Auch Engel dürfen träumen - Sarah Neumann - E-Book

Auch Engel dürfen träumen E-Book

Sarah Neumann

4,5

Beschreibung

Yumi erwacht im Himmel. Doch ein dunkles Meer versucht, sie zu verschlingen und in unergründliche Tiefen zu ziehen. Auf Geheiß von Erzengel Gabriel muss Yumi ihre Ausbildung abbrechen, auf die Erde zurückkehren und fortan unter den Menschen leben. Verzweifelt sucht sie einen Weg zurück. Taen, ungehorsam und wild, bringt nicht nur die Bewohner der Hölle, sondern auch Luzifer selbst zur Weißglut. Nach einem aus dem Ruder gelaufenen Streich verbannt der zornige Höllenfürst ihn auf die Erde. Taen muss sich als Luzifers Augen und Ohren beweisen, wenn er nicht bis zum jüngsten Tag als entmachteter Mensch sein Dasein fristen will. Erzfeinde seit Anbeginn der Zeit, treffen Engel und Teufel in Menschengestalt aufeinander ... und verlieben sich. Erzürnt stellt sich Gabriel mit all seiner himmlischen Macht zwischen die Liebenden.

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Auch Engel dürfen träumen

eBook Auflage 06/2016

Copyright ©2015 by Eisermann Verlag, Bremen

Printed in Hungary 2016

Umschlaggestaltung: Cover & Books - Buchcoverdesign

Shutterstock.com |140093461

Kapitellogos: F. Riedel

Satz: André Ferreira

Co-Autor: Fabian Schmitz

Lektorat: Christine Hochberger

Korrektur: Myriam Blümel

http://www.Eisermann-Verlag.de

ISBN: 978-3-946172-28-4

Sarah Neumann

Auch engel dürfen träumen

ein Romantik Fantasy Roman

Für meinen großen kleinen Bruder.

1Ankunft im Himmel

Der Himmel. Wie mag er wohl sein? Ein Schloss hoch oben in den Wolken? Der Ort, an dem die Engel backen, wenn die Morgen- und Abendröte erscheint? Da, wo die Nebelschleier sind und alles weiß und rein ist?

Mein Weg durch die dicke Schale war ein ungeheurer Kraftakt. Doch als es mir endlich gelungen war, empfingen mich vier leuchtende Wesen mit saphirblauen Augen.

»Gott hat geheilt«, stellte der Linke fest, während sich ein Zweiter mit den Worten, »Mein Licht ist Gott«, vorstellte und höflich verneigte. Ich ahnte weder, wer, noch was sie waren, aber ich verstand, dass auch mein Licht Gott sein würde – und das schon sehr bald.

Einer von ihnen wandte sich ab, blickte mit einem missbilligenden Blick auf mich herab. Er war der Wer-ist-wie-Gott. Ich konnte es in seiner ganzen Körperhaltung lesen und doch wusste ich nicht, was dies bedeutete.

Warme Hände fassten mich am Handgelenk, halfen mir aus den klebrigen Resten der Eierschale, in der ich gesessen und sie angeblickt hatte. »Meine Stärke ist Gott«, sagte er.

Himmelblau schimmerten seine Augen mir entgegen und ein sanftes Lächeln schmückte seine Lippen. Und ich verstand, dass auch meine Stärke Gott sein würde.

Erst in diesem Moment erblickte ich ihre sagenhaften Schwingen, die weiß und rein bis hoch in den Himmel ragten. Sie zierten ihre Rücken, wirkten äußerst mächtig und … es waren mehr als ein Paar.

In Gedanken an meine Ankunft versunken, saß ich nun auf einer jener Wolken, die Schatten auf die Erde warfen. Ich beobachtete das bunte Treiben dort unten. Die Menschen, die sich jeden Tag aufs Neue durch ihr Leben quälten, von der Zeit manipulieren ließen und gleichzeitig versuchten, so viele Tätigkeiten in den begrenzten Rahmen eines einzigen Tages zu pressen, wie nur irgend möglich.

Seufzend lehnte ich mich zurück in das weiche Weiß und sah in den weiten Himmel über mir. Ich konnte mich nicht an mein früheres Menschenleben erinnern. In dem Moment, als ich mich fragte, ob das so nicht auch besser war, spürte ich eine beruhigende Präsenz neben mir. Ich lächelte.

Er tat es mir gleich. »Genießt du die Aussicht, Yumi?«, erkundigte er sich.

Ich erinnerte mich zurück an die Stunde, in der sie mir diesen Namen gegeben hatten. Sie sagten, es wäre ihnen im Traum vorhergesagt worden, dass ich den Himmel betreten würde und so hatten sie auf mich gewartet. Lange Zeit wäre kein neuer Engel ins Himmelreich gekommen. So schienen sich einige sehr auf meine Ankunft gefreut zu haben.

Yumi … bedeutete Traum. Ich fragte mich, ob ich in einem früheren Leben ebenfalls so geheißen hatte. Ob meine Eltern in mir auch einen Traum gesehen und mich nach ihm benannt haben mochten?

Er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und holte mich sanft aus der Gedankenwelt zurück. Daraufhin hielt er mir seine Hand entgegen. Ich ließ mir verlegen aufhelfen.

»Yumi. Es ist noch ein weiter Weg, ein vollwertiger Engel zu werden«, sagte er, daran erinnernd, welche Aufgabe mir zuteilgeworden war. Sie hatten mich in die Ausbildung zum Engel geschickt. Ich durfte nach und nach die verschiedenen Pflichten kennenlernen.

Wenn ich gerade so darüber nachdachte, waren mir bisher keine weiteren Engel außer den Vieren begegnet. Dabei weilte ich schon fast sieben Tage hier. Dies war doch der Himmel, oder etwa nicht? Wo sollten sich die himmlischen Heerscharen sonst aufhalten, wenn nicht hier? »Gabriel. Wo sind all die anderen Engel? Leben sie denn nicht im Himmel?«

Nur einen Augenblick erschien ein trübsinniger Ausdruck in seinen weichen Zügen, ehe er sich in ein sanftes Lächeln wandelte. »Sie sind bei der Arbeit. Aber sie freuen sich, bald von dir unterstützt zu werden.«

Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich mir diesen traurigen Gesichtsausdruck nur eingebildet hatte. Seine Stimme schien wie immer – freundlich und ruhig. »Komm, Yumi. Ich will dich zu deiner ersten Aufgabe begleiten. Du sollst erfahren, woher die Morgen- und Abendröte wirklich kommt.«

Ich nickte und folgte ihm schweigend. Würde ich nun die Bäckerei der Engel kennenlernen, die für Weihnachten die Plätzchen backten? Oder war das auch nur wieder ein Märchen der Menschen, das sich um den Himmel und seine Farben rankte?

Es dauerte ein wenig, ehe es auf der Erde Abend wurde und die Abendröte den Horizont in ihre abenteuerliche Farbenpracht tauchte. Während die Dunkelheit das Himmelreich zu ergreifen versuchte, um die Nacht einzuläuten, erblickte ich vor uns ein tiefes Loch im Wolkenboden, das bedrohlich glühte.

»Dies, Yumi, ist der persönliche Eingang Luzifers, der direkt hinab ins Höllenreich führt.«

Ich spürte, wie eine brennende Hitze durch die Wolkenschichten zog und sie flammend rot zeichnete. Ein donnerndes Grollen stieg aus seinem Innern zu uns herauf und ein beklemmendes Gefühl zog meine Lungen zusammen. Wieso besaß ein gefallener Engel einen eigenen Zugang in den Himmel?

»Dein erster Auftrag besteht darin, dieses Tor zwei Tage lang zu bewachen. Es darf niemand herein oder hinaus, ohne die Einwilligung eines Erzengels oder die persönliche Ermächtigung Gottes«, sagte er, als handelte es sich dabei um eine der üblichsten Aufgaben, und wandte sich zum Gehen. Kein Engel in Sicht, den ich hätte unterstützen, ablösen oder um Rat fragen können. Was sollte ich tun, wenn wirklich jemand das Tor passieren würde?

Eine unergründliche Angst, nicht allein an diesem Ort bleiben zu wollen, durchfuhr meine Glieder. Mein Körper reagierte wie von selbst. So griffen meine Finger nach der weißen Robe, hielten sie zitternd fest.

Gabriel drehte sich um und sah Tränen, die unaufhaltsam und still über mein Gesicht liefen. Er legte mir seine Hand sanft an die Wange und strich sie hinfort, ahnte er doch, sollte er es wirklich von mir verlangen, dass ich es ohne Widerwillen tun würde.

»Meeresblau. Solche kristallklaren Augen können wahrlich nur Engel besitzen«, flüsterte er.

Für den Bruchteil eines Augenblicks bemerkte ich jenen untröstlichen Gesichtsausdruck. Ich hatte ihn mir nicht nur eingebildet.

»Vielleicht«, sagte er und griff nach meinem Handgelenk, »ist der Auftrag verfrüht. Ich werde dich stattdessen zu Amor schicken. Du sollst lernen, was Liebe ist, und sie den Menschen schenken. Würde dir diese Aufgabe gefallen, Yumi?«

Ich nickte heftig.

Gabriel entließ meine Hand und ging voraus.

Als ich ihm folgen durfte, spürte ich, je weiter ich mich vom Höllentor entfernte, eine große Erleichterung. Die Angst schwand mit jedem Meter. Was hatte mich nur so in Panik versetzt?

2Der letzte Tag im Abyss

Bis jetzt war eigentlich alles ganz gut gelaufen. Ich hatte immer die Freiheit, zu tun, was ich wollte, und die nötige Macht, diese zu verteidigen. In den vermeintlich endlosen Weiten der Hölle war ich nicht grundlos als Freigeist und Störenfried bekannt. Im Grunde konnte man es den alten Teufeln mit ihren verstaubten und archaischen Ansichten nicht verübeln. Zu oft schon hatte ich ihnen ins Gesicht gelacht und sie gedemütigt. Es war vielleicht auch nicht so gut gewesen, den Zerberus von der Leine zu lassen. Dieser kleine Vorfall hatte unzähligen niederen Wesen ihr unheiliges Leben gekostet. Aber es hatte mir Freude bereitet, zu sehen, wie jeder der Alten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und verzweifelt versucht hatte, ihren Wachhund einzufangen. Es war nun mal leichter, eine Höllenbestie zu entfesseln, als sie in den Kreisen der Hölle zu suchen und wieder an die Leine zu legen.

Ich gebe zu, es war auch dumm von mir, zu glauben, dass ich ungeschoren davonkommen würde. Aber wer hätte schon ahnen können, dass der Zerberus gerade im Palast eines Dämons besonders heftig wütete, der dem Höllenfürsten persönlich als Vertrauter diente? Seine Rasereien waren legendär, vernichtete er doch ganz nebenbei Horden von niederen Teufeln, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. So war es kein Wunder, dass dieses Mal keiner die schützende Hand über mich hielt.

Strafe muss sein. Einer der Leitsprüche der Hölle, dem ich bis jetzt immer durch die mir entgegengebrachte Sympathie einiger mächtiger Teufel zu entgehen gewusst hatte. Aber wie in jeder Familie musste das Oberhaupt sich auch durchsetzen und solchen Umtrieben ein Ende bereiten.

Luzifer persönlich würde über mich richten.

Das war so ungefähr das Schlimmste, was einem Teufel passieren konnte. Der oberste und mächtigste Dämon, den fast nie jemand zu Gesicht bekam, wurde von jedem Engel, Teufelsgeist und gläubigem Menschen zu Recht gefürchtet. Es waren Legenden, die von seinem unheiligen Leben erzählten, und unheimliche Gerüchte, die seine Macht schilderten. Es hieß, er säße auf einem riesigen Thron aus Knochen zahlreicher Engel, die er im Großen Krieg mit bloßen Händen erschlagen hatte.

Die Wahrheit war, wie ich feststellen musste, dagegen geradezu lächerlich. Statt eines Knochenthrons wurde ich in ein gemütliches Bürozimmer geführt. Hinter einem Schreibtisch aus schwarzem Vulkangestein mit feurigen Einschlüssen saß ein gut aussehender, charismatischer Teufel. Er war in seiner Gestalt der eines Menschen nicht unähnlich und ihm fehlte fast alles Diabolische. Kein Pferdefuß, die Hörner kaum sichtbar und keinerlei überdimensionale Körperteile wie muskelbepackte Arme oder dergleichen. Trotzdem besaß seine Aura etwas Unheimliches. Es schien, als könne er allein mit seinem Blick jedes noch so mächtige Wesen über und unter der Erde auf die Knie zwingen. Ich bemühte mich, ihm nicht ins Gesicht zu schauen, und verspürte das erste Mal in meiner Existenz so etwas wie Furcht.

Du bist also Taen Rawen, sagte er mit sonorer Stimme. Ich habe einiges von dir gehört und auch davon, was du hier unten so alles anstellst. Luzifer drehte sich zu seinem Bürofenster und blickte auf den Styx, den Fluss der Seelen. Viele der Alten würden deinem Dasein nur zu gern ein schnelles Ende bereiten, denn du hast ihnen nichts als Ärger eingebracht. Ich stimme dem zu und ließe dich am liebsten sofort zerquetschen und die tiefsten Qualen erleiden.

Es erschauderte mein Innerstes, das zu hören. Nicht, dass ich nicht mit so etwas gerechnet hätte, nein. Aber diesen kalten Stimmklang, so bezaubernd er war und Engel zum Fall brachte, so etwas zu hören, war zutiefst unheimlich. Hätte er getobt und geschrien, wäre ich wahrscheinlich nicht halb so eingeschüchtert.

Mit einem fast freundlich anmutenden Lächeln wandte er sich zu mir um. Taen Rawen, du bist einer der unliebsamsten Störenfriede in meinem Reich, dennoch hast du Freunde. Mächtige Freunde, die dir trotz all deiner Schandtaten wohlgesonnen bleiben. Darum will ich gnädig sein.

Ich musste mich eindeutig verhört haben, konnte es nicht glauben.

Taen Rawen. Deine Strafe wird deiner Taten angemessen sein. Du kommst mit deinem Leben davon. Doch ich beraube dich fast all deiner Macht und verbanne dich aus der Hölle!

»W-Was?«, rutschte es mir heraus. Mir war bisher nicht einmal aufgefallen, dass ich in diesem Gespräch noch gar nichts gesagt hatte, sodass meine Stimme stockte. »H-Herr, was ... meint Ihr mit ... verbannen?«

Du erhältst einen Auftrag. Dazu wirst du auf die Erde geschickt, wirst dich unter die Menschen mischen. Du bekommst einen neuen Körper, um nicht zu sehr aufzufallen. Deine Aufgabe wird sein, meine Augen, meine Ohren und im Notfall auch mein Schwert zu sein.

Das hörte sich für den normalen Teufel nicht wie eine Bestrafung an, deswegen war ich misstrauisch. »Wie lange werde ich dortbleiben müssen?«

Wenn es nötig ist, bis zum Jüngsten Tag.

Das war also die Sanktion: aus der Hölle geworfen und meiner Kraft beraubt in einen Menschenkörper gepresst bis in die Ewigkeit unter den Menschen zu verweilen. Das Problem dabei war, dass Teufel früher oder später den Engeln auffielen, sobald sie auf der Erde tobten. Das Einzige, was noch schlimmer als diese Bestrafung sein konnte, war der Zorn Gottes, wenn man seine Schöpfung vernichtete. Sich bis zum letzten Tag zu verstecken und auch noch zu langweilen, war so ungefähr das Grauenvollste, was ich mir vorstellen mochte.

Aber dem Herrscher der Unterwelt wagte man nicht, zu widersprechen.

»Wie Ihr befehlt, Herr«, sagte ich. Dunkelheit hüllte meinen Körper ein und ich fühlte mich mit einem Mal unendlich schwach.

Auf der Erde ging zu diesem Zeitpunkt die Sonne über New Austin auf und plötzlich erschien ein junger Mann mit Zylinder und Trenchcoat auf der Straße.

3Die Liebe der Menschen

Gabriel hatte mich in die Obhut Amors gegeben, dem Engel, der Gottes Kindern Liebe schenkte. Zumindest erinnerte ich mich dunkel daran, dass sie dies glaubten. Als Gabriel mir Amor jedoch vorstellte, sah ich einen Engel mit schwachen, blass gewordenen Flügeln vor mir. Den Schwingen fehlte es an Federn und sein Gesicht wirkte so müde und alt, dass er sich selbst nach jahrhundertelangem Schlaf nicht vollständig erholt haben dürfte. Wie sollte so ein klappriger Engelsmann den Menschen Liebe schenken können? Ich fragte mich, ob er überhaupt einen Bogen halten, geschweige denn, damit einen Liebespfeil hinunterschießen konnte.

»Yumi«, sprach er mich mit zittriger Stimme an, »Ich freue mich, dass du mir helfen willst, die Liebe Gottes an seine Schützlinge weiterzureichen.«

Er nahm auf einer geformten Wolke Platz und entlastete offenbar den geschundenen Rücken. Ich sah einen Augenblick skeptisch zu Gabriel empor, aber seinem Blick – diesem traurigen, langen Blick – entnahm ich, dass es ihm ernst war. Daraufhin nickte ich Amor bestätigend zu.

»Gebe gut auf sie acht, Amor. Sie ist immer noch mit den Menschen verbunden«, warnte Gabriel.

Ich verstand nicht, was er damit meinte. Doch der Liebesengel verneigte sich nur schweigend vor Gabriel, der einmal kurz über meinen Kopf strich – eine Geste, die mir überaus zärtlich vorkam – und anschließend ging.

Ich fühlte mich einen Augenblick verloren.

Amor ergriff meinen Arm, wodurch ich das Zittern seiner Hände spürte und mich fragte, wieso Engel wohl alterten, wie alt Amor sein mochte und was ihm widerfahren war, dass er so erschöpft wirkte. Schließlich gab es Geschichten von ihm, seit Schriftstücke, Bücher und andere schriftlich verfasste Werke existierten. Bereits weit vor der Zeit, in der die Menschen lesen und schreiben konnten, erzählte man sich davon. Daran erinnerte ich mich noch. Aber es war so verschwommen, als würde in mir alles Menschliche in Vergessenheit geraten, seit ich den Himmel betreten hatte.

»Schau her, mein Kind«, sagte Amor und strich mit der flachen Hand über die Schäfchenwolke unter uns. Ich staunte, als sich der Nebel darin lichtete und wir die Menschen sahen, hautnah, als stünden wir an einer Straßenecke vor ihnen und könnten sie beobachten. Ein Kleinkind, das seiner Mama lachend an den Haaren zupfte. Ein Mädchen, das nervös ihre Bücher fallen ließ, als sie einem Jungen derselben Stufe auf dem Schulflur begegnete. Da war eine Gruppe Männer, die einer Frau in einer Einkaufsstraße nachsahen. Manche pfiffen, andere zeigten ihr Interesse auf weniger auffällige Weise. Einer lächelte sie beinahe hilflos an, während ein weiterer ihr das Taschentuch aufhob. Es war aus der Manteltasche gerutscht, als sie im Gehen gerade nach Kleingeld suchte.

Das war faszinierend. Sie schienen alle so unterschiedlich und schwer zu verstehen. Ich wollte mehr über die Menschen erfahren; und ihre Welt, die ich hatte verlassen müssen. An meinen Tod fehlte mir zwar jede Erinnerung, aber ich mochte das Menschsein nicht einfach vergessen. Nur manchmal spürte ich diesen stechenden Schmerz in mir, von dem ich Gabriel bisher jedoch nichts erzählt hatte.

»Die Liebe«, sagte Amor, »ist ein seltsames Wesen im Menschen. Gott gab sie ihnen, um sie noch wandlungsfähiger zu machen.«

Wandlungsfähiger? Ich dachte nie, dass Gott darauf Wert legen würde. Und ich hätte auch nie gedacht, dass die Liebe ein Menschenwesen derart verändern konnte. Fragend sah ich Amor an.

Doch der erwiderte meinen Blick nur skeptisch. Er erinnerte sich wohl gerade an Gabriels Warnung, ich sei immer noch verbunden.

»Die Liebe«, sagte er, ohne direkt auf meine Frage einzugehen, »wächst in ihnen, jeden Tag und jede Stunde. Diese Geschöpfe können alles lieben. Sie lieben Gemeinsamkeiten und Gegensätze, Menschen wie Tiere. Sie lieben Dinge, die sie erschaffen oder angeschafft haben. Sie sind in der Lage, sich über jede noch so kleine Sache zu freuen und sie lieben es, zu lernen.«

So unterschiedlich war die Liebe also. Man konnte einen Freund lieben, genauso wie den einen, der für dich bestimmt war. Man liebte sein Meerschweinchen, ebenso wie das selbst gebastelte Modellauto.

»Kommen wir zu der Aufgabe meiner Liebespfeile. Ihre Gefühle müssen übereinstimmen, damit es zwischen ihnen etwas wie Liebe oder auch Freundschaft geben kann. Dabei muss der Zweite dasselbe empfinden, zumindest wenn man von der Liebe zwischen Gottes Kindern spricht«, sprach er.

Ich fing an, zu begreifen, wieso er mir das alles erklärte. Ein Tier liebte ein Menschenwesen, sobald er ihm etwas Gutes tat. Ein Welpe etwa schenkte seinem Herrn ein Leben lang bedingungslose Liebe, egal wie grausam er irgendwann einmal werden würde. Er hielt an dem Gedanken fest, wie freundlich er behandelt worden war und dass sein Mensch erneut so sein könnte.

Bei Gottes Kindern war das anders. Das begriff ich. Und ich fragte mich, wie das in meinem Menschenleben gewesen sein mochte. Hatte ich viele Freunde gehabt? Gab es jemanden, in den ich verliebt gewesen war, der auch mich geliebt hatte? Ich erinnerte mich nicht daran. Das schmerzte furchtbar. Wann hörten die stetigen Gedanken an die Menschenwelt und mein früheres Leben wohl auf? Ich wünschte, dass diese Pein in meiner Brust endlich verschwand.

»Die Erde befindet sich in einem Zeitalter, in dem die Liebespfeile kaum noch benötigt werden. Sie sind dazu da, Menschen ineinander zu verlieben. Doch etwas hat sich an ihrem Wesen verändert.« Amors Stimme klang niedergeschlagen. »Früher reichte es aus, wenn ich Mann und Frau einen Pfeil verpasste. Es gab eine Hochzeit, Kinder, und sie lebten gemeinsam ein glückliches Leben. Heute scheinen sich die Bedürfnisse grundlegend geändert zu haben. Viele Paare, die mein Liebespfeil zusammengebracht hat, trennen sich nach einigen Jahren, hinterlassen Kinder, die nur bei einem Elternteil aufwachsen.«

Ich hörte das Bedauern in seiner Stimme. Die Pfeile schienen es den Menschen dieses Jahrhunderts schwerer zu machen, Liebe für ein ihnen vielleicht unbekanntes Kind Gottes zu empfinden. Und wenn sie nicht zueinanderpassten, reichte der normale Liebespfeil einfach nicht aus.

»Gott«, fuhr er betrübt fort, »sagte mir vor geraumer Zeit, dass mein Dienst den Menschen nicht mehr helfe, ihnen nur schade. Ich verstand seine Worte damals nicht und habe daher auch nicht aufgehört, die Menschen mit Pfeilen zusammenzubringen. Als ich die Paare weiter beobachtete, sah ich, dass ich alles nur schlimmer machte. Das ist der Grund, wieso ich nicht länger Liebespfeile herstelle. Die Menschen kommen auch ohne die Dienste der Engel sehr gut zurecht.«

Ich spürte die Enttäuschung, nicht mehr nützlich zu sein für die Menschen, nicht mehr nützlich zu sein für Gott. Denn Gott wollte seinen Geschöpfen niemals schaden.

Ich überlegte, wie ich Amor helfen könnte, und sah mir einen Pfeil an. Eine kraftvolle Magie überzog die Pfeilspitze. »Wie werden Liebespfeile hergestellt?«, fragte ich – die zweite Frage in unserem Gespräch. Diesmal würde er sie mir doch sicher beantworten.

»Dieser Pfeil ist dafür gedacht, um Mann und Frau ineinander zu verlieben und die ewige Liebe in ihnen zu entfachen. Er besteht aus der reinen Liebe, die Gott entworfen hat, aus dem strahlenden Licht des Himmels und dem weichen Wolkenteil einer Regenwolke.«

Ich verstand nicht, wieso man das Licht des Himmels oder einen Teil einer Regenwolke als Bestandteile für einen Liebespfeil verwendete. Aber ich bemerkte, dass die Liebe Gottes in diesem Pfeil steckte. Vielleicht reichte die Liebe allein nicht mehr aus, um die Menschen in diesem Jahrhundert zusammenzuhalten. Sie lebten schließlich deutlich länger, als es damals bei der ursprünglichen Erschaffung der Fall gewesen war.

»Wie ist die Liebe, die Gott geschaffen hat?«, fragte ich.

»Die Liebe ist nichts, das man erklärt. Du musst sie fühlen. Es ist wichtig, dass du verstehst, wie sie funktioniert und was sie ausmacht, Yumi. Ehe du das nicht verinnerlicht hast, kannst du kein Geschöpf mit dem Liebespfeil treffen und es dazu bewegen, sich zu verlieben. Auch nicht, wenn es das Schicksal so wollte«, offenbarte der Liebesengel.

Ich erinnerte mich daran, dass ich Amor helfen sollte, die Menschen zu verlieben. Aber war das sinnvoll, falls es Gottes Kindern wirklich schadete? War das bei allen so?

»Um ihre Vielfältigkeit zu begreifen, sollst du bis zur nächsten Abenddämmerung die Erde beobachten.«

Ich nickte. Den Menschen zusehen, mochte ich sehr.

»Sieh dir ihre Liebe an. Versuche, zu empfinden, was sie fühlen. Versuche, nachzuvollziehen, wieso sie sich in eine Sache oder ein anderes Geschöpf verlieben. Und dann wünsche ich, dass du deinen eigenen Liebespfeil erschaffst, mit den Zutaten, die du für angemessen hältst. So soll deine erste Prüfung lauten.«

Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war, alles verstanden zu haben. Er tat es mir gleich und schob mich beiseite, um seiner Arbeit weiter nachzugehen.

Zurück an meinem Lieblingsplatz auf der Wolke, von der ich die Erde betrachten konnte, wollte ich mir die Menschen etwas genauer ansehen. Doch als ich auf New Austin hinabsah, schliefen die meisten. Ein paar von ihnen irrten noch auf den Straßen umher. Bei ihnen spürte ich keine Liebe. Sie wirkten eher kalt und abweisend. Und so wandte ich meinen Blick ab und kuschelte mich in die weichen Wolken. Der Himmel wurde dunkler, über mir strahlte der helle Mond. Ich lächelte und fiel in einen sehr festen Schlaf.

Es fühlte sich merkwürdig an. Alles um mich war kalt, meine Füße fröstelten und ich spürte, wie die Kälte in meinen Körper kroch. Erschrocken riss ich die Augen auf. Dunkelheit. Ich setzte mich auf, schaute mich um und hörte fernes Wellenrauschen.

Kurz darauf sah ich ein Glitzern vor mir. Wellen kamen auf mich zu. Kaltes Wasser, das an meinen Beinen hochschwappte und wieder zurückfloss. Ich fühlte Sand. Als ich auf meine Hände sehen wollte, bemerkte ich, dass sie vergraben waren. Ich versuchte, sie aus dem grobkörnigen Sand zu ziehen, aber etwas hielt mich fest. Ich zog und zerrte, doch je öfter die Wellen an mir hochschlugen, desto weiter schienen mich Meer und Sand zu verschlingen.

Ich bemerkte das schwarze Leuchten im Meeresinnern. Es war kein Mond am Himmel, kein Stern, alles war tiefschwarz. Meine Brust zog sich vor Angst zusammen, als ich das erste Mal Wasser schluckte. Die nächste Welle schlug auf und das Meerwasser strömte mir in Mund und Nase. Salz brannte in meinen Augen, die Ohren dröhnten. Ich hustete, und ehe ich Luft bekam, erreichte mich die nächste Woge! Der Sand wurde von meinen Händen gespült. Ich dachte, jeden Moment könnte ich wegrennen, gleich wäre ich frei und würde von hier verschwinden. Doch da riss mich eine weitere Welle um, zog mich hinaus auf die See und hinab in die Tiefen des Meeres. Es wurde eiskalt um mich und etwas wurde mir genommen.

Als ich erwachte, war es schon hell. Ich beugte mich nach Luft ringend über die Wolke und starrte hinab auf die Erde. Noch immer brannte das Wasser in meinen Lungen. Die Menschen hetzten bereits durch ihre Welt, bemüht, jede Sekunde mit Tätigkeiten zu füllen. Es hatte sich nichts verändert.

Ich ließ mich zurück auf das weiche Weiß fallen und blickte zur Sonne. Was war das für ein seltsamer Traum gewesen? Und wieso zitterte ich am ganzen Körper? Moment … Ich setzte mich auf und sah an mir hinunter. Meine Kleider waren klitschnass und trieften nur so vor dunklem Dreck.

Es verwirrte mich. Sehr sogar. Wie konnte es sein, dass dieser schreckliche Traum so real war, dass selbst mein Gewand durchnässt wurde? Ich stolperte unbeholfen, und etwas fing mich auf. Ich erkannte diese große, fürsorgliche Hand sofort. Als ich ihn ansah und verlegen lächelte, blickte Gabriel verwunderter auf meine Erscheinung.

»Du hast das Himmelreich verlassen?«, fragte er mit ungewohnt unruhiger Stimme.

Ich wollte verneinen, doch als er meinen Kopf tätschelte, schwieg ich. Eine warme Brise strich über mich hinweg, dann waren meine Kleider rein und trocken.

»Willst du das Himmelreich verlassen, Yumi? Gefällt es dir hier nicht?«

»D-Doch!«, erwiderte ich und suchte nach einer Erklärung, um das Unerklärliche zu erklären. Aber ich fand keine. Niedergeschlagen blickte ich auf den Boden aus reinweißen Wolken und erinnerte mich an die Handbewegung, die Amor gemacht hatte, um mir die Liebe der Menschen zu zeigen. Ich versuchte es.

Gabriel schien erstaunt, als er verstand, was ich bemüht war, zu tun. Nach dem dritten Versuch lichteten sich schließlich die Schleierwolken, aber was zum Vorschein kam, waren keine Bilder, die die Menschenliebe zeigten. Es war das dunkle Meer, das mich in meinem Traum hatte mit sich nehmen wollen. Es verschlug mir augenblicklich die Sprache. Was hatte das zu bedeuten? War es kein Traum gewesen?

Gabriel packte mich grob am Arm und riss mich mit sich. Ich stolperte, aber er zog mich wortlos weiter.

»Wo bringst du mich hin? Ich soll doch die Menschen beobachten.«

»Das hat Zeit!«

»Gabriel, wo bringst du mich hin?«, fragte ich wieder und wieder, bis er stehen blieb, mein Gesicht in seine Hände nahm und mir tief in die Augen sah. Ich sah Furcht in seinem ernsten Blick.

»Weißt du, was das war, was du mir da gezeigt hast, Yumi?«

»Ei-Ein Meer?«

»Das Meer der Dunkelheit!«, betonte Gabriel, als wäre es etwas Bedrohliches. Daraufhin zog er mich ohne weitere Erklärungen wieder mit sich. Ich fragte, was denn das Meer der Dunkelheit sein sollte, doch er antwortete nicht.

Als wir in dem Pavillon aus Wolken und Sonnenstrahlen ankamen, in dem mich die vier Erzengel nach meinem Erwachen empfangen hatten, zog Gabriel mich die Stufen hinauf. Er ging geradewegs zu Uriel, dem Mein-Licht-ist-Gott, und schob mich ihm entgegen. »Wir haben ein ernstzunehmendes Problem!«

4In der Stadt

Da war ich also. Verbannt. Mein anfänglicher Schock war in Wut umgeschlagen. In einem menschlichen Körper gefangen, in der dreckigen Welt voll Sonnenlicht, Tieren und Pflanzen, die mir alle Kraft nahm. Was unterschied mich noch von diesen dummen, äußerst schwachen Menschen? Ich sah aus wie sie, sprach wie sie und war gezwungen, zu leben wie sie, um nicht zu verhungern, zu verdursten oder schlimmer: den Engeln aufzufallen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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