Auf Abwegen - Werner Gloss - E-Book

Auf Abwegen E-Book

Werner Gloss

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Beschreibung

Was haben wir falsch gemacht?, fragen sich viele Eltern, wenn ihr Kind straffällig geworden ist. Neben Versagensgefühlen und Zukunftsängsten wächst der Druck, wichtige Entscheidungen zu treffen. Fachliche Unterstützung und Beratung sind dringend gefragt – doch die richtigen Stellen zu finden ist oft Glücksache und anwaltliche Begleitung womöglich zu teuer. Nicht nur Alleinerziehende fühlen sich in dieser Situation schnell überfordert.
Anhand mehrerer Fallbeispiele erklärt Werner Gloss – er ist als Polizeihauptkommissar seit 20 Jahren in den Bereichen Jugendsachen und Prävention tätig –, wie aus Kindern, die Probleme haben, Jugendliche werden, die Probleme machen. Der Autor vermittelt anschaulich kriminologische und strafrechtliche Hintergründe. Darüber hinaus bietet das Buch Tipps für den Umgang mit den Konsequenzen der Straftat.

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Seitenzahl: 307

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Werner Gloss

AUF ABWEGEN

Wenn Jugendlichekriminell werden

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Oktober 2018

entspricht der 1. Druckauflage vom Oktober 2018

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Vermittelt durch die Agentur folio – Marion Voigt

Cover: Stephanie Raubach, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos von Shutterstock (448997113)

Lektorat: Annette Krüger, Hamburg

eISBN 978-3-86284-438-8

Inhalt

Vorwort

Wenn die Welt aus den Fugen gerät

Die emotionale Situation von Eltern im Strafverfahren gegen das eigene Kind. Schamgefühle und Schutzinstinkte

Alltagskriminalität

Sonja und Jochen Anschütz mit Andreas (17 Jahre)

Parallelwelten

Sabine und Norbert Beck mit Jonas (16 Jahre)

Krisen

Evelyne Coxhead mit Patricia (17 Jahre)

Was Eltern tun können

Jugend und Kriminalität

Eine Einordnung des Verhaltens Jugendlicher zwischen Regelverletzung und Straftatbestand. Kriminologische und strafrechtliche Hintergründe

Was ist Kriminalität?

Wann werden Jugendliche kriminell?

Jugendkriminalität ist (meist) männlich

Strafrecht für Jugendliche

Strafe und Erziehung

Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht. Zur Relation von Konsequenz und Strafe und warum Freiheitsentzug das letzte Mittel ist

Ein Experiment zur Normakzeptanz

Erziehungsgespräch und Jugendstrafe

Gabriele und Karlheinz Schneider mit Sebastian (jetzt 22 Jahre)

Schwere Kindheit

Biografie des Verbrechens. Wie aus Kindern, die Probleme haben, Jugendliche werden, die Probleme machen

Kriminalität wird nicht vererbt

Roswitha Rascher mit Curtis (jetzt 16 Jahre)

Dissoziale Überlebensstrategien

Hilfe und Unterstützung

Die Jugendhilfe im Strafverfahren, Beratungs- und Hilfsangebote für Kinder und Eltern

Sozialarbeit mit jungen Straftätern

Emine Günaltey mit Burhan (jetzt 25 Jahre)

Das Jugendstrafverfahren

Von der vorläufigen Festnahme bis zur Entlassung auf Bewährung

Der Fall Lasse Lindowsky

Anzeige, Strafantrag und Opferrechte

Die informatorische Befragung

Der subjektive Tatbestand

Vorläufige Festnahme und Eingriffsrechte

Vorverfahren und polizeiliche Ermittlungen

Beweise

Beweiswürdigung

Untersuchungshaft

Zwischen Tatvorwurf und Prozess

Hauptverhandlung

Strafvollzug und Resozialisierung

Die Rechte von Eltern und Kindern

Anwesenheits- und Mitwirkungsrechte im Strafverfahren. Wohnungsdurchsuchung, Beschlagnahme und andere Eingriffsmaßnahmen

Mitwirkungs- und Duldungspflichten

Prozessmündigkeit versus Erziehungsrecht

Informationsrechte der Eltern

Fazit

Angriff und Verteidigung

Wann sollte ein Anwalt eingeschaltet werden? Welcher Verteidiger passt zu uns? Zu den Verteidigungsstrategien im Jugendstrafverfahren

Der Fall Marius Lindner

Die Verteidigung in Jugendsachen

Auswahl und Mandatierung eines Verteidigers

Konfliktverteidigung versus Absprache und Kooperation

Anstelle eines Nachworts

Anhang

Abkürzungen

Literatur zum Thema

Der Autor

Vorwort

An einem Morgen im Sommer 2018 stand der Name Jaroslaw R. im Tagesbericht der Kriminalbereitschaft Mittelfranken unter der Rubrik »ungeklärte Todesfälle und Tötungsdelikte«. Jaroslaw R. war in einem Fastfood-Restaurant in Nürnberg zusammengebrochen und wenig später in einer Klinik verstorben – an der Überdosis einer Drogenmixtur. Natürlich ist der Name geändert, so wie alle Namen in diesem Buch erfunden sind. Auch Orte und Details, die Rückschlüsse auf die Personen und ihre Schicksale erlauben, wurden anonymisiert. Die Geschichte und der Tod von Jaroslaw R. sind allerdings ebenso real wie endgültig.

Polizeilich betrachtet handelt es sich um einen sogenannten unnatürlichen Tod, der der Staatsanwaltschaft angezeigt werden muss, auch wenn wie im Fall von Jaroslaw R. Fremdverschulden ausgeschlossen wird. »Unnatürlicher Tod« und »Fremdverschulden« sind amtliche Kategorien, die nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen. Zum einen ist der Tod so natürlich wie das Leben, eine klare Angelegenheit, die keine Auslegung zulässt. Anders sieht es bei der Schuld aus. Es stellt sich die Frage, wer für den Tod von Jaroslaw R. verantwortlich ist, wenn man von der Tatsache absieht, dass jeder Mensch sein Leben grundsätzlich selbst in die Hand nehmen muss. Tatsächlich existieren jenseits der Selbstverantwortung der Person und juristisch relevanter Schuldzuweisungen Verantwortlichkeiten, die uns alle angehen. Jaroslaw R. ist in gewisser Weise ein Opfer der Verhältnisse. Vieles spricht dafür, dass es in der Vergangenheit unterlassen wurde, Teufelskreise zu durchbrechen oder schädliche Entwicklungen abzuwenden. Chancen blieben ungenutzt und mögliche Hilfen wurden nicht gewährt. Das Schicksal von Jaroslaw R. war weder vorbestimmt noch unausweichlich.

Die Tragödie von Jaroslaw R. begann vor etwa 20 Jahren. Ich war bereits damals Jugendsachbearbeiter einer Polizeidienststelle im »Speckgürtel« des Großraums NürnbergFürth: Reihenhaussiedlungen und Häuser im Landhausstil auf jeweils etwa 500 Quadratmeter Grund, modernes Wohnen auf engem Raum. Während sich die Baustile geändert haben, sind die Probleme der Menschen immer noch die gleichen. Junge Familien ziehen in Vororte, weil sie denken, dass die Kinder dort besser aufwachsen. Dafür nehmen sie lange Arbeitswege in Kauf und stellen sich morgens und abends in den Stau. Wohnraum im Umland ist gerade noch erschwinglich. Viele Eltern stehen unter Druck, nicht nur finanziell, sondern auch beruflich und emotional. Das Leben in »Suburbia« fordert seinen Tribut. Im Grunde ist seit dem Song der Pet Shop Boys aus den 1980er-Jahren alles beim Alten geblieben. Die Beziehungen der Menschen leiden unter permanenter Anspannung und allgemeiner Überforderung. Wenn das Leben nicht perfekt sein kann, dann soll es doch wenigstens gut werden, und oftmals gelingt nicht einmal das. Die Menschen muten sich zu viel zu und haben zu hohe Anforderungen an sich selbst, den Partner und die Kinder. Dementsprechend hoch sind die Scheidungsraten, und das Aufwachsen in diesem Umfeld ist nicht einfach. Nicht wenige Kinder und Jugendliche brechen mit allen Regeln und geraten außer Rand und Band. Zum Teil aus Langeweile und allzu oft auch aus Verzweiflung verstoßen sie gegen das Gesetz. »Sie laufen mit der Polizei um die Wette«, wie es in dem Lied der englischen Elektropop-Band heißt.

Die Eltern von Jaroslaw R. waren aus Polen nach Deutschland gekommen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Als wir uns kennenlernten, gehörte Jaroslaw R. zu einer Clique, die den S-Bahnhof des Vorortes in Beschlag nahm und dort regelmäßig für Unruhe sorgte. Kleinere Straftaten waren an der Tagesordnung, und dementsprechend oft war die Polizei vor Ort. Ich erinnere mich an einen stillen Jungen, der sich aus Angst vor der Polizei fast »in die Hosen machte«. Jaroslaw R. war damals fast 18 Jahre alt, ein schlaksiger Junge mit ernsten braunen Augen. Im Gegensatz zu den anderen in seiner Clique war er sehr zurückhaltend. Ich hatte den Eindruck, er würde sich meine gut gemeinten Ermahnungen zu Herzen nehmen. Jaroslaw R. war ein kluger Mensch mit guten Anlagen, aber keine starke Persönlichkeit und leicht beeinflussbar. Er wurde seinerzeit als Mitläufer eingestuft und später als Betäubungsmittelkonsument registriert. Aus dem unscheinbaren Jungen wurde ein unauffälliger Mann. Obwohl sich Jaroslaw R. in einer klassischen Drogenkarriere befand, brachte er es auf gerade mal 14 Einträge im Strafregister. Er wurde drei Mal inhaftiert und verbrachte zehn, sechs und neun Monate hinter Gittern. Angesichts der Lebensumstände ist dies wenig. Unauffällige Menschen wie Jaroslaw R. werden nicht oft überführt, insbesondere dann nicht, wenn sie intelligent und vorsichtig sind.

Mit den Eltern von Jaroslaw R. habe ich nie richtig gesprochen. Elterngespräche gehörten seinerzeit nicht zum Handlungsrepertoire der Polizei, und umgekehrt gab es Vorbehalte der Eltern gegen eine Kommunikation mit einem Vertreter der Staatsmacht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Eltern von Jaroslaw R. ihren Sohn zur Polizei begleiteten, obwohl sie das Recht dazu hatten. Die Sprachlosigkeit war beiderseitig. Offensichtlich waren die Eltern von Jaroslaw R., die selbst niemals Ärger mit der Polizei hatten, mit der Situation überfordert.

Erst mit der Zeit erkannte ich, dass Eltern einen wichtigen Schlüssel in der Hand halten. Sie sind die Konstante, an der junge Menschen ihr Leben ausrichten können. Auch wenn sich die Kinder von ihren Eltern entfernt haben und scheinbar das Gegenteil von dem tun, was diese sich wünschen, sind Eltern ein Fixpunkt in der Biografie ihrer Kinder. Im Laufe der Jahre habe ich mich um einen besseren Zugang zu den Eltern bemüht, mit deren Kindern ich als Polizeibeamter zu tun hatte. Ich habe Verständnis für ihre Sorgen und Nöte entwickelt und mir abgewöhnt, vorschnell Verantwortlichkeiten zuzuweisen. Stattdessen versuchte ich ins Gespräch zu kommen, oftmals bei den Familien zu Hause am Abendbrottisch. In diesem Rahmen gab es Aussprachen, die sich als sehr gewinnbringend erwiesen. Die Eltern erhielten Informationen und wurden über den Ablauf des Verfahrens aufgeklärt. Gleichzeitig reduzierte das vertraute Umfeld Berührungsängste und Machtspiele, sodass unbefangen über die Tat und das Kind gesprochen werden konnte.

Die Arbeit mit jungen Straftätern hat mich seither nicht mehr losgelassen, zuerst auf Streife und später im Ermittlungsdienst. Dazu musste ich viel lernen, was mir in der Polizeiausbildung nicht vermittelt wurde. Kriminalität von Jugendlichen hat das Potenzial, Leben und Biografien zu zerstören. Delinquentes Verhalten in der Jugend kann sich zu einem persönlichkeitsprägenden Muster mit schlimmen Folgen auswachsen. Dies gilt nicht nur für den Umgang mit Rauschdrogen. Wer zum Beispiel in der Jugend nicht lernt, sein Auskommen auf ehrliche Weise zu organisieren, wird mit großer Wahrscheinlichkeit sein Leben lang immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Langfristig werden junge Menschen durch die Adaption von abweichendem Verhalten um die Chance gebracht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Andererseits gehören Regelverletzungen und Normverstöße zur Jugend wie das Salz in die Suppe. Restlos angepasste Jugendliche werden sich nicht zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln. Dementsprechend typisch ist strafbares Fehlverhalten, das auch bei Jugendlichen beobachtet werden kann, um die man sich ansonsten keine Sorgen machen muss. Doch ist die Einordnung abweichenden Verhaltens schwierig, besonders wenn man selbst betroffen ist und es um das eigene Kind geht. Eltern fehlt der Vergleich, weil über Jugendkriminalität für gewöhnlich nicht gesprochen wird. Die Straftaten der Kinder sind ein Tabuthema im Kreis der Verwandten und Bekannten. Beim Grillabend mit Freunden wird der Ladendiebstahl der Tochter mit keiner Silbe erwähnt. Nicht wenige Eltern können über das Unrecht, das ihre Kinder begingen, mit niemandem sprechen, vor allem dann, wenn es sich um ernsthafte Delikte wie zum Beispiel eine Sexualstraftat handelt. Aus diesem Grund werden in dem Buch Geschichten von jungen Menschen und ihren Eltern erzählt, die Betroffenen helfen sollen, das Verhalten ihres Kindes zu verstehen. Dabei geht es nicht zuletzt darum, ein Gespür für die Relevanz des Fehlverhaltens zu vermitteln.

Strafbare Handlungen von Jugendlichen sind vielschichtig. Sie können sowohl als erzieherische Aufgabe wie auch als Bearbeitung von Kriminalität wahrgenommen werden. Bildlich gesprochen kann man die Jugendkriminalrechtspflege als eine Mischung aus Schullandheim und Strafanstalt beschreiben. Zur Jugendkriminalität gehört der Raubmord eines Heranwachsenden an einer gebrechlichen Seniorin ebenso wie das Verbreiten von Sexting-Fotos. Jeder Lehrer, der pubertierende Schüler nicht erst seit gestern unterrichtet, dürfte mit letztgenanntem Phänomen schon einmal konfrontiert worden sein. Es erfüllt den Tatbestand einer Straftat und kann sich zur Katastrophe auswachsen. In der Vergangenheit soll es schon zu Suiziden von Opfern gekommen sein, die nicht damit zurechtgekommen sind, dass ihr Bild unkontrolliert über das Internet verbreitet wurde. Gleichzeitig handelt es sich bei Sexting (das Wort ist aus den Begriffen Sex und Texting für SMS-Schreiben zusammengesetzt) um ein typisch pubertäres Verhalten, das sich in den allermeisten Fällen wieder gibt und ab einem gewissen Alter keine Rolle mehr spielt.

Es ist das breite Spannungsfeld zwischen brutalem Kapitalverbrechen und jugendlicher Dummheit, das es schwer macht, der Thematik gerecht zu werden. Dies gilt auch für die speziellen Sanktionsmöglichkeiten im Jugendstrafrecht. Das Spektrum reicht hier vom durch einen Sozialarbeiter moderierten Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) bis zur langjährigen Haftstrafe. Sehr oft wird das Verfahren gegen eine Auflage oder nach einer erzieherischen Weisung eingestellt, und manchmal kommt es zum großen Strafprozess vor dem Landgericht. Während in einem Fall die Erziehung im Vordergrund steht, geht es im nächsten um die Bestrafung des Täters. Jeder einzelne Tatbestand muss genau beleuchtet werden, um zu entscheiden, wo der Schwerpunkt liegt. Denn in erster Linie soll das Verfahren dem Jugendlichen gerecht werden, damit dieser in Zukunft ohne Straftaten durchs Leben geht.

Dem jungen Menschen bieten sich hierzu viele Wege an. Jeder Mensch muss seinen Weg zum Glück finden. Steinig sind sie alle, und der gerade, leichte Weg ist eine Illusion. Manchmal geraten junge Menschen auf Abwege und verfangen sich im Dickicht. Wer schon einmal in ein Dornengestrüpp geraten ist, weiß, wie schwer es ist, wieder herauszukommen. Jugendliche auf Abwegen benötigen Hilfe von außen. Neben den Eltern können viele andere Menschen dazu beitragen, dass sich junge Menschen orientieren können. Dabei ist es wichtig zu wissen, wo man steht. Der Jugendliche muss seine Position am eigenen Standort ausrichten können. Darüber hinaus ist es wichtig zu wissen, welche Regeln im Dickicht gelten. Jede Bewegung kann schmerzhafte Folgen haben, und mit Starrsinn und Gewalt kommt der Jugendliche auch nicht weiter.

Voraussetzung ist ein Grundwissen über die Abläufe und »Spielregeln« im Strafprozess. Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig selbst Fachleute über das Jugendstrafrecht wissen. Vor allem fehlt das Verständnis für die grundlegend anderen Paradigmen im Jugendstrafverfahren. Erwachsene werden nach einer Straftat zur Verantwortung gezogen; Jugendliche werden dagegen zur Verantwortung(-sübernahme) erzogen. Mit den in diesem Buch geschilderten Fällen möchte ich ein Bewusstsein für diesen besonderen, eigenständigen Umgang mit Jugendkriminalität wecken. Außerdem ist es mir ein Anliegen, das Phänomen Jugendkriminalität nicht auf »desintegrierte Problemjugendliche« in den sozialen Brennpunkten der Republik zu beschränken – Jugendkriminalität betrifft nicht nur arabische Großfamilien in Berlin-Neukölln oder Menschen, die in Duisburg-Marxloh aufwachsen. Abweichendes Verhalten junger Menschen spielt auch dort eine Rolle, wo man es vielleicht nicht erwartet. Es gibt einige Indikatoren dafür, dass die ländlichen Räume zukünftig eine deutlich höhere Kriminalitätsbelastung bei jungen Menschen aufweisen werden, als es in der Vergangenheit der Fall war. Die Jugend auf dem Dorf ist nicht mehr so behütet, wie sich das viele Menschen vorstellen. Daneben entsteht abweichendes Verhalten auch in gut situierten Familien, die in urbanen Toplagen wohnen. Jugendkriminalität beschränkt sich nicht auf die Vorstädte und sie ist nicht typisch für soziale Brennpunkte. Sie hat allenfalls indirekt mit der Wohnlage, der sozialen Schicht oder den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun.

Jugendkriminalität ist zuerst eine Frage des Alters. Diese wenig originelle Einsicht wird erstaunlicherweise selten geteilt. Betroffen sind scheinbar immer nur die anderen. Zwischen zwölf und 21 gehören strafbare Handlungen zur Lebenswirklichkeit unserer Kinder. Die wenigsten Taten werden bekannt und angezeigt. Vieles kann ohne großes Aufheben eingestellt und abgelegt werden. Jugendkriminalität wächst sich in den allermeisten Fällen aus und wird damit zur Episode im Leben des jungen Menschen. Doch das verschenkte Leben von Jaroslaw R. und vielen anderen aus seiner Clique, die auch ohne Drogensucht kein Bein auf den Boden bekommen haben, sollte nachdenklich machen. Nach der Pubertät können Entwicklungen eintreten, die alles negieren, was vorher stattgefunden hat. Viele Eltern investieren viel Energie in die ersten Lebensjahre ihrer Kinder. Mit der Zeit erlahmt der Antrieb, und in der Jugend, kurz bevor die Kinder auf eigenen Beinen stehen, sind nicht wenige sich selbst überlassen. Das geht oft gut, ist aber manchmal die Ursache für eine mehr oder weniger große Tragödie.

Dieses Buch wendet sich vorrangig an die Eltern von Jugendlichen. Es soll ihnen helfen, ihre Rolle besser auszufüllen, wenn es schwierig wird. Als Polizeibeamter habe ich eine andere Funktion, weshalb es befremdlich wirken mag, wenn ich Eltern berate, wie sie ihren Kindern im Verfahren bei der Polizei beistehen. Doch wir sind aufeinander angewiesen und können unsere Aufgaben nur bewältigen, wenn beide Parteien ihren Rollen gerecht werden. Wer eine Hängematte spannen möchte, benötigt zwei starke Bäume, die sich in einem gehörigen Abstand gegenüberstehen. Nur wenn beide Stämme tragen, erfüllt die Matte ihre Funktion. Deswegen ist es wichtig, dass Eltern Verantwortung übernehmen und die Interessen ihrer Kinder vertreten.

Neben Eltern sind im Leben Jugendlicher auch noch andere Menschen von Bedeutung: Lehrer, Sozialarbeiter, Übungsleiter oder Freunde der Familie. Jedes Engagement hat seinen Standpunkt und bringt spezielle Fähigkeiten und Ressourcen ein. Aus der Hängematte wird ein Netz, wenn viele Personen mitwirken. Auch diese Menschen können aus den Schilderungen der Schicksale in diesem Buch Einblicke in strafrechtliche und kriminologische Aspekte gewinnen, die relevant sind, wenn Jugendliche auf Abwege geraten. Genau genommen richtet sich das Buch also an alle, die jungen Menschen zur Seite stehen (möchten), wenn diese mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind.

Wenn die Welt aus den Fugen gerät

Die emotionale Situation von Eltern im Strafverfahren gegen das eigene Kind. Schamgefühle und Schutzinstinkte

Es läutet an der Haustür, und die Polizei steht draußen. Das weckt kein gutes Gefühl. Die meisten Menschen gehen davon aus, etwas falsch gemacht zu haben. Reflexartig wird überlegt, was den ungebetenen Besuch veranlasst haben könnte. Leben Kinder im Haushalt, die gerade unterwegs sind, drängt sich sofort die Sorge auf, ihnen könnte etwas passiert sein. Paradoxerweise vermuten Mütter und Väter zuerst einen Unglücksfall, bevor sie auf die Idee kommen, dass sich der Sohn oder die Tochter womöglich falsch verhalten hat. Dabei ist Jugendkriminalität ein sehr weit verbreitetes Phänomen. Jährlich wird bundesweit gegen circa 200 000 Jugendliche und fast ebenso viele Heranwachsende strafrechtlich ermittelt. Deshalb ist es viel wahrscheinlicher, dass der Polizeibesuch mit einem Ladendiebstahl oder einer ähnlichen Verfehlung zu tun hat, als dass das Kind verunglückt ist. Meist sind es nur ärgerliche »Dummheiten«, die sich die Kinder »zuschulden« kommen ließen, peinliche Bagatellen, kaum der Rede wert. Aber nicht alle Straftaten junger Menschen sind harmlos.

Einige Delikte haben das Potenzial, sich zur persönlichen und familiären Krise auszuwachsen. Obwohl die Vorzeichen wie bei einem aufziehenden Gewitter oft schon lange vorher erkennbar sind, werden Eltern immer wieder von dem Fehlverhalten ihrer Kinder überrascht. Die Welt gerät aus den Fugen, wenn Eltern von ernsten Straftaten ihrer Kinder erfahren. Hoffnungen und Träume verblassen oder müssen sogar ganz begraben werden. Kriminalität belastet Lebensläufe, verbaut Zukunftschancen. Eltern, die aufs Engste emotional mit ihren Kindern verbunden sind, trifft der Tatvorwurf oft ebenso hart wie das beschuldigte Kind.

Dies konnte ich beobachten, als ich in der Vorweihnachtszeit die Besuchstermine eines jungen Mannes in Untersuchungshaft überwachte. Da in dem Rauschgiftverfahren Verdunkelungsgefahr bestand, wurde die Anwesenheit eines mit dem Fall vertrauten Polizeibeamten angeordnet. Für die Eltern gab es keine Ausnahme, sodass immer eine unangenehme Situation für alle Beteiligten entstand, wenn private und familiäre Dinge vor mir zur Sprache kamen. Je näher das Weihnachtsfest rückte, desto gedrückter wurde die Stimmung bei den Terminen. Natürlich ist Weihnachten im Vollzug eine schlimme Sache, vor allem das erste Weihnachtsfest »hinter Gittern«. Ich hatte zuvor nie an die Angehörigen der Inhaftierten gedacht. Erst bei diesen Besuchen wurde mir klar, was ein leerer Platz am Weihnachtstisch für die Eltern bedeuten muss, wie sehr Eltern unter den Straftaten ihrer Kinder leiden und wie allein sie dabei sind, wie schwer es ist, entfernten Verwandten, die sich nur einmal im Jahr, nämlich zu Weihnachten, melden, von der Inhaftierung des Sohnes zu erzählen, und an welchen Erinnerungen sich derartig verwaiste Eltern festhalten.

Im Folgenden geht es um Schamgefühle, Schutzinstinkte und Zukunftsängste, die Eltern erleben, wenn gegen das eigene Kind strafrechtlich ermittelt wird. Drei Fallbeschreibungen beleuchten ihre emotionale Situation und zeigen ein breites Spektrum an Problemlagen, denen Eltern jugendlicher Straftäter ausgesetzt sind.

Alltagskriminalität

Alltagskriminalität ist nicht zu verwechseln mit der für Jugendliche typischen Bagatell- oder Massenkriminalität, also mit Delikten, die so häufig sind, dass wir sie für alltäglich halten. Unter Alltagskriminalität versteht man vielmehr Straftaten, die sich im Alltag der Täter ereignen. Dieser Alltag zeichnet sich durch eingespielte Handlungen und Verhaltensweisen aus, die sich täglich wiederholen und dem Leben Struktur geben. Es beginnt mit dem Aufstehen und dem Weg zur Arbeit oder zur Schule. Unbescholtene Menschen starten unbedarft in den Tag. Plötzlich sehen sie sich mit einer Situation konfrontiert, in der sie zum Straftäter werden. Während ein Einbrecher extra die Weckfunktion am Handy aktiviert, um die frühen Morgenstunden zu nutzen, begeht der Alltagskriminelle eine mehr oder weniger spontane Handlung, als Reaktion auf einen spezifischen Reiz, der in diesem Moment genügt, um Regeln und Grenzen außer Kraft zu setzen.

Trotzdem werden die Taten vorsätzlich und bewusst begangen. Die Täter denken mit, handeln mitunter raffiniert, effektiv und zielstrebig. Es gibt klare, nachvollziehbare Motive, wie Habgier, Wut, strafbaren Eigennutz, Eifersucht oder einfach nur Bequemlichkeit. Doch können weder Täter noch außenstehende Personen erklären, warum es gerade an diesem Tag, in dieser Situation zur Tat gekommen ist. Schließlich bot sich die Gelegenheit schon so oft.

Das unerwartete Durchbrechen des Gewohnten stellt Eltern vor große Herausforderungen. Die Motive des Kindes lassen sich nur schwer erschließen, und oft gibt es für das Fehlverhalten keinen für sie nachvollziehbaren Grund.

Sonja und Jochen Anschütz mit Andreas (17 Jahre)

Die Familie Anschütz – das sind Jochen und Sonja mit ihren zwei Söhnen – lebt in einer Siedlung aus den 1980er-Jahren am Rande einer kleinen Ortschaft. Für Besorgungen ist man auf das Auto angewiesen. Jochen Anschütz (42 Jahre) hat das Haus zusammen mit seiner Frau Sonja (39 Jahre) günstig gekauft und fertig ausgebaut. Als Heizungsmechaniker ist er handwerklich geschickt. Viele Arbeiten konnte er selbst erledigen, sonst wäre es finanziell nicht gegangen. Sonja arbeitet fast Vollzeit als Bäckereifachverkäuferin im Edeka Center. Sie fängt morgens früh an und versucht mittags zu Hause zu sein, um Zeit für die Kinder Andreas und Thomas zu haben. Der 17-jährige Andreas ist im zweiten Lehrjahr zum Kfz-Mechatroniker, sein drei Jahre jüngerer Bruder besucht die neunte Klasse der Realschule.

Andi arbeitet in einem kleinen Betrieb mit Tankstelle, Waschanlage und Werkstatt. Ein zweites Standbein der Firma ist der Gebrauchtwagenhandel. Weil sich gegen Feierabend ein Kaufinteressent für einen wiederaufgebauten Unfallwagen angemeldet hatte, musste Andi gestern noch einen alten Passat auf Vordermann bringen. Es gab Streit mit dem Meister, dem der Wagen nicht sauber genug war, während Andi sich über die langweilige, nervtötende Arbeit geärgert hatte. Trotzdem musste Andi heute Morgen wieder an den alten Passat. Er sollte die Räder wechseln. Widerwillig machte Andi sich an die Arbeit. Als er danach die Autoschlüssel ins Büro brachte, kam er gerade dazu, als der Kunde dem Meister ein dickes Bündel kleinerer Scheine hinblätterte. Der Meister quittierte den Betrag und steckte das Geld in einen Briefumschlag, Andi übergab dem neuen Besitzer die Autoschlüssel.

Danach entwickelte sich der Tag prima. Während der Meister außer Haus war, um Ersatzteile zu besorgen, bauten die Gesellen ein Allradgetriebe aus. Außer einem gelegentlichen Fluchen aus der Montagegrube hörte und sah man wenig von den beiden. So war es an Andi, den Betrieb am Laufen zu halten. Er bediente mehrere Kunden, die mit Kleinigkeiten wie einer defekten Bremsleuchte auf den Werkstatthof kamen, oder nahm Autos an, bei denen der Kundendienst fällig war. Das selbstständige Arbeiten gefiel ihm und entschädigte für die eintönigen Putz- und Polierarbeiten am Vortag.

Als am späten Nachmittag die Auftragsformulare ausgingen, wollte Andi im Büro neue Durchschreibesätze holen. Dort war er unerwartet ganz allein. An der Tankstelle herrschte Flaute, weshalb die Kassiererin sich eine Pause an der Raucherecke beim Altmetallcontainer gönnte. Den Tresor hatte sie offen stehen lassen, und im obersten Fach sah Andi den Briefumschlag mit dem Geld, der zusammen mit dem Kaufvertrag und anderen Papieren in einer Klarsichtfolie lag. Zielstrebig nahm der Junge die Hälfte der Geldscheine heraus und steckte sie in seine Brusttasche. Danach schob er den Umschlag wieder in die Klarsichtfolie und legte alles dorthin zurück, wo er es weggenommen hatte. Sicherheitshalber versteckte er das gestohlene Geld zwischen den Altreifen. Nachdem der Diebstahl bis Feierabend nicht bemerkt worden war, kam Andi später nach dem Fußballtraining nochmals auf den Werkstatthof, um das Geld zu holen. In der Dämmerung deponierte er die knapp 3000 Euro in einem verlassenen Fuchsbau im Wäldchen gleich hinter dem Bolzplatz. Andi wollte das Geld nicht mit nach Hause nehmen, um Ärger mit den Eltern zu vermeiden, falls sie es zufällig gefunden hätten. Außerdem fühlte er sich wohler, wenn ihm das gestohlene Geld nicht zu nahe war.

Wie Andi vermutet hatte, wurde der Diebstahl erst beim Einzahlen in der Bank bemerkt. Auch wenn der Meister sonst nichts mit der Polizei zu tun haben wollte, erstattete er sofort Anzeige. Kurze Zeit später waren ein Streifenwagen, die Spurensicherung und die Kriminalpolizei auf dem Werkstatthof. Nach einer kurzen Befragung der Angestellten und des Meisters fiel der Verdacht auf Andi. Er musste mit zur Polizeidienststelle kommen und dort auf seine Eltern warten. Die anschließende Vernehmung dauerte nicht sehr lange. Andi fiel siedend heiß ein, dass er beim Griff in den Tresor keine Handschuhe getragen hatte. Bereitwillig gab er alles zu, als man auf Fingerabdrücke zu sprechen kam, und zeigte den Ermittlern danach das Versteck im Fuchsbau. Das Geld war noch da.

Für Andreas’ Eltern stellte die Straftat ihres Sohnes eine völlig neue Erfahrung in ihrer Elternschaft dar. Der Anruf der Polizei kam für sie wie aus heiterem Himmel. Sonja Anschütz stand allein in der Bäckerei und konnte die Filiale nicht einfach schließen, um zur Polizei zu fahren. Jochen Anschütz dagegen verlegte einen Kundentermin in die Abendstunden, sodass er bei der Vernehmung seines Sohnes anwesend sein konnte. Mit der Polizei hatte er bisher nur als Autofahrer zu tun gehabt und vor Gericht hatte er noch nie gestanden. Er kannte weder seine Rechte, noch hatte er eine Vorstellung davon, wie man sich in einer solchen Lage am besten verhält. Vor allem aber wusste er nicht, was er von dem Vorwurf gegen den Sohn zu halten habe. Andi sollte einen ernst zu nehmenden Diebstahl begangen haben? Das lag außerhalb seiner Vorstellungskraft. Allerdings wirkte der Junge verändert – vielleicht wegen der einschüchternden Situation bei der Polizei, oder es plagte ihn doch ein schlechtes Gewissen. Jochen Anschütz dachte an all die kleinen und großen Vertrauensbrüche, die es zwischen ihm und seinem Sohn gegeben hatte. Passiv saß er neben Andi und hörte der Vernehmung zu. Verstört registrierte er schließlich das Geständnis seines Sohnes. Noch ehe der Vernehmungsbeamte zu der Frage nach dem Warum kam, wollte Jochen Anschütz selbst von Andi wissen, weshalb er das Geld gestohlen hatte. Ohne die Antwort abzuwarten, begann der Vater aufzuzählen, was er alles für seinen Sohn angeschafft hatte. Es habe Andi an nichts gefehlt; er sehe einfach keinen Grund für den Diebstahl.

Jochen und Sonja Anschütz meinten, sie hätten ihrem Sohn alles mitgegeben, damit er solchen Versuchungen widerstehen könne. Was hatten sie falsch gemacht? Besonders die Mutter, die in der Bäckerei selbst für eine Kasse verantwortlich war, konnte kaum glauben, dass sich Andi an den Einnahmen seines Ausbildungsbetriebs bedient haben sollte. Anstand und Ehrlichkeit waren wichtige Werte in der Familie. Nachdem Sonja Anschütz am Abend alle Details erfahren hatte, regte sie sich erst recht auf. Sicherlich hatte sich Andi falsch verhalten. Sie ärgerte sich aber auch über den Chef und den schlampigen Umgang mit dem Geld. Vor allem der offene Tresor machte ihr zu schaffen. Hätte man in der Firma mehr Sorgfalt walten lassen, wäre es nicht so weit gekommen – davon war sie überzeugt.

Die Reaktionen auf Andis Diebstahl veranschaulichen die Gefühlslagen, in denen Eltern sich befinden, wenn gegen ihr Kind ermittelt wird. Der Tatvorwurf lastet schwer und wird häufig als elterliches Versagen bewertet. Verhalten sich Kinder falsch, sind nach Meinung vieler Menschen in erster Linie die Eltern dafür verantwortlich, die entweder durch schlechtes Vorbild oder eine nachlässige Erziehung das moralische Versagen ihrer Kinder zu verantworten haben. Diese Elternschelte hat hierzulande Tradition und wird selbst von Juristen und Polizisten, aber auch von Lehrern und Sozialpädagogen geübt, die es besser wissen müssten. Von Nachbarn, Verwandten und Freunden der Familie ganz zu schweigen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, lautet oft das pauschale Urteil, wenn von einer Straftat eines Jugendlichen die Rede ist. Damit nicht genug. Kritische Eltern forschen nach Ursachen bei sich selbst. Sie suchen nach Erziehungsfehlern oder Versäumnissen, wenn sich das Kind falsch verhalten hat. Und immer bleibt ein Rest von Unsicherheit, ob es etwas gibt, das einem Angst machen könnte. Eine Neigung oder eine Veranlagung des Kindes – oder gar eine moralische Andersartigkeit, die immer wieder durchschlagen könnte, sodass es nicht bei dem Einzelfall bleibt.

Kriminalität hat vielfältige Ursachen, und niemand ist davor gefeit, selbst straffällig zu werden. Trotzdem werden oft vorschnell harte Urteile gefällt, auch wenn es sich, wie im Fall von Andreas, um ein momentanes Versagen in einer ganz konkreten Situation handelt. Für viele Menschen geht das Erklärungsschema für Kriminalität von einer individuellen Grunddisposition zum »Kriminellen« aus, von moralischen Defiziten, die prägend für die Persönlichkeit sein sollen. Andreas wird so im allgemeinen Sprachgebrauch zum »Dieb«. Ein anderer wird nach einer Tätlichkeit »Schläger« genannt und ein Dritter »Betrüger«, weil er jemanden übervorteilt hat.

Tatsächlich gibt es den »Räuber«, den »Vergewaltiger« oder die »Mörderin« nicht. Es gibt nur den Raub, die Vergewaltigung und den Mord. Kriminalität ist ein sozial definiertes Verhalten und kein Persönlichkeitsmerkmal.

Menschen können sich richtig oder falsch verhalten. Bestimmte Handlungen sind jedoch inakzeptabel und müssen kritisiert, in manchen Fällen auch sanktioniert werden. In unserer Gesellschaftsordnung sind Strafen und Schadenersatz für solche Verhaltensweisen vorgesehen. Aber der Mensch selbst ist nicht richtig oder falsch, auch nicht gut oder böse.

Daran ändert sich auch nichts, wenn sich Verhaltensweisen wiederholen – etwa wenn jemand immer wieder stiehlt oder immer wieder zuschlägt. Das Fehlverhalten im Alltag veranschaulicht sehr gut, dass Menschen zu spontanen, ungeplanten und regelrecht persönlichkeitsfremden Handlungen fähig sind. Jugendliche sind hiervon besonders betroffen. Sie stellen die Regeln der Erwachsenen infrage und suchen nach ihrem eigenen Weg. Zwangsläufig ecken sie dabei an, landen in Einbahnstraßen oder kommen sonst vom Weg ab. Es wäre unangemessen, hieraus auf eine Disposition der Persönlichkeit zu schließen. Im Gegenteil: Jugendliche lernen für gewöhnlich aus ihrem Fehlverhalten; sie lernen aus den Reaktionen und der Missbilligung durch die Mitmenschen. Harte Strafen – das ist eine kriminologisch abgesicherte Erkenntnis – haben überwiegend wenig oder keinen Einfluss auf einen solchen Lerneffekt, ja sie wirken mitunter kontraproduktiv.

Doch selbst wenn die Tat ungeahndet bleibt, weil sie zum Beispiel nicht aufgeklärt wird, entwickeln sich aus den meisten jugendlichen Tätern rechtschaffene Erwachsene. Das schlechte Gefühl nach der Tat, Gewissensbisse oder das erwachende Bewusstsein für die eigene Integrität führen dazu, dass heranwachsende Menschen aus ihren Fehlern lernen und sich aus eigenem Antrieb in Zukunft gesetzestreu verhalten. Vertrauen in den Jugendlichen zahlt sich aus.

Parallelwelten

Während die Prognosen bei Alltagskriminalität durchaus günstig sind und sich viele Eltern unnötig Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen, müssen sich andere Eltern mit eskalierenden Entwicklungen auseinandersetzen. Sie berichten oft von langen Durststrecken. Immer wenn man dachte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, kam es noch mal schlimmer. Entmutigung, Ohnmacht und Ausgeliefertsein sind Gefühle von Eltern, deren Kinder sich immer wieder falsch verhalten, vor allem dann, wenn die Kriminalität zum Alltag gehört und es sich nicht mehr um einmalige Entgleisungen handelt, sondern das Fehlverhalten eine eigene Dynamik entwickelt. Das ist vergleichbar mit einer Abwärtsfahrt auf einer schiefen Bahn, wobei Frequenz und Schwere der Vorfälle zunehmen. Die Eltern haben das Gefühl, dass ihnen das Kind entgleitet und sie hilflos zusehen müssen, wie sie es an eine Parallelwelt verlieren.

Sabine und Norbert Beck mit Jonas (16 Jahre)

Die Erfahrung, von den Straftaten ihres Kindes völlig überrascht zu werden, mussten auch Sabine und Norbert Beck machen. Die Familie lebt in einem Reihenhaus einer Kreisstadt. Das Ehepaar hat sich vor Jahren im Krankenhaus, an ihrem Arbeitsplatz, kennengelernt. Der heute 48-jährige Norbert hatte eine Stelle als Assistenzarzt, die neun Jahre jüngere Sabine war Krankenschwester auf derselben Station. Beide stammten aus einfachen Verhältnissen und haben sich mittlerweile eine kleine, aber solide Existenz aufgebaut. Die Schulden sind weitestgehend getilgt, und das private Medizinstudium der Tochter in Bratislava wird mit dem Verdienst von Norbert, der inzwischen Oberarzt ist, finanziert. Im Gegensatz zu den ersten Jahren, als die beiden Kinder noch klein waren, müssen die beiden den Groschen nicht zweimal umdrehen, bevor sie ihn ausgeben.

Pünktlich zu Beginn des Tatorts im Ersten läutete es an einem Sonntagabend an der Haustür. Sabine und Norbert Beck hatten es sich gerade auf dem Sofa gemütlich gemacht und waren wie vom Schlag getroffen, als sie öffneten. Zwei Kriminalbeamte und ein Diensthundeführer mit einer richterlichen Anordnung wollten das Jugendzimmer von Jonas durchsuchen.

Einer der Kriminalbeamten teilte den Eltern mit, dass ihr Sohn bei der Übergabe von synthetischen Drogen erwischt und vorläufig festgenommen worden sei. Er sei zurzeit in einer Haftzelle im Polizeipräsidium und solle nach der Wohnungsdurchsuchung zur Sache befragt werden. Als Eltern hätten sie die Möglichkeit, bei der Vernehmung anwesend zu sein, da Jonas mit 16 Jahren noch nicht volljährig sei.

Der anfänglichen Erleichterung, dass bei der Durchsuchung nichts Verdächtiges gefunden wurde, folgte schnell das Gefühl großer Unsicherheit und Überforderung. Norbert und Sabine Beck waren sofort losgefahren und mussten dann hinter Panzerglas in der Sicherheitsschleuse warten, während von Jonas Fingerabdrücke genommen und Fotos für die Datenbank gemacht wurden.

Die Luft in dem Warteraum wurde durch die Ausdünstungen belastet, die ein betrunkener Autofahrer verbreitete, der nach der Blutentnahme auf das Taxi wartete. Schlimmer noch als der unangenehme Geruch war die niedergeschlagene Stimmung, die von dem angegrauten Mann ausging. Obwohl es viel zu bereden gegeben hätte, wechselten die Eheleute kein Wort. Auch als sie endlich zu Jonas vorgelassen wurden, blieben viele Fragen offen.

Die Eltern fanden vor allem die Schlag auf Schlag neu ans Licht kommenden Tatsachen verstörend. Bis dahin hatten sie nicht geahnt, was ihr Sohn unternahm, wenn er nicht zu Hause war. Offensichtlich führte Jonas ein regelrechtes Doppelleben, das ihm nur noch wenig Zeit für die Schule ließ. So erklärten sich nun auch die schlechten Noten und die Verweise. Freilich hatte Sabine Beck schon mal vermutet, dass Jonas »bekifft« war. Aber so etwas kam ja wohl bei vielen Jungen in seinem Alter vor. Mit diesem Gedanken hatten sich die Becks seinerzeit beruhigt.

Sabine Beck hatte angenommen, dass ihr Sohn heute eine Probe der Schulband besucht hätte. Wie sich herausstellte, war er stattdessen mit der S-Bahn nach Nürnberg gefahren, um Amphetamine an Realschüler zu verkaufen. Woher er diese Jungs kannte und wie er an die Drogen gekommen war, war Sabine Beck schleierhaft. Der größte Schock folgte aber, als man ihrem Mann einen schweren Gasrevolver vorlegte, der als Beweismittel in einem beschrifteten Plastikbeutel verpackt war. Den Revolver hatte Jonas bei der Festnahme im Hosenbund stecken. Nach den Angaben der Beamten sagte Jonas nichts zur Herkunft der Waffe, weshalb sie Norbert Beck fragten, ob der Revolver von ihm stamme. Norbert Beck war fassungslos. Mit Waffen wollte er nichts zu tun haben, weshalb er auch den Wehrdienst verweigert hatte. Die Waffe führte den Eltern noch einmal eindringlich vor Augen, dass sie wohl sehr wenig von ihrem Sohn wussten.

Viele Eltern gehen davon aus, dass sie alles über ihre Kinder wissen oder doch wissen müssten. Doch das mit der Pubertät einsetzende Streben der Kinder nach Autonomie verlangt geradezu danach, Geheimnisse zu entwickeln. Kinder haben es leicht, Eltern über ihre wahren Beschäftigungen, Vorlieben oder Interessen im Unklaren zu lassen. Schließlich beobachten sie ihre Eltern wesentlich genauer, als dies umgekehrt der Fall ist.

In der kleinen Welt der Kinder sind Eltern und Geschwister zentrale Bezugspersonen, deren Verhalten genau registriert wird. Umgekehrt ist das bei weitem nicht so. Abgelenkt durch Beruf und Freizeitstress, Kollegen, Freunde, Bekannte oder Verwandte, ist die Aufnahmefähigkeit der Eltern eingeschränkt. Der Horizont von Erwachsenen ist weiter, dadurch wird aber auch die einzelne Person »kleiner«. Das gilt selbst für das eigene Kind. Während also Erwachsene in Bezug auf ihre Kinder durchaus blinde Flecken haben, wissen Kinder fast alles über ihre Eltern. Sie kennen deren Stärken und Schwächen. Sie wissen, was Erwachsene hören wollen und was ihnen gefällt. Vor allem kennen Kinder die »schwarzen Löcher« in der Wahrnehmung ihrer Eltern. Diesen Umstand nutzen sie, um Tag für Tag etwas mehr Selbstständigkeit zu erlangen.

Kleine Geheimisse vor den Eltern hütete Jonas schon, seitdem er zehn oder elf Jahre alt war. Sabine Beck hatte seinerzeit Nachtschichten im Krankenhaus gemacht. Trotzdem oder gerade deshalb bekam sie es gemeinsam mit ihrem Mann hin, dass immer einer von beiden für die Kinder da war. Allerdings war die Kommunikation zwischen den Eltern nicht leicht, weil auch Norbert damals viele Dienste übernahm, um das Reihenhaus abzubezahlen. Oft gaben sich Norbert und Sabine nur die Klinke in die Hand. Viel gemeinsame Zeit gab es nicht. Während anfangs Zettel auf dem Küchentisch hinterlegt wurden, verwendete die Familie später SMS und dann WhatsApp-Nachrichten, um sich das Nötigste mitzuteilen.

Jonas hatte die Gewohnheiten seiner Eltern bald durchschaut und schlug daraus Kapital für kleine Freiheiten. Neben harmlosen Dingen, welche die Eltern notfalls wissen durften, aber nach Jonas’ Meinung nicht wissen mussten, hielt er das Rauchen geheim. Als seine Mutter ihn einmal darauf ansprach, reagierte Jonas sehr emotional. Er bestritt, in seiner Clique zu rauchen, und warf der Mutter vor, dass sie sich in Gesellschaft gelegentlich selbst eine Zigarette anstecke. Sabine Beck beließ es schließlich dabei, Jonas die Schädlichkeit von Nikotin deutlich vor Augen zu führen. Ein ähnliches Gespräch führten Sabine und Norbert Beck ein halbes Jahr später, als sie den Eindruck hatte, dass Jonas »bekifft« nach Hause gekommen war. Diesmal wurde er auf die Gefahren von illegalen Drogen hingewiesen, wobei Jonas steif und fest behauptete, dass die Fantasie mit seinen Eltern durchgehe. Er habe noch nie Drogen genommen. Die Eltern hegten daran zwar gewisse Zweifel, doch hofften sie, Jonas würde wenigstens in Zukunft die Finger von Drogen lassen.

Wie blauäugig sie waren, wurde ihnen erst an diesem Sonntagabend bewusst. Jonas hatte bei der Festnahme chemische Drogen und einen Gasrevolver einstecken. Egal was sonst noch an den Tag kommen würde, das Vertrauen der Eltern war nachhaltig erschüttert.

Die polizeiliche Vernehmung entwickelte sich für die Eltern zu einer regelrechten Tortur. Konfrontiert mit weiteren erschreckenden Details, mussten die Eheleute Beck die unerbittliche Realität zur Kenntnis nehmen. Kraftlos und resignierend hörten sie die Fragen des Kommissars, fühlten jeden neuen Namen, der ins Spiel gebracht wurde, wie einen Schlag in die Magengrube. »Wer ist Ronny, der sich per WhatsApp über das schlechte Zeug beschwert? An wen verkaufst du sonst noch? Woher kennst du Vladimir? Wie oft hast du schon bei ihm geholt? Wie alt ist das Mädchen, das du mit dem Joint fotografiert hast? Das ist doch noch ein Kind. Wie heißt sie? Hast du ihr den Joint gegeben?«