Anzeichen sowohl für seine Verzweiflung als auch für seine Unbekümmertheit.[11] Es war beinahe so, als habe er immer den Eindruck vermeiden wollen, er könnte irgendetwas ernst meinen – sogar in seiner Musik. Als dürfte er keinesfalls riskieren, als beflissen wahrgenommen und aus diesem Grund abgelehnt zu werden. Auch Geralds Vorliebe für Masken und Kostüme könnte mit der Furcht zu tun gehabt haben, sich zu zeigen – wie viel einfacher ist es doch, sich in jemand anderen zu verwandeln und die Leute zum Lachen zu bringen. Einem Freund hat Gerald einmal erzählt, als Junge habe er sich als Zauberer verkleidet: »Mit Umhang, Maske und Perücke« will er Weihrauch verbrannt, Glöckchen geläutet und ein weißes, auf einem Kissen thronendes Riesenkaninchen zu seinem Intimus erklärt haben.[12]

Der Schriftsteller Osbert SitwellSitwell, Osbert (1892–1969) schreibt, sein Freund Gerald sei »so scherz- und humorsüchtig gewesen wie minderbegabte Menschen alkohol- und drogensüchtig«[13] – und legt nahe, Gerald habe sich auf diese Weise gegen Verzweiflung, Überdruss und Frustration zur Wehr gesetzt. Allerdings blieb seine Sucht nicht ohne Nebenwirkungen, immerhin war manch einer der Ansicht, seine Scherze nähmen hin und wieder gehässige Züge an.

Beständiger als Geralds Vater dürfte JuliaTyrwhitt, Julia Foster gewesen sein, obwohl er in seinen Memoiren nur wenig Anerkennung für ihre mütterlichen Qualitäten zum Ausdruck bringt. Er wirft ihr vor allem Humorlosigkeit, Engstirnigkeit, Konventionalität und einen in ihrer Familie und ihrer Gesellschaftsschicht weit verbreiteten Country-Sport-Spleen vor. Am meisten interessierte sich die begnadete Reiterin für die Fuchsjagd. Gerald schreibt: »Nie habe ich es gewagt, ihrem Standpunkt etwas entgegenzusetzen, dass es im Leben an erster Stelle darauf ankommt, ein guter Reiter zu werden.« Er war sogar gewillt, ihren Ehrgeiz zu befriedigen, blieb allerdings erfolglos. »Meine Abneigung gegen das Reiten wuchs zwar, aber da man mir unaufhörlich ›Mannhaftigkeit‹ predigte, erduldete ich [es] eben, so mannhaft es ging.« In jedem Fall wusste der kleine Gerald nicht, was unmännlich daran sein sollte, sich am Sattelknauf festzuhalten, wenn das doch seinen Zweck erfüllte, und er wusste auch nicht, was männlich daran sein sollte, Saatkrähen oder Kaninchen zu töten, wenn es doch unmännlich war, einen Hund zu verprügeln.[14]

Wie so viele Künstler wunderte sich Gerald später über die fehlende Kunstaffinität seiner Vorfahren. »Über Jahrhunderte hinweg haben sich meine Ahnen, die entweder Gutsherren oder Geschäftsleute gewesen sind, in ihrer Freizeit ausnahmslos sportlich betätigt; wenngleich es durchaus nicht unwahrscheinlich ist, dass sich unter ihnen auch die eine oder andere kunstsinnige Dame befand, die aquarellierte, Italien bereiste oder die Harfe zupfte.« Als untalentierter Reiter kam sich Gerald neben seinen Cousins und Freunden wie das schwarze Schaf vor, ständig lief er Gefahr, sich zu blamieren. Zuflucht boten ihm Malerei, Literatur und Musik, hier fand er Inspiration, aber der unkultivierte Landadel, schreibt er, hatte von diesen Beschäftigungen keine hohe Meinung. Er sieht sich als Dionysos, der, auf unerklärliche Weise musisch begabt, aus Zeus’ Schenkel geboren wurde. In späteren Jahren wollte er sich von seinen Vorfahren distanzieren, worin angesichts seines Adelstitels eine gewisse Ironie liegt. Gerald erwähnt einen »Zigeuner«, der einst seine Spuren in der Familie hinterlassen habe, und deutet an, dass in ihm eine genetische Unregelmäßigkeit zum Tragen komme. Tatsächlich bemerkten andere später sein »unenglisches« Aussehen, seinen etwas gelblichen Teint und seine dunklen Augen; er wirke, hieß es gelegentlich, »eher kontinentaleuropäisch« oder jüdisch.[15] Siegfried SassoonSassoon, Siegfried (1886–1967) bemerkte 1924 gegenüber Virginia WoolfWoolf, Virginia, Gerald sehe wie ein »Kilburn[4]-Jude« aus, und Woolf stimmte ihm zu – ein irritierender Hinweis auf den blasierten Antisemitismus der beiden.[16]

Die Erfahrung des Andersseins taugt immer für eine gute Geschichte, doch Geralds familiäre Situation dürfte komplizierter gewesen sein. Briefe und Tagebücher lassen erkennen, dass JuliaTyrwhitt, Julia Foster durchaus eine Frau mit strengem Urteil war, die sich im Pferdestall wohler fühlte als im Salon, aber sie malte auch und ermunterte ihren Sohn dazu. Sie nahmen die Fahrräder und fuhren mit Aquarellfarben ausgerüstet durch die Landschaft von Shropshire, bis ihnen eine Gegend besonders reizvoll erschien. Gerald findet in ihren Tagebüchern sehr oft Erwähnung, aus ihren Briefen an ihn spricht mütterliche Zuneigung und Sorge. Jedes Mal, wenn sie eine Nachricht von ihrem Mann bekommen oder ihn nach längerer Zeit wiedergesehen hatte, vermerkte sie es. Vielleicht ging es bei den Tyrwhitts also doch nicht so unterkühlt und kulturlos zu, wie Gerald nach dem Tod seiner Eltern vorgab? Es existiert sogar ein herzlicher Brief von Captain TyrwhittTyrwhitt, Captain Hugh, in dem er sich seinem Sohn gegenüber auf eine Art und Weise unbefangen und liebenswürdig zeigt, die sich mit Geralds Erzählungen nicht decken will.[17]

Wie auch immer die Eltern es empfunden haben mochten und was auch immer man von den sachlichen Ungenauigkeiten in Lord Berners’ Memoiren halten will – der junge Gerald fühlte sich weder angenommen noch geliebt. Das Bewusstsein, ein Außenseiter zu sein, sollte er später zwar in einen Vorteil verkehren, aber auch seine tiefe Traurigkeit könnte darin ihren Ursprung haben. Prägend war auch die tödliche Langeweile, die Gerald mit seiner Großmutter väterlicherseits verband. (Lady Berners taucht in seinen Memoiren als gehässige Lady Bourchier auf.) Ihre puritanische Frömmigkeit und Kleingeistigkeit hatten gewiss ihren Anteil daran, dass Gerald eine Vorliebe für alles Luxuriöse und eine Abneigung gegen jede Form von Eintönigkeit entwickelte.

Zeit seines Lebens liebte er Tiere. In einem Brief aus dem Internat fragt er seine Mutter: »Wie geht es den Katzen, Hunden, Vögeln, Pferden, Schweinen und Hühnern?« JuliaTyrwhitt, Julia Foster teilte seine Liebe zu Tieren, sie hing vor allem an ihren Pferden und Hunden, darunter ein Spaniel, ein Collie, ein Foxterrier und ein Bluthund, die Gerald zufolge alle so treu, langweilig und berechenbar waren wie ihr Frauchen. Geralds Hunde waren aparte Dalmatiner, deren Halsbänder nicht aus Leder, sondern aus funkelndem Metall waren. Aber mehr noch als für seine Hunde schwärmte er für Vögel; sie besänftigten seinen Kummer und sollten in späteren Jahren zu seinem Erkennungszeichen werden. »Schon in jungen Jahren wurde ein öder Ornithologe aus mir«, gestand er – denn sein Faible erschöpfte sich nicht darin, sich wie ein Vögelchen zu verhalten und Nester im Stall zu bauen, er las sich auch einiges an.

Sich in die gewichtigen Bände von John Goulds »Birds of Great Britain« zu versenken bereitete ihm das größte Vergnügen, und als Erwachsener schrieb er einer Freundin, dass ihm der Kauf eines Faksimiles von John James Audubons »Birds of America« den Tag versüßt habe,[18] und empfiehlt das Buch als »unfehlbare Kur, wenn man mal wieder den Kopf hängen lässt«, so wie er selbst, wenn ihn Schwermut und Trostlosigkeit quälten. Vor diesem Hintergrund ist auch die Tyrwhitt’sche Wappenlegende erwähnenswert: Ihr zufolge war ein Vorfahre bei einer Schlacht umgekommen, seine Leiche aber nicht auffindbar. Die traurigen Rufe dreier Kiebitze sollen den Suchtrupp zu ihm geführt haben, worauf die Familie den Namen des Vogels mit dem lauten Ruf und dem irisierenden Gefieder[5] annahm und sein Bild auf das Familienwappen prägen ließ.

Schon in jungen Jahren regte der Paravent im Salon seiner Großmutter väterlicherseits Geralds Fantasie an, die exotischen Blumen, Kolibris, Siam-Tauben und Paradiesvögel blieben ihm im Gedächtnis. Jahre später stieß er in einer Abstellkammer auf genau diesen Paravent und war enttäuscht, dass ihn seine Erinnerung getrogen hatte: Tatsächlich handelte es sich vor allem um Country-Sport-Darstellungen und politische Karikaturen. Blumen und Tiere waren die Ausnahme und befanden sich auch nicht auf Kinderaugenhöhe, sondern am oberen Rand des Paravents.

Ein anderer Quell seiner Freude an Vögeln und Blumen war Geralds geliebte Tante ConstanceConstance, Tante. Sie war durch einen Reitunfall dauerhaft körperlich beeinträchtigt. Ihr farbenfroh tapeziertes Zimmer schmückten Blumen und Vogelkäfige. Gerald liebte dieses Ambiente, und er liebte es, seiner Tante dabei zu helfen, Paketsendungen mit Kleidern und Hüten aus Paris und London auszupacken und ihre alte Robe sowie die angejahrten Straußenfedern in Augenschein zu nehmen.

Gerald sehnte sich danach, wie einer der vielen exotischen Vögel, die er später besitzen sollte, vom Ort seiner Herkunft fortzufliegen und sich mit schönen Dingen zu umgeben. Die tropischen Vögel und Blumen, die er so sehr bewunderte, bildeten einen scharfen Kontrast zu den Hunden und beängstigend großen Pferden, die seiner Mutter so wichtig waren. In Faringdon sollten die Paradiesvögel nicht nur auf dem Rasen, sondern auch im Haus umherstolzieren. Besonders am Herzen lag ihm der Trompetervogel, dem er beibrachte, hochzuspringen und Leckerbissen aus seiner Hand zu picken. Das kleine, plumpe Federtier aus Südamerika ähnelt einem buckligen Huhn mit mageren Beinen, überrascht aber mit fantastischem, von schillernden Violett-, Grün- und Bronzetönen durchsetztem Gefieder auf der Brust und unter den Flügeln. In gewisser Weise war er seinem Besitzer nicht unähnlich: Von unauffälliger Erscheinung, ohne die protzige Schönheit anderer, auf den ersten Blick attraktiverer Geschöpfe, bestach der Trompetervogel durch sein Vermögen, in unerwartetem Glanz zu erstrahlen, durch seinen scheinbaren Sinn für Komik und einen markerschütternden Schrei, mit dem er seinem Namen alle Ehre machte.

Gerald mochte Tiere ohne praktischen Nutzen, die gleichermaßen ulkig und faszinierend waren, so wie das Kamel, das in seinem Roman »The Camel« (1936) eines Morgens vor einer Dorfpfarrei auftaucht. Gerald liebte es, überrascht zu werden – umso weniger war ihm an den Tieren seiner Kindheit gelegen. Zwar hatte er als Erwachsener nichts mehr dagegen einzuwenden, ab und an auszureiten, aber seine Haltung zur Jagd war wohl mit der von Antonia, der Frau des Pfarrers im Roman, vergleichbar. Weil ihr Tiere so sehr am Herzen liegen, »ist ihr die Jagd zuwider, wenngleich sie der Fuchsjagd sehr viel weniger abgeneigt ist als anderen Formen der Wildtierbelästigung, vor allem deshalb, weil sie einer großen Anzahl feiner Damen und Herren, von denen einige ihre Freunde waren, außerordentliches Vergnügen bereitet, aber auch, weil immer wieder Füchse in ihren Hühnerstall einfielen«.

Obwohl Gerald über seine Familie die Nase rümpfte, schwärmte er von Apley Park, seinem ersten Zuhause. Das romantische Haus aus dem 18. Jahrhundert mit seinen Türmen und gotischen Schmuckelementen lag in einer reizvollen Parklandschaft, inmitten eines vom Severn durchflossenen Tals. Wenngleich er die Menschen, die ihn umgaben, oft als lieblos erlebte, bedeutete Gerald der Ort seiner Kindheit auch später noch viel. »Wenn man von Katzen etwas geringschätzig sagt, sie hingen weniger an Menschen denn an Orten, plagt mich stets ein wenig mein schlechtes Gewissen«, schrieb er. Reichtum und Luxus waren selbstverständlich, innerhalb der zinnenbewehrten Mauern von Apley Park gab es allein zwanzig Hausbedienstete, dazu Gärtner und Arbeiter.[19] Allerdings tragen Privilegien wie diese nicht notwendigerweise zum Glück eines Kindes bei, und Gerald hasste die zähen Zeitvertreibe, die ihm seine gesellschaftliche Rolle abnötigte. Als Kind inszenierte er gerne Theaterstücke mit Spielzeugfiguren, wobei ihm der »märchenhafte Prunk wichtiger war als die Charaktere«.

Gerald im Alter von fünf Jahren, 1889

Und so blieb »Rapunzel eine ungreifbare nebelhafte Gestalt, während mir der Turm, von dem sie ihr Haar herabließ, klar vor Augen stand«. Später wird es Gerald so ausdrücken: »Ein schönes Haus hat auf mich die gleiche Wirkung wie auf die meisten Menschen der Anblick einer schönen Frau: Ohne darauf zu hoffen oder danach zu trachten, sie zu besitzen, schauen sie sie gern und ausgiebig an.« Gerald hatte schon in jungen Jahren ein Faible für Inneneinrichtung. Sein Zimmer in Eton dekorierte er mit japanischen Fächern, die damals in Mode waren, und einer großen kolorierten Fotografie, die einen von Glyzinien überrankten Tea Room zeigt. Zeit seines Lebens sollte sich nichts daran ändern. Seine Wohnhäuser in London, Faringdon und Rom waren unvergleichliche Orte und im Grunde wohl wie die Malerei und die Literatur Teil seines künstlerischen Schaffens. Er scheute keine Mühen, für sich und seine Gäste – Darsteller in den intelligenten und stilvollen Berners’schen »Inszenierungen« – die perfekten Kulissen zu entwerfen. Die Häuser, in denen er wohnte, waren Erweiterungen seines Selbst, fantastische Orte, denen er sich verbunden fühlte und die er mit einer eigenwilligen Mischung aus Kunst und Antiquitäten, Büchern, Musik, Blumen, Vögeln und feinster Küche belebte. Wenn er Gelegenheit hatte, dem Ganzen etwas Überraschendes oder Surreales hinzuzufügen, etwa ein Pferd im Salon oder als Statuen verkleidete Gäste – umso besser.

Obwohl Gerald ein Augenmensch war, galt seine größte Leidenschaft der Musik, auch wenn »mich hier ganz zu Beginn die grafische Symbolisierung faszinierte […] Der Anblick der schwarzen Linien, die sich über die Seiten zogen, berührte mich auf sonderbare Weise«.[20] Als kleiner Junge ahmte er Notenfolgen auf dem Papier nach, so als komponierte er. Besonders einprägsam ist die Schilderung des Augenblicks, in dem er der Musik verfiel: Als im Haus seiner Eltern eine junge Besucherin Chopins »Fantaisie-Impromptu« spielte, »explodierten« die Tonfolgen des Romantikers »in meiner Vorstellung wie eine Silvesterrakete« – der Beginn einer Leidenschaft fürs Leben. Der kleine Junge wollte jede einzelne Note aus dem ungeheuer schnellen Stück heraushören und interessierte sich für nichts anderes mehr. Später durfte er das vernachlässigte Klavier im außerhalb des Haupthauses gelegenen Billardraum spielen, ein kalter, unheimlicher Ort mit seinen »Geweihen, Warzenschweintrophäen, Elefantenstoßzähnen« und all den grausamen Waffen – und wohl kaum die Kulisse, die sich der empfindsame Junge für seine musikalische Metamorphose gewünscht hätte. Im Übrigen war die Abgeschiedenheit des Billardzimmers von Vorteil, denn hier fand Gerald jene Ruhe, die er auch als Erwachsener zu schätzen wusste.

Viele Jahre blieb er Autodidakt, seine Mutter reagierte auf die »unverhoffte musikalische Neigung« mit »einer Mischung aus Sorge und Angst«. Zwar war sie so angetan, dass er vor Besuchern spielen durfte, aber sie förderte ihn nicht. Als er eine Privatschule und anschließend Eton besuchte, gestatteten ihm seine Eltern zähneknirschend, Stunden zu nehmen, aber an eine Ausbildung zum Pianisten war nicht zu denken. Die älteren Schüler in Eton ermunterten Gerald, im Rahmen kleiner inoffizieller Abendkonzerte Unterhaltungsmusik zu spielen. In dieser Zeit wich seine Vorliebe für Chopin einer glühenden Leidenschaft für Wagner. Zunächst entflammte wieder der Augenmensch: beim Anblick eines »Rheingold«-Klavierauszugs im Schaufenster. (Ein paar Jahre darauf, schreibt Gerald, habe ihn der Anblick des Klavierauszugs eines Werks von Richard Strauss so sehr in Aufruhr versetzt, »als wäre ich unerwartet einem heiß geliebten Menschen in die Arme gelaufen«.[21]) Nach langem Überlegen überzeugte der Heranwachsende seinen Vater, ihm den Klavierauszug zu kaufen, und beim Spielen wurde er wahr, der wagnerianische Traum. Jeden Abend spielte er im Speisesaal der Schule sein Idol, seine Verehrung für den Komponisten sollte viele Jahre bestehen bleiben. Aber erst nachdem er die Schule beendet hatte und in der Lage war, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen, widmete sich Gerald ernsthaft der Musik.

 

BWOHL GERALD IN vielerlei Hinsicht privilegiert war, plagten ihn schon früh Gefühle der Schwermut. Wer behauptete, die Kindheit sei die schönste Zeit seines Lebens gewesen, den verdächtigte Gerald, insgeheim ein besonders unglücklicher Mensch zu sein. Er fand: »Manchmal ist die Schwermut schon auf dem Schaukelpferd unsere Begleiterin.«[22]

Offenbar hatte Gerald einen angeborenen Hang zur Melancholie, der in der Schule noch verstärkt wurde. Er war neun, als man ihn auf eine Privatschule im Londoner Stadtteil Cheam schickte, die auch sein Vater und andere männliche Verwandte besucht hatten. Geralds Schilderungen zufolge bedeutete das vor allem: schlechtes Essen, schlechten Musik- und Kunstunterricht und Sport als Pflichtfach. Schlimm genug für einen sensiblen und einzelgängerischen Jungen, dem an Sport nichts lag. Schlimmer noch, der Schulleiter war ein Sadist, der die Schüler mit Drohungen und Stockschlägen drangsalierte. Geralds ironisierende Darstellung täuscht nicht über die Tatsache hinweg, dass die seelischen Wunden nie ganz verheilt sind: »Niemand würde bestreiten, dass die meisten Burschen zwischen neun und vierzehn Jahren grässliche kleine Scheusale sind, die es verdient haben, dass man ihnen Angst einjagt und sie einschüchtert. Aber es fällt mir schwer zu glauben, dass es nötig sein soll, sie derart zu quälen und zu schikanieren, wie wir von Mr Gambril gequält und schikaniert worden sind.«[23]

Eine Strafe war ihm deutlich lebhafter in Erinnerung geblieben als das übliche qualvolle Warten auf den ersten Schlag mit dem Stock. Einmal hatte Gerald gewettet, dass es unmöglich sei, Gottes Zorn zu erregen, und eine Bibel durchs Klassenzimmer geschleudert. Unglücklicherweise trat just in dem Moment der Schulleiter ein, und das Buch der Bücher landete direkt vor seinen Füßen. Die Strafe war befremdlich und effektiv zugleich: Mr Gambril forderte die anderen auf, den Übeltäter anzuzischen. »Von zahllosen zürnenden Nattern gleichsam umzingelt – etwas Grausigeres konnte einem nicht widerfahren. Das Gefühl, von so vielen anderen und auf so teuflische Weise verabscheut zu werden, verstärkte meine Schuldgefühle noch.« Prügel setzte es außerdem, aber was blieb, war vor allem die schreckliche Erfahrung der Ausgrenzung.

In Eton erfuhr Gerald ebenfalls Ablehnung, die anderen Schüler in seinem Wohnheim mieden ihn: »In den vielen Stunden erzwungener Einsamkeit, die ich in meinem Zimmer und in Hörweite meiner lärmenden Mitschüler zubrachte, überkamen mich unerträgliche Minderwertigkeits- und Einsamkeitsgefühle.«[24] Später beschreibt Gerald, wie er durchzuhalten versuchte, nämlich mit jener »Mischung aus Bluff und Gerissenheit, mit der um Gefahren und Schwierigkeiten herumlaviert, wer körperlich unterlegen ist«.

So unglücklich Gerald in der Schule gewesen sein mag – hier verliebte er sich auch zum ersten Mal. LongworthLongworth, ein großer, sportlicher blonder Junge, war ein paar Jahre älter als er, und beide hätten unterschiedlicher nicht sein können. Als Kapitän der Hockeymannschaft »verkörperte [LongworthLongworth] für mich die absolute Vollkommenheit«. Er war es auch, an den Gerald denken musste, wenn im Griechischunterricht von Homers Halbgöttern die Rede war. Immer wieder sollte sich Gerald nach Menschen verzehren, die unerreichbar für ihn waren und deren Schönheit er bewunderte.[25] Mein Großvater war im Grunde ein genauso ungeeignetes und gut aussehendes Liebesobjekt wie LongworthLongworth. Ein Seelenverwandter und ebenbürtiger Partner ist aus ihm jedenfalls nie geworden, stattdessen verstand er sich darauf, Gerald in einem Zustand der Ungewissheit zu belassen.

In seinem ersten Memoirenband, »First Childhood«, grenzt Gerald seine frühen Schwärmereien von eindeutig homosexuellen Empfindungen ab. Er schreibt, er habe nicht gewusst, welcher Natur sein Hingezogensein zu LongworthLongworth gewesen sei, obwohl es »von den typischen Anzeichen erotischer Anziehung begleitet war«. Die Generationen »vor FreudFreud, Sigmund und Havelock EllisEllis, Havelock«, schreibt er, hätten noch so etwas wie Unschuld gekannt, »anders als heute, da es in sexuellen Dingen sehr viel aufgeklärter zugeht«.[26] Zwar berichtet Gerald auch in »A Distant Prospect« vermeintlich offen über andere leidenschaftlich inspirierte Jugendfreundschaften, aber die Art und Weise, wie er homosexuelles Begehren in Eton thematisiert, lässt über seine eigenen erotischen Erfahrungen kaum Schlüsse zu, weder für die damalige Zeit noch für sein späteres Leben. Er spricht von »Lastern«, denen man sich hingegeben habe, von der weit verbreiteten Scheinheiligkeit, und er stellt klar, dass man solchen Vorfällen trotz ihrer Häufigkeit »zu viel Gewicht beimessen würde, wollte man sie als Zeichen von Homosexualität deuten. Es handelte sich lediglich um pubertäre Aufwallungen.«[27] Der beschwichtigende und arglose Ton war wohl – der Band erschien 1945 – als Wink an die Eingeweihten zu verstehen.

Die Sache mit LongworthLongworth nahm kein glückliches Ende. Nach einer wundersamen, wenn auch nur kurz währenden Freundschaft, die Longworth ihm gnädigerweise gewährt hatte, war es vorbei. Gerald fiel in Ungnade, als die beiden bei Mondschein auf einem Dach eine Zigarette rauchten und er sich übergeben musste. Welch eine Schmach! Gerald war so unglücklich über die Zurückweisung, dass er in eine tiefe Depression verfiel. Unklar bleibt, ob es das erste Mal war, das letzte Mal war es jedenfalls nicht. In jenem Zustand, den er später als »Acedia« bezeichnete, fühlte er sich, als könne er ebenso gut tot sein.[28] Dann war er überzeugt davon, dass man ihn nicht liebe, dass er wertlos sei und dass sein Leben zu nichts führen würde. Walter BenjaminBenjamin, Walter beschreibt Acedia als die »Trägheit des Herzens«, die selbst die größten Männer zugrunde richte. Er war der Überzeugung, sie sei der Schlüssel zum Verständnis tragischer Helden wie Hamlet. Trägheit und die Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, führen dazu, dass Hamlet tatenlos bleibt und sein Los akzeptiert, anstatt dagegen aufzubegehren. Gerald musste erleben, dass nicht einmal mehr Musik und Literatur zu ihm sprachen. Was ihn sonst zu trösten vermochte, war nun ohne jede Bedeutung. Ihn überkam wieder »jenes schrecklich nervöse Gefühl – als drehe sich eine Windmühle im Herzen«.[29] Nichts konnte ihn mehr erfreuen, Ohnmachtsgefühle stellten sich ein: »In diesem nachtschwarzen Albtraum wurde der scharfe Tadel des Direktors […] wieder laut und erweckte einmal mehr die Scham über meine Unsportlichkeit zu neuem Leben.«[30] Die Auslöser waren vielfältig, die lähmenden Folgen stets die gleichen. Und doch vermochte Gerald, wie so viele Künstler und Schriftsteller, die mit Depressionen zu kämpfen haben, aus seinem Leiden einen künstlerischen Vorteil zu ziehen.

Das schneidende Bewusstsein dafür, dass es ihm an gutem Aussehen mangelte, verstärkte Geralds Unglück noch. In Eton wurde er »Molch« genannt, Osbert SitwellSitwell, Osbert (1892–1969) attestierte ihm »distinguierte Unansehnlichkeit«. Selbst Freunde äußerten sich unfreundlich. Der Autor Beverley NicholsNichols, Beverley erinnerte sich voller Boshaftigkeit: »Er war bemerkenswert hässlich: klein, glatzköpfig, pummelig, äffisch. Die Legende sagt, niemand, der Gerald je in der Badewanne gesehen habe, sei noch derselbe.«[31] Tatsächlich wirkt Gerald auf Porträtaufnahmen durchaus attraktiv, da Intelligenz und Empfindsamkeit aus seinen Zügen sprechen. Er achtete auf sein Erscheinungsbild, war gut angezogen und gepflegt: dem »schnupftabakfarbenen Ausgehanzug«[32] gaben gestreifte Socken und glänzend weiße Gamaschen das gewisse Etwas. Als Kind war Gerald bemüht gewesen, alles richtig zu machen, später erkannte er, wie befreiend es war, Konventionen hinter sich zu lassen. Aber es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass ein Mensch, dem Schönheit so viel bedeutete, zumindest in seiner Jugend darunter litt, nicht schön zu sein. Die Frustration, möglicherweise auch die Wut, die Gerald darüber empfunden haben muss, waren die Triebfedern seines Humors, mit dem er anderen manchmal wehtat.

Geralds Probleme beschränkten sich allerdings nicht auf sein Äußeres – er litt zeitlebens darunter, sehr anfällig zu sein. Vielleicht waren es die Folgen eines rheumatischen Fiebers in seiner Jugend, in seinen Briefen jedenfalls ist immer wieder von Krankheiten die Rede. Einem Brief an StrawinskyStrawinsky, Igor aus dem Jahr 1918 – Gerald war damals fünfunddreißig – ist folgendes Postskriptum angehängt: »Die Krankheit verlief nicht komplikationslos: Infektion, Entzündung, dann ein Abszess – Präludium, Choral, Fuge!«[33]

Gerald war ein Meister darin, sich selbst durch den Kakao zu ziehen, und wenn er unterhalten wollte, bemühte er seinen Sinn fürs Absurde. Während der ersten Schuljahre schrieb er einmal an seine Mutter: »Wieso wolltest du überhaupt wissen, ob ich krank bin? Ich bin es nämlich wirklich: Ich habe ein furchtbar ruheloses Bein. Bitte komm sofort nach Cheam! Außerdem habe ich Keuchhusten, Masern und einen leichten Katarrh. Seid alle lieb gegrüßt, Gerald Tyrwhitt.« Dem Brief hatte er eine sehr gelungene und ausgefallene Zeichnung beigelegt: Sie zeigt ein barfüßiges Mädchen, das einen langen Rock und eine Armeejacke trägt.

 

ANCH EINER SIEHT in Gerald den englischen Exzentriker schlechthin, dabei war er in höchstem Maße weltoffen, sprach viele Sprachen und verbrachte einen Großteil seines Lebens außerhalb Englands. Als Marineoffizier war sein Vater weit herumgekommen, und doch scheint Geralds kulturelles Interesse nicht in der Familie geweckt worden zu sein, die er als geradezu lachhaft provinziell schildert. Über eine Italienreise heißt es: »In Venedig regnete es, in Florenz bekam Onkel Luke einen Sonnenstich, in der Mailänder Oper verlor meine Mutter ein Armband, und in Bologna entdeckte meine Großmutter in ihrem Bett einen Käfer. Sobald irgendjemand zu sehr vom Reisen schwärmte, kamen solche Malheurs aufs Tapet.«[34]

Gerald verliebte sich ins Ausland, nachdem er in Eton die Schule abgeschlossen und sich auf Anraten seiner Eltern für eine Diplomatenlaufbahn entschieden hatte. Statt eines Universitätsstudiums unternahm man damals üblicherweise eine Art verlängerter Kavalierstour, lernte Französisch, Deutsch und andere Sprachen.[35] Wie Harold NicolsonNicolson, Harold, sein Freund, späterer Diplomatenkollege und Schriftsteller und zahlreiche andere angehende Diplomaten auch, kam der sechzehnjährige Gerald in verschiedenen privaten Einrichtungen für junge Engländer unter.

In der Normandie, wo ihn seine Mutter im schönen Château de Résenlieu untergebracht hatte, löste er sich zum ersten Mal aus dem engen Korsett seiner Erziehung. Unter der Anleitung einer verarmten adeligen Witwe, deren Haus jungen Männern offen stand, die Französisch lernen wollten, machte sich Gerald mit seiner ersten Fremdsprache vertraut. Wichtiger noch, weit weg von seiner Familie, der Schule und den verhassten Körperertüchtigungen konnte er seinen Horizont erweitern. In der Normandie legte er das Fundament für seine Zukunft. Hier entdeckte er nicht nur seine Vorliebe für die Gemälde von CorotCorot, Jean-Baptiste Camille, dessen Stil er sich später anzueignen versuchte, sondern auch seine Fähigkeit, sich mit den verschiedensten Gesprächspartnern über anspruchsvolle Themen auszutauschen. Im Gegensatz zu vielen seiner Landsmänner, die in sprachlicher und kultureller Isolation verharrten, setzte sich Gerald der nicht immer einfachen Erfahrung des Fremdseins aus. Den Versuch, in einer Fremdsprache charmant zu sein, beschrieb er als etwa so aussichtsreich wie den Versuch eines Hundes, einem Menschen seine Gedanken mitzuteilen.[36]

Wenn man Gerald glauben darf, verliebte er sich im Laufe jenes blumenduftgeschwängerten normannischen Sommers schüchtern und aus der Ferne in ein Mädchen namens Henriette. Überzeugender als diese unwirkliche Romanze klingen seine Ausführungen darüber, wie er zu einem Gourmet wurde. Schon früh hatte Gerald einen Sinn für besondere Aromen, als Schüler erwähnt er in einem Brief »ein neues, ganz fantastisches Getränk aus Amerika namens ›Ice Cream Soda‹«, das er in einem Geschäft in Eton entdeckt hatte. In Frankreich ging es jedoch um etwas völlig anderes; fern der einfachen englischen Küche und der viktorianischen Zugeknöpftheit wurde Gerald zum Epikureer. Er begann sich dafür zu interessieren, »ob nun Estragon oder Kerbel der Soße besser anstünde«, und sah in der Küche dabei zu, wie das Essen vorbereitet wurde, »ohne den Eindruck zu haben, ich würde lästig fallen oder den Makel der Unersättlichkeit auf mich ziehen«.[37]

In Vorbereitung auf seine Diplomatenausbildung besuchte Gerald 1901 ein Dresdener Lerninstitut, auf dem Stundenplan standen Geografie, Geschichte, Latein und weitere Fremdsprachen. Auch das Komponieren beanspruchte nun mehr und mehr Raum, und Gerald nahm Stunden bei dem Komponisten Edmund KretschmerKretschmer, Edmund. Seine Vorliebe für Chopin war bereits jener für Wagner gewichen, und nun, in Deutschland, wurde er zu einem glühenden Verehrer von Richard Strauss. Mehrere Jahre bereitete er sich auf die Prüfung des britischen Außenministeriums vor, und doch blieb die Musik sein Lebensmittelpunkt. Es gibt für diese Zeit zwar keine Hinweise auf Liebesbeziehungen, aber Gerald war fraglos ein gefühlsbetonter junger Mann. Seine Stimmung, schreibt er später, sei geprägt gewesen von »anfallsartiger und geradezu orgiastischer Euphorie« sowie tiefen Depressionen und großer Verzweiflung.[38] Die Frage, ob diese Gefühlsschwankungen durch Menschen hervorgerufen wurden oder ob Gerald, wie gelegentlich angedeutet wurde, schlicht zu gehemmt und schüchtern war und seine leidenschaftlichen Regungen lieber ins Musizieren und Komponieren anstatt in menschliche Beziehungen einfließen ließ, wird unbeantwortet bleiben müssen.

Trotz seiner Intelligenz und jahrelanger Vorbereitungen scheiterte Gerald 1905 an der anspruchsvollen Prüfung des Foreign Office, was ihn sehr bekümmerte.

Gerald im Alter von 22 Jahren, 1905

Zwei Jahre später scheiterte er erneut. Kurz darauf starb sein VaterTyrwhitt, Captain Hugh auf See, aber nicht in seiner Funktion als Marineoffizier, sondern während einer Mittelmeerkreuzfahrt, auf der er genesen sollte. Trotz der angeblich tiefen gegenseitigen Abneigung der Eheleute Tyrwhitt war seine FrauTyrwhitt, Julia Foster bei ihm. Als sie ein Jahr später wieder heiratete, verursachte das große Aufregung in der Familie. In einem Brief an ihren Sohn schreibt sie: »Mein Kummer ist nicht so groß wie erwartet. Allzu glücklich bin ich mit deinem Vater nicht gewesen, und du hast doch selbst gesagt, man müsse leben, wie es einem gefällt. Und nun frage ich mich, ob es dich wohl überrascht, wenn ich dir mitteile, dass Colonel Ward BennittBennitt, Colonel Ward mich schnellstmöglich heiraten möchte. Wie seltsam es doch ist, in meinem Alter so unbändig geliebt zu werden!«

Die nicht mehr ganz so jungen Jungvermählten fanden ein Zuhause in der Grafschaft von Berkshire: Sie mieteten Faringdon House. Gerald besuchte sie oft, wenn er in England war. Fotografien aus jener Zeit zeigen Faringdon in seiner traditionellen edwardianischen Gestalt: ornamentale Blumenbeete, Farne im Salon, Spitzenkleider tragende Damen in Korbstühlen, die Fassade efeuberankt. Das Haus sah ganz anders aus als in Nancy MitfordMitford, Nancy (1904–1973)s Beschreibungen gut vier Jahrzehnte später in einem Zeitschriftenartikel: »schlicht, grau, quadratisch und kompakt«.[39]

Faringdon House mit efeuberankter Fassade, kurz nach dem Einzug von Geralds Mutter und ihrem zweiten Ehemann

Um ihn herum hatte sich vieles verändert, aber Gerald war nach wie vor ziel- und erfolglos. Es sah ganz danach aus, als wäre an eine Musikerkarriere aufgrund seiner unzureichenden Ausbildung nicht mehr zu denken, und das Foreign Office wollte ihn nicht. Eine wohlhabende Ehefrau war, anders als im Fall seines Vaters, kaum eine Option. Die Zukunft muss recht düster ausgesehen haben.

DREIRussisch, radikal, römisch-katholisch

M ALTER VON SECHSUNDZWANZG Jahren trat Gerald endlich als Attaché ehrenhalber (und damit unbezahlt) in den Dienst der britischen Botschaft in Konstantinopel. Dieser Weg, die diplomatische Laufbahn trotz nicht bestandener Prüfung einzuschlagen, erlaubte Gerald, sich bei geringen beruflichen Verpflichtungen den angenehmen Dingen des Lebens zu widmen. Im Februar 1909 stieg er in den legendären Orientexpress und fuhr, nach einem Zwischenstopp in Wien, durch dichtes Schneetreiben bis nach Konstantinopel. Auf einen Europäer muss das »Paris des Ostens« gewirkt haben wie ein Ort aus einer anderen Welt. Theatralisch und exotisch, vielsprachig und multikulturell, hat diese Stadt mit ihrer bunt gemischten Bevölkerung, den Matrosen und Händlern, Juden, Griechen und Armeniern, den verschleierten Frauen und Wasserpfeife rauchenden Männern mit ihren roten Filzkappen und der freitäglichen Armeeparade, wenn der Sultan die Moschee besuchte, ihre Wirkung auf Gerald nicht verfehlt. Er bewunderte die Juwelen im Topkapi-Serail (»ein Smaragd so groß wie eine Apfelsine«) und den atemberaubenden Ausblick vom Goldenen Horn. Große Veränderungen standen bevor, es war eine Zeit politischer Unruhen. Unter dem Druck der radikalen republikanischen Jungtürken-Bewegung stand das Osmanische Reich kurz vor seinem Zerfall.

Die Dienstzeit des jungen Diplomaten und späteren Ehemanns von VitaSackville-West, Vita (1892–1962) Sackville-West, Harold NicolsonNicolson, Harold, fiel mit jener von Gerald zusammen, und obwohl die beiden ein freundschaftliches Verhältnis pflegten, könnte sich Nicolsons wenig schmeichelhaftes Porträt eines manierierten Jungdiplomaten namens »Titty« auf Gerald beziehen:

Ein kränkliches Gesicht, ein graues Gesichtchen mit blau-schwarzen Schatten, zwei kleinen glanzlosen Augen, einem feuchten Mündchen und formlosem Haar. Er hatte das kränkliche, ungepflegte Erscheinungsbild eines El-Greco’schen Pagen. Er reckte den Kopf einem langen schwarzen Zigarettenhalter entgegen, während sich die freie Hand in einen grauen Wollschal krallte. Er sah unendlich infantil aus; er sah vorzeitig vertrocknet und gealtert aus.[40]

Viele Jahre später sollte Gerald mit der lächerlich aufgeblasenen Romanfigur »Lollypop« Jenkins, die größtenteils auf Nicolson beruhte, literarische Revanche nehmen.[41]