Atlantikpassage - Evelyn Andergassen - E-Book

Atlantikpassage E-Book

Evelyn Andergassen

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Beschreibung

LETZTE CHANCE FÜR ABENTEUER Oswald erlebt im hohen Alter die Überraschung seines Lebens: Er gewinnt im Lotto. Kurzerhand beschließt er, mit seiner Frau Marlen eine Luxuskreuzfahrt über den Atlantik anzutreten. Ihren Kindern verheimlichen sie den unverhofften Geldsegen allerdings – die würden den beiden Alten das Glück bestimmt miesmachen … Mit Witz und Ironie zeichnet Evelyn Andergassen in ihrem Debüt die Geschichte einer verkorksten Familie nach: ein amüsanter Roman mit Tiefgang

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Evelyn Andergassen

Atlantikpassage

Roman

Für Grete

Inhalt

Rubbellos

Aufbruch

Empire State Building

Wie im Herbst Blatt an Blatt

Das Zeisele

Rubbellos

1

„Cappuccino, Signo Oswal?“ Die freundliche chinesische Kellnerin lächelte ihn an und wies mit der Hand auf ein freies Tischchen.

Oswald nickte, stellte den Jutesack mit seinen Einkäufen ab und setzte sich samt Jacke, Schal und Schirmmütze hin. Der Cappuccino kam sofort, schön heiß und mit viel Schaum, so wie er ihn mochte, und mit einem sauber abgegrenzten Herzen aus Kakaopulver drauf. Ich brauche gar nichts mehr zu sagen, dachte er befriedigt. Schon recht aufmerksam, diese Chinesen.

Oswald hatte einen Großteil seines Erwachsenenlebens in der deutsch geprägten Altstadt von Bozen gewohnt, in einer geräumigen Altbauwohnung. Nach seiner Pensionierung war er in eine moderne Zweizimmerwohnung mit Terrasse gezogen, in eines dieser neuen Viertel, in dem es kaum Cafés gab, die von Deutschen betrieben wurden. Und in letzter Zeit auch immer weniger Cafés von Italienern. Im geduldigen chinesischen Familienverbund sind diese langen Arbeitszeiten halt besser aufzuteilen, hatte sich Oswald schon öfters gedacht. Und was den Zusammenhalt bei denen betraf, da hatten die Italiener ihre Meister gefunden, mei Liaber.

Aber mit Deutsch hatten sie es nicht so, die chinesischen Barbetreiber. Warum auch, sie waren ja in Italien und würden kaum Deutsch lernen wegen der dreihunderttausend Leutchen, die hier rundherum auf den Bergen pickten. Sie beherrschten ja schon die variantenreiche Sprache, die auf dem langen Stiefel gesprochen wurde, mehr schlecht als recht.

Vor dem Cappuccino wollte Oswald noch schnell sein Los aufrubbeln, das er vorhin in der Trafik gekauft hatte. Er zog es aus der Brieftasche und machte sich ans Werk.

Na geah, die hielten ihn ja zum Narren, diese vielen kleinen Nullen. Der alte Oswald starrte ungläubig auf das bunte Los. Ihm wurde plötzlich heiß, er riss die Mütze vom Kopf und nestelte ungeschickt an den Knöpfen seiner Jacke, um sie zu öffnen. Den Cappuccino mit dem Kakaoherzen schob er so heftig zur Seite, dass er überschwappte.

Oswald wischte mit dem Ärmel sorgfältig alle Fitzelchen von den Zahlenfeldern weg und fuhr mit zittrigem Zeigefinger langsam und methodisch die Nullen nach. Mit der anderen Hand hielt er dabei die Lesebrille am Steg fest, sie wäre ihm sonst von der schweißnassen Nase gerutscht. In seinem Herzen war ein heißes Flämmchen aufgeflackert, aber er wollte darauf vorbereitet sein, wenn es zum Erlöschen kam: Eine der erforderlichen drei gleichen Zahlen würde sich jeden Moment höhnisch aus dem Staub machen, garantiert.

Doch alle drei defilierten an ihm vorbei, ihre prallen Nullen im Schlepptau, und hielten der zittrigen Musterung stand. Ja, bist du gscheit! Oswald schluckte, er hatte plötzlich Unmengen von Speichel im Mund, und die Flamme in der Brust wurde höher. Oswald kontrollierte zur Vorsicht noch einmal. Und dann noch einmal und noch einmal. Und schließlich ließ er es zu: Er hatte hundertfünfzigtausend Euro gewonnen. Hundert. Fünfzig. Tausend. Habe die Ehre!

Jetzt brannte die Flamme lichterloh, sein Herz begann beängstigend zu wummern. Er musste nach Hause, musste es Marlen sagen. Sofort. Doch der alte Mann fühlte sich plötzlich so zittrig. Vielleicht wartete er noch ein Weilchen, möglicherweise würden ihm die Beine beim Aufstehen sonst nachgeben wie Pudding.

Und so saß er da, vor seinem erkalteten Cappuccino mit Fußbad, dessen kunstvolles Kakaoherz sich schon längst aufgelöst hatte. Seufzend übernahm der Soldat, der er vor fast siebzig Jahren gewesen war, das Kommando und gab dem tattrigen Körper des alten Mannes, in dem er jetzt zu wohnen gezwungen war, einen donnernden Marschbefehl: Reiß di zamm und schau zu, dass du deinen Schatz heil heimbringst!

Die freundliche chinesische Kellnerin kam an den Tisch. „Cappuccino no buono, Signo Oswal?“, erkundigte sie sich leicht besorgt, mit Blick auf das verschmähte Getränk.

„Muss nach Hause, ein Notfall“, schnarrte der Soldat und stand zackig auf. Möglich, dass es für Außenstehende ein wenig wackelig wirkte.

Oswalds Einkauf blieb unter dem Tisch, er musste die Hände frei haben für das, was kam. Dabei hatte er diesmal nichts von dem vergessen, was Marlen ihm aufgetragen hatte, nämlich die Birnen nicht zu gelb, aber auch nicht zu grün, und der Gorgonzola cremig. Sei’s drum, sollte eine andere Marlen was davon haben. Sein Rubbellos hielt er eisern in seiner Faust, es fühlte sich lebendig an und war sein kostbarster Besitz auf Erden.

Der Soldat stakste so energisch los, dass die steifen Knie knirschten. Hundertfünfzigtausend Euro. Mit so viel Geld ging sich eine Reise nach Amerika locker aus. Auf einem dieser großen Überseedampfer wieder die Atlantikluft schnuppern und dann noch einmal die Freiheitsstatue begrüßen. Ah, und endlich hinauf auf das Empire State Building, das hatten sie bei seiner ersten Atlantiküberquerung nämlich nur vom Hafen aus zu sehen bekommen. Der beste Kamerad von Oswald, der lange Rudi aus Berlin-Tempelhof, hatte mit verträumten Augen auf das damals höchste Gebäude der Welt gezeigt und Oswald mit seiner heiseren Stimme zugeflüstert: „Dort möcht ich mal ruff, ganz nach oben auf die Spitze. Das muss ein Gefühl sein. Als wär ich der König von New York.“

Der Rudi, dieses lange Elend. So ein netter, lustiger. Hatte sich bei der Einnahme von Tobruk eine Rauchgasvergiftung zugezogen. Schlecht auskuriert. Während der Überfahrt riss er tagsüber die lustigsten Witze und in der Nacht hustete er sich die Seele aus dem Leib, so leise er konnte. Der Rudi war nämlich ein rücksichtsvoller Mensch und benutzte seine Uniformjacke als Schalldämpfer, um die schlafenden Kameraden nicht zu stören.

Oswald träumte sich ein großes Stück nach Süden weiter, vom Atlantik in den Golf von Mexiko bis zu den sumpfigen Everglades, wo er interniert gewesen war. Als POW, Prisoner of War. Überall stand das auf der Kleidung. POW auf der Arbeitsjacke, POW auf der Mütze, POW auf dem Unterleibchen. Teixl, wie hieß doch gleich das Camp? Das gibt’s ja nicht, dass mir das nicht mehr einfällt. Wie ein amerikanisches Ausbildungslager war es gewesen, nur mit Stacheldraht und Scheinwerfern drumherum. Oswalds Synapsen gaben gnädig den Namen frei: Camp Blanding, genau! Funktionierte ja doch noch, das Oberstübchen. Von den armen Schwarzen in der Gegend mit dem Spitznamen Fritz Ritz bedacht, Ritz wie das noble Hotel und Fritz – das waren sie gewesen. Ja gut, das Klima dort unten war fürchterlich, das pure Gift für den armen Rudi. Selbst Oswald mit seinen gesunden Lungen hatte nachts schlecht geschlafen, weil sich die schwüle Luft wie ein nasser, warmer Sack auf seine Brust legte.

Doch vom Klima einmal abgesehen, und auch von den dazugehörigen Spinnen, Insekten und Schlangen, war es ihnen da unten unverschämt gut gegangen. Reichlich Nahrung, Zigaretten, Bier. Sogar Englisch mussten sie lernen in diesen vier Jahren. Was heißt müssen? Dürfen! So richtig mit Schulbankdrücken, Lehrern, Vokabelheften und Tests. Ob er es noch konnte, wenigstens ein bisschen? Gut möglich, dass ihm ein paar Brocken wieder einfielen, wenn es drauf ankam. Und Marlen würde für den Rest sorgen. Wozu hatte sie sonst ihre endlosen Englischkurse für Senioren auf der Volkshochschule besucht?

Er hatte ja das Denken ganz an seine Frau abgegeben, blitzte es plötzlich bei ihm auf. Marlen sorgte für den Rest. Tss, er war wirklich ein bequemer, alter Sack geworden. Der Gedanke war wie ein winziger Glassplitter im Fuß. Lästig. Und Marlen war selber schuld, immer drängte sie sich vor mit ihrem wendigen Kopf. Der Glassplitter pikste.

Vielleicht nahm er sie überhaupt nicht mit auf seine Reise, überlegte er kühn, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Das wäre nicht recht. Marlen war so sehr ein Teil von ihm, dass er schon gar nicht mehr wusste, wo sie aufhörte und wo er anfing. Klar durfte sie mitkommen.

Die penetrante, kleine Stimme in seinem Hinterkopf, die der Meinung war, dass Marlen nicht nur mitkommen durfte, sondern musste, weil er es ohne sie gar nicht mehr schaffte, bekam nun kurzerhand Sprechverbot. Da dachte er schon lieber an sein Rubbellos.

Dass der Gewinn ihm gehörte, nur ihm allein, erfüllte ihn mit einer Genugtuung, die weit über das bloße Geld hinausging. In dieser Sache hier war er der Chef. Die dicke Brieftasche, die er jetzt besaß, würde er nicht aus der Hand geben, da würde sie nichts zu bestimmen haben, die Frau. Wer zahlt, schafft an. Wenn ihr das nicht passen sollte, bitte schön, sie könnte jederzeit wieder nach Hause. Retour mit einem Fahrschein erster Klasse, von ihm bezahlt, da war er nicht knausrig. Er gluckste. Bei jedem dieser Gedanken kehrte ein bisschen Manneskraft zurück. Und nach der Kreuzfahrt ein Auto? Mit Chauffeur vielleicht? Freudentränen schossen ihm in die Augen.

Autos hatten ihn schon immer verzaubert. Damals in Amerika waren ihm die Augen aus dem Kopf gefallen, als er einmal die elegante Kühlerhaube eines Cadillacs aus der Nähe zu sehen bekam, rund und geschwungen wie die Hüften einer Frau. Oswald liebte den technischen Fortschritt, diesen frischen Wind, der die trüben Nebel der Nachkriegszeit vertrieb. Damit die Sonne endlich herauskommen und die geschundenen Menschen mit dem Versprechen von ein bisschen Sicherheit und Wohlstand erwärmen konnte.

Wohlstand bedeutete für Oswald, seine eigenen vier Wände zu haben und eine Einbauküche, einen Fernseher und einen Kühlschrank hineinzustellen. Und nach und nach alles andere zu kaufen, was auf Raten zu haben war. Aber an allererster Stelle kam die motorisierte Freiheit auf Rädern. Was die betraf, war er ein Pionier gewesen, mei Liaber. Zuerst hatte er sich die Vespa zugelegt, eines von den ungefähr zweitausend Motorrädern, die damals in ganz Südtirol gemeldet waren, dann sein geliebtes erstes Auto, den dunkelgrünen Fiat Topolino, gebraucht, natürlich, mit drei Vorbesitzern. Oder waren es vier? Der Schwiegervater, auch er für den technischen Fortschritt zu haben, hatte ihm das Geld vorgestreckt. Mit ihm auf dem Beifahrersitz und der schwangeren Marlen auf der Rückbank hatte Oswald dann die kleine Dolomitenrundfahrt gemacht. Die große hatte er sich nicht getraut, beim Topolino rauchte bei den steilen Strecken der Motor. Zum Abkühlen musste eine Pause eingelegt werden. Dann stieg der Schwiegervater aus, um das Panorama zu bewundern, und Marlen, weil ihr übel war von den vielen Kurven.

Seine eigene Mutter hingegen hatte gezetert, warum er sein Geld ausgab für dieses ganze neumodische Zeug. Was sie nicht davon abhielt, sich zu ihrem Bruder ins Unterland kutschieren zu lassen, stocksteif vor Angst, die knotigen Hände so fest um den Griff ihrer Tasche geklammert, dass die Knöchel weiß wurden. Aber die Quitten waren reif und mussten geerntet werden, damit sie im Winter ein Kompott servieren konnte nach dem Sonntagsbraten. Und mit dem Auto war es möglich, drei Holzsteigen von den duftenden Früchten mitzunehmen, statt der üblichen zwei prall gefüllten Stofftaschen, weil sich die im Fond eines Autos praktisch von selbst transportierten und die Mutter sie nicht zum Zug und dann vom Bahnhof nach Hause schleppen musste. Auch die Verwandten, ja, die hatten was zum Schauen gehabt, als die Stadtler im Auto daherkamen: Oswalds Topolino war das erste Auto überhaupt, das damals ins Dorf gefahren kam.

Und später in den Sechzigerjahren die Urlaubsfahrten mit den Kindern, die Valsugana hinunter bis nach Grado. Aah. Im himmelblauen Renault Dauphine, einem Fünftürer, mei Liaber, und vollbepackt bis zum Anschlag mit Campingzelt und Luftmatratzen.

Oswald ließ genüsslich seine Autos vor seinem inneren Auge vorbeidefilieren. Bis zum letzten, der üppig ausgestatteten Limousine, von der alle in der Familie sagten, dass er sie viel zu schnell fuhr. Zu schnell, pah. Mehr als sechzig Jahre Führerschein und noch nie einen Verkehrsunfall gebaut! Gut, einmal war ihm der Anhänger vom Traktor umgekippt, als er die Golden Delicious der Eltern zur Obstgenossenschaft bringen wollte. Diese vermaledeite Haarnadelkurve. All die goldenen Äpfel waren hinuntergerollt bis zum Dorfbrunnen. Passiert war ihm dabei nichts, außer dass er sich blamiert hatte bis auf die Knochen. Und das alles nur, weil es sich Oswalds Mutter im Alter in den sturen Schädel gesetzt hatte, von der Mietwohnung in Bozen ins frisch geerbte Unterlandler Haus zu ziehen. Das nicht etwa in einem Dorf stand, sondern in der entlegenen Vier-Häuser-Fraktion eines Dorfs, aber mit einem Obstgarten, in dem Äpfel wuchsen und Zwetschgen und die prachtvollsten Kirschen, die man sich vorstellen konnte. Und einen Weinberg vor dem Haus gab es auch. Nach dem peinlichen Unfall hatte Oswald jedenfalls seinen Ruf als patscherter Möchtegernbauer weg.

Und mit Mitte siebzig war es dann ganz aus gewesen mit der Mobilität, auf brutale Art. Nach der Gehirnoperation wollte man Oswald den Führerschein nicht mehr erneuern. Das hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

Eine Beschneidung seiner Rechte war das nämlich gewesen, jawohl. Und so kämpfte der verzweifelte Oswald um seinen Führerschein mit mehr Engagement, als er es jemals für eines seiner Kinder aufgebracht hätte. Ein Schwall blanker Energie durchbrach mit einem Mal all die Schichten an Wurstigkeit, die er sich im Laufe der Jahre zugelegt hatte. Oswald legte also Rekurs ein und unterzog sich vor einer Ärztekommission beherzt einem Eignungstest mit einem Fahrsimulator – bei dem er grandios durchrasselte.

Das hatte ihn damals einfach verwirrt, das ganze Computerzeugs, Oschtia Madonna. Den Gedanken, dass seine Reaktionsfähigkeit mit ihm in die Jahre gekommen war, ließ er nicht zu, vielleicht bis heute nicht. Die Freiheit, in sein Auto zu steigen und sich von einem Ort zum anderen zu bewegen, war so sehr mit Oswalds Identität verwoben, dass die erzwungene Abgabe des Führerscheins ihm vorkam wie eine Kastration – von der sich seine Männlichkeit nie wieder erholte.

Wäre jetzt halt praktisch, wenn die Frau Auto fahren könnte, sagte man in der Verwandtschaft. Tja, antwortete Marlen in solchen Fällen, mit einer Stimme, die vor Genugtuung troff. Ihr Mann habe immer laut und deutlich verkündet, sie sei völlig ungeeignet, hinter einem Steuer zu sitzen, zu unsicher im Straßenverkehr, zu hilflos in technischen Dingen. Und überhaupt habe sie, laut Oswald, einen Orientierungssinn wie eine aufgescheuchte Henn.

Eine saftige Retourkutsche, die Marlen ihm da verpasst hatte, dachte Oswald jetzt. In Wirklichkeit hatte sie um den Führerschein immer nur pro forma gekämpft, ihr war schon klar gewesen, dass Autofahren mit ihm auf dem Beifahrersitz das sichere Ende für ihre Ehe gewesen wäre – weil sie sich nämlich gegenseitig die Köpfe eingeschlagen hätten.

Und so kam es, dass eine blitzblaue, auf Hochglanz polierte Autoschönheit in der nahe gelegenen Tiefgarage einige Jahre lang ihren Dornröschenschlaf hielt. Am Anfang ging Oswald sie manchmal besuchen. Er fuhr sie aus der Box, machte die Runde um den dritten Unterstock und fuhr sie dann wieder in ihre Heia. Später traute er sich nicht mehr einmal das, weil er Schrammen beim Einparken befürchtete. Er beließ es dabei, seinem bildschönen Gefährt über die Kühlerhaube zu streicheln und sich dann ächzend auf den Fahrersitz plumpsen zu lassen. Hinein ging’s ja noch. Aber das Auto hatte leider einen so verflucht niedrigen Einstieg, dass Oswald einmal eine schweißtreibende halbe Stunde damit verbrachte, sich aus dem Sitz wieder herauszukämpfen. Und so kam schließlich der Tag, an dem sich Oswald blutenden Herzens von seiner blitzblauen Freiheit auf vier Rädern verabschieden musste. Und endgültig zum Greis wurde.

An der verkehrsumtobten Kreuzung wartete er jetzt darauf, die Straße zu überqueren. Grün. Oswald marschierte los. Seine Kinder kamen ihm in den Sinn und er schnitt eine Grimasse. Tja. Die würden sicher auch gern was haben wollen vom Gewinn.

Dann hörte er mitten auf dem Zebrastreifen eine Stimme hinter sich: „Signo Oswal!“ Er drehte sich um, es war die Kellnerin, die sein Einkaufssäckchen schwenkte. Sie hatte ein Lächeln im Gesicht, wie es für einen alten, vergesslichen Mann bestimmt war. Oswald wollte nicht, dass sie ihm nachlief, er wollte sich seinen seligen Träumen hingeben. Lass mich in Ruh, dumme Urschl. Er machte einen Satz nach vorne. Und wäre um ein Haar in ein Auto gerannt. Uff, das war knapp. Zum Glück hatte er sich auf der Kühlerhaube abgestützt. Der junge Fahrer öffnete das Fenster und brüllte ihm etwas Rohes ins Gesicht, über Tattergreise, die den Straßenverkehr behinderten und dann sein Auto betatschten. Oswald war früher ein Hitziger gewesen, so hätte man ihm nicht kommen dürfen. Jetzt im Alter aber hatte er zähneknirschend lernen müssen, Kränkungen zu ignorieren.

Man sollte doch meinen, es geht uns allen gut in dieser fetten, reichen Provinz, dachte er. Aber nein, einmal nicht hingeschaut, und schwupp entwickelte sich schon wieder eine neue aggressive Spezies, diesmal bei den Italienern. Eine gut motorisierte mit schlechten Manieren, die alles angeiferte, was ihrem teuren Leasingauto im Weg stand: Schwarzafrikaner, Alte, Touristen aus Deutschland. Letztere wurden Crucchi genannt, wie im Übrigen alles, was deutscher Zunge war. Oswald beobachtete das rote, wutverzerrte Gesicht und dachte, jaja, du Grobian, nichts Neues unter der Sonne, alles schon da gewesen.

Oswald war nämlich in die Zeit hineingeboren worden, in der die faschistische Bewegung gerade die Macht im Staat an sich gerissen hatte und ihren mächtigen Bizeps spielen ließ. Südtirol sollte von der großen italienischen Nation penetriert werden und innerhalb zweier Generationen nur mehr rein italienische Kinder gebären, so der virile, faschistische Plan. Als Kind hatte Oswald mit Schaudern zugehört, wie sich die Erwachsenen um ihn herum immer und immer wieder eine gruselige Geschichte erzählten: dass anlässlich der Frühjahrsmesse im April einundzwanzig, als er noch mit den Mücken geflogen war, am Sonntag ein Trachtenumzug stattfinden sollte. Dass am selben Morgen faschistische Kampftruppen aus den Zügen herausgequollen seien. Aus Mantua, Brescia und Verona. Aus dem Trentino. Wohlorganisiert und gewaltbereit, in der Absicht, sich mit breiter, italienischer Brust den altösterreichischen Provokateuren in dieser rückständigen Tiroler Tracht entgegenzustellen.

Als der Umzug dann durch die Altstadt zog, habe man mit Knüppeln und Stöcken auf die wehrlosen Menschen eingedroschen. Pistolenschüsse seien gefallen, und auf dem Obstmarkt habe man eine Handgranate mitten in die Menschenmenge geworfen. Viele Verletzte habe es gegeben und einen Toten, einen Lehrer, der sich schützend vor ein Kind stellte. Und nach vollbrachter Tat seien die brutalen schwarzen Gesellen einfach wieder in ihre Züge gestiegen und völlig unbehelligt abgereist.

Wie hat das gleich geheißen damals, überlegte Oswald. Bozner Blutsonntag, genau.

Oswald beherrschte ein fehlerfreies, elegantes Italienisch. Er sprach es beinahe akzentfrei. Aber eben nur beinahe, und wer in einem zweisprachigen Gebiet lebte, hatte ein feines Gehör. So registrierte der Fahrer augenblicklich die fast unmerklich härtere Aussprache des alten Mannes, als der sich ein bisschen brüsk entschuldigte. Und hieß ihn prompt einen „Crucco“, genauer gesagt, einen „alten, vertrottelten Crucco“. Oswald hätte mit einem „walschen Rüpel“ kontern können, was er aber nicht tat. Es hätte auch „Rüpel“ ohne jede ethnische Zuordnung genügt, das war international gültig. Aber das Nationalistische hatten sie ihm ausgetrieben damals im amerikanischen Camp. Und zwar gründlich, mei Liaber.

Die Amis hatten nämlich eine Umerziehungskampagne ins Leben gerufen, auf freiwilliger Basis. Oswald entschied sich, mitzumachen. Andere auch, aber nicht alle. Die Umerziehungswilligen wurden einzeln in ein Zelt geführt, in dem nichts Weiteres stand als ein Tisch, darauf ein dicker Stapel großformatiger Fotografien aus den KZs. Jedes Foto mussten sie zehn Minuten lang betrachten, unter einer gnadenlos hellen Bürolampe. Als er schweißnass wieder hinausstolperte, war er ein anderer geworden. Die paar Fanatiker, die immer noch an den Endsieg glaubten, schimpften ihn einen Vaterlandsverräter, einen Defätisten, einen rückgratlosen Arschkriecher. Das tat zwar weh, war aber nichts im Vergleich zum Stacheldraht, der sich beim Anblick dieser Bilder um seinen Magen gewunden hatte. Nichts.

Oswald beschloss also, den wütenden Rohling in seinem Auto einfach zu ignorieren. Die Reibereien zwischen Deutschen und Italienern hörten eh nie auf, stellte er distanziert fest. Einmal sind die einen obenauf und dann wieder die anderen. Und überhaupt hatte er im Moment Wichtigeres zu tun. Sein Rubbellos brannte ihm in der Hand wie Feuer.

Oswald erreichte den rettenden Gehsteig auf der anderen Straßenseite und verstaute seinen Schatz sicher in der inneren Jackentasche: nahe am Herzen, bemüht, ihn vor der herankommenden Kellnerin zu verbergen. Er nahm ihr mit einem höflichen „Danke“ den Einkauf ab und machte sich – auf Beinen, die sich anfühlten wie wacklige Stelzen – weiter auf den Heimweg. In den fünf Minuten, die ihn von zu Hause trennten, setzte er viermal das vermaledeite Sackl ab und vergewisserte sich mit schweißnassen Fingern, dass das Los noch da war.

Oswald läutete an der Haustür mit der Inbrunst eines Schiffbrüchigen, der sich mit letzter Kraft am rettenden Strand festkrallt. Krächzte in die Gegensprechanlage: „Ich bin’s, mach auf“, und fiel fast in den Aufzug hinein.

Marlen erwartete ihn mit verkniffenem Gesicht in der Wohnungstür: „Was läutest denn so wild, hast wieder den Schlüssel vergessen?“

Oswald warf den Jutesack unsanft auf den Küchentisch und ließ sich unendlich erleichtert in den Stuhl fallen.

2

Oswald war so wackelig auf seine alten Tage, dachte Marlen sorgenvoll. So lange, wie der heute gebraucht hatte. Der sportliche Ehemann stolperte über seine eigenen Beine. Vielleicht sollte sie die paar Sachen in Zukunft selbst einkaufen gehen. Aber nein, dann kam er ja überhaupt nicht mehr hoch von seinem Kreuzworträtsel.

Aber jetzt war er ja wieder da. Gott sei Dank. Und drosch zur Begrüßung ihre schönen Birnen einfach auf den Tisch. Marlen wollte ihn gerade zurechtweisen, als sie sein erschüttertes Gesicht sah. „Oswald, du bist ja weiß wie die Wand, geht’s dir nicht gut? Hast du Schmerzen? Oh Gott, das ist sicher ein Herzanfall.“

„A Schnapsl“, japste ihr Mann. Mit fliegenden Händen holte Marlen den Williams aus dem Wohnzimmerschrank und schenkte ihm zitternd ein Stamperle ein.

Oswald trank in einem Zug aus und schien die Jackentasche abzutasten. Sofort bekam er wieder ein bisschen Farbe. Marlen atmete auf. „Was ist denn los?“

„Ich hab gewonnen. Beim Rubbellos. Hundertfünfzigtausend Euro.“

Jetzt ließ auch Marlen sich schwer auf einen Küchenstuhl fallen. „Ježíšmarjájózef!“ Mit der Aufregung kamen die böhmischen Wurzeln zum Vorschein. „Lass sehen“, sagte sie kurzatmig.

Er fegte die aufgeschlagene Zeitung vom Tisch und legte das Rubbellos vorsichtig vor sich hin. Marlen hatte inzwischen ihre Lesebrille aufgesetzt und wollte es in die Hand nehmen.

„Nicht anfassen“, schnauzte er sie an.

Also beugte sie sich über den Schein, ohne ihn zu berühren, und ließ ihren Blick wieder und wieder über die Zahlen gleiten. „Tatsächlich“, flüsterte sie mit blassen Lippen, „tatsächlich. Ježíšmarjá!“ Ausnahmsweise fehlten ihr die Worte.

Die zwei alten Leute blieben lang so sitzen, die Unterarme auf dem Tisch, die Augen auf das Los gerichtet wie auf den Heiligen Gral.

„Was machen wir jetzt mit dem Geld?“, fragte Marlen endlich.

Oswald stellte klar: „Du machst gar nichts. Es gehört mir.“

So grob brauchst du mir nicht zu kommen, auch wenn du aufgeregt bist, dachte sie gekränkt. Sie waren seit fünfundfünfzig Jahre verheiratet, da würde sie wohl das Recht haben, so was zu fragen. Die Unhöflichkeit wurde registriert, Marlens Gedächtnis war gnadenlos, Oswald würde dafür die Rechnung präsentiert bekommen.

„Ich hab an eine Reise gedacht.“

Marlen antwortete prompt: „In unserem Alter.“

Oswald schien unzufrieden mit ihrer Reaktion.

Dann aber überraschte sie ihn: „Wo soll es denn hingehen?“

„Mit einem Überseedampfer über den Atlantik nach New York. Und dann weiter nach Florida.“

„Pffff … ja glaubst du denn wirklich, die Dokterin lässt dich fahren mit deiner Lunge?“

„Die Dokterin hat mir nix zu verbieten. Und einen Arzt gibt es auch auf dem Schiff.“

Sie antwortete nicht.

„Schau Marlen, wenn’s passieren muss, dann passiert’s halt. So ein Schiff mitten auf dem Meer ist kein schlechtes Platzl zum Sterben. Und das Begräbnis ist auch gleich mit dabei. Praktisch.“

Marlen schnappte nach Luft, er hatte ihr ordentlich Wind aus den Segeln genommen: „Was machen wir mit den Kindern?“

„Schauen wir einmal, wie viel überhaupt übrig bleibt“, meinte der liebende Vater.

„Wir könnten ihnen auch gar nichts sagen“, schlug die selbstlose Mutter vor. Dann stand sie auf und versperrte die gepanzerte Eingangstür von innen. Dreimal. Danach kontrollierte sie, ob die Fenster in der Wohnung wohl auch alle ordentlich geschlossen waren. „Nicht, dass ausgerechnet jetzt die Einbrecher kommen“, sagte sie.

Oswald nahm das Los und ging zum kleinen Safe hinter dem Bild vom böhmischen Dorf, das sich um eine Kirche mit einer grotesk großen Zwiebelkuppel schmiegte.

„Gehen wir liegen“, schlug er vor.

So gingen sie also früh zu Bett.

Marlen aber war zu erschöpft, um zu schlafen. Das Wohnhaus war so hellhörig. Von überallher drangen die Geräusche des Alltags auf sie ein, Zurufe und Gelächter, das Stimmengewirr der Nachrichtensprecher auf Rai 1 und Canale 5, trippelnde Kinderschritte, Klospülungen. Später erst wurde es ruhiger, doch Marlen war immer noch hellwach.

Zur Abwechslung mal konnte sie vor Freude nicht einschlafen. Sie dachte an die Schiffsreise. Dass es da sicher vornehm zugehen würde. Welche ihrer Sachen würden sich eignen? Und schon verfing sich ihr überdrehtes Gehirn in einer Endlosschleife. Sie ging ein Kleidungsstück nach dem anderen durch, verwarf das eine, weil es zu warm war, und das andere, weil sie schon längst nicht mehr hineinpasste. Aber sie würde alle ihre eleganteren Sachen schön langsam durchprobieren. Und wenn auch nur eines der Teile zwickte, würde sie sich eisern auf Diät setzen.

Hocherfreut fiel ihr ein, dass sie nun auch ihr Collier mit den Amethysten ausführen konnte. Endlich. Sie hatte es vor Jahren in einer schwachen Stunde erstanden und aus totalem Mangel an Anlässen noch nie getragen. Außer beim Anprobieren vor dem Frisierspiegel im Schlafzimmer, da hatte sie es einmal auch Rosmarie gezeigt. Gemeinsam hatten Mutter und Tochter das Glitzergepränge in Marlens Dekolleté betrachtet. „Schön“, hatte die Tochter in den Spiegel hinein gelogen und sich bemüht, ihr Gesicht unter Kontrolle zu halten. „Probier du es einmal“, hatte Marlen gesagt. Und Rosmarie hatte geseufzt und es anprobiert. Ihr stand es besser, keine Frage, dass die lila Funkelsteine am Ausschnitt einer gut erhaltenen Brünetten mittleren Alters vorteilhafter aussahen als auf dem zerknitterten einer Greisin.

„Dir steht es auch nicht schlecht, ich leihe es dir ja vielleicht einmal“, hatte die Mutter gesagt und ihre eigene Großzügigkeit schon fast wieder bereut.

„Danke Mutti, ganz lieb von dir, aber nicht böse sein, so eine Kette, die ist mir zu … üppig, ich wüsste nicht, wann ich so etwas tragen sollte, beim besten Willen nicht, meine Zeiten als Prinzessin sind schon lang vorbei.“

Marlen wälzte sich auf die andere Seite. Rosmarie war ja damals nur neidisch gewesen, weil sich ihre Mutter schönen Schmuck leisten konnte und sie selbst mit ihrem Ex wegen der teuren Sprachferien des Sohns herumstreiten musste.

Na prima, dachte Marlen und machte die Augen auf, hatte sie es am Ende doch noch geschafft, ihr Hirn in den Grübelmodus zu versetzen. Warum konnte sie sich nicht einfach nur freuen? Sie schaute neidvoll zu ihrem Mann hinüber, der dalag wie ein gefällter Baumstamm. Der hatte es gut, konnte schlafen wie ein Toter, Aufregung hin oder her. Sie hingegen würde eine halbe rosa Pille nehmen müssen. Nein, heute ausnahmsweise eine ganze.

3

Der Wintermorgen graute. Oswald saß im Halbschlaf auf dem WC und ließ seine Blase dahintröpfeln. Vergessen geglaubte Bilder in Schwarz-Weiß stiegen bei ihm auf, Erinnerungen an die erste Atlantikpassage in seinem Leben: jene drei Wochen auf dem amerikanischen Frachtschiff, das im Konvoi zurück in die USA fuhr. Im Schiffsbauch, wo auf der Hinfahrt nach Europa der Nachschub für die Truppen gelagert gewesen war, wurden auf der Rückfahrt die Kriegsgefangenen der Heerestruppe Afrika in die Vereinigten Staaten übergesetzt, zusammengepfercht wie Sardinen.

Was hatte er damals doch für ein Todlglück gehabt, sinnierte der alte Oswald. Ein kleiner Soldat, der in einem großen Krieg feststeckte. Und der es wie durch ein Wunder fertiggebracht hatte, nicht in der glühenden Libyschen Wüste zu verrecken. Das Schiff hatte ihn aus dem Krieg weggeführt wie eine gute Fee, in ein Land, in dem der Himmel – zumindest vorerst einmal – einfach nur blau und friedlich war. Ohne dass daraus ein Tiefflieger herabstieß und einen Panzer mit Mann und Maus abfackelte. Ihn als Funker inbegriffen.

Unter Deck hatten sich nicht wenige gegrämt wegen der Kapitulation ihrer Einheit, hatten von Schmach und Schande gesprochen. Oswald nicht, er hätte jedes Mal am liebsten einen Juchezer getan vor purer Lebenslust, wenn er eine frische Brise Meeresluft zu schnappen bekam. Was für ein herrlicher Tausch gegen den staubigen Höllenatem der Wüste.

Schluss jetzt mit diesem elenden Tröpfeln, ihm war kalt. Oswald schlüpfte zurück unter seine Bettdecke. Bevor er in den Schlaf glitt, beschloss er, dass diese Fahrt nach Amerika seine Gedächtnisreise werden sollte. So wie manche auf Soldatenfriedhöfe gingen, würde er über den Atlantik fahren. Mit so viel Meerblick, wie man für Geld bekommen konnte, Atlantik erste Reihe fußfrei sozusagen. Und alle Kameraden, die es nicht geschafft hatten, waren eingeladen mitzukommen. Der lange Rudi aus Berlin-Tempelhof vor allem, der würde sein Ehrengast sein. Bei dem Gedanken lächelte Oswald ins Kissen und schlief flugs ein.

Am nächsten Morgen saßen sie beide wie gerädert vor dem Kaffee. „Die Fußpflegerin kommt gleich“, sagte Marlen. „Kein Sterbenswort zu ihr. Zu niemandem.“

Und schon läutete die laute, leutselige Frau an der Wohnungstür. Falls die sich wunderte, warum die zwei alten Leutchen heute stumm waren wie Fische und hohläugig dreinschauten, behielt sie es für sich.

„Jetzt muss ich mich aber drum kümmern, wie ich zu dem Geld komm“, sagte Oswald. Sie waren wieder allein hinter ihrer Panzertür. „Am besten, ich geh heut Vormittag noch zur Bank. Wie heißt der junge Tupf gleich, den sie uns da zugeteilt haben?“

„Lorenzi.“

„Genau. Der wird schon wissen, was zu tun ist.“

„Du gehst doch nicht ganz allein dorthin?“, fragte Marlen entsetzt. „Stell dir vor, dir wird plötzlich schwindlig. Oder du wirst überfallen.“

„Dann gehen wir halt zu zweit“, stimmte Oswald gnädig zu. Insgeheim war er erleichtert, obwohl es ihn kurz ärgerte, dass sie wegen all der Einkäufe und sonstigen Gänge, die er allein erledigte, noch nie irgendwelche Bedenken geäußert hatte.

Er nahm sogleich das Los aus dem Safe und steckte es sich wieder nah ans Herz. Und dann eierten die alten Leutchen an dem strahlenden Wintermorgen gut eingepackt zu ihrer Hausbank. Sie kamen beim freundlichen Mann vom Zeitungsstand vorbei, der einen Turban aufhatte und mit langgliedrigen, braunen Fingern seine Zeitungen sortierte.

Schon wieder fiel ihm seine Mutter ein. Was würde die von der bunten Mischung aus Rassen und Kulturen halten, die man heutzutage sogar in einem Städtchen wie Bozen antraf? Von den chinesischen Restaurants zum Beispiel oder den türkischen Buden mit diesem Senkrechtspieß? Sie, die in ihrer Tiroler Kultur so verhaftet war, dass sie nicht im Traum ein walsches Gericht gekocht hätte, eine Pastasciutta zum Beispiel. Da konnten die anderen schwärmen, so viel sie wollten von den praktischen Trockennudeln mit der roten Soß. Die Mutter kochte tirolerisch und altösterreichisch, Bandnudeln waren eine Beilage und die Tomatensoße hatte süßlich zu sein und wurde kalt zum gekochten Rindfleisch serviert.

Sie würde nicht mehr in diese Welt passen, dachte Oswald, fiel ja er schon fast heraus.

Jahrzehntelang haben wir jetzt nur auf den eigenen Nabel geschaut, sinnierte er weiter, und darüber komplett auf die restliche Welt vergessen. Tja, und dann hat die restliche Welt es uns gezeigt. Hat einfach beschlossen, zu uns zu kommen.

Oswald grinste in seinen Schal hinein. Seit dieser Umerziehungsgeschichte in Camp Blanding waren ihm Berührungsängste fremd. Nicht von ungefähr hatte er eine Böhmin zur Frau. Und in seinem Beruf als Stadtpolizist hatte er für Recht und Ordnung auf den Straßen der Stadt gesorgt, egal ob auf Italienisch oder Deutsch.

Ohne je groß darüber nachzudenken, hatte Oswald ein konfliktarmes, halbwegs ideologiefreies Nebeneinander praktiziert. Mit Distanz halt, das schon. Und privat hielt er sich von allen beruflichen Kontakten fern und lebte hauptsächlich in seiner Familie. Einzig und allein bei den Fußballländerspielen Deutschland gegen Italien verriet Oswald, für wen sein Herz brannte. Da saß er dann stocksteif im Fauteuil und hielt seiner deutschen Mannschaft die Treue, unerschütterlich wie ein Nibelungenkrieger. Da konnten alle Italiener aus den Häusern rundherum ihre Helden so lautstark anfeuern, wie sie nur wollten.

Die Tochter hatte sich in diesen Fällen als Feind in den eigenen Reihen erwiesen und brüllte bei einem italienischen Tor vor Freude auf, rein schon aus pubertärer Opposition. Wenn der Vater die Azzurri, die zu Boden fielen wie sterbende Schwäne, mit abschätzigen Kommentaren bedachte, nannte ihn Rosmarie wutschnaubend einen Nazi. „Ab in dein Zimmer. Auf. Der. Stelle!“, hatte Oswald gebrüllt. Und als sie den Mund aufmachte zum Protestieren: „Keine Widerrede!“ Wenn sie dann türenknallend verschwand, hatte er seufzend gedacht, narrisches Madl, narrisches.