Atlas der nie gebauten Bauwerke - Philip Wilkinson - E-Book

Atlas der nie gebauten Bauwerke E-Book

Philip Wilkinson

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Beschreibung

Fantastisch geplant, nie verwirklicht Ein Wolkenkratzer, der 1,6 Kilometer hoch ist und 528 Stockwerke hat, eine Glaskuppel, die den größten Teil Manhattans bedeckt, ein Triumphbogen in Form eines Elefanten, Leonardo da Vincis Stadt auf zwei Ebenen: mit den nicht gebauten Projekten wurden anspruchsvolle neue Ideen erforscht, Konventionen hinterfragt und Wege in die Zukunft gewiesen. Einige von ihnen sind Meisterwerke, andere vergnügliche Fantasien. Manche Ideen erscheinen unglaublich kühn. Aber sie verweisen auch auf Gebäude, die Jahrzehnte später entstanden sind, wie das Eden Projekt, ein botanischer Garten, unter Kunststoffkuppeln in Cornwall, oder das Hochhaus The Shard in London.

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Seitenzahl: 295

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ATLAS DER NIE GEBAUTEN BAUWERKE

EINE GESCHICHTE GROSSER VISIONEN

PHILIP WILKINSON

Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff

FÜR ZOË

EINFÜHRUNG

Eine riesige Kuppel über Manhattan, ein königlicher Palast neben dem Parthenon in Athen, ein Wolkenkratzer, der 1600 Meter hoch in den Himmel ragt, ein Triumphbogen in Form eines riesigen Elefanten: Einige der faszinierendsten Gebäude in der Geschichte der Architektur sind niemals gebaut worden. Es waren Entwürfe, in denen die Architekten die Baustoffe bis an die Grenze ausreizten, völlig neue Konzepte erkundeten, den Konventionen trotzten, schöpferischen Launen nachgaben oder Wege in die Zukunft wiesen. Dieses Buch erzählt die Geschichte von fünfzig dieser ungebauten Gebäude und zeigt, warum diese Phantomgebäude die Menschen noch heute bewegen, obwohl es sie nur als Entwürfe, Zeichnungen, Baupläne oder Modelle gibt.

Es gibt viele Gründe, warum ein Projekt nicht weiter kommt als bis zum Reißbrett. Vielleicht hat der Bauherr nicht genug Geld, vielleicht zeigt sich, dass es statische Probleme gibt oder dass der Plan nicht den Bestimmungen entspricht. Architekten können der Konkurrenz unterliegen (besonders bei den seit dem 19.Jahrhundert üblichen Ideenwettbewerben und Ausschreibungen), sie können sich mit dem Bauherrn zerstreiten, ihre Meinung ändern oder einen Entwurf vorlegen, der nicht zum Grundstück passt, seinen Zweck nicht erfüllt oder »seiner Zeit zu weit voraus« ist.

Die Pläne allerdings überleben – als faszinierende und manchmal atemberaubende Hinweise darauf, was hätte sein können. Manche waren Meisterwerke, die einfach nur Pech hatten. Sir Christopher Wrens großes Modell für die St.-Pauls-Kathedrale wäre ein großartiges Bauwerk und ein Schmuckstück für London gewesen. Es war der Londoner Geistlichkeit nur nicht traditionell genug. Mies van der Rohes Hochhaus an der Friedrichstraße in Berlin und Eliel Saarinens Entwurf für den Wolkenkratzer der Chicago Tribune waren Meisterwerke, die dem Hochhausbau neue Wege aufzeigten, sich in den jeweiligen Wettbewerben aber nicht durchsetzen konnten. Vordergründig waren es Fehlschläge, weil sie nicht gebaut wurden, aber langfristig waren sie große Erfolge, weil sie anderen den Weg wiesen und von Architekten in aller Welt weiterentwickelt wurden.

Einige der großen Entwürfe haben ein wahres Phantomleben. Zu den auffälligsten Arbeiten des 18.Jahrhunderts gehören zum Beispiel die Pläne für die französische Nationalbibliothek und einen gewaltigen, kugelförmigen Kenotaphen für Isaac Newton von Étienne-Louis Boullée. Sie wurden zwar beide nicht umgesetzt, aber wegen ihrer verblüffenden, rein geometrischen Formen und der schönen Kupferstiche haben sie weitergewirkt – als Symbole der Aufklärung und als Vorläufer der modernen Architektur.

Während Künstler wie Boullée von großen Einzelgebäuden träumten, versuchten sich andere daran, ganze Städte umzugestalten oder gleich von Anfang an neu zu bauen. Die Vorstellung einer idealen Stadt geht zurück bis in die Antike, zu dem griechischen Philosophen Platon. Die Philosophen und Künstler der Renaissance sind seinem Beispiel gefolgt. Dabei zeigte sich, dass gesellschaftliche und politische Vorstellungen ihren Ausdruck früher oder später immer auch in der Architektur finden. Die Hoffnung, man könne die Gesellschaft verbessern, indem man entsprechende Städte baut, führte zu faszinierenden zeichnerischen Konzepten der »Idealstadt«.

Die idealen Städte der Renaissance hatten meist geometrische Formen: ein Quadrat oder Kreis, der umschlossen war von einer Mauer, während die Straßen radial nach außen strebten oder konzentrische Kreise bildeten. Diese Entwürfe waren Reaktionen auf das ungeplante Chaos der mittelalterlichen Städte mit ihren engen Gassen. Sie versuchten Ordnung zu schaffen – eine architektonische Ordnung, die der gewünschten Ordnung in den Herrschaftsverhältnissen und in der Gesellschaft entsprechen sollte. Gleichzeitig sollten praktische Probleme damit gelöst werden – so zum Beispiel in Leonardo da Vincis Stadt auf zwei Ebenen, mit deren Hilfe die Ausbreitung von Seuchen eingedämmt werden sollte.

Pläne, die darauf abzielten, bereits bestehende Städte wie Urbino oder Mailand umzubauen, hatten nur geringe Aussichten, selbst in der Renaissance – die Kosten und der politische Aufruhr wären einfach zu groß gewesen. Die Pläne des 20.Jahrhunderts, um Teile von Paris oder Barcelona neu zu bauen, hätten noch mehr Einschnitte in bestehende Strukturen und ein noch größeres Budget gefordert. Doch nach den Zerstörungen des 2. Weltkriegs, als die gewachsenen Städte in Schutt und Asche lagen, schienen Konzepte wie Le Corbusiers »Ville Radieuse« plötzlich sehr attraktiv. Allerdings waren die meisten Dinge, die dann tatsächlich gebaut wurden, weitaus weniger durchdacht als die Entwürfe von Le Corbusier. Seine Epigonen bauten corbusianische Wohnblocks, die äußerlich so ähnlich aussahen wie Corbusiers »Unités d’Habitation«, aber weder genügend Grünflächen hatten, noch den Gemeinschaftsgedanken verwirklichen konnten, der seinen Konzepten zugrunde lag.

Die hier versammelten Entwürfe waren keineswegs nur Träumereien. Oft genug sollten die Architekten in einer Krise nach Lösungen suchen, und oft genug hatten sie dafür wenig Zeit. Die Ausbreitung der Pest und anderer Seuchen seit der Renaissance, das unvorhergesehene Wachstum der Städte im 19.Jahrhundert, der Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg – all diese Situationen verlangten nach Antworten. Und diese Antworten waren oft überraschend: Wegen der Verkehrsstaus im viktorianischen London erfand der Ingenieur Joseph Paxton den Great Victorian Way, eine Kombination von Einkaufspassage, Wohnbau und Eisenbahn, die 18 Kilometer um das Stadtzentrum herumführen sollte.

Manche Bauten – zum Beispiel Denkmäler oder Triumphbögen – haben vor allem symbolischen Wert. Sie sollen Macht und Bedeutung symbolisieren, während der praktische Nutzen in den Hintergrund tritt. Der französische Architekt Charles François Ribart wollte am Ende der Champs-Élysées ein Gebäude in Form eines begehbaren Elefanten errichten, um König Ludwig XV. damit ein Denkmal zu setzen. Eine absurde Idee, aber irgendwie auch rührend und historisch sehr interessant. Auch der riesige Turm aus Stahl und Glas, den der russische Bildhauer Wladimir Tatlin nach der Oktoberrevolution in Petrograd für die III. Internationale errichten wollte, war vor allem ein gewaltiges Symbol. Das Bauwerk hätte mit den damaligen Mitteln gar nicht realisiert werden können, aber die Bolschewiken trugen die Modelle des Turms vor sich her wie eine Monstranz.

Ein Grund, warum die ungebauten Entwürfe fortleben, ist oft die Qualität und Schönheit der Zeichnungen oder Modelle. Von den expressionistischen Bleistiftskizzen Erich Mendelsohns bis zu den wunderbaren Tuschzeichnungen und farbigen Bildern von Zaha Hadid findet man immer wieder Entwürfe von traumhafter Schönheit. Im Gegensatz zu den präzisen, detaillierten Grundrissen und Plänen anderer Architekten zwingen sie uns, ganz genau hinzusehen, ehe sie ihre Geheimnisse preisgeben. Andere sind zwar sachlicher, üben aber trotzdem eine starke Faszination aus. Frank Lloyd Wrights über sechs Meter hohe Vision eines 1600 Meter hohen Wolkenkratzers in Chicago oder Karl Friedrich Schinkels elegant kolorierte Illustrationen eines königlichen Palasts auf der Akropolis sind so glanzvoll, dass sie uns von solchen Gebäuden fast überzeugen könnten. Für das Denken des 21.Jahrhunderts ist die Vorstellung eher schockierend, neben das Parthenon einen Palast des 19.Jahrhunderts zu stellen oder in der Innenstadt von Chicago einen 1600 Meter hohen Monsterturm zu errichten. Aber die Zeichnungen sind so attraktiv, dass man fast geneigt ist, der Unvernunft nachzugeben.

Manche dieser Phantomgebäude sind Höhepunkte persönlichen Schaffens, andere sind entscheidende Schritte in der Entwicklung eines Architekten oder der Architekturgeschichte. Manche hatten großen Einfluss auf andere Architekten, manche sind nur charmante Kuriositäten. Die meisten sind vor allem deswegen interessant, weil sie eine bestimmte Richtung anzeigen. Ein berühmtes, vielleicht auch berüchtigtes Beispiel ist die gewaltige Kuppel, die Richard Buckminster Fuller in den 60er-Jahren über Manhattan errichten wollte. Einen solchen großen Bereich von New York in dieser Art abzudecken, erklärte Fuller, würde Energie und Wasser sparen. Und wenn sie anderswo eingesetzt würden, könnten geodätische Kuppeln es möglich machen, auch ungastliche Teile des Planeten bewohnbar zu machen. Fuller wusste, dass er keine Chance hatte, eine Kuppel über New York zu bauen. Aber er hielt es für sinnvoll, das Projekt vorzustellen, weil es uns weiterbrachte. Es zeigte den Weg zu einer leichteren, energieeffizienten Bauweise, und das schon Jahrzehnte, ehe die Probleme so dringend wurden wie heute.

Die Entwürfe in diesem Buch sind aus den verschiedensten Gründen interessant. Es handelt sich um die Lieblingsprojekte von Herrschern und Stadträten; um Versuche von Architekten und Planern, uns eine bessere Lebensweise zu zeigen; um Reaktionen auf drängende Fragen; um Ansätze, die traditionellen Vorstellungen auf den Kopf zu stellen und unserem Denken eine neue Richtung zu geben. Sie alle verdienen unsere kritische Aufmerksamkeit.

KAPITEL 1IDEALE WELTEN

Wie sollte sie aussehen, die ideale Stadt? Wie würde die perfekte Gemeinschaft leben?

Im Mittelalter suchten die Menschen die Antwort im Glauben. Der Inbegriff einer christlichen Gemeinschaft war das Kloster, und eine perfekte Kathedrale war das Bild des Himmels auf Erden. In der Renaissance mit ihren machtbewussten Fürsten und klassisch gebildeten Künstlern und Baumeistern orientierte man sich an der Antike, um Paläste, Straßen und Plätze von herrschaftlicher Eleganz zu schaffen. Die Idealstädte wurden zwar selten oder nie gebaut, aber wenn es etwas zu erneuern galt, wusste man, was man wollte.

Diejenigen, die diese Ideale schufen und zu Papier brachten, waren keine Architekten, wie wir sie heute kennen. Der Beruf des Architekten, der eine spezielle Ausbildung durchlaufen hatte, um Häuser, Kirchen oder Paläste zu bauen, entwickelte sich erst allmählich. Vor dem 15. und 16.Jahrhundert waren die Baumeister oft noch besonders begabte Steinmetze, Handwerker, Ingenieure, Maler und Zeichner oder auch Dichter und Philosophen. Den Klosterplan von St.Gallen hat wahrscheinlich ein Mönch gezeichnet. Der Mann, der für den Herzog von Urbino eine ideale Stadt entwarf, war ein Maler. Leonardo da Vinci, der für den Herzog von Mailand eine Stadt entwarf, beherrschte alle Künste vom Ölgemälde bis zur Konstruktion von Kriegsmaschinen.

Obwohl sie aus längst vergangenen Zeiten kommen, berühren uns diese Entwürfe noch heute. Von der kargen Schlichtheit der mittelalterlichen Klöster bis zum herrschaftlichen Machtanspruch der Renaissancekonzepte, von der halb fertigen Kathedrale von Beauvais und dem Klosterplan von St. Gallen über das erstaunliche Gemälde von Urbino bis zu Leonardos Skizzen rufen sie vergangene Zeiten und Ideale ins Leben zurück und lassen niemanden los, der sie einmal gesehen hat.

ST. GALLEN, SCHWEIZ

DER ST. GALLER KLOSTERPLAN

ca. 820

Ein ideales Benediktinerkloster

Hässlich, brutal und kurz – so stellen wir uns das Leben vor tausend Jahren vor. Für die meisten gab es keine schulische Ausbildung, die Arbeit begann bereits in der Kindheit und war ebenso qualvoll wie mühsam, die Wohnung war eine zugige Hütte ohne fließendes Wasser, künstliches Licht und sanitäre Anlagen; die Gesundheitsversorgung war minimal. Für eine Bevölkerungsgruppe allerdings gab es ein besseres Leben: Mönche und Nonnen beteten und arbeiteten fleißig, aber ihre Lebensumstände waren überraschend komfortabel. Nach heutigen Maßstäben waren die Klöster kalt und spartanisch, doch viele hatten sauberes fließendes Wasser, passable Toiletten und die beste verfügbare Gesundheitsfürsorge. Mönche konnten schreiben und lesen, und das auch bei Kerzenlicht. Nach damaligen Maßstäben lebten sie in guten Verhältnissen.

Wie das ideale Kloster hätte aussehen können, zeigt ein erstaunlicher Plan aus dem 9.Jahrhundert. Es ist ein großes Dokument von 112 × 77,5 Zentimetern und besteht aus fünf zusammengenähten Pergamentblättern. Dargestellt ist der Grundriss eines großen, gut ausgestatteten Benediktinerklosters. Darauf sind die Kirche und alle anderen Gebäude erkennbar, die notwendig sind, um eine autarke Gemeinschaft von bis zu 110 Mönchen, zweihundert Hilfskräften und etwaigen Gästen zu beherbergen und zu ernähren.

Die Klosterkirche wird auf dem Plan mit gerundeten Enden dargestellt. Allerdings befindet sich im Westen ein quadratischer Vorplatz mit Portikus, und neben dem halbkreisförmigen Umgang stehen mit etwas Abstand zwei runde Glockentürme.

Der große, auf Pergament gezeichnete Klosterplan (mit der Kirche in der Mitte der oberen Hälfte) umfasst etwa vierzig Gebäude. Jedes davon – von der Brauerei bis zur Krankenstation– wird einzeln bezeichnet.

Das Dokument wird als »St.Galler Klosterplan« bezeichnet, weil es in der Klosterbibliothek von St.Gallen aufbewahrt wird. Es ist die einzige bedeutende Architekturzeichnung, die zwischen dem Ende des Weströmischen Reiches im 5.Jahrhundert und der zweiten Hälfte des 13.Jahrhunderts überlebt hat. Der Zeichner, der sie entworfen hat, scheint an alles gedacht zu haben. Die Bedürfnisse der zum Kloster gehörigen Landwirtschaft wurden genauso berücksichtigt wie die Werkstätten der Schreiner und anderer Handwerker. Kurze Anmerkungen auf dem Plan bezeichnen die Bauwerke, aber auch den Kräutergarten oder die Obstbäume. Wenn man genauer hinschaut, sieht man, wie wohlüberlegt alles ist. Über fünfzig Gebäude sind in Reihen angeordnet. Das Haus des Abts hat einen direkten Zugang zur Kirche. Die Unterkünfte der Knechte und Diener befinden sich in bequemer Nähe der Werkstätten und Wirtschaftsgebäude. Manche Teile des Klosters hatten sogar eine Fußbodenheizung, die dem Hypokaustum der Römer entsprach. Es gibt, am Rand des ummauerten Geländes, auch genügend Latrinen und Müllkippen.

Entstanden ist der Plan im Kloster Reichenau auf der gleichnamigen Insel im Bodensee und wurde von dort an Abt Gozbert geschickt, der von 816 bis 837 Vorsteher des damaligen Benediktinerklosters St.Gallen war. Zu welchem Zweck der Plan aufgestellt wurde, ist nicht ganz klar. Die vermutlich im Maßstab 1:160 dargestellte, großzügige Anlage passt nicht recht auf das Gelände des damals schon hundert Jahre alten Klosters St.Gallen. Historiker vermuten deshalb, dass es sich um den Idealplan eines Klosters handelt, das sowohl Gozbert als auch Abt Haito von der Reichenau gern gebaut hätten, wenn sie die entsprechenden Mittel gehabt hätten. Das Pergament trägt jedenfalls eine Inschrift, die nahelegt, dass es nicht um einen konkreten Bauplan für neue Gebäude, sondern um Andacht und Studium ging: »Dir, mein liebster Sohn Gozbert, schicke ich diesen mit kurzen Bemerkungen versehenen Grundriss von Klostergebäuden, an dem du deinen Erfindungsgeist üben und auch meine Hingabe erkennen magst.« Diese Widmung legt nahe, dass der Absender dem Empfänger mit seinem Plan keine Vorschriften machen wollte und dieser auch nur für seine Augen bestimmt war.

De facto beschränkte sich Gozbert bei seiner Bautätigkeit auf die Kirche seines Klosters, die er 830 abreißen ließ und durch einen Neubau ersetzte, der im 17.Jahrhundert seinerseits durch einen Neubau ersetzt wurde. Grabungen haben ergeben, dass die von Gozbert gebaute Kirche weder in den Dimensionen noch im Entwurf dem entsprach, was der »Klosterplan« vorsah.

Diese Zeichnung von Ernest Born aus dem Jahr 1982 zeigt, wie das Innere der Kirche ausgesehen haben könnte. Am östlichen Ende des Kirchenschiffs steht das Grabmal des hl.Gallus.

Der Klosterplan von St.Gallen ist in zweierlei Hinsicht exemplarisch: zum einen, weil er so umfassend ist und alle wichtigen Gebäude zeigt, und zum anderen, weil er die neuesten klösterlichen Konzepte verkörpert. Die mittelalterlichen Mönche lebten fast ausschließlich innerhalb der Klostermauern. Ihr Leben wurde (zumindest in der Theorie und oft auch in der Praxis) von ihren religiösen Idealen bestimmt. Der Klosterplan spiegelt diese Ideale, aber auch die Reformen, die damals eingeführt wurden, zum Beispiel die Laienbrüder im Kloster selbst wohnen zu lassen statt außerhalb. Er enthält Hinweise auf konkrete, in St.Gallen wichtige Gegebenheiten, insbesondere das Gallusgrab, während die getrennt vom Hauptgebäude stehenden Glockentürme der Kirche auf einen Ursprung des Plans im Süden der Alpen hinweisen.

Der kalifornische Architekt Ernest Born und der aus Deutschland stammende Kunsthistoriker Walter W. Horn haben 1979 ein dreibändiges Werk veröffentlicht, in dem sie beschreiben, wie das Kloster ausgesehen haben könnte. Der Stil ist romanisch mit dicken Feldsteinmauern, kleinen Fenstern, halbrunden Bögen und runden Türmen mit kegelförmigen Hauben. Das Innere, so vermuten sie, wäre schlicht gewesen, aber die Säulen in der Kirche hätten vielleicht steinerne Bild- oder Blattkapitelle gehabt.

Im 21.Jahrhundert entschlossen sich deutsche Archäologen und Denkmalpfleger, den St.Galler Klosterplan mit über tausendjähriger Verspätung in die Tat umzusetzen. Seit 2012 wird etwa vier Kilometer nördlich von Messkirch mit historischen Materialien und Techniken auf dem »Campus Galli« eine karolingische Klosteranlage errichtet, die dem St.Galler Klosterplan in allen Einzelheiten entsprechen soll. Man rechnet mit einer Bauzeit von vierzig Jahren. Im April 2017 konnten Besucher eine erste hölzerne Kapelle und eine Scheune besichtigen. Dieses Beispiel experimenteller Archäologie trägt zur Erforschung mittelalterlicher Bautechniken bei und lehrt die Teilnehmer, mit welchen Schwierigkeiten ihre Vorgänger vor tausend Jahren zu kämpfen hatten. Aber vor allem ist es natürlich ein Zeugnis für die anhaltende Wirkung des Klosterplans von St.Gallen.

BEAUVAIS, FRANKREICH

KATHEDRALE VON BEAUVAIS

1225

Die ultimative gotische Kathedrale: Saint-Pierre

Im 13.Jahrhundert gab es eine Art Wettlauf zwischen den französischen Bischöfen um die höchste und eleganteste Kathedrale. Das Motiv dabei war religiöser Natur. Die Geistlichen des Mittelalters sahen ihre Kirchen als Abbild des Reiches Gottes auf Erden. Deshalb sollten die Kathedralen immer weiter zum Himmel hinaufreichen und immer größere farbige Glasfenster haben, die das Innere mit himmlischem Licht erfüllten. Notre-Dame in Paris wurde zwischen 1163 und 1345 erbaut und setzte mit einer lichten Höhe von 34 Metern den Standard. Dann folgten eine Reihe von Kathedralen (Chartres, Bourges und Reims), die eine lichte Höhe von 37 Metern erreichten und schließlich Amiens, dessen Kathedrale eine verblüffende Deckenhöhe von 42,3 Metern erreichte. Aber einer, Graf Milon de Nanteuil, der 1217 zum Bischof von Beauvais und Pair de France gewählt worden war, wollte noch höher hinaus. 1225 begann er mit dem Bau einer Kathedrale, deren Inneres 47,8 Meter hoch werden sollte.

Dieses Ziel war äußerst ehrgeizig, denn die großen Kreuzgewölbe einer mittelalterlichen Kathedrale hatten ein gewaltiges Gewicht. Wenn man ein schweres Gewölbe mit immer größeren Fenstern und immer schmaleren Pfeilern zu kombinieren versucht, entsteht ein Problem: Es gibt kaum noch tragende Wände, die das Gewicht des Gewölbes aufnehmen könnten. Das Gewicht der Decke drückt die Pfeiler nach außen, bis sie zusammenbrechen. Die Antwort der gotischen Architektur waren Stützpfeiler oder, besser gesagt: ein ganzes System von Strebepfeilern und -bögen. Der Druck des Gewölbes und der Winddruck wurden durch »fliegende Streben« zum Fundament abgelenkt. Ein Skelett von Kreuzgewölben, Spitzbögen, schlanken Pfeilern und Streben hielt das Gebäude zusammen, das in großen Teilen aus farbigem Glas bestand. Diese luftige Bauweise sollte Beauvais zur größten aller gotischen Kathedralen machen.

Wenn man im Chor der Kathedrale zum Kreuzgewölbe hinaufschaut, blickt man in eine schwindelnde Höhe von strahlendem Licht. Aber was hält dieses Wunder von Licht und Farbe zusammen?

Der Anlass für Milons ehrgeizige Pläne war ein Brand. In den mittelalterlichen Städten mit ihren hölzernen Häusern kam es häufig zu großen Bränden, und der Brand des Jahres 1225 war nicht der erste, der die alte Kathedrale beschädigt hatte. Der Ostteil wurde abgerissen, während ein Teil des Hauptschiffs als Notlösung abgeteilt wurde, damit auch während der Bauzeit Gottesdienste stattfinden konnten.

1272 war der neue Chor fertig. Irgendwann hatten die Erbauer beschlossen, dass ihre neue Kathedrale nicht nur den höchsten, sondern auch den hellsten Innenraum in ganz Europa haben sollte. Die Zeitgenossen, die noch nie einen so hohen umbauten Raum und so schimmernde gläserne Wände gesehen hatten, müssen von diesem Wunder geblendet gewesen sein. Doch der Triumph war nur kurzlebig. 1284, zwölf Jahre nach seiner Vollendung, stürzte ein Teil des Chors wieder ein, vielleicht weil die Bögen bei starkem Wind zu vibrieren begannen. Eine Wiederaufbau-Kampagne begann, und das Gewölbe wurde mit zusätzlichen Rippen und Pfeilern verstärkt. Dennoch war ein Wendepunkt erreicht. Die Kathedralen, die in den nächsten 200 Jahren gebaut wurden, waren alle nicht mehr so hoch, was aber auch damit zu tun haben kann, dass der Hundertjährige Krieg die Finanzkraft der Bauherren einschränkte. Kein mittelalterlicher Baumeister versuchte jedenfalls, den Höhenrekord der Kathedrale von Beauvais zu übertreffen.

Vollendet wurde nur der Chor. Er blieb allein stehen, bis im 16.Jahrhundert ein neuer Anlauf unternommen wurde. In diesem zweiten Bauabschnitt ging es um das Querschiff, das mit 48,5 Metern sogar noch höher war als der Chor, und den darüber geplanten Vierungsturm, der die stolze Höhe von 153 Meter erreichen sollte. 1569 war dieser Bauabschnitt vollendet, und für knapp vier Jahre war die Kathedrale von Beauvais das höchste christliche Gebäude der Welt. Dann stürzte der Turm ein: Kurz nachdem die Christi-Himmelfahrts-Prozession am 17. April 1573 die Kirche verlassen hatte, brachen die Stützpfeiler weg. In den nächsten fünf Jahren wurden die schweren Schäden am Chor und Querschiff beseitigt, das Gewölbe über der Vierung geschlossen und eine provisorische Wand an der westlichen Seite des Bauwerks errichtet. Die Geldmittel waren damit erschöpft, und im Jahrhundert der Renaissance war auch niemand mehr sonderlich interessiert, eine gotische Kathedrale zu Ende zu bauen. Das Langhaus wurde nie errichtet. An seiner Stelle stehen jetzt noch immer die Überreste der alten, niedrigen Kirche aus dem 10.Jahrhundert.

Der halb fertige Bau war von Anfang an sehr zerbrechlich. Irgendwann, möglicherweise nach dem ersten Einsturz im Jahre 1284, wurde deshalb weit oben ein Ring von eisernen Klammern um das Gebäude gezogen, um die Pfeiler und äußeren Streben zusammenzuhalten. Als diese im 20.Jahrhundert aus ästhetischen Gründen entfernt wurden, begann das Gebäude erneut im Wind zu vibrieren, und die eisernen wurden eilig durch stählerne Klammern ersetzt.

Die mittelalterlichen Baumeister hatten immense Erfahrung, die in Jahrhunderten gewachsen war, vor allem zwischen 1160 und 1260, als sie die kühnsten Kathedralen bauten. Zum Teil durch Berechnung, aber auch durch Versuch und Irrtum sammelten sie Kenntnisse über Statik, die besten Gewölbe und die besten Winkel der Streben. Sie wussten, wie dünn die Mauern und wie schlank die Stützpfeiler werden durften. Trotzdem versuchten sie, die Grenzen immer weiter hinauszuschieben, die umbauten Räume noch höher und die farbigen Fenster noch größer zu machen. Die Kathedrale von Beauvais bildete einen Endpunkt, sie zeigte, wie weit man mit behauenen, sorgfältig im Gleichgewicht gehaltenen Steinen gehen konnte. Heute ist die Kathedrale immer noch ein Triumph – der sowohl die kühne Schönheit als auch die Zerbrechlichkeit der gotischen Architektur demonstriert.

Ein großer Teil des hier im Querschnitt gezeigten Mauerwerks wird von den massiven Strebepfeilern gebildet, die das filigrane Kirchenschiff von außen stützen. Über dem Steingewölbe des Kirchenschiffs erhebt sich ein aus Balken gezimmerter Dachstuhl, der das Gebäude noch höher macht.

MAILAND, ITALIEN

SFORZINDA

Antonio di Pietro Averlino, ca. 1450

Die Rückkehr des Goldenen Zeitalters

Viele Menschen sehnen sich nach der guten alten Zeit, jener sagenhaften Epoche in der Vergangenheit, als die Menschen noch ehrlich und unschuldig waren, als die Könige und Regierungen gerecht herrschten, Menschen und Tiere in Harmonie lebten, als niemand arm und alle nur glücklich waren und immer die Sonne schien. Diese ideale Welt kann viele Formen annehmen, vom Garten Eden bis zu einer historischen Zeit, in der das Leben angeblich besser und schöner war. Die alten Griechen und Römer hatten den Mythos vom »Goldenen Zeitalter«, als »die Menschen sorglos wie Götter lebten«, wie der Dichter Hesiod sagte.

Als sie die Kultur der Antike wiederentdeckten, stießen die Dichter und Künstler des 15. und 16.Jahrhunderts auch auf das »Goldene Zeitalter«. Die Italiener der Renaissance lebten in Stadtstaaten wie Florenz und Siena, Orten von großem Wohlstand und hoher Kultur, die aber auch von Korruption, Krankheit und Kriegen geprägt waren. Die Herrschenden umgaben sich mit herrlichen Kunstwerken, aber diese Schönheit ging nicht immer mit einer makellosen Lebensführung einher. Eine Methode, mit der die Italiener der Renaissance das Goldene Zeitalter zurückrufen wollten, bestand darin, dass sie ideale Städte entwarfen, deren harmonische Architektur ein Abbild gerechter Herrschaft sein sollte.

Dieser von gemeißelten Figuren gestützte Obelisk zeigt den kunstvollen Stil Filaretes.

Am 25. März 1450 war der Condottiere Francesco Sforza in Mailand im Triumph einmarschiert. Er übernahm die Herzogswürde und begründete eine Dynastie, die achtzig Jahre lang herrschte. Sein wichtigster Architekt und Ingenieur wurde Antonio di Pietro Averlino (ca. 1400–1469), der sich wegen seiner hohen Ansprüche an seine Arbeit »Filarete« (Freund der Tugend) nannte. Filarete stammte aus Florenz und kam nach einer erfolgreichen Karriere in Rom und anderen Städten nach Mailand. Er baute das Ospedale Maggiore und arbeitete an der Erneuerung der großen Festung (Castello Sforzesco), von der aus der Herzog die Stadt regierte. Vor allem aber schrieb er zwischen 1460 und 1464 einen Trattato d’architettura, den er Piero de Medici widmete. Darin wird in Form eines allegorischen Romans die Geschichte der Architektur und schließlich eine ideale Stadt beschrieben, die zu Ehren des Mailänder Herzogs den Namen »Szforzinda« trägt. Dabei tritt die Zeichnung gleichberechtigt neben die verbale Beschreibung der Bauwerke und wird auch selbst zum wesentlichen Bestandteil der Erörterung und Belehrung. Diese Neuerung ist ein wichtiger Schritt gegenüber dem Mittelalter: Mit der Einführung von Bauplänen ist es möglich, einen Bau auch ohne persönliche Anwesenheit des Architekten voranzutreiben.

Filaretes Manuskript ist mit zahlreichen architektonischen Randillustrationen geschmückt.

Filarete berichtet nicht nur von den fiktiven Ursprüngen dieser Stadt, sondern beschreibt auch detailliert ihren Grundriss und ihre Gebäude: Die Stadtmauern bilden einen achteckigen Stern, der von einem kreisrunden Graben umgeben ist. Zur Verteidigung steht jeweils an den Spitzen des Achtecks ein Wehrturm, der die Mauern und die acht Tore beschützt, die sich an den Innenwinkeln des Achtecks befinden. Die Tore öffnen sich auf acht Hauptstraßen, die schnurgerade zum Zentrum der Stadt führen wie die Speichen eines Rades. Im Zentrum der Stadt liegen der Hauptmarkt mit öffentlicher Wasserversorgung, der herzogliche Palast und die Kathedrale.

Filarete nennt, zum Teil ohne genaue Ortsangabe, weitere detailliert beschriebene und gezeichnete Bauwerke: ein großes Kastell, dessen pagodenähnlicher Turm eine Höhe von 365 Fuß und 365 Fenster hat, für Jungen und Mädchen getrennte Schulen und ein zehnstöckiges »Haus der Tugend und des Lasters«, in dem es unten ein Bordell und oben eine Akademie mit einer Sternwarte gibt. Der Reichtum der italienischen Städte beruhte auf Handel und Handwerk, deshalb wird ihnen in Sforzinda besondere Aufmerksamkeit gewidmet: Auf dem halben Weg ins Zentrum findet sich auf jeder der acht Hauptstraßen ein quadratischer Marktplatz. Außerdem zweigt aus dem nahe gelegenen Fluss ein Kanalsystem ab, das nicht nur den Stadtgraben speist, sondern auch die Beförderung der Waren entlang der Straßen erleichtern soll.

Sternförmige Befestigungen wie für »Sforzinda« waren typisch für die Stadtplanung der Renaissance. Sie waren sowohl architektonisch als auch militärisch von Vorteil.

Um den Ursprung der Stadt zu erklären, gibt Filarete ihr einen fiktiven Ahnherrn. Bei Bauarbeiten, so erzählt er, habe man einen Schrein in der Erde gefunden, der ein goldenes Buch enthielt. Dieses Buch habe ein König namens Zogalia geschrieben, der vor langer Zeit Herrscher einer Stadt namens Plusiapolis war. Er habe die Befürchtung, schreibt Zogalia, dass seine Stadt bald in die Hände der Barbaren fallen werde, deshalb wolle er der Nachwelt von ihren Bauwerken und ihren Errungenschaften berichten. So stellt Filarete einen Zusammenhang mit der Antike her und weckt die Hoffnung, dass Francesco Sforza Mailand wieder ins Goldene Zeitalter führen und mit einer weisen Regierung beglücken werde. Eine solche Huldigung war in der Renaissance immer eine gute Idee; denn ohne einen hochgestellten Gönner konnten die Künstler kaum etwas erreichen.

Auch die anderen symbolischen Bezüge waren für die Zeitgenossen recht offensichtlich: Der sternförmige Grundriss hatte acht Zacken, acht Tore, acht Ausfallstraßen, die vom Mittelpunkt ausstrahlen, und acht Marktplätze. Die Sternform wird durch zwei übereinandergelegte Quadrate erzeugt, deren vier Ecken vielleicht auf die vier Elemente (Erde, Luft, Feuer und Wasser) und die vier Primärqualitäten (warm, kalt, trocken und feucht) nach der Lehre des Aristoteles hindeuten. Diese Konzepte werden in der Renaissance häufig zitiert und haben das damalige Weltverständnis geprägt.

Filaretes Konzept war aber kein bloßes Spiel mit Symbolen. Huldigung und konkretes Projekt waren eng miteinander verquickt: So errechnet der Hofastrologe in seinem Traktat auch einen idealen Zeitpunkt für die Grundsteinlegung der neuen Stadt: 15.April 1460, 10 Uhr 20. Es handelt sich, wie Berthold Hub ermittelt hat, um den Moment, in dem die Sonne ins erste Zeichen des Tierkreises tritt: Aries. Nach Ansicht der damaligen Gelehrten war das die Konstellation, in deren Zeichen Gott mit der Schöpfung der Welt begann.

URBINO, ITALIEN

DIE TAFELN VON URBINO

Francesco di Giorgio Martini (zugeschrieben), ca. 1480

Die ideale Stadt der Renaissance

Als die Künstler, Gelehrten und Dichter der Renaissance die Antike wiederentdeckten, veränderte das die Kultur ganz Europas. Die Malerei von Piero della Francesca und Botticelli, die Skulpturen eines Donatello und die wissenschaftlichen Erfindungen und Entdeckungen eines Leonardo da Vinci wurden jetzt möglich. Auch in der Baukunst kam es zu einer Revolution. Die gotischen Spitzbögen verschwanden und wurden durch klassische Formen ersetzt. Aber diese Veränderungen fanden in überbevölkerten, chaotischen mittelalterlichen Städten mit engen, gewundenen Gassen und Gebäuden statt, die im Lauf der Jahrhunderte willkürlich umgebaut worden waren. Nachdem sie die Kunst und Architektur der Antike wiederentdeckt hatten, wollten die Künstler und Baumeister mehr. Ihre Städte sollten so großartig wie das antike Rom sein und alle Vorzüge der damaligen und der heutigen Zeit in sich vereinigen.

Von den drei Tafelbildern einer idealen Stadt ist das in Urbino am eindrucksvollsten. Die raffinierten Töne des Mauerwerks, die harmonischen Variationen der Gebäude im klassischen Stil und das geometrische Muster des Pflasters ergänzen sich zu einem abwechslungsreichen und ausgewogenen Bild.

Aber wie hätte die vollkommene Stadt des 15.Jahrhunderts genau ausgesehen? Drei Gemälde aus der Zeit um 1480 geben die Antwort. Sie zeigen Idealstädte in kulissenhafter, streng perspektivischer Darstellung und gehören zu den rätselhaftesten Werken der Renaissance. Niemand weiß genau, wer sie gemalt hat, woher sie stammen und welchem Zweck sie gedient haben. Zwei der Bilder hängen heute in Baltimore und Berlin, das dritte befindet sich im Herzogspalast in Urbino, weshalb sie als »Tafeln von Urbino« bekannt sind.

Der Condottiere Federico da Montefeltro (1422–1482), der sich durch erfolgreiche Feldzüge und eine geschickte Schaukelpolitik von 1444 bis zu seinem Tod im Jahre 1482 als Herzog von Urbino behaupten konnte, begann 1468 mit dem Neubau seiner fürstlichen Residenz. Zu seinen Interessen gehörten auch Stadtplanung und Architektur. In seinem »Studiolo« (einem Privatgemach, in dem er nur seine engsten Freunde empfing) sind die Wände mit prächtigen Einlegearbeiten verziert, die zum Teil auch Themen der Architektur behandeln. Federico hätte die drei Tafeln zu schätzen gewusst, und der große Triumphbogen, der im Mittelpunkt des Bildes in Baltimore steht, erinnert vielleicht an seine militärischen Siege.

Die Gemälde wurden verschiedenen Künstlern zugeschrieben, darunter Piero della Francesca, Luciano Laurana, Melozzo da Forlì, Fra Carnevale und Francesco di Giorgio Martini (1439–1501), einem Architekten und Künstler, der Befestigungsanlagen für Federico entworfen hat. Martini war ein praktischer Baumeister, der sich für sternförmige Festungen mit Dreiecks-Bastionen starkmachte, eine Form der Befestigung, die im 16. und 17.Jahrhundert besonders geschätzt wurde. Seine Trattati di architettura, ingegneria e arte militaria enthalten die Pläne idealer Festungen und befestigter Städte. (Darunter findet sich auch ein spektakulärer achteckiger Grundriss für eine auf einem Berg gelegene Stadt, deren Hauptstraße in Form einer Spirale zum Zentrum ansteigt.)

All diese Pläne sind im Gedanken an Harmonie entstanden und weisen Elemente von Symmetrie auf. Auch die Städte auf den Tafeln sind sehr harmonisch geordnet. Die Gebäude auf beiden Seiten der Plätze sind symmetrisch in den Proportionen, aber nicht etwa spiegelbildlich. Es sind geordnete, aber keine reglementierten Räume. Die Häuser haben klassische Formen, doch jedes hat seine eigene, individuelle Gestalt. Im Zentrum der heute in Urbino befindlichen Tafel steht eine kreisrunde Kirche (ein Tempel, wie man ihn damals in Anlehnung an seine antiken Vorbilder genannt hätte). Der Kreis war der Inbegriff der Vollendung im Mittelalter und in der Renaissance. Die Planeten bewegen sich der damaligen Vorstellung zufolge auf einer Kreisbahn, und jeder Punkt ist vom Mittelpunkt gleich weit entfernt. Die Tür des Gebäudes steht offen, womit angedeutet werden soll, dass man getrost in das vollkommene Innere eintreten kann.

Die Gemälde zeigen urbane, von Architekten geschaffene Räume; die Außenwelt und die Natur treten ganz in den Hintergrund. Die Baltimore-Tafel zeigt weit im Hintergrund ein befestigtes Stadttor und dahinter, kaum angedeutet, eine bläuliche Bergsilhouette, die zumindest nicht ausschließt, dass diese Stadt tatsächlich Urbino sein könnte. Auch auf den beiden anderen Tafeln erkennt man erst weit hinter den Häusern Hügel und Bäume. Die Berliner Tafel zeigt allerdings eine Hafenstadt, die offensichtlich an einer Bucht liegt.

Das Bemerkenswerteste an den drei Tafeln ist das starke Raumgefühl. Das hat zum Teil damit zu tun, dass sie nahezu menschenleer sind – nur die Baltimore-Tafel zeigt ein paar Figuren, aber es ist durchaus möglich, dass sie erst später hinzugefügt wurden. Diese Leere vermittelt eine Atmosphäre der Stille, die den Eindruck der Perfektion noch verstärkt: Die Menschheit mit ihren Problemen wird nicht gebraucht.

Dieses heute in Baltimore befindliche Gemälde einer idealen Stadt wurde ebenso dem Architekten und Künstler Fra Carnevale als auch Martini zugeschrieben.

Gemessen an den realen Städten des 15.Jahrhunderts mit ihren schmalen Straßen, eng aneinandergebauten Häusern und wimmelnden Märkten, ist das Raumgefühl der drei Tafeln großartig. Den Fürsten der Renaissance hat das sicher gefallen: Wer solche Räume schaffen konnte, musste sehr mächtig sein. Und wer sie dann der Öffentlichkeit zur Verfügung stellte, war obendrein großzügig. So ist es nicht weiter erstaunlich, dass die auf den Säulen stehenden allegorischen Figuren auf der Baltimore-Tafel die Gerechtigkeit mit dem Schwert und die Großzügigkeit mit dem Füllhorn darstellen. So erinnerten die Bilder den Herzog von Urbino auch an seine Rolle in der sozialen Gemeinschaft der Stadt.

In der Realität erreichte kein Herrscher der Renaissance so viel Macht, dass er eine Ordnung hätte schaffen können, wie die Tafeln von Urbino sie darstellen. Florenz, Siena und Ferrara mit ihren eleganten Plätzen und monumentalen Palästen kommen dem Idealbild sehr nahe, aber realer Städtebau ist fast immer ein Kompromiss zwischen Vision und alten Gebäuden und Straßen, die nicht einfach abgeräumt werden können. Nur die wenigsten Stadtplaner fangen bei null an. Die eindringlichen, rätselhaften Stadtgemälde von Urbino zeigen, was die Architekten der Renaissance hätten leisten können, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätten.

MAILAND, ITALIEN

EINE STADT AUF ZWEI EBENEN

Leonardo da Vinci, ca. 1490

Leonardos Rezept zur Bekämpfung der Pest

Der großen Pest der Jahre 1346–1353 fiel wahrscheinlich ein Drittel der Europäer zum Opfer. Abgesehen von Polen blieb damals nur Mailand verschont. Aber das war nicht von Dauer. 1359 wurde auch Mailand erfasst, und 1484 kommt es erneut zu einer schweren Epidemie. Als einziges wirksames Mittel bot sich die Flucht an, die allerdings meist zu spät erfolgte. Ludovico Sforza (1452–1508), der damals in Mailand herrschte, zog sich aufs Land zurück und las sogar Briefe erst, nachdem sie von seinen Dienern mit Parfüm »desinfiziert« worden waren.

In der Stadt zurückgeblieben war Leonardo da Vinci (1452–1519), der seit 1482 in den Diensten der Sforza stand und das große Reiterdenkmal von Francesco Sforza entwerfen sollte. Während ein Drittel der Stadtbewohner dahingerafft wurde, füllte Leonardo sein Notizbuch mit Ideen und Skizzen zu den verschiedensten Themen. Nicht nur Kanonen, Belagerungsmaschinen und Flugapparate beschäftigten ihn, sondern auch Stadtplanung und Architektur. Dabei ging es ihm weniger um prächtige Bauten als vielmehr um technische Lösungen für die Probleme der Stadt. Als Naturwissenschaftler und Ingenieur stellte er sich die Frage, wie eine Stadt aussehen müsste, in der Seuchen von vornherein eingedämmt werden konnten.

Das Verständnis der Infektionskrankheiten war im 15.Jahrhundert noch sehr gering. Ein Zusammenhang zwischen Krankheit und Schmutz war zwar offensichtlich, aber die konkreten Krankheitserreger und ihre Übertragungswege waren noch unbekannt. Stattdessen glaubte man bis ins 19.Jahrhundert, dass Krankheiten durch giftige Ausdünstungen aus dem Boden verursacht würden, eine Vorstellung, die bis in die Antike zurückgeht. Hippokrates von Kos (um 460–375 v. Chr.) gilt als Begründer der Lehre von den Miasmen, die mit der Luft fortgetragen werden und zur Ansteckung führen. Auch die üblen Gerüche, die von Tierkot, verrottetem Gemüse und fauligem Fleisch ausgingen, verdächtigte man. Die Pestärzte trugen schnabelähnliche Masken, Handschuhe und weite Mäntel, um sich vor diesen Miasmen zu schützen.

Kuppeln und runde Türme in Leonardos Skizzenbuch. Der Kreis gilt weithin als Symbol für Perfektion.

Auch Leonardo wusste nicht, dass die Pesterreger vor allem von Ratten und Flöhen verbreitet wurden. Aber dass die Toten außerhalb der Städte begraben und die Kranken nach Möglichkeit isoliert wurden, konnte ihm nicht entgangen sein. Er vermutet, die Ursache für die Seuche sei die für die spätmittelalterlichen Städte typische »riesige Ansammlung von Menschen, die so dicht zusammenleben wie Ziegen, jeden Winkel mit ihrem Gestank füllen und damit den Ursprung von Pest und Tod bilden«.

Deshalb skizzierte er eine in mancher Hinsicht durchaus moderne Stadt mit einer besseren Belüftung und einer effizienteren Abfallbeseitigung, was die Entstehung der Miasmen verringern und den Menschen den Kontakt mit faulenden Stoffen ersparen sollte. Die Zeichnungen dazu finden sich in einem Notizbuch, das als Pariser Manuskript B bekannt ist und sich heute im Institut de France in Paris befindet. Obwohl sein Konzept auf falschen Theorien beruhte, ging es doch in die richtige Richtung, denn eine wirksame Abfallbeseitigung vermindert nicht nur die üblen Gerüche, sondern führt auch dazu, dass man die Bakterien loswird, die sie hervorrufen. Leonardo war überzeugt, dass er eine Stadt mit 30