Teenagerschwangerschaften und Lernen - Sarah Neumann - E-Book

Teenagerschwangerschaften und Lernen E-Book

Sarah Neumann

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Beschreibung

Was lernen junge Mütter in und durch ihre Mutterschaft? Vor Allem aber: Warum lernen sie es? Das sind die zentralen Fragen, die in diesem Buch beantwortet werden. Teenagerschwangerschaften scheinen ein modernes Phänomen zu sein. Tatsächlich zeigt die Gebur-tenstatistik in den vergangenen Jahren ein rückläufiges Niveau von Teenagerschwangerschaften. Die mediale Berichterstattung über junge Mütter und ihre Lebenssituation produziert zudem ein oft von Vorurteilen überladenes Bild junger Mütter, das nicht der Realität entspricht. Jugendliche Schwangere und Mütter befinden sich in einer Situation, in der der Wunsch nach Selbst-bestimmung mit den gesellschaftlich generierten Verhaltensanforderungen an junge Mütter in Kon-flikt zu stehen scheint. Die Übernahme der Mutterrolle geschieht weder zufällig noch selbstverständlich. Dem umgangs-sprachlich bezeichneten "Hereinwachsen" gehen differenzierte Lernprozesse voraus. Mithilfe der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie Klaus Holzkamps werden diese Lernprozesse aufgezeigt und Lernbegründungen rekonstruiert. Dieses Buch schafft Verständnis für die Herausforderungen, die sich für schwangere Teenager und junge Mütter ergeben. Die LeserInnen werden angeregt, sich selbst die Frage zu stellen, ob Teena-gerschwangerschaft ausschließlich als Bedrohung zu sehen ist oder aber als Chance für Mutter und Kind.

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Teenagerschwangerschaften und Lernen

Rekonstruktion von Lernprozessen im Kontext Teenagerschwangerschaft auf der Grundlage der Subjektwissenschaftlichen Lerntheorie Klaus Holzkamps

Sarah Neumann

Impressum

E-Book-Ausgabe Juli 2013

© 2013 Fleet Street Press, Oberer Kalbacher Weg 10, 603437 Frankfurt am Main, Deutschland

Kontakt: [email protected]

Covergestaltung: Julia Graff, Weil der Stadt

Bildnachweis Icon: © istockphoto.com/sodafish

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Die Verwertung dieses Textes, insbesondere Vervielfältigung, Sendung, Aufführung, Übersetzung, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Genehmigung durch den Verlag urheberrechtswidrig und nicht gestattet.

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-944479-98-9

Inhaltsverzeichnis

1.

Einleitende Worte

2.

Lebensphase Jugend

2.1

Zwischenbemerkung

2.2

Entwicklung und Ausdehnung

2.3

Psychologische Merkmale der Lebensphase Jugend

2.3.1

Abgrenzung Kindheitsalter – Jugendalter

2.3.2

Entwicklungsaufgaben aus psychologischer Sicht

2.3.3

Abgrenzung Jugendalter – Erwachsenenalter

2.4

Soziologische Merkmale der Lebensphase Jugend

2.4.1

Probleme der Abgrenzung des Kindheitsalters vom Jugendalter

2.4.2

Entwicklungsaufgaben aus soziologischer Sicht

2.4.3

Der fließende Übergang vom Jugendalter in das Erwachsenenalter

2.5

Zwischenbetrachtung

2.6

Exkurs – Eine symbolische Herrschaft

3.

Teenagerschwangerschaften

3.1

Prävalenz

3.2

Risikofaktoren

3.3

Erklärungsansätze

3.3.1

Frühe sexuelle Aktivität und mangelnde Verhütung

3.3.2

Psychologische und soziale Motive

3.4

Ausgang der Schwangerschaft – Entscheidung für das Austragen

3.5

Zwischenbetrachtung

4.

Subjektwissenschaftliche Lerntheorie

4.1

Ausgangspunkt – Noch eine Lerntheorie?

4.2

Subjektive Handlungsbegründungen

4.3

Der Lernbegriff

4.4

Der Übergang von der Handlungsproblematik zur Lernproblematik

4.5

Lernprinzip und Lernmotivation

4.5.1

Expansives Lernen

4.5.2

Defensives Lernen

4.5.3

Zwischenbetrachtung

4.6

Personale Situiertheit

5.

Empirische Untersuchung – Lernen Im Kontext Teenagerschwangerschaft

5.1

Wahl der Methodik – Das narrative Interview

5.2

Exkurs: Bourdieu zu Interviewsituationen

5.3

Herangehensweise und Zugänge

5.4

Ausgangssituation des Interviews

5.5

Reflexion des Interviews

6.

Falldarstellung – Lernprozesse

6.1

Dimensionen des Lernens

6.2

Die neue Rolle – Zwischen Peergroup und Mutter-Sein

6.2.1

Rekonstruktion der Lernbegründungen und des Lernprozesses

6.2.2

Exkurs: Soziale Milieus und Lernen

6.2.3

Perspektivwechsel – Übernahme von Verantwortung

6.3

Der „Mutterinstinkt“

6.4

Lernen und Schule

6.5

Zwischenbetrachtung

7.

Schlussbetrachtung

8.

Literature

9.

Anhang

Über die Autorin

Über Fleet Street Press

Pädagogik und Sozialwissenschaften bei Fleet Street Press

1. Einleitende Worte

Die vorliegende Arbeit beinhaltet eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dimensionen des Lernens im Kontext Teenagerschwangerschaft. Jugendliche Schwangere und Mütter befinden sich in einer Situation, in der ihr Wunsch nach Selbstbestimmungen gesellschaftlich generierten Verhaltensanforderungen an junge Mütter entgegen zu stehen scheint. Im Kontext von adoleszenten Entwicklungsaufgaben bekommt dies eine besondere Tragweite und erfordert ein sensibles Verständnis für die Herausforderungen, die sich schwangeren Teenagern und jungen Müttern in der Jugendphase in ihrer neuen Rolle stellen.

Das zentrale Interesse, das der Beschäftigung mit der Thematik zugrunde liegt, ist, wie junge Mütter diese Herausforderungen bewältigen und welche Lernprozesse bei der Übernahme der (neuen) Mutterrolle stattfinden. Der Fokus der Betrachtung liegt dabei darauf, welche subjektiven Begründungen diesen Prozessen unterliegen.

Die Fragestellung entwickelte sich mehr prozesshaft denn konkret. Zunächst lag das Interesse der Betrachtung auf der Analyse von Bildungserfahrungen junger Mütter in institutionellen Lehrkontexten. Wenngleich dieser Aspekt in der vorliegenden Arbeit Aufmerksamkeit erfährt, verlagerte sich der Schwerpunkt meines Interesses und somit der Schwerpunkt der thematischen Auseinandersetzung hin zu den Lernprozessen, die nicht institutionengebunden sind.

Um einen Zugang zu dem Forschungsgegenstand zu erlangen, war es unerlässlich, mit einer jungen Mutter zu sprechen, die mir von ihren Erfahrungen berichtete. In einem Interview teilte eine junge Frau ihre Erfahrungen mit mir, deren Auswertung das wesentliche Moment dieser Arbeit darstellt.

Um jedoch ein erweitertes Verständnis für die Bedeutungszusammenhänge einer jungen Mutter zu erlangen, geht dem interpretativen Teil dieser Arbeit eine umfassende theoretische Auseinandersetzung auf unterschiedlichen Ebenen voraus.

Eingangs werden dem Leser und der Leserin in Kapitel 2 wesentliche Aspekte in Zusammenhang mit der Entstehung und Ausdehnung der Jugendphase dargelegt. Die Beschreibung psychologischer und soziologischer Merkmale der Lebensphase Jugend stellt die Grundlage für ein erweitertes Verständnis von Bedeutungs- und Begründungszusammenhängen im gesamten Kontext der Arbeit dar. Es folgt die Darlegung wesentlicher aktueller Daten und Erkenntnisse in Zusammenhang von Teenagerschwangerschaften in Kapitel 3. Statistische Daten und Ergebnisse aus empirischen Untersuchungen werden dargestellt. Dabei wird Wert auf eine differenzierte Betrachtung von Kausalzusammenhängen gelegt, die in der einschlägigen Literatur zu diesem Thema oft bemängelt werden muss.

Um dem Leser und der Leserin eine Grundlage für die Betrachtung der im zweiten Teildargelegten Interpretationen des Interviews zu ermöglichen, wird in Kapitel 4 zunächst ein Einblick in die subjektwissenschaftliche Lerntheorie KLAUS HOLZKAMPs, dem Begründer der Kritischen Psychologie, vorgenommen. Dabei werden wesentliche, im Kontext dieser Arbeit relevante Elemente dargestellt. HOLZKAMP liefert mit dem Konzept der expansiven und defensiven Lernbegründungen ein analytisches Instrument zur Erschließung und Rekonstruktion subjektiver Begründungszusammenhänge. Somit erlangt die Theorie in Zusammenhang mit dem Forschungsgegenstand große Bedeutung.

In Kapitel 5 erfolgt die Darlegung und Reflexion der methodischen Herangehensweise unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung des narrativen Interviews für Befragungssituationen. Eine reflexive Betrachtung des Interviews, das im Rahmen dieser Arbeit stattgefunden hat, wird die Schwierigkeiten im Rahmen von qualitativen Interviews aufzeigen.

Die bis zu diesem Punkt erlangten Erkenntnisse werden in Kapitel 6 systematisch zusammengeführt. Ausgehend von dem Interview werden Lernprozesse herausgearbeitet und analysiert. In diesem Zusammenhang werden die Bedeutung, aber auch die Grenzen der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie aufgezeigt.

Schließlich erfolgt eine Reflexion deraus den vorangegangenen Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse in Form einer Schlussbetrachtung (Kapitel 7). Dabei wird eine Bilanzierung vorgenommen und auf die Relevanz des Dargelegten für professionelle Handlungskontexteverwiesen.

In meinen Ausführungen bemühe ich mich um eine einheitliche, geschlechtergerechte Schreibform. Soweit möglich, werden allgemeinhaltende Begriffe verwendet, welche für alle Geschlechtsformen gültig sind und sie mit einbeziehen.

2. Lebensphase Jugend

Die Jugend als Lebensphase lässt sich nicht nach rein biologischen Faktoren definieren. Neben biologischen beeinflussen kulturelle, wirtschaftliche und generationsbezogene Aspekte die Ausdehnung und das Profil der Jugendphase maßgeblich (vgl. HURRELMANN, 13). Resultierend aus einem Geburtenrückgang kann einerseits ein zahlenmäßiges Schrumpfen der jugendlichen Bevölkerung verzeichnet werden, andererseits, wird aber eine Ausdehnung dieser Lebensphase festgestellt.

Der Anteil der unter 20-jährigen liegt heute bei ca. 20 Prozent (vgl. HURRELMANN, 14). Die demographische Entwicklung verändert jedoch nicht nur zahlenmäßig die Zusammensetzung der Bevölkerung, sondern hat in Zusammenhang mit kulturellen und wirtschaftlichen Veränderungen eine erhebliche Auswirkung auf die Gestaltung und Strukturierung von Lebensphasen. Durch eine Verlängerung der Lebensdauer generell entstehen neue Phasen, wie etwa die des „Hohe[n] Alter[s]“ (HURRELMANN, 16, Einf. d. A.). Mitbedingt durch die längere Lebensdauer komme es infolge kultureller und wirtschaftlicher Veränderungen zu einer sich verschiebenden Unterteilung der Lebensspanne in einzelne Phasen und Abschnitte, die jeweils von einer Eigendynamik und relativer Eigenständigkeit gekennzeichnet seien (vgl. ebd.). Die Lebensphase Jugend“ hat sich, wie gezeigt werden wird, seit 1900 in schnellen Schritten immer weiter ausgedehnt und nimmt mittlerweile aufgrund ihrer Länge und ihrer biografischen Bedeutung eine besondere Schlüsselstellung im Lebenslauf ein. Die Entwicklung und Ausdehnung der Lebensphase Jugend sowie ihre damit einhergehende gesteigerte Bedeutung sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

2.1 Zwischenbemerkung

An dieser Stelle soll zunächst kurz erläutert werden, welche Personengruppe im Rahmen dieser Arbeit angesprochen wird, wenn von „Teenagern“ die Rede ist.

Der Begriff „Teenager“ stammt aus dem Englischen und findet seinen Ursprung im Amerika der 1930er Jahre. Er lässt sich in zwei Teile aufgliedern: „teen“ und „age“ und bezog sich zunächst auf die Personengruppe im Alter (engl.: age) von 13 (thirteen) bis 19 (nineteen). Im heutigen Sprachgebrauch dient der Begriff jedoch nicht ausschließlich der Bezeichnung einer bestimmten Altersgruppe, sondern stellt vielmehr ein Synonym für Menschen in der Jugendphase bzw. Adoleszenz dar. Unternimmt man den Versuch, diese Lebensphase zu konkretisieren, sie ein- oder abzugrenzen und zu beschreiben, muss man feststellen, dass dies im Sinne einer universell gültigen Definition oder der Festlegung von Altersgrenzen nicht möglich ist. Es gilt, verschiedene Faktoren und unterschiedliche Blickwinkel zu berücksichtigen. Um eine konkretere Vorstellung von der „Lebensphase Jugend“, ihrer Funktion und Bedeutung zu bekommen, soll im Folgenden ein knapper Überblick zunächst über die Entwicklung der Jugendphase und im Anschluss daran eine Charakterisierung derselben unter psychologischen und soziologischen Gesichtspunkten vorgenommen werden.

2.2 Entwicklung und Ausdehnung

In der vorindustriellen Gesellschaft gab es noch keine Unterscheidung bzw. Abgrenzung zwischen der Lebensphase Kindheit und der Lebensphase Erwachsenenalter. In überwiegend landwirtschaftlich geprägten Familien herrschte eine größtenteils einheitliche Organisationsform in der Alltagsgestaltung von Kindern und Erwachsenen. Junge und alte Menschen lebten gemeinsam in Mehrgenerationenhaushalten, teilten gleiche Aufgaben und Beschäftigungen im Tagesablauf und hatten darüberhinaus ähnlich strukturierte soziale Kontakte. Das Kind wurde gewissermaßen als „Miniaturausgabe eines Erwachsenen“ (HURRELMANN, 20) gesehen.

Mit der Industrialisierung etwa ab 1850 zogen sich die Handlungsbereiche von Kindern und Erwachsenen durch das „Aufkommen von außerhäuslichen Produktionsbereichen“ (ebd.) auseinander. Die Erwachsenen, die nun einer Beschäftigung nachgingen, bauten soziale, politische und freizeitgeprägte Beziehungen um den außerfamiliären Arbeitsplatz herum auf und schufen so die entscheidende Grundlage für die Konstitution einer gesonderten Lebenssphäre für Kinder. Zumindest in städtischen Regionen bildete sich ein neues soziales und pädagogisches Verständnis für das „Kindsein“ (ebd.) heraus. Sie wurden nun nicht mehr als kleine Erwachsene angesehen, sondern als noch nicht erwachsene Menschen, die sich in einer eigenen, besondere pädagogische und psychologische Verhaltensansprüche stellenden Lebensphase befinden, der noch nicht alle Handlungsmöglichkeiten und Teilnahmerechte der Erwachsenen zugesprochen werden können (vgl. ebd.).

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die beruflichen Anforderungen so komplex, dass fortan eine gezielte Ausbildung zur Ausübung der Berufe notwendig wurde. Durch den verpflichtenden Besuch eines allgemeinen Schulwesens wurde die soziale Differenzierung der Generationen unterstützt. Etwa ab 1950 wurden die beruflichen Vorbereitungen ausschließlich von gesellschaftlich organisierten, eigens zu diesem Zweck eingerichteten Organisationen außerhalb der Familie, übernommen. Zunächst verschob sich nur in den bürgerlichen sozialen Schichten der Zeitpunkt des Übergangs in das Erwachsenenleben über die Pubertät hinaus, wodurch sich die Jugendphase als neue Phase im Lebenslauf herausdifferenzierte (vgl. ebd.). Stellte die Jugendphase zwischen 1900 und 1950 zunächst noch eine sehr kurze Phase im Lebenslauf dar (mit einer durchschnittlichen Spanne von etwa fünf Jahren zwischen Eintritt in die Geschlechtsreife und Eintritt in den Beruf und Gründung einer Familie), erfährt sie heute nicht mehr nur als Phase mit Übergangscharakter, sondern als eigenständige Lebensphase mit einer Dauer von mindestens zehn, in immer mehr Fällen 15 bis 20 Jahren hohe Bedeutung (vgl. HURRELMANN, 21).

Die Gründe für diese Entwicklung sind in der technologischen Entwicklung und der damit einhergehenden Ausdifferenzierung des Berufssektors zu finden. Die Jugendphase konstituierte sich zu einer Zeit, in der der Schwierigkeitsgrad von Berufen stieg und es Zeit in Anspruch nahm, sich für deren Ausübung zu qualifizieren. Das Recht zur Ausübung von Erwerbstätigkeiten wurde an das Durchlaufen bestimmter Bildungs- und Ausbildungsschritte gebunden. Dem gesellschaftlichen Nachwuchs wurde die als notwendig erachtete Entwicklungs- und Reifezeit zugestanden (vgl. ebd.).

Die Lebensphase Jugend war zunächst ein historisches Produkt des Bürgertums, das wohlhabend genug war, um die längere Vorbereitungszeit auf das Berufsleben zu unterstützen. Es forcierte überdies das idealisierte Bild von Jugend als „einer psychosozialen Reifezeit in Abschirmung von der beruflichen Ernstsituation des Erwachsenenlebens“ (ebd.). Angehörige der Arbeiterschichten und bäuerliche Familien stiegen Schritt um Schritt im Zuge von Industrialisierung und gesellschaftlicher Modernisierung in die Lebensphase Jugend ein (vgl. ebd.). Die Herausbildung der Jugendphase wurde durch die Erweiterung der allgemeinen Schulpflicht beschleunigt, durch die ein „Minimum an Jugend“ (HURRELMANN, 22) für alle Bevölkerungsgruppen garantiert werden konnte. Die Jugendzeit wurde nun vollständig durch den Schulbesuch geprägt. Schicht- und geschlechtsspezifische Unterschiede drückten sich nicht weiter allein über das Faktum des Schulbesuches aus, sondern über die Art der Schule mit den jeweils mit ihr verbundenen, spezifischen Zukunftsperspektiven für Beruf und Lebenschancen aus. In den Gesellschaften des industrialisierten Westens ist, seit den 1950er Jahren auf diese Weise Jugend zu einer allgemeingesellschaftlichen Kategorie geworden (vgl. ebd.).

Im Vorfeld wurde mehrmals von ökonomischen und kulturellen Faktoren als relevant in Zusammenhang mit der Konstitution „Jugend“ gesprochen. Warum aber spielen diese Faktoren genau eine Rolle und was ist ihre Bedeutung?

Wie beschrieben führten im Wesentlichen sozial- und berufspolitische Gründe zur Etablierung des allgemeinen Schulwesens bzw. des beruflichen Ausbildungssystems. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dies überwiegend durch arbeitsmarktpolitische Impulse überlagert. Durch Rationalisierungs- und Technisierungsprozesse sank der Bedarf an Arbeitsplätzen in den traditionellen Industrien. Auch eine erhöhte Nachfrage im neuen Dienstleistungssektor konnte diese Entwicklung nicht ausgleichen. Darüberhinaus überforderten geburtenstarke Jahrgänge die Aufnahmekapazität des Erwerbssektors (vgl. HURRELMANN, 22). Dies führte insbesondere seit den 1980er Jahrgängen dazu, die schulische, berufliche und auch akademische Ausbildung immer weiter zu verlängern. Die potentiellen Arbeitskräfte sollten solange wie möglich im „Erziehungssystem“ (ebd.) gehalten und vom zahlenmäßig überlasteten Berufssystem ferngehalten werden. Das Bildungssystem entwickelte sich in diesem Zusammenhang zu einem „biographischen Warteraum“ (ebd.) auf dem Weg zum Erwachsenenalter.

Im Bereich der biologischen Faktoren ist im Besonderen die Vorverlagerung der Sexualreife zu benennen. Diese führt zu einem früheren Eintritt in die Jugendphase einerseits, aber auch zu einer Verkürzung der Kindheitsphase andererseits (vgl. ebd.).

Auch aus soziostrukturellen und kulturellen Gründen hat sich die Lebensphase „Jugend“ etabliert und als biographisch wichtiger Abschnitt herausgebildet. Jugendliche haben heute einerseits keine vollen gesellschaftlichen Bürgerrechte und –pflichten, weil sie sich noch in der Bildungs- und Ausbildungsphase befinden. Andererseits bestehe für sie jedoch die Möglichkeit, in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere im Konsumwarenmarkt, Freizeit- und Mediensektor, sowie in sozialen Beziehungen vollwertig zu partizipieren (vgl. HURRELMANN, 23).

Soziostrukturell gesehen bleibt Jugendlichen nach HURRELMANN keine andere Möglichkeit, „als sich mit den vorgegebenen gesellschaftlichen Bedingungen produktiv zu arrangieren“ (HURRELMANN, 23). Der Aufschub des Übergangs in das Erwachsenenalter, der gesellschaftlich erzwungen wird, führt zu einer „strukturellen Solidarisierung der Angehörigen der Lebensphase Jugend und erleichtert kollektive Artikulationsmöglichkeiten“ (vgl. ebd.).

Die also durch soziale und arbeitsmarktpolitische Faktoren künstlich in die Länge gezogene Jugendphase wirdvon der Generation der Erwachsenen oft als Zeit des Moratoriums, „des zwecklosen Verweilens in der Gesellschaft ohne feste Perspektive und ohne Verantwortung wahrgenommen“ (ebd.). Dies ist die Grundlage für klischeehafte und stereotype Vorurteile gegenüber Jugendlichen (vgl. ebd.), mit folgenden Auswirkungen:

•  Jugendliche werden als unmündig und unreif empfunden. Ihre starke Hinwendung zu Freizeit- und Konsumaktivitäten werde als Verfall von Arbeitsleistung empfunden. Geringes politisches Engagement werde von der Erwachsenengeneration als Abwendung von der Gesellschaft gedeutet (vgl. ebd.).

•  Jugendlichen wird im gesellschaftlichen Gefüge ein nur marginaler Stellenwert zugesprochen. Sie repräsentieren den Lebensabschnitt, in dem die „Hormone verrückt spielen“ (ebd.) und Wertorientierungen und soziale Haltungen unberechenbare Dynamiken annehmen können. Dies bedient das Klischee des unreifen und unfertigen Jugendlichen (vgl. HURRELMANN, 24).

•  Stereotypische Einstellungen entsteheninsbesondere durch jugendtypische Verhaltensweisen wie Aggressivität, Fremdenfeindlichkeit oder Drogenkonsum, nach HURRELMANN sind das „Resultate der problematischen und ungesicherten Lebenssituation“ (ebd.). Von Erwachsenen wird dies aber hauptsächlich als ein „Indiz für die unverantwortliche Entwicklung der Angehörigen der jungen Generation“ (ebd.) gewertet.

2.3 Psychologische Merkmale der Lebensphase Jugend

In den vorangegangenen Ausführungen wurde gezeigt, dass sich die Lebensphase Jugend in einem lang anhaltenden Entwicklungsprozess nicht nur etabliert, sondern aufgrund von gesellschaftlichen Entwicklungen ausgedehnt hat. In den folgenden Kapiteln sollen psychologische Aspekte betrachtet werden, die dafür sprechen, die Lebensphase Jugend als eigenständige Phase im Lebenslauf eines Menschen zu betrachten. Dies erfolgt in chronologischer Form. Es werden die Abgrenzung zwischen Kindheits- und Jugendalter, im weiteren Verlauf spezifische Entwicklungsaufgaben aus psychologischer Sicht und schließlich die Abgrenzung zwischen Jugendalter und Erwachsenenalter betrachtet.

2.3.1 Abgrenzung Kindheitsalter – Jugendalter

In Zusammenhang mit der Abgrenzung von Kindheitsalter und Jugendalter ist als wohl wichtigster Gesichtspunkt das Eintreten in die Geschlechtsreife, die Pubertät, zu nennen. Sie stellt einen tief greifenden Einschnitt in der Persönlichkeitsentwicklung dar, da eine andere Form der Verarbeitung von körperlichen, psychischen und Umweltanforderungen eintritt. Es entsteht ein abruptes Ungleichgewicht zwischen körperlicher Entwicklung und psychischer Dynamik der Persönlichkeit. Veränderungen auf anatomischer, physiologischer und hormonaler Ebene haben Auswirkungen auf die seelische und soziale Ebene (vgl. HURRELMANN, 26). Nach HURRELMANN ist eine „Neuprogrammierung“ (ebd.) von psychologischen, physiologischen und sozialen Regulierungs- und Bewältigungsmustern von Nöten, um auf veränderte innere und äußere Bedingungen reagieren zu können (vgl. ebd.).

Eine Bewältigung der unterschiedlichen, an die Jugendlichen gestellten Anforderungen ist in der Jugendzeit, im Gegensatz zum Kindheitsalter, nur durch Ablösung von den primären Bezugspersonen und einer autonomen Organisation der Persönlichkeit möglich. Denn erst nach der beginnenden psychosozialen Abgrenzung von den Eltern sind eigenständig entwickelte Bewältigungsmechanismen die Voraussetzung für die Steuerung des persönlichen Entwicklungsprozesses (vgl. HURRELMANN, 26).

2.3.2 Entwicklungsaufgaben aus psychologischer Sicht

Ein Begriff, der sich in der Entwicklungspsychologie etabliert hat, ist der der Entwicklungsaufgaben. Diese bezeichnen die Umsetzung von körperlichen, psychischen, sozialen und ökologischen Anforderungen in individuelle Verhaltensprogramme. Sie charakterisieren psychisch und sozial vorgegebene Erwartungen und Anforderungen an Personen in einem bestimmten Lebensabschnitt und definieren gleichzeitig für jedes Individuum die vorgegebenen Anpassungs- und Bewältigungsschritte (vgl. HURRELMANN, 26f.). Die Fähigkeiten zur Bewältigung von Lebensanforderungen müssen dynamisch entwickelt werden, wobei sich die (frühe) Bewältigung von bestimmten Entwicklungsaufgaben auf die erfolgreiche Auseinandersetzung mit anderen (späteren) Entwicklungsaufgaben auswirke (HURRELMANN, 26f. in Anlehnung an HAVINGHURST 1956, 1982).

HURRELMANN beschreibt Entwicklungsaufgaben in vier zentralen Bereichen des Jugendalters:

1.  Die Entwicklung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz, als Grundlage für eine eigenverantwortliche Bewältigung von schulischen und später beruflichen Anforderungen. Das Ziel ist, die Voraussetzung für die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit und somit eine eigene ökonomische Basis für eine selbständige Existenz als Erwachsener zu schaffen (vgl. HURRELMANN, 27).

2.  Die Entwicklung eines inneren Bildes von der Geschlechtszugehörigkeit, wozu gehört, die veränderte körperliche Erscheinung zu akzeptieren, soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen und eine Partnerbeziehung aufzubauen, die die potentielle Basis für eine spätere Familiengründung bilden könnte (vgl. HURRELMANN, 27f.).

3.  Die Entwicklung selbständiger Handlungsmuster für die Nutzung des Konsumwarenmarktes (Medien eingeschlossen). Dies bildet die Grundlage für die Entwicklung eines eigenen Lebensstils und eines „kontrollierten und bedürfnisorientierten Umgang[s] mit den ‚Freizeit‘- Angeboten“ (HURRELMANN, 28 Einf. d.A.).

4.  Die Entwicklung eines Werte- und Normsystems und eines ethischen und politischen Bewusstseins bildet über das entsprechend konforme Handeln und Verhalten die Grundlage für die verantwortliche Übernahme „gesellschaftlicher Partizipationsrollen als Bürger im kulturellen und politischen Raum“ (ebd.).

Zusammengefasst kommt es hinsichtlich der Entwicklungsanforderungen und deren Bewältigung zum ersten Mal im Lebenslauf zu einer Herausbildung einer bewussten bzw. bewusstseinsfähigen Entwicklung eines Selbstbildes. „Die Jugendphase ist damit ein Lebensabschnitt, der gegenüber der Kindheitsphase einen deutlichen qualitativen Sprung in der Dynamik der Persönlichkeitsentwicklung aufweist“ (ebd.).

2.3.3 Abgrenzung Jugendalter – Erwachsenenalter

HURRELMANN zufolge kann man grundsätzlich dann davon sprechen, dass der Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter vollzogen ist, wenn die oben beschriebenen Entwicklungsaufgaben bewältigt wurden und somit die Fähigkeit zur Selbstbestimmung des Individuums eine Verantwortlichkeit erreicht, andererseits aber auch eine Verantwortlichkeit gegenüber den Bedürfnissen anderer Menschen gegeben ist (vgl. HURRELMANN, 28f.). Die „unruhige Such- und Tastphase“ (HURRELMANN, 29), die für Entwicklungen im Jugendalter charakteristisch ist, findet ein vorläufiges Ende (ebd. in Anlehnung an HAMBURG 1980). Dieser „Reifungsprozess“ (HURRELMANN, 29 in Anlehnung an ERIKSON 1981) ist Voraussetzung für den Eintritt in das Erwachsenenalter und für die soziale Anerkennung als Erwachsener.

Ein markantes Kennzeichen für das vorläufige Stadium der persönlichen Stabilität ist die psychische und soziale Ablösung von den Eltern. Ein daraus resultierendes, neues, auf Gleichberechtigung basierendes Verhältnis ist Voraussetzung für einen stabilen Partnerkontakt (vgl. ebd.).

Es muss jedoch angemerkt werden, dass die Abgrenzung zwischen Jugend-und Erwachsenenalter aufgrund der Komplexität der Merkmale deutlich schwieriger ist, als die Abgrenzung zwischen Kindheits- und Jugendalter. Die Grenzen sind fließender und es ist nicht möglich, eine für alle Menschen gültige Schwelle zum Passieren festzulegen. Im Gegensatz zum Übergang vom Kindes- in das Jugendalter könne kein an das biologische Alter gekoppelter Zeitpunkt, wie etwa die Pubertät angegeben werden (vgl. ebd.). Nach traditionell verbreiteten Vorstellungen soll nach HURRELMANN der Übergang zwischen 18 und 21 Jahren liegen. Aber aufgrund von soziostrukturellen Faktoren, wie sie oben beschrieben wurden, benötigt ein großer Teil der Jugendlichen mehr Zeit für die Bewältigung von den sich im Jugendalter stellenden Entwicklungsaufgaben (vgl. FEND, 413).