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Die Siegerbeiträge des Stockstädter Literaturwettbewerbs 2023/2024 der Gemeinde Stockstadt am Rhein, das Thema lautete "Auf der Durchreise". Das Buch "Auf der Durchreise" wird herausgegeben von der Gemeinde Stockstadt am Rhein. Es enthält die Siegertexte des so betitelten Wettbewerbs, den die Gemeinde im Jahre 2023 ausgeschrieben hat. Es ist im März 2024 zur 27. Buchmesse im Ried in Stockstadt erschienen. "Die spannendsten, originellsten, fesselndsten Geschichten, zu denen unser Thema literarisch verarbeitet wurde, finden Sie in diesem Buch! Wer unsere Siegerbücher verfolgt, kann sich immer wieder auf großartige Texte ganz unterschiedlicher Art freuen - die noch dazu oft Bezug auf unsere Region nehmen oder direkt in ihr entstanden sind." Aus dem Vorwort des Bürgermeisters der Gemeinde Stockstadt am Rhein, Thomas Raschel. Die Preisträger des Stockstädter Literaturwettbewerbs 2023/2024 sind: Nina Brenke, Robin Dietz, Kathrin Engeroff, Thomas Fuhlbrügge, Jutta Janzen, Tamara Krappmann, Uwe Krüger, Simon Kümmling, Angela Regius, Marie Ritter, Alyssa Sara Schaefer, Dieter Stiewi, Julia Veits und Sara Weber.
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Seitenzahl: 208
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die Schirmherrschaft über den Wettbewerb haben die Kulturstiftung der Kreissparkasse Groß-Gerau und weitere Sponsoren übernommen, die auch die finanzielle Ausstattung der Preise sicherstellen.
Wettbewerb und Buchmesse im Internet:
www.riedbuchmesse.de
Facebook: Literaturportal Südhessen
Instagram: riedbuchmesse
In der aktuellen Ansammlung von Krisen verschiedener Art steht wohl eines fest: Wir sind nicht da, wo wir sein wollen. Wir glauben zu wissen, wo wir herkommen, und haben eine verschwommene Vorstellung von dem Ziel, das wir erreichen möchten. Aber wir sind weder sicher, dass wir dort je ankommen werden, noch besteht Einigkeit über den Weg. So gesehen sind wir alle auf der Durchreise.
Diese Lebens- und Überlebensreise, die eine mögliche Interpretation unseres Themas war, bestreiten wir alle gemeinsam, rudern aber keineswegs in die gleiche Richtung – tatsächlich reiben sich viele von uns auf in der Diskussion, wohin es gehen soll. Und wer von uns, ob Politiker oder nicht, könnte behaupten, den richtigen Kurs besser als alle anderen zu kennen? Die das von sich sagen, sind oft gerade diejenigen, die eine gefährliche Klippe für ein verlockendes Ufer halten.
Ja, durch so dichte Nebelbänke wie in dieser Zeit sind wir Deutschen wohl noch nicht gefahren seit Bestehen unserer Republik. Und auf europäischer oder weltweiter Ebene ist es kaum anders. Wie unsere „Road Story“ ausgeht, wissen wir nicht – aber Autorinnen und Autoren sind in der komfortablen Situation, sich ein Stück Leben nach ihren Vorstellungen gestalten zu können. Wir als Leser haben das Vergnügen, diese Reise-Ideen kennenzulernen – und festzustellen, ob wir sie teilen oder nicht.
Die spannendsten, originellsten, fesselndsten Geschichten, zu denen unser Thema literarisch verarbeitet wurde, finden Sie in diesem Buch! Wer unsere Siegerbücher verfolgt, kann sich immer wieder auf großartige Texte ganz unterschiedlicher Art freuen – die noch dazu oft Bezug auf unsere Region nehmen oder direkt in ihr entstanden sind. So profitieren vom Wettbewerb nicht nur die Siegerinnen und Sieger, sondern auch alle, die in Südhessen gerne lesen: Sie können durch den Genuss hochklassiger Literatur auf angenehme Art und Weise ihren Horizont erweitern.
Durch die Kulturförderung, die die Gemeinde Stockstadt am Rhein mit der Buchmesse und dem Literaturwettbewerb betreibt, will sie Menschen einerseits zum Lesen und andererseits zum Schreiben anregen. Für dieses lohnende Ziel arbeiten wir mit Unterstützung durch Sponsoren aus der heimischen Wirtschaft nun schon seit mehr 25 Jahren. Dass es sich lohnt, zeigt wieder ein Blick in dieses Buch!
Es gibt höher dotierte Literaturpreise in Deutschland, und im Rampenlicht stehen da immer wieder die gleichen Personen. Bei uns dagegen kann jede(r) Schreibende, ob mit viel oder wenig Erfahrung, mit einem Preis nach Hause gehen – wenn der Text die Jury überzeugt. Bei uns gewinnen eher die Spitzenautorinnen und -autoren von morgen als die von heute. Eine ganze Reihe von denen, die in unserem Wettbewerb erfolgreich waren, haben später literarisch Karriere gemacht und wurden einem größeren Publikum bekannt.
Das Ried ist eine „literarische Landschaft“, nicht nur durch Georg Büchner und Elisabeth Langgässer: Stockstadt am Rhein trägt gerne dazu bei, das hohe Niveau der Literatur in unserer Region zu fördern und bekanntzumachen – auch ganzjährig mit dem „Literaturportal Südhessen“ auf Facebook und Instagram, das sich Schriftsteller*innen und Büchern aus der Region widmet und immer mehr Zuspruch findet.
Ich wünsche den siegreichen Autorinnen und Autoren viel Glück für ihre weitere Reise – und uns allen viel Freude mit diesem Siegerband!
Thomas Raschel,
Bürgermeister der Gemeinde Stockstadt am Rhein
Reisen reisen
Gibt es überhaupt einen besseren Ausgangspunkt für eine Geschichte als eine Reise? Da kann man als Schreibende(r) Abschiede und Ankünfte spannungsreich schildern, da sind Irrungen und Wirrungen schon vorprogrammiert – besonders bei Bahnreisen – und da gibt es unendlich viele Einfallstore für das Originelle und Unerwartete. Begegnungen mit anderen Charakteren müssen nicht herbeikonstruiert werden, sondern ergeben sich zwanglos von selbst.
Nicht umsonst bilden Roadstories ein eigenes und beliebtes Genre, in das sich von Romantik über Fantasy bis Kriminalistik vielerlei Ingredienzen gut einbauen lassen. Die Konflikte, auf denen Geschichten ja basieren, ergeben sich beim Reisen von selbst – wie es wohl jeder aus dem eigenen Leben bestätigen kann. Und man hat gleichsam automatisch einen philosophischen Subtext, weil jede Reise ja auch als Spiegelbild der Lebensreise im Allgemeinen gesehen werden kann.
In unserem Wettbewerb war der erlaubte Umfang nicht wirklich ausreichend für eine veritable Roadstory, allenfalls ein Ausschnitt davon passte auf die 20 Seiten. Aber auch darin lässt sich vieles unterbringen – und wurde auch untergebracht. Jeder Teil hat seine eigenen Spannungsmomente.
Im wirklichen Leben geht es bei einer Reise vor allem um das Ziel, das man erreichen will. Literarisch dagegen spielt das, was unterwegs passiert, oft die viel größere Rolle. Denn die reisende Person soll ja nicht etwa zu einem Ort reisen, dort einige Zeit verbringen und schließlich als dieselbe wieder nach Hause zurückkehren, die sie vorher war. Das Gesetz des Schreibens verlangt gewissermaßen, dass die Hauptfigur während und aufgrund der Reise eine Entwicklung durchmacht und als jemand anderes zurückkehrt. Oder gar nicht zurückkehrt, auch das wird gerne genommen.
Es geht also um Veränderung im Inneren, und die ganzen Äußerlichkeiten der Reise sind ein Hilfsmittel – ein Vehikel, um im Thema zu bleiben – um das innere Geschehen auszulösen. Die erzählerischen Voraussetzungen für eine interessante Geschichte sind also mit dem Reisethema alle gegeben, aber natürlich tut es das nicht allein. Die zündende Idee braucht es immer noch, die aus dem Erwartbaren das Unerwartete herauslockt, im Erstaunlichen das Glaubwürdige findet, aus einem Universum von Möglichkeiten einen tragfähigen Handlungsfaden auswählt.
Also doch große Aufgaben für den Autor oder die Autorin. Welch ein Glück, dass man in unserem Wettbewerb nicht die künstlerische Perfektion wie für den Büchner-Preis aufweisen muss, sondern dass zum Beispiel frische Ideen, gutes Schreib-Handwerk, eine glaubhafte Darstellung von Personen und Emotionen oder die richtige Mischung aus Realität und Fantasie eine Auszeichnung ermöglichen. Kommt all das zusammen, kann es sogar mit dem ersten Platz belohnt werden, so auch in diesem Jahr.
Schauen wir aber noch kurz auf die Arten von Reise, die sich in den Einsendungen dieses Jahres fanden. Viele Arten von Verkehrsmitteln sind vertreten: Gereist wurde zu Fuß oder per Fahrrad, mit dem Auto oder der Bahn, natürlich auch im Flugzeug. Oder mit eigenen Schwingen, denn auch Tiere waren unterwegs. Reisen hatten romantischen oder kriminalistischen Hintergrund, es ging um Erholung oder um Geld, ums Geschäft oder um ein neues Leben.
Wenn es einen inhaltlichen Schwerpunkt gab, dann wohl die Flucht vor dem Alltag, dem Bekannten, vor all den Zumutungen, denen wir heute ausgesetzt sind. Das ist nur verständlich, wer möchte nicht die Krisen, Kriege und Katastrophen einmal hinter sich lassen, abschütteln durch einen Wechsel des Orts und am liebsten gleich des ganzen Lebens. Eskapismus ist nicht verboten und wird mit zunehmender Komplexität der realen Welt sicher noch verlockender. Da sind wir vielleicht auch bei der Fantasy-Welle, die in den letzten Jahren den Buchmarkt geprägt hat (und zunehmend auch unsere Buchmesse im Ried).
Wer als Schreiber oder Schreiberin ein großes Ziel erreichen will, für den sind auch jede Veröffentlichung und jeder Wettbewerb, an dem man teilnimmt, eine Station auf der Reise. Alle Teilnehmer in diesem Wettbewerb haben bei uns auf der Durchreise einen Halt gemacht, hoffentlich einen erfreulichen. Beim Reisen gewinnt man doch immer etwas – und sei es nur Erfahrung.
Das Spektrum der ausgezeichneten Geschichten ist wieder breit, Unterschiedliche literarische Ansätze trafen auf ebenso unterschiedliche Geschmäcker innerhalb der Jury, und in den Diskussionen konnten sich Texte ganz verschiedener Art durchsetzen.
So ist das Siegerbuch wieder ein Kaleidoskop gehaltvoller Geschichten, jede auf ihre Art lesenswert, und auch eine Leistungsschau der Literaten im Großraum um Stockstadt am Rhein. Viele neue Namen sind wieder unter den Ausgezeichneten, bekannte „Wiederholungstäter“ aber auch.
Nun wie üblich eine kurze Vorstellung der Siegertexte dieses Jahres.
Im Hauptwettbewerb ging der erste Preis an:
– Herr Schepergerdes, mein Urlaub und ich von Jutta Janzen (59) aus Darmstadt. Eine rundherum gelungene Geschichte, die Fragen von Identität und Beziehungen auf glaubwürdige und klischeefreie Weise aufgreift, dabei stilsicher und heiter im Ton ist.
Den Ehrenpreis „Riedschreiber“ für den besten Text eines Vorjahressiegers oder einer Vorjahressiegerin hat die Jury diesmal zweifach vergeben:
– Immer dem Fluss nach von Tamara Krappmann (41) aus Pfungstadt. Eine fantasievolle Schilderung zum möglichen Ende der Lebensreise, mit vielen Bezügen und ohne Sentimentalität.
– Differenziert denken – Weil man kann das Unheil ja sehen von Robin Dietz (55) aus Darmstadt. Atemlose Reise in die enge Innenwelt eines der Menschen, die sich heute oft laut bemerkbar machen.
Zweite Preise vergab die Jury für:
– Zwei Tage, zwei Nächte von Julia Veits (46) aus Darmstadt. Vielfältige authentische Eindrücke von einem anstrengenden Beruf, in dem man immer nur auf der Durchreise ist.
– 2049 von Angela Regius (32) aus Frankfurt am Main. Eine dystopische Geschichte vor unscharfem Hintergrund, die auf engem Raum und in dichter Atmosphäre vom „Coming of Age“ erzählt.
Einen dritten Preis bekamen drei Erzählungen:
– Leben Sie wohl von Thomas Fuhlbrügge (48) aus Altheim. Eine Reisegeschichte der ganz anderen Art, in der menschliches Drama deutsche Behördengründlichkeit trifft, mit gelungenem Spannungsbogen.
– Tunnelblick von Nina Brenke (39) aus Groß-Gerau. Die Reise aus dem irdischen Leben kann trotz Traurigkeit auch schön sein, wenn sie so atmosphärisch und unaufdringlich geschildert wird.
– Kolumbus, Clooney und ich von Uwe Krüger (58) aus Waldbrunn. Wenn Tiere reisen, sind es doch die Menschen, die miteinander zurechtkommen müssen – eigenwillige Eindrücke aus einem Mikrokosmos.
Ein Spezialpreis „Horror“ ging an:
– Es ist an der Zeit von Dieter Stiewi (59) aus Offenbach. Eine schräge Geschichte mit Fantasy-Elementen und überraschender Wendung.
Förderpreise vergab die Jury für:
– Fremdenzimmer von Simon Kümmling (32) aus Frankfurt am Main. Eine kriminalistische Episode mit viel innerer Handlung und angedeutetem Motiv.
– Windstille von Kathrin Engeroff (36) aus Groß-Gerau. Familiendrama mit sozialen Elementen, gespiegelt in den Erscheinungen der Natur.
– Mutteridyll von Marie Ritter (23) aus Tübingen. Dichte Erzählung ohne Zugeständnis an gesellschaftliche Erwartungen – Menschen, Tiere, Depressionen.
In der Jugendkategorie wurden zwei Geschichten mit Preisen ausgezeichnet:
– Game over von Alyssa Sara Schaefer (17) aus Dornheim. Jugendfantasy mit Machtfantasien in der Tradition einschlägiger Romanwelten.
– Schillernde Seelenscherben von Sara Weber (17) aus Worfelden. Beziehungsreise zwischen Romantik und Enttäuschung, gespiegelt in einem Farbenspiel.
Allen Siegerinnen und Siegern gratulieren wir zu ihren Preisen und vor allem zu dem Talent, das sie bewiesen haben! Ihnen und allen, die teilgenommen haben, wünschen wir für die Zukunft noch viele literarische Erfolge. Wenn der Stockstädter Literaturwettbewerb noch oft dazu beitragen kann, würden wir uns freuen!
Für die Jury
René Granacher
Jutta Janzen:
Herr Schepergerdes, mein Urlaub und ich
Tamara Krappmann:
Immer dem Fluss nach
Robin Dietz:
Differenziert denken — Weil man kann das Unheil ja sehen
Julia Veits:
Zwei Tage, zwei Nächte
Angela Regius:
2049
Thomas Fuhlbrügge:
Leben Sie wohl
Nina Brenke:
Tunnelblick
Uwe Krüger:
Kolumbus, Clooney und ich
Dieter Stiewi:
Es ist an der Zeit
Simon Kümmling:
Fremdenzimmer
Kathrin Engeroff:
Windstille
Marie Ritter:
Mutteridyll
Alyssa Sara Schaefer:
Game over
Sara Weber:
Schillernde Seelenscherben
Alle Siegerinnen und Sieger des Stockstädter Literaturwettbewerbs
Sponsoren
Herr Schepergerdes, mein Urlaub und ich
„Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie.“ Ralf Rothmann (*1953)
Ich sollte meinen Resturlaub nehmen, Herr Schepergerdes hatte mich darauf mehrfach hingewiesen. „Bis Ende März muss Ihr Urlaub angetreten sein, sonst verfällt er. Futschikato, verschenkt, versenkt“, hatte mein Chef mir an einem Mittwoch Anfang März angedroht. „Ich sag Ihnen das nun zum letzten Mal, Tilla.“ Er fuchtelte mit seinem Zeigefinger in der Luft herum. Es hatte Gründe, warum ich in diesem Jahr keinen Urlaub mehr genommen hatte. Juri und ich wollten eigentlich ins Tannheimer Tal zum Langlaufen fahren. Doch dann hatte Juri es sich anders überlegt. Gleich nach Neujahr trennte er sich von mir und zog aus. Ich fragte mich, wie er so schnell eine Wohnung gefunden hatte, bei der Wohnungsmarktlage. Er musste die Trennung schon länger vorgehabt haben, von langer Hand geplant, wie man so sagt. Ich jedenfalls hatte es nicht kommen sehen. Weihnachten und Silvester hatte er noch abgewartet, ausgehalten vielleicht sogar, fand das wahrscheinlich rücksichtsvoll, empathisch. Ich fand es feige und beschissen, richtig beschissen.
Seit Juri ausgezogen war, wollte ich, dass er zurückkam. Oder ich nicht mehr zurück in unsere Wohnung musste, die nun allein meine Wohnung war. Sie war zu einem Stillleben geworden, ein skurriles Kunstprojekt, eine Performance. Nichts hatte ich seither verändert, ich hatte die Wohnung sich selbst überlassen. Der Staub, die Krümel, die dreckigen Fußspuren von Juris Umzugshelfern, das benutzte Geschirr, die vergilbten Zeitungen, die abgefallenen Blätter der Montsera, die Lisa uns geschenkt hatte, als wir zusammengezogen waren. „Eine Liebespflanze“, hatte sie gesagt und zu süß gelächelt.
Ich schaute die E-Mails nach Kundenbestellungen durch und überlegte parallel, wie ich das mit dem Urlaub machen sollte. Alleine in Urlaub zu fahren, war nichts für mich und auf die Schnelle eine Begleitung zu finden, unrealistisch. Ehrlich gesagt, wollte ich auch gar nicht wegfahren. Routine half mir, nicht dauernd in die tiefen Löcher meiner Seele zu fallen. Von Ladenöffnung bis Ladenschluss arbeiten und dann zu Hause aufs Sofa, die Decke über den Kopf ziehen, so war ich einigermaßen durch die letzten zwei dunklen Monate gekommen. „Ich lasse den Urlaub verfallen“, sagte ich zu Herrn Schepergerdes. Dabei sah ich ihn nicht an, sondern scrollte sinnlos auf dem Bildschirm hoch und runter. Er war dabei, die Novitäten auszupacken, die der Paketdienst heute Morgen gebracht hatte, und setzte Bücherstapel vor die Roman- und Sachbuchregale, damit ich sie später alphabetisch einsortierte. Herr Schepergerdes hielt inne und sah mich über den Brillenrand an. „Das kommt nicht in Frage“, sagte er bestimmt, faltete geräuschvoll ein Plakat auseinander, das zwischen den Büchern gelegen hatte. Ich vermutete, dass die Diskussion damit für ihn beendet war. Etliche Male hatte er mir schon Vorträge darüber gehalten, wie wichtig er Urlaub fand, dass jeder Mensch Auszeiten brauchte, um in seiner Balance und in seiner Kraft zu bleiben und so was. Manchmal dachte ich, er sollte besser nicht so viel von diesen Lebenshilfebüchern ins Sortiment aufnehmen, das war nicht gut für ihn. „Es gibt so tolle Anbieter von Gruppenreisen. Gerade für junge Leute. Da kann man sich auch alleine anmelden“, fing er dann doch wieder an. Herr Schepergerdes wusste das mit Juri. Als es passierte, war ich oft mit verquollenen Augen in den Laden gekommen und hatte das Gefühl, ich müsste ihn informieren. „Ist nichts für mich“, sagte ich, verschwand in die hintere Ecke des Buchladens und füllte das Kinderbuchregal auf, wischte Staub weg, wo keiner war. In letzter Zeit hatte ich mich oft hierher verdrückt, um meine Ruhe zu haben. Quasi als Legitimation nahm ich immer einen Staublappen mit.
Abends lief ich mit hochgezogenen Schultern durch das feucht-kalte Grau der Kreisstadt nach Hause. Es roch nach Holzbrand und Stadtluft, die nicht nach oben abziehen konnte. Als ich die Haustür aufschloss, sah ich, dass an meinem Briefkasten ein handgeschriebener Zettel klebte. Meine Nachbarin aus dem Erdgeschoss hatte Post für mich angenommen. Ich klingelte bei ihr, sie überreichte mir einen braunen, gepolsterten Umschlag.
Oben in meiner Wohnung knipste ich das Licht nicht an. Ich hatte mir angewöhnt, mich von meiner Handytaschenlampe durch den Flur ins Wohnzimmer navigieren zu lassen und dort die Stehlampe einzuschalten, die man dimmen konnte. So sah ich nicht zu viel von all dem, was da war und was weg war. Meinen Mantel warf ich auf den Sessel und mich aufs Sofa unter den Lese-arm der Lampe. Ich war neugierig, was in dem Umschlag steckte. Es stand zwar eine Adresse darauf, aber bei dem spärlichen Licht konnte ich das Krickelkrakel nicht entziffern. Ich zog ein Buch heraus. Ein graues Buch mit flexiblem Umschlag, vorne ein Bild, das nur aus Farben bestand, gelb und blau und braun, irgendwie – naja – durcheinandergeschmiert. Jakob Neuhaus stand auf dem Cover und Leichtes Leben. Jakob Neuhaus? Sagte mir nichts. Ich sah in der Verpackung nach, ob darin noch irgendetwas steckte. Eine Notiz vielleicht, irgendwelche Zeilen, die mir sagten, was es mit dem Buch auf sich hatte. Nichts dergleichen. War eigentlich auch klar, der Absender hatte auf den Umschlag BüWa für Bücher-und Warensendung geschrieben. Ich schlug das Buch auf. Es roch, als hätte jemand geraucht. Die Titelseite trug eine Widmung. „Liebe Tilla, schau: mein erstes Buch. Wie findest du es? Sei herzlich gegrüßt, Tom.“ Dahinter stand eine Telefonnummer. Mir fiel nicht gleich ein, wer Tom war. Dann erinnerte ich mich.
Bevor ich meine Buchhändlerinnen-Lehre bei Herrn Schepergerdes begann, hatte ich mich in Mainz für ein Psychologiestudium eingeschrieben. Ein Versuch, unter dem Deckmantel der Wissenschaft besser zu verstehen, wer ich war und warum sich in mir manches so komisch anfühlte. Eine Therapie kam für mich nicht in Frage, schließlich war ich ja nicht richtig ballaballa. Leider waren die Vorlesungen und Seminare weit weniger spannend und aufschlussreich, als ich es mir vorgestellt hatte. Das ewige Heruntergebete von Studien langweilte mich. Spätestens als die Statistik- Credits fällig wurden, wusste ich, das mit der Uni ist nichts für mich, und ließ es wieder bleiben. Für das Studium war ich nach Mainz gezogen. Tom und ich wohnten beide in dieser günstigen Vierer-WG in der Neustadt, 5. Stock, ohne Aufzug. Er hatte sein Ethnologiestudium abgeschlossen und war auf dem Sprung, für eine ungewisse Zeit nach Kolumbien zu gehen. Ich konnte nicht sagen, dass wir uns wirklich kennengelernt hätten. Flachserei gab es zwischen uns, vielleicht haben wir hin und wieder geflirtet. Ein paar Mal sprachen wir über Bücher, die wir gelesen hatten. Trotzdem blieb er mir suspekt. Höchstens zwei Monate nachdem ich eingezogen war, verließ er die WG. Einige Zeit später ging ich zurück in die Kreisstadt auf der anderen Rheinseite, in der ich aufgewachsen war und in der Herr Schepergerdes seine Buchhandlung führte. Seltsam, dass Tom ausgerechnet mir sein Buch schickte. Woher kannte er eigentlich meine Adresse?
Ich drehte das Buch um und las den Klappentext. Es war eine Art Coming of Age-Roman, in dem ein junger Mann sich im Kontakt mit Frauen ausprobierte. Ich gähnte, und mein Magen knurrte. Der Kühlschrank gab nur Vollkorntoastbrot, laktosefreien Frischkäse und eine halbe Salatgurke her. Ich aß und schmeckte nichts. Im Bett wälzte ich mich gefühlte Stunden von einer Seite auf die andere, dachte an Juri und übte, nicht an ihn zu denken.
Morgens war meine erste Aufgabe, die Bücher, die nachts vom Grossisten geliefert worden waren, den Kundenbestellungen zuzuordnen und ins Abholregal einzusortieren. Ich war überrascht, als ich auf dem Bücherkarton einen Flyer vorfand. Herr Schepergerdes musste ihn für mich darauf gelegt haben. Der Flyer war ein Veranstaltungsprogramm der Bücherfrauen. Ich kannte den Verein, in dem Frauen aus der Buchbranche organisiert waren. Eine Sommerakademie war rot angekringelt. In der Beschreibung stand, dass literarische Texte diskutiert und interpretiert würden. Spaß wurde versprochen und Sport in wunderbarer Umgebung auf Sylt. Mein Herz machte einen Hüpfer, ich bremste es aus. Als Herr Schepergerdes aus seinem Büro kam, regte er sich über den Hype um einen Autor der Pop-Literatur auf und wies mich auf den neuen regionalen Ausflugsführer hin, von dem er ein Exemplar ins Schaufenster gestellt hatte. Über den Flyer verlor er kein Wort.
Abends klickte ich mich unter dem Lichtkegel meiner Leselampe durch die Website der Bücherfrauen. Auf Sylt war ich noch nie gewesen, und ein Literatur-Workshop mit Autorinnen, Lektorinnen, Übersetzerinnen, Verlegerinnen und Buchhändlerinnen klang mehr als gut. Der Preis allerdings war viel zu hoch für mich. Schließlich war ich noch in der Ausbildung und musste nun eine Wohnung allein finanzieren. Den Sylt-Workshop konnte ich vergessen. Damit dieser Abend rumging, ohne dass ich zu viel an Juri dachte, sah ich mir Last-Minute-Angebote an, Pauschalreisen und so was. Ein Tripp auf die Kanaren wäre schon schön und Wärme würde mir guttun, aber was sollte ich da alleine? Und überhaupt: Welchen Sinn machte Urlaub ohne Juri? Ich dachte an unsere Woche in Kopenhagen, an unsere Reisen nach Kuba und Laos. Wir waren uns immer nah gewesen. Zumindest hatte ich das so empfunden. Und jetzt war Juri weg. Alles in mir fühlte sich so leer und verloren an. Das Leben war ein Abgrund.
Mein Blick fiel auf Toms Buch. Ich schlug die Seite mit seiner Telefonnummer auf, griff nach meinem Smartphone und schrieb ihm per Signal.
„Hallo Tom, danke für das Buch. Eine echte Überraschung! Viele Grüße, Tilla“
Keine Minute später kam seine Antwort.
„Liebe Tilla, schön, dass du schreibst. Wie geht es dir?“ Darunter ein Smiley, das ein Herz zupustet.
„Alles okay“, schwindelte ich. Schließlich kannte ich Tom so gut wie nicht und überhaupt, per Signal würde ich niemals jemandem meine Gefühlswelt offenbaren.
„Lust zu telefonieren?“
„Lebst du denn wieder in Deutschland?“
„Ja, in Hamburg. Also? Telefonieren?“
„Passt gerade nicht, bin auf dem Sprung.“ Ich schwindelte wieder.
„Morgen?“
„Könnte gehen.“
„Dann bis morgen.“ Darunter das Herzsmiley.
Als ich am nächsten Tag zum Buchladen kam, empfing mich Herr Schepergerdes mit strahlendem Lächeln. Obwohl der Tag trüb war, stand er in der sperrangelweit geöffneten Tür, als hätte er nach mir Ausschau gehalten. „Es gibt gute Nachrichten“, trompetete er mir entgegen. „Sehr gute Nachrichten.“ Er machte es spannend und hatte offensichtlich Spaß daran. „Wie wär’s mit Guten Morgen?“, sagte ich mürrisch. Für so gute Laune war ich noch viel zu müde. Ich quetschte mich an seinem runden Bauch vorbei, hängte meinen Mantel in die Kammer, stellte meinen Rucksack ab und ging an die Arbeit. Herr Schepergerdes kam hinterher, schwänzelte um mich herum, wie einer, der etwas ausgetüftelt hat und danach gefragt werden will. Mir war nicht nach solchen Spielchen, und ich tat, als würde ich hochkonzentriert Lieferscheine prüfen. In Wirklichkeit ging mir Tom durch den Kopf. Es war schon damals so gewesen, dass mich etwas an ihm angezogen und gleichzeitig zur Vorsicht gemahnt hatte. Ich fühlte mich verkatert, obwohl ich gestern keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte. Die Nacht war katastrophal gewesen.
Herr Schepergerdes hielt es offenbar nicht aus, dass ich ihm keine Aufmerksamkeit schenkte. „Kommen Sie mal in mein Büro, Tilla.“ Das fand ich seltsam, denn er bestand eigentlich darauf, dass immer jemand im Buchladen war. Falls Kunden reinkamen und Buchempfehlungen brauchten, und klauen sollte natürlich auch niemand etwas. Ich verdrehte die Augen und schlurfte hinter ihm her. Die Luft in seinem so genannten Büro war stickig, es war eher ein Abstellraum mit Schreibtisch. Überall standen Kartons herum, Türme von Leseexemplaren, Verlagsvorschauen stapelten sich. Er setzte sich an den kleinen runden Tisch und wies auf den zweiten Stuhl, „nehmen Sie Platz“. Ich roch sein würziges Rasierwasser, er wirkte aufgedreht.
Herr Schepergerdes eröffnete mir, dass er mich für das Seminar der Bücherfrauen angemeldet hatte. „Ich musste darum kämpfen, denn eigentlich dürfen vor allem Mitgliedsfrauen teilnehmen.“ Er schaute stolz. Ich fühlte mich komisch, einerseits freute ich mich, andererseits störte es mich, dass er über meinen Kopf hinweg Fakten geschaffen hatte. „Vergessen Sie’s“, sagte ich und kreuzte die Arme vor der Brust. „Ich kann nicht stornieren, ich musste sofort überweisen, sonst wäre der Platz weg gewesen. Betrachten Sie es als Weiterbildung“, sagte er und stand auf. „Bitte nach Ihnen.“ Seine Hand machte die passende Geste. Ich brummelte einen halbherzigen Protest. Schließlich bedankte ich mich, ein Lächeln konnte ich nicht unterdrücken.
Das Telefonat mit Tom verlief fröhlich, erstaunlicherweise beinahe vertraut. Wir sprachen über die Zeit in Mainz, er erzählte von Kolumbien und brachte mich zum Lachen. Zwischendurch sagte er Sätze wie, „das hat mir schon immer an dir gefallen“ und „da waren wir uns schon damals so ähnlich.“ Für meine geschundene Seele war das wie mein selbstgemachtes Mango-Kokos-Eis, cremig und köstlich. Aus dieser verrückten Stimmung heraus erzählte ich Tom, dass Herr Schepergerdes mich zu dem Workshop angemeldet hatte. „Was, du fährst nach Sylt? Da musst du mich in Hamburg besuchen!“ Ich würde sowieso in Altona umsteigen und könnte das Wochenende vorher anreisen, bei ihm übernachten. Montags wäre ich pünktlich zum Seminarbeginn auf Sylt. Mir wurde schwummerig und gleichzeitig fühlte ich mich auf eine eigenartige Weise gut. „Ich muss mir das überlegen“, sagte ich. In der Nacht schlief ich tief und träumte schön, bis mein Wecker klingelte.
Als ich in die Buchhandlung kam, nervte mich Herr Schepergerdes schon wieder. Er wollte wissen, ob ich ein Zugticket gebucht hätte.
„Nö, noch nicht.“ Ich gab mich lässig.
„Sie können das auch von hier aus erledigen. Sie haben nur noch eine knappe Woche, dann geht das Seminar los“, drängte er mich.
„Ich muss mich um die Remittenden kümmern“, wich ich aus. Das kam eine Nuance zu schroff. Wegen der Sache mit Hamburg hatte ich mich noch nicht entschieden, das musste Herr Schepergerdes nicht wissen.
Tom schrieb mir regelmäßig, schickte Gedichte und Memes, über die ich lachte. Immer kam ein Kusssmiley, manchmal kamen zwei. Mein Zwerchfell reagierte seltsam darauf. Ich fühlte mich geschmeichelt, irgendwie begehrt. Trotzdem störte da etwas. Ich blieb in meiner Wortwahl nüchtern, wenn ich ihm antwortete, Emojis und Memes waren ohnehin nicht mein Ding.
„Wie sieht es aus. Wann kommst du nach Hamburg?“, schrieb er, als ich gerade dabei war, nach einer günstigen Bahnverbindung zu schauen.
„Das klappt allenfalls auf der Rückfahrt.“
„Du enttäuschst mich! Überleg es dir noch mal.“ Zwinkersmiley, drei küssende Smileys.