Auf der Tonnenseite des Lebens - Antje Leser - E-Book

Auf der Tonnenseite des Lebens E-Book

Antje Leser

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Beschreibung

Natürlich hat Joel schon von geretteten Lebensmitteln gehört. Aber nachts selbst die Supermarkt-Container durchwühlen? Eher nicht. Bis Studentin Merle ihn darum bittet, für ihren Nachhaltigkeits-Blog zu recherchieren. Joel taucht ein in eine ihm bisher unbekannte Welt. Und stellt schnell fest, dass nicht nur Ökos und Weltverbesserer nachts containern gehen. Sondern auch Mädchen wie Kira, die damit hilft, ihre Familie zu ernähren. Joel gerät ins Grübeln, denn die reißerischen Methoden von Merle, die immer heftigere Storys für ihren Kanal verlangt und dabei so gar keinen Sinn für soziale Gerechtigkeit hat, gefallen ihm überhaupt nicht. Schließlich muss er sich entscheiden, auf welcher Seite er eigentlich steht. Und das wird auf eine harte Probe gestellt, als er und Kira eines Nachts erwischt werden … Sozialkritisch und klug – Antje Leser erzählt in ihrem neuen Jugendroman von den brennenden Themen unserer Zeit: Klimagerechtigkeit, Green Washing und der Verschwendung von Lebensmitteln.

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Seitenzahl: 321

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ANTJE LESER

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

1

Lautes Hupen reißt mich aus dem Tiefschlaf. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und versuche, wieder einzuschlafen. Mein Biorhythmus kommt vor zwölf nicht in die Gänge. Und ich finde, daran muss sich auch heute nichts ändern.

Es wird stickig unter der Decke. Das Hupen ist nur minimal leiser geworden. Außerdem telefoniert jemand lautstark. Eine Frau. Direkt unter meinem Fenster.

»Alter, wo bleibst du? Ich dachte, du wolltest mir beim Umzug …! Was …? Wie, du kannst nicht kommen? … Deine Corona-App ist gerade auf Rot gesprungen?! … Alter, ist mir doch scheißegal! Schwing deinen Arsch …! Echt jetzt?! Boah, du bist so scheiße! … Weißt du, was? Fick dich! … IDIOT!«

Mann! Kann die ihre Probleme nicht woanders lösen? Genervt strample ich die Decke zurück und wanke zum Fenster. Ich will es gerade zuknallen, als mich die Sache da unten doch fesselt.

Direkt vor unserem Haus parkt ein weißer Sprinter in zweiter Reihe. Die hintere Flügeltür steht offen, unmittelbar davor und mit laufendem Motor ein Fuzzi in einem schwarzen Land Rover, dunkle Sonnenbrille, offenes Hemd, Typ Großkotz. Weil er nicht vorbeikann, stimmt er ein neues Hupkonzert an. Und dann ist da diese Frau. Ihr Gesicht kann ich von hier oben nicht sehen, denn sie trägt eine Baseballcap. Umso genauer sehe ich, wie sie dem Fahrer des Land Rovers gerade den Stinkefinger zeigt.

Was dieser gar nicht gut aufnimmt. »Fahr gefälligst deine dämliche Karre aus dem Weg, blöde Kuh!«, brüllt er aus dem Wagenfenster, während Miss Cool vollkommen ungerührt eine Kiste aus dem Sprinter zerrt und kurz darauf in unserem Hausflur verschwindet.

Alter!, denke ich. Zieht die etwa bei uns ein? Dann sollte ich ihr wohl ein wenig zur Hand gehen. Am besten noch, bevor das Ordnungsamt eintrifft.

Während ich in meine Klamotten fahre, biegt bereits das nächste Fahrzeug um die Ecke. Bevor es sich hinter dem Land Rover einreiht, bin ich schon aus der Wohnung. Als ich ins Treppenhaus stürze, renne ich direkt in Miss Cool und ihren Karton hinein. Sie strauchelt, der Karton rutscht ihr aus der Hand, und ich greife reflexartig zu, bevor das Teil auf dem Boden landet. Ganz kurz berühren sich dabei unsere Fingerspitzen und mich durchläuft ein Schauer. Seit dieser Scheiße mit Corona bin ich keinem mehr so nah gekommen. Es ist ein vollkommen irres Gefühl. »Uuuups!«, mache ich und packe fester zu. Der Karton ist ziemlich schwer. »Brauchst du Hilfe?«

Sie hat ihr Gleichgewicht wiedergefunden und richtet sich auf. Ihre blauen Augen scannen mich von oben bis unten. Als ich das mit der Hilfe sage, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. »Oh mein Gott, das wäre großartig!«, ruft sie begeistert. »Die da draußen haben es auf mich abgesehen.« Sie trägt verwaschene Hotpants, weiße Sneaker und ein bauchfreies dunkelrotes Boho-Shirt.

»Willkommen im Haifischbecken der City«, sage ich und bemühe mich, nicht auf das Tattoo zu starren, das ihren Bauchnabel in feinen Linien umrankt. Heilige Scheiße!

»Besonders Typen wie der da in seiner Obermotzkarre. Die habe ich ohnehin gefressen. Machen einen auf dicke Hose, haben aber nichts in der Birne.« Sie verdreht theatralisch die Augen. Dann zwinkert sie mir zu. »Ich bin Merle. Hi.«

»Joel«, sage ich und strahle sie an. »Wo soll der Karton hin?«

Sie wirft einen Blick in unser frisch renoviertes Jugendstil-Treppenhaus, das mit einem bunten Glasdach abschließt. »Nach oben. Dachgeschoss. Letzte Tür links.«

»In die Studi-WG?«, frage ich und erinnere mich, dass dort ein Zimmer leer steht, seit alle Welt wieder nach Hause zu Mama und Papa gezogen ist.

»Ja genau. Komm, ich zeig’s dir.«

Langsam folge ich Merle, die immer zwei Stufen auf einmal nimmt, und bemühe mich, nicht auf ihren Hintern zu starren. »Studierst du auch hier an der Uni?«, fragt sie, ohne sich nach mir umzudrehen.

Okay, jetzt muss ich mich wohl outen. Schade eigentlich. »Nee, ich …« Ich bleibe stehen und wechsle den Karton auf die andere Schulter. »… ich bin gerade in die Zwölf gekommen.«

Sie dreht sich abrupt um. »Ach, echt?« Sie mustert mich ein weiteres Mal, diesmal, als wäre ich ein besonders interessantes Exemplar in einer Ausstellung voll mutierter Lebewesen. »Wie alt bist du denn?«

»Siebzehn.«

»Krass.«

»Wieso?«

»Na, was man mit Gammastrahlen so alles ausrichten kann!«

»Haha!« Immer diese Anspielungen. So langsam hab ich’s satt. Ich bin nicht wirklich glücklich über meine zwei Meter und ein paar Zerquetschte. Klar, beim Sport ist es praktisch. Mit vierzehn habe ich angefangen, Rugby zu spielen. Aber im Alltag haue ich mir ständig die Birne an, weil die Welt nun mal für kleinere Leute optimiert wurde. Das geht schon zu Hause los: Ich kriege die Beine kaum unter den Tisch, stoße mir den Kopf am Türrahmen, mein Bett ist zu kurz, meine Decke ebenfalls. Klamotten und Schuhe in meiner Größe sind Mangelware, und beim Bus-und-Bahn-Fahren komme ich erst weiter, seit ich die Origami-Technik beherrsche: Zusammenfalten, bis der Arzt kommt.

Merle hat das tollste Zimmer in der WG: knapp zwanzig Quadratmeter groß, helle Holzdielen, kleiner Dachbalkon mit Blick auf Hinterhäuser und eine verwilderte Gartenlandschaft. Ich will nicht wissen, was sie dafür zahlt. »Wow!«, sage ich und stelle den Karton vorsichtig ab.

»Oh, bitte nicht hier!«, ruft Merle und dreht sich einmal um sich selbst. »Stell ihn … da drüben hin.« Sie zeigt in die andere Ecke des Zimmers. »Aber bitte nicht schieben. Wegen der Dielen. Der Vermieter hat mich extra darauf hingewiesen.« Sie zwinkert mir zu. »Sie sind historisch. Denkmalschutz und so.«

»Kein Problem«, sage ich und trage den Karton in die andere Zimmerecke. »Soll ich dir mit den anderen Kisten auch noch helfen?«

»Das wäre super!« Ihre Augen lächeln mich an. Sie sind so blau, dass es wehtut.

»Äh, ja klar. Kein Problem. Also, ich hab gerade ohnehin nichts vor.«

Merle ist schon aus der Wohnung. Leichtfüßig hüpft sie die Treppen hinunter, während sie mir über die Schulter zuruft: »Wie wäre es, wenn wir erst alles ausladen und unten im Treppenhaus abstellen? Dann sind wir schneller.«

Mittlerweile hat sich eine lange Schlange gebildet. Die hinteren Fahrzeuge setzen bereits zurück oder versuchen zu wenden. Das funktioniert allerdings nur mit Hupen und wilden Gesten, da unsere Straße wegen der alten Kastanienbäume links und rechts vom Straßenrand ziemlich eng ist. Ich ignoriere die wütenden Verkehrsteilnehmer und konzentriere mich aufs Tragen, während Merle mir Kisten, Möbelstücke und dazu noch eine XXL-Yuccapalme auflädt. Ich bin überrascht, wie viel Zeug in so einen kleinen Sprinter passt, doch irgendwann ist auch die letzte Kiste draußen. Merles Sachen stapeln sich im Foyer und ich freue mich jetzt auf ein ordentliches Frühstück. Mein Magen knurrt nun schon zum dritten Mal hörbar und einen Kaffee hatte ich auch noch nicht.

»Ich fahre das Auto weg. Kommst du klar?«, fragt Merle, während sie sich zum Gehen wendet. »Du kannst einfach alles in mein Zimmer stellen. Das mit dem Ausräumen mache ich dann so nach und nach.«

»Äh«, stammle ich und frage mich, ob sie nicht noch den einen oder anderen Helfer organisiert hat. Doch Merle ist bereits aus der Haustür. Ich höre, wie ein Motor aufheult. Kurz darauf ist sie weg. Der Stau in der Schumannstraße löst sich langsam auf. Vor der Tür kehrt Ruhe ein.

Ich lasse meinen Blick über Merles Sachen wandern. Im Grunde tut mir die Abwechslung ja auch mal ganz gut. Seit Monaten hänge ich nur noch zu Hause rum und zocke. Da kommt so ein bisschen körperliche Arbeit eigentlich wie gerufen. Vor allem, wenn es für Miss Cool aus der WG unterm Dach ist. Ich vertröste meinen Magen auf später und starte durch.

Nach eineinhalb Stunden Schufterei würde ich mich am liebsten auf Merles Matratze hauen und ein Nickerchen halten. Von ihr selbst fehlt jede Spur, und ich mache mir bereits Sorgen, dass sie mit dem Sprinter einen Crash gebaut hat. Ich hätte sie nach ihrer Handynummer fragen sollen. Aber das hätte sie vielleicht falsch ausgelegt.

Unschlüssig stehe ich im Zimmer herum, als ich hinter mir eine Bewegung wahrnehme. In der Tür lehnt einer von Merles Mitbewohnern. Wir sind uns schon ein paarmal im Treppenhaus begegnet. Doch außer einem knappen Hallo haben wir noch kein Wort miteinander gewechselt. Warum Merle ihn nicht als Umzugshelfer angeheuert hat, wird mir bei seiner Größe und Tänzerstatur sofort klar.

»Oh, sorry. Wollte dich nicht erschrecken«, begrüßt er mich und kommt lässig näher. »Du bist doch der Dude von unten?«

»Und?«, frage ich und betrachte mein Gegenüber. Der Typ sieht aus, als käme er gerade von einem Date mit seinem Stylisten: Fancy Ponyfrisur, garantiert frisch gefärbt, denn von Natur aus ist er sicher nicht blond, glatt rasiertes Babyface und – kann es sein, dass er Lidstrich trägt?

Der Typ lässt sich im Schneidersitz auf Merles Matratze nieder. Seine schlanken Finger greifen nach einem Joint, der hinter seinem linken Ohr steckt. »Was ist mit Merle? Ist die nicht da?«, fragt er, während er den Joint anzündet und einen tiefen Zug nimmt. Der süßliche Duft verteilt sich sofort im ganzen Raum. Ich bin mir nicht sicher, ob Merle das cool findet, dass einer in ihrer Bude kifft. Aber es ist nicht meine Sache, ihm das zu stecken.

»Die wollte noch das Auto wegbringen«, sage ich und lasse mich auf eine Bücherkiste fallen.

»Ach so.« Der Typ schnippt lässig seine Asche in Merles Yuccapalme. »Und in der Zwischenzeit machst du ihr den Umzug.«

Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage, aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass ich mich rechtfertigen müsse. »Ach was! Ich habe nur ein paar Sachen hochgetragen. Als Merle vorhin ankam, war sie voll im Stress. Weil sie nirgends parken konnte.«

Der Typ betrachtet mich leicht amüsiert. »Nee, ist klar«, sagt er und bläst mir seinen Rauch ins Gesicht. »Auch mal?«

Ich schüttle den Kopf. »Kaffee wär mir lieber.« Und ein anständiges Frühstück, denke ich. Doch das sage ich natürlich nicht.

»Na, wenn’s weiter nichts ist.« Er erhebt sich in einer einzigen, fließenden Bewegung und geht vor mir her in eine lang gezogene, loftartige Wohnküche. Die hohe Decke ist komplett verglast und erinnert mich irgendwie an ein Gewächshaus. Vermutlich wird es hier demnächst megaheiß, aber cool ist es trotzdem. In der Raummitte befindet sich eine riesige Kücheninsel mit Herd und Bartresen. Die Barhocker davor sind aus buntem Metall und haben diesen typisch abgefuckten Industrial Style, den alle so hypen. Ich lasse mich auf einem der Hocker nieder und sehe dem Typen dabei zu, wie er eine auf Vintage getrimmte Espressomaschine anschmeißt, Kaffee ausklopft, Wasser nachfüllt, Milch aufschäumt. Es sieht alles sehr professionell aus. Schließlich bekomme ich einen Latte Macchiato erster Sahne in einem hohen Becher, was zwar superfancy aussieht, doch ich verbrenne mir ziemlich die Finger an dem heißen Glas.

»Wie heißt du eigentlich?«, will der Typ wissen, während er sich einen Espresso brüht.

»Joel. Und du?«

»Ich heiße Kim Chan-ho. Aber wegen Merle nennen mich hier alle Kim.«

»Wieso wegen Merle?«

Er zuckt mit den Schultern. »Na, eigentlich ist das mein Nachname. Doch bei ihr ist bloß Kim hängengeblieben. Jetzt nennen mich alle so.«

»Und woher kennst du Merle?«, frage ich und blase in meinen Milchkaffee. Es bringt nichts. Außer dass sich die geschäumte Milch an einer Seite auftürmt.

»Aus der Uni. Wir sind uns ein paarmal über den Weg gelaufen. Irgendwann hat sie mich angequatscht und seitdem modle ich für sie.«

»Du modelst für sie?!«

Kim schenkt mir ein feines Lächeln. »Für ihren Kanal auf Instagram.«

»Merle hat einen eigenen Kanal? Was postet sie da?«

Der Typ zieht sein Handy aus der Jeans und tippt darauf herum. Dann hält er mir das Display hin. Ein Profilbild von Merle – perfekt gestylt und mit verführerischem Lächeln. Sie hat einen angebissenen Apfel in der Hand, was ich irgendwie too much finde. Daneben prangt der Name ihres Blogs. »Mit Fairgnügen«, zitiere ich und sehe Kim fragend an.

»Fair Fashion, Lifestyle und Green Living«, erklärt Kim. »Ein paar Marken haben bereits bei ihr angeklopft.«

»Wow!« Ich starre auf eine Unzahl an Fotos und Videos und die vielen Likes daneben. Anscheinend kommt das Ganze ziemlich gut an.

»Merle ist die geborene Influencer-Queen. Was sie postet, ist für ihre Community Gesetz. Irgendwann will sie ihr eigenes Modelabel entwickeln. Und wie ich sie kenne, schafft sie das auch.«

In diesem Augenblick höre ich, wie die Eingangstür zuschlägt. Gleich darauf ertönt ein »Huhu! Ich bin’s!«, gefolgt von einem »Alter! Wer hat denn hier gekifft?«. Dann wird die Küchentür aufgerissen.

Auftritt Merle. In der Hand eine Flasche Sekt. »Joel! Echt jetzt? Ist ja nett, dass du mir beim Umzug hilfst, aber geraucht wird draußen! Okay?!«

»Ich … äh …«

»Merle-Schatz!«, flötet Kim. »Ich war das. Sorry!« Es wirkt nicht, als habe er ein schlechtes Gewissen. »Willkommen im neuen Zuhause.« Er gibt ihr links und rechts ein Küsschen auf die Wangen, was Merle mit einer hochgezogenen Braue quittiert. »Willst du auch einen Latte?«

»Quatsch, Latte! Jetzt wird gefeiert!« Merle schiebt Kim die Flasche über den Tresen und organisiert drei schlanke Sektflöten.

»Ich habe Joel gerade von deinem Blog erzählt«, berichtet Kim, während er den Draht am Sektkorken löst. »Er ist hingerissen.«

»Danke sehr!« Merle wirft mir einen Luftkuss zu, was mein Gesicht zum Glühen bringt. »Allerdings wäre ich nichts ohne mein Kreativ-Team.« Ihr Arm schlängelt sich um Kims Schulter. »Dieser Mann ist wirklich das heißeste Model ever«, haucht sie an Kims Ohr vorbei. »Außer mir, natürlich.«

Kim lässt den Sektkorken knallen. »Natürlich!«

»Außerdem hat er wunderbare Ideen zum Thema Green Living«, erklärt Merle, während ihre Fingerspitzen über Kims Wange streichen. Der viel zu warme Sekt schäumt über und ich schiebe Kim die drei Gläser hin.

»Und dann ist da noch der süße Linus«, ergänzt Kim augenzwinkernd, während er die Gläser füllt.

»Linus ist überhaupt der Beste«, schwärmt Merle. »Er macht nicht nur die Technik, sondern organisiert das mit dem Product Placement. Schließlich wollen wir ja auch ein bisschen was an unserem Blog verdienen.«

»Linus?«

Merle weist in Richtung Flur. »Mein zweiter Mitbewohner. Wir kennen uns schon seit der Schulzeit. Bestimmt seid ihr euch schon begegnet. Blonde Locken, Nerdbrille?«

Ich nicke. Nummer drei ist mir auch schon über den Weg gelaufen. Bloß dass er Linus heißt, wusste ich nicht. Ich nehme mir vor, Merles Blog einmal gründlich auszuchecken. Ich bin nicht so der Social-Media-Typ, aber jetzt bin ich doch neugierig geworden.

Kim schiebt uns die vollen Gläser hin, bevor er nach seiner Sektflöte greift. »Chin-chin!«, ruft er und wir stoßen an.

»Moment! Ich will das für meinen Blog festhalten!« Hektisch greift Merle zu ihrem iPhone, das sie zuvor auf den Tresen gelegt hat. »Zu blöd, dass ich meinen Selfie-Stick noch nicht ausgepackt habe.« Sie hält das Handy eine Armlänge von sich weg und checkt kurz ihr Make-up, während Kim und ich etwas dämlich mit erhobenen Gläsern herumstehen. Schließlich legt sie los: »Hallo, meine Lieben, hier bin ich wieder, eure Merle!« Sie schwenkt das Handy leicht, sodass Kim ins Bild kommt. »Und hier ist der zauberhafte Kim Wong, mit dem ich gerade zusammengezogen bin. Say hello to my followers, Kim!«

»Hi, guys!« Kim setzt ein Profilächeln auf und winkt in die Kamera, doch da hat Merle schon wieder sich selbst im Visier.

»Ja, von Kim und mir werdet ihr demnächst wieder megatolle Videos bekommen. Ihr dürft gespannt sein. Also: Stay in touch, guys!« Jetzt schwenkt ihr Handy nach oben und filmt mich von Kopf bis Fuß. »Und jetzt möchte ich euch noch jemanden vorstellen: Das ist Hulk, mein Roadie.«

Erschrocken weiche ich zurück. »Wie ihr seht, ist er lieber hinter als auf der Bühne. Wink mal meinen Followern, Hulk!«

»Mann, lass das!«, knurre ich und versuche, ihr das Handy abzunehmen. Zu spät wird mir klar, dass ich das grüne Shirt besser nicht angezogen hätte. Jetzt werde ich auf ewig als Merles Hulk in den Socials herumgeistern.

Merle beendet ihr Video. »Hey, Joel!«, ruft sie und lacht. »Ich konnte doch nicht wissen, dass du so empfindlich bist. Come on! Ich lösch das, wenn du willst.« Sie hebt ihr Sektglas und prostet mir zu. »Auf gute Nachbarschaft!« Sie sieht mich auffordernd an.

»Ich bin nicht empfindlich!«

Sie fährt mir über meine unrasierte Wange und ich bekomme eine Gänsehaut. »Nein, bist du nicht. Du bist toll. Und dass du mir geholfen hast, ist echt großartig. Cheers!«

Wir trinken das prickelnde Zeug auf ex. Es schmeckt widerlich süß. Trotzdem weckt es in mir ein schier unglaubliches Gefühl. Das Gefühl, dass mein Leben endlich, endlich!, wieder in die Gänge kommt. Nach all diesen Monaten des Stillstands, der Einsamkeit und des ewigen Wartens.

Später checke ich Merles Blog. Sie hat ein Video von ihrem Umzug unter dem Hashtag »letsmoveplastikfrei« gepostet, in dem sie über Recyclingkartons und nachhaltiges Verpackungsmaterial als Alternative zu Bläschenfolie und Klebeband spricht. Dabei gibt sie unten einen Hersteller an, und ich frage mich, ob dieser sie sponsert. Im nächsten Video stellt sie ihr neues Zuhause vor und erklärt, wie man aus abgehalfterten Möbelstücken eine trendige Einrichtung zaubert. Am Ende des Videos ist zu sehen, wie sie mit Kim und mir anstößt – und natürlich hat sie den Hulk drin gelassen. Aber es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Mit meinem Dreitagebart und dem grünen Shirt, das sich über meiner Brust spannt, sehe ich sogar richtig vorzeigbar aus. Das Video hat bereits 3.314 Aufrufe und 426 Likes. Ich scrolle mich durch Kommentare wie »Cool! Mehr davon!«. Am Ende bleibe ich an »Ich will ein Date mit Hulk! LOL« hängen und denke, dass es hätte schlimmer kommen können.

Ein paar Tage später klingelt es an unserer Wohnungstür. Da meine Mum mal wieder in irgendeiner Zoom-Konferenz sitzt, unterbreche ich nach dem zweiten Klingeln mein Adventure, das ich gerade online mit ein paar Kumpels spiele, und schlurfe zur Tür.

»Hi! Wusste ich doch, dass du zu Hause bist!« Merle. Sie trägt eine schwarze Röhrenjeans und eine superkurze Jeansjacke über einem engen roten Top mit dem Aufdruck »Dream on!«. »Ich wollte mich noch mal bedanken. Fürs Kistenschleppen und so.«

»Kein Ding«, sage ich und versuche, nicht auf den Schriftzug ihres Shirts zu starren. »Also, hab ich echt gern gemacht. Wirklich.«

»Und du bist auch nicht mehr sauer? Wegen Hulk, meine ich?«

Ich schüttle den Kopf. »Nee, passt schon.«

Sie strahlt mich an, und ich spüre, wie ich mal wieder rot anlaufe. »Sag mal, hast du Lust, nächsten Samstag zu meiner Einweihungsparty zu kommen?«

Was für eine Frage! Natürlich habe ich Lust! Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich zuletzt auf einer Party war. Ist auf jeden Fall ewig her.

»Es kommen auch nur ein paar Leute. Ich will nicht gleich Ärger kriegen.« Sie blinzelt mir verschwörerisch zu. »Aber ich würd mich echt freuen. So um neun?«

»Absolut! Soll ich was mitbringen?«

Sie überlegt nur einen Augenblick. »Kartoffelsalat wäre cool. Aber ohne Mayonnaise. Veganer, du weißt schon.«

»Verstehe«, sage ich und frage mich, was man an Kartoffelsalat überhaupt dran macht, wenn nicht Mayonnaise.

»Also dann«, verabschiedet sie sich. »Ich freue mich!«

»Ich mich auch«, sage ich, doch da ist sie bereits im Treppenhaus verschwunden.

2

Musik wummert mir entgegen, als ich die geschwungene Holztreppe nach oben nehme. Immer zwei Stufen auf einmal, während der historische Altbau unter meinen Füßen ächzt. Ich bin total nervös, habe mich dreimal umgezogen und schließlich wieder das angezogen, was ich ursprünglich ausgewählt habe: Jeans und Sneakers, Shirt und offenes Hemd darüber, an den Armen hochgekrempelt. Dazu ein breites geflochtenes Lederarmband, das ich mal vor Ewigkeiten auf dem Weihnachtsmarkt gekauft habe.

Ich nehme die letzten Treppen im Flug. Drücke auf die Klingel neben dem Schild mit den drei Namen. Starre auf die weiß lackierte Doppelflügeltür mit dem geschliffenen Glaseinsatz. Dahinter sehe ich – schemenhaft – jemanden näher kommen. Hoffentlich ist es nicht Kim, der jetzt öffnet! Oder Linus, der Technik-Nerd.

Die Tür geht auf. Ich blinzle gegen das Licht im Flur. Merle. In einem schulterfreien nachtschwarzen Minikleid. »Hey, Joel!« Ich bekomme ein Küsschen auf die Wange. Es ist, als würden wir uns schon ewig kennen und als wäre die Sache mit dem Coronavirus ein verdammtes Märchen. Sie nimmt mir den mayonnaisefreien Kartoffelsalat ab und schwebt barfuß durch den Flur. An ihrem rechten Zeigezeh steckt ein gemusterter Silberring. »Wir sind in der Küche«, wirft sie mir über die Schulter zu.

In der Küche ist die Party bereits in vollem Gang. Aus einem Bluetooth-Lautsprecher dröhnt Musik. Ich schnappe Gesprächsfetzen auf und das rappelnde Geräusch eines Cocktail-Shakers. Im Hintergrund dreht sich eine Discokugel und wirft Lichtkleckse in die Runde. Auf der Küchenablage stapeln sich Salate, Baguettes, Käse und Chips.

»Auch einen Caipi?« Merles Lippen dicht an meinem Ohr. Ihr Atem riecht nach Minze und überdeckt für einen Augenblick den Duft ihres Parfums. Ich bin jetzt schon berauscht.

»Unbedingt«, antworte ich.

»Kim?« Merle gibt ihrem Mitbewohner ein Zeichen und zeigt dann mit einem blutrot lackierten Finger auf mich. »Joel möchte auch so einen!«

Kim lächelt mir zur Begrüßung zu, während er nach einem frischen Glas angelt. Er füllt es zur Hälfte mit geviertelten Limetten, die er geschickt mit einem Holzstößel zerdrückt. Danach gibt er braunen Zucker dazu und füllt das Ganze mit gecrushtem Eis und diesem Zeug auf, von dem ich vergessen habe, wie es heißt.

»Cheers!«

Ich proste ihm zu und lasse mein Glas gegen seine Bierflasche klirren. Dabei fällt mein Blick auf das Etikett. »Corona« lese ich und bekomme sofort schlechte Laune. Schon seltsam, wie einen allein das Wort triggern kann. Hastig nehme ich einen viel zu großen Schluck aus meinem Glas und muss husten. Dieser Rum, oder was auch immer das ist, ist echt heftig! Ein heißes Kribbeln bleibt in meinem Hals zurück. Ich schiebe meinen Hintern auf einen der Metallhocker und beobachte, wie Kim einen weiteren Drink für einen Typen mit kinnlangen Locken mixt. Er mustert mich von Kopf bis Fuß. »Bist du nicht Merles Hulk?«, will er wissen, und ich muss erneut husten.

Kim dreht sich kichernd zur Seite, während ich noch nach Worten ringe. Doch der Typ wartet meine Antwort gar nicht ab, sondern wendet sich wieder seinen beiden Begleiterinnen zu. Grummelnd schwenke ich die Eiswürfel in meinem Drink und sehe zu, wie sie langsam kleiner werden.

»So schnell wird man berühmt«, feixt Kim, nachdem der Typ wieder abgerauscht ist.

»Witzig«, knurre ich und stelle mein leeres Glas zurück auf die Theke.

Kim nimmt schon wieder einen neuen Drink in Angriff. Irgendwas mit Wodka und Cranberrysaft.

»Machst du das öfter?«

»Du meinst Drinks mixen?«

»Na ja, das wirkt alles so profimäßig bei dir. Auch neulich das mit dem Milchkaffee.«

Kim verzieht das Gesicht. »In meinem früheren Leben hab ich mal als Barkeeper gejobbt. Im Long Island.«

Ich pfeife durch die Zähne. Das Long Island ist eine der angesagtesten Lounge Bars in der Südstadt. Ich könnte mir vorstellen, dass man da als Aushilfe nicht schlecht verdient. Oder verdient hat. »Gibt’s den Laden noch?«, frage ich vorsichtig.

Kim zuckt resigniert mit den Schultern. »Seit Beginn der Pandemie haben die zu.«

»Voll schade«, bemerke ich.

»Ja, oder? Apropos: Willst du noch einen?«

Ich nicke und schiebe mein leeres Glas über den Tresen.

Souverän mixt Kim mir einen weiteren Caipi, während ich meinen Blick durch die Küche wandern lasse. Die hohen Wände sind voller Fotos, die bei meinem letzten Besuch noch nicht hingen. Kein Wunder, denn die meisten sind von Merle: Merle beim Bouldern, Merle mit Pudelmütze vor einer Skihütte, Merle als Marilyn Monroe inmitten einer Schar Jungs, Merle im knappen Bikini auf einem Segelboot. Merle mit ihren beiden Mitbewohnern. Überall Merle. Strahlend und wunderschön. Von Kim und dem anderen sind nur ein paar wenige dabei.

»Wo ist das?«, frage ich und zeige auf ein Foto mit einem Fernsehturm auf einem Berg. Im Vordergrund Kim mit Daumen hoch vor ein paar blühenden Bäumen.

Kim folgt meinem Blick. »Das ist in Seoul. Während der Kirschblüte. Im Hintergrund ist der Namsan Tower.«

»Kommst du aus Seoul?«

Kim nickt knapp. Er hat alle Hände voll zu tun, denn mit jeder Minute werden es mehr Leute, die sich um die Bar drängen. Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr. Begrüßungen, Gelächter. Ein paar Mutige zucken bereits zu den wummernden Beats. Es fühlt sich so gut an! Nach all den schrecklichen Monaten, die ich in meinen vier Wänden aushalten musste, hat diese Party schon beinah etwas Unwirkliches.

Merle schlängelt sich durch die Menge. Sie stellt ihr leeres Glas ab und sieht mich herausfordernd an. »Los, Joel! Komm tanzen!«

»Ich … äh …«

»Na los!« Sie greift nach meiner Hand und zieht mich hinter sich her. Ihre Hand ist so klein, dass sie fast vollständig in meiner verschwindet. An ihrem schmalen Handgelenk baumelt eine Kette mit kleinen Anhängern. Als sie sich zu mir umdreht und beginnt, ihre Hüften zu irgendeinem Salsa-Rhythmus zu schwingen, komme ich mir vor wie der letzte Trampel. Ich bin nun mal kein Tänzer. Alleine und zu Hause kann ich super tanzen. Aber sobald jemand zuschaut, geht gar nichts mehr. Springen und Headbanging sind eher mein Ding. Ich gebe mein Bestes, und zum Glück ist es ohnehin so eng, dass ich gar nicht viel machen muss. Merle tanzt einfach um mich herum, und ich hebe ab und zu meine Arme, damit sie darunter durchtauchen kann.

Später sitzen wir auf dem grünen Plüschsofa, das die halbe Rückwand des Raums einnimmt. Merle seitlich und mit angezogenen Knien, sodass ihre Beine meine Oberschenkel berühren. Ich lasse meinen Kopf nach hinten sinken und schließe für einen Moment die Augen. Da ist dieser Duft. Merles Duft. Sie riecht so gut! Irgendwie nach Blüten oder so. Rose vielleicht. Und ein Hauch Vanille. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein. Ich sitze ganz still da und genieße den Augenblick.

»Bist du okay?«

Erschrocken reiße ich die Augen auf. »Absolut! Coole Party!« Ich rücke ein paar Millimeter von Merle ab und nippe an dem Drink, den sie für uns organisiert hat. Dabei betrachte ich sie unauffällig von der Seite. Sie trägt einen schimmernden Lippenstift, der ihre schön geschwungenen Lippen dezent betont. Wie es wohl wäre, diese Lippen zu küssen?

»Strawberry Spritz«, bemerkt Merle, und es wirkt, als unterdrücke sie ein Lächeln. »Lecker, oder?« Als ich nicke, pflückt sie die Erdbeere von ihrem Glasrand und schiebt sie mir in den Mund. Sie schmeckt süß und ein wenig nach Sekt. »Erzähl doch mal einen Schwank aus deinem Leben«, schlägt sie vor und sieht mich erwartungsvoll an.

»Einen Schwank aus meinem Leben?!«

»Zum Beispiel: Was hast du nach dem Abi so vor?«

Wenn ich das mal wüsste! Während der Joborientierungstage hat einer der Berater zu mir gesagt, dass ich mit meinen Zensuren später einmal alles machen könne. Tolle Aussage. Hat mir unheimlich weitergeholfen. »Ich glaube, Journalismus würde mich interessieren. Also … investigativ, verstehst du? Dinge aufdecken und damit für mehr Gerechtigkeit sorgen.«

»Wie spannend!« In Merles Blick tritt ein Hauch Bewunderung. »Skandale aufdecken. Cool.«

»Na ja, also Skandale aufdecken schon, aber nicht so als Boulevardjournalist, weißt du. Der Klatsch im britischen Königshaus oder bei den Promis – das meine ich nicht. Sondern, also irgendwie denke ich, dass es Leute geben muss, die auf Missstände aufmerksam machen. Missstände in der Gesellschaft. Oder in Wirtschaft und Politik. Und die darüber berichten.«

Merles blaue Augen funkeln mich unternehmungslustig an. »Ich könnte jemanden brauchen, der für mich ein paar Dinge in Erfahrung bringt. Hast du Lust?«

Im Moment würde ich alles für dich tun, denke ich. Dann reiße ich mich zusammen und versuche, mich auf ihre Worte zu konzentrieren. »Worauf jetzt genau?«

»Ich brauche jemanden mit Mut und Sportsgeist. Einen, der Lust auf einen Hauch Abenteuer hat und nebenbei für mich Sachen in Erfahrung bringt. Und filmt. Einen Mann vor Ort, sozusagen.«

»Aha«, sage ich und bin mir nicht sicher, was genau sie damit meint. »Und wofür? Für die Uni?«

Merle lacht. »Nein, Blödmann! Für meinen Blog natürlich! Du machst dir keine Vorstellung, wie zeitintensiv das Ganze ist. Guter Content dauert einfach, und ich will, dass jeder Beitrag perfekt wird. Da bin ich eigen.« Ich registriere am Rande, wie Kim vielsagend mit den Augen rollt. »Meine Follower sind anspruchsvoll«, fährt Merle unbeirrt fort. »Und der Rechercheaufwand ist immens.« Sie gibt mir einen dieser dunkelblauen Augenaufschläge, und ich frage mich, wen das nicht auf Anhieb überzeugt. »Und weil mich das zeitlich so sehr in Anspruch nimmt und ich ja auch noch einiges für die Uni tun muss, könntest du hier ins Spiel kommen.«

»Ich? Aber was kann ich …?« Ihr Redefluss macht mich fertig. Um Zeit zu gewinnen, leere ich meinen Cocktail und verschlucke mich dabei an einem Minzblatt. »Du meinst, als Mann vor Ort?«, frage ich schließlich.

»Richtig!« Merle lächelt und nickt. »Der Mann vor Ort!«

»Was müsste ich da tun?«

»Ach, nichts Wildes«, antwortet sie und fläzt sich in eine bequemere Position. Dabei sinkt sie mehr und mehr gegen meine Schulter. Ich sitze ganz still und wage es kaum zu atmen. »Zunächst einmal müsstest du zwei Bekannte von mir zum Thema Green Living interviewen. Sina und Steff. Sie leben in einer Kommune am Stadtrand. Total spannend!«

»In einer Kommune? Wie die Hippies früher?«

Sie lacht. »Nee, nicht wie die Hippies. Mehr so im Sinne von Konsumverweigerung.«

»Wie geht das denn?«

»Indem man versucht, möglichst ohne Geld auszukommen.«

»Und das funktioniert?« Ihre Schlüsselbeine. So zart …

Sie lacht und tippt mir mit dem Finger auf die Nase. »Genau das sollst du ja für mich herausfinden!«

»Oh.« Ich habe den Faden verloren. Worum ging es? Ein Interview? Ja, warum eigentlich nicht? Wenn ich ihr damit einen Gefallen tue? Und vielleicht kämen wir uns auf die Art ja noch ein bisschen näher?

»Gib mir mal deine Handynummer. Ich whatsappe dir den Kontakt.«

Mit klopfendem Herzen diktiere ich ihr meine Nummer und erhalte umgehend eine Nachricht. »Sag Steff, dass du von mir kommst. Und sobald du das Interview hast, meldest du dich bei mir. Okay?«

»Klar! Mach ich!«

»Prima!« Sie steht auf und zieht mich einfach mit. »Und jetzt will ich tanzen!«

Im Rhythmus der Bässe drehen wir uns unter der Discokugel, bis mir schwindelig wird. In meinem Kopf wirbeln die Gedanken durcheinander. Merle will mich in ihrem Kreativ-Team! Aber sie will mich nicht als Hulk, sondern als Mann vor Ort. Und jetzt tanzt sie mit mir. Wie cool ist das denn bitte?

Und dann lasse ich mich einfach treiben. In diesem Strudel aus Glücksgefühlen und der Gewissheit, dass jetzt alles besser wird.

3

Ich wache auf mit dem Kater meines Lebens. In meinem Kopf dröhnt es, als würde eine ganze Kompanie gerade mein Gehirn bergmännisch abbauen. Benommen greife ich zur Sprudelflasche neben meinem Bett und pumpe sie komplett leer.

Keine Ahnung, was gestern noch so alles passiert ist, nachdem – ha! – nachdem ich mit Merle getanzt habe! Nein, Moment … Merle hat mit mir getanzt. So viel weiß ich mit Sicherheit. Die sagenhafte Miss Cool hat mit mir, Joel, getanzt. GETANZT! Ja, okay, danach hat sie auch noch mit Linus und Kim und ein paar anderen getanzt. Zumindest bis der spießige Nachbar aus dem Erdgeschoss Sturm geläutet und mit der Polizei gedroht hat. Aber das habe ich nur noch so am Rande mitbekommen. Auch dass Kim mich irgendwann vom Sofa aufgescheucht und nach Hause geschickt hat. Anscheinend bin ich da eingepennt, was im Nachhinein betrachtet ziemlich peinlich ist. Doch das ändert nichts daran, dass es der geilste Abend seit Langem war. Und – wer weiß? –, mit etwas Glück kommen noch mehr solcher Abende, denn ich bin ja jetzt offiziell Merles Mann vor Ort.

Ich lasse meinen Blick durchs Zimmer schweifen und versuche, das Ganze mit Merles Augen zu sehen. Es ist immer noch dasselbe langweilige Jugendzimmer, an dem ich nichts verändert habe, seit ich aufs Gymnasium gekommen bin. Kiefernholzmöbel von IKEA. Schreibtisch, Drehstuhl, Schubladenbett neunzig mal zweihundert, Kleiderschrank, Ordner, Schulbücher und sogar noch ein paar WAS-IST-WAS-Bände neben gefühlt zweihundert apfelgrünen Geos. Wie soll man sein Leben als Erwachsener starten, wenn man immer noch im selben Mief haust? Ich nehme mir fest vor, hier mal gründlich auszumisten und am besten gleich noch an meiner Einrichtung zu arbeiten. Dafür werde ich mir den einen oder anderen von Merles Lifehacks ansehen und dann zur Tat schreiten.

Doch zuerst muss ich mich um meine neue Aufgabe kümmern: Ich muss diesen Steff anrufen und mit ihm einen Termin für ein Interview ausmachen. Ich angle nach meinem Handy und suche die Nummer, die mir Merle gestern gewhatsappt hat.

Eine Weile tutet es schrill und ich halte das Handy auf Abstand, damit mein Kopf nicht explodiert. Endlich meldet sich die Stimme einer Frau. Sie klingt ziemlich gestresst. »WAS?«, blafft sie ins Telefon. Im Hintergrund blökt ein Schaf. Es hört sich jämmerlich an.

»Äh, hallo? Hier ist Joel. Ich wollte eigentlich mit Steff sprechen.«

»Ich bin Steff!«

»Oh, ach so. ’tschuldigung.« Okay, mein Fehler. »Merle hat mir deine Nummer gegeben. Ich wollte fragen, ob ich dir zum Thema – Dingens – Konsumverweigerung ein paar Fragen stellen könnte … Für einen Blogbeitrag.« Am anderen Ende ist es kurz still. Nur das Schaf ist noch zu hören. Vielleicht bin ich gerade mit der Tür ins Haus gefallen? »Hallo?«

»Ist gerade schlecht! Ich bin am Schafescheren.«

»Ja, das hört man …«

»Aber wenn du willst, kannst du einfach mal vorbeikommen. Morgen zum Beispiel? Da passt es gut.« Sie nennt mir eine Adresse und eine Uhrzeit, bevor sie sich wieder ihrem Schaf widmet.

»Das war ja einfacher, als ich gedacht habe«, murmle ich und speichere Steffs Adresse unter ihrer Nummer. Dann werde ich dieser Frau morgen mal einen Besuch abstatten. Bestimmt hat sie noch mehr Überraschungen auf Lager.

Zu meinem Glück fallen am nächsten Tag die beiden Nachmittagskurse aus. Daher mache ich mich schon zeitig auf den Weg. Eine Weile düse ich durch die Pampa auf der Suche nach der Adresse, die mir Steff genannt hat. Kein Haus weit und breit. Nur Wiesen und Felder, ein paar Kühe, sonst nichts. Hoffentlich habe ich Steffs Wegbeschreibung richtig verstanden. Irgendwas von einer Mühle hat sie gesagt. Und dass man die schon von Weitem sehen kann.

Schwitzend strample ich eine Anhöhe hinauf. Von hier aus hat man einen guten Rundumblick. Und da sehe ich es: Unter mir an einem Bach mit angrenzendem Forellenteich erkenne ich eine Art Bauernhof mit Scheune und Stallungen. Ziemlich heruntergekommen. Beim Haupthaus ist ein Teil des Dachs eingestürzt. Ein Dude macht sich daran zu schaffen. Ich höre das Hämmern bis zu mir herauf.

Als ich kurz darauf auf dem Hof ankomme, ist außer dem Typen auf dem Dach keiner zu sehen. Es dauert eine Weile, bis er mein Winken bemerkt. Doch dann gibt er mir ein Zeichen und verschwindet zwischen den Dachsparren. Kurze Zeit später taucht er in der Haustür wieder auf. Er dürfte ungefähr Ende dreißig sein. So genau kann ich das aber nicht einschätzen, weil sein Gesicht beinah vollständig zugewuchert ist. Er trägt einen verfilzten Norwegerpulli und zerfetzte Jeans und bedient damit absolut das Klischee, das ich von Mitgliedern einer Kommune habe. »Hey!«, begrüßt er mich. »Willst du zu mir?«

Auch dass er mich ohne zu zögern duzt, war klar. Nicht dass mich das stört oder so. Aber war klar. »Eigentlich suche ich Sina und Steff«, erwidere ich.

»Sind bestimmt in ihrer Jurte.« Der Mann zeigt vage in Richtung der Obstwiesen hinter der Mühle. »Einfach dem Trampelpfad nach. Ist nicht zu verfehlen.«

Was zum Geier ist eine Jurte?

Ich bedanke mich und schwinge mich wieder auf mein Bike. Ein paar Hühner nehmen gackernd Reißaus, als ich schwungvoll durch die Wiese brettere, vorbei an drei bunt bemalten Zirkuswagen und einer Feuerstelle, in der es noch leicht raucht.

Zunächst sehe ich nur verwilderte Beete, ein paar Sonnenblumen und ein Gehege mit Schafen. Doch dann wird mir klar, was der Typ gemeint hat. Etwas abseits der Zirkuswagen, gut getarnt hinter einem struppigen Zaun aus Weidengeflecht, entdecke ich eine Art Nomadenzelt, aufgebockt auf Holzpaletten und mit einem grauen Tuch bespannt. Fenster gibt es keine, nur ein durchsichtiges Kuppeldach und eine bunt bemalte Haustür, vor der ein Hund mit drahtigem Fell liegt. Als er mich bemerkt, hebt er erst den Kopf, dann sein Hinterteil in die Luft, wobei er die langen Vorderbeine weit nach vorne wegstreckt. Es sieht aus wie bei einer dieser Yogaübungen. Megakomisch. Doch dann reißt er plötzlich sein Maul zu einem Gähnen auf, und ich denke: Ach, du Scheiße!

»Der macht nix!« Die Frau, die gerade in der Tür auftaucht, trägt ihr dunkles Rapunzelhaar zu winzigen Zöpfen geflochten und als riesigen Knoten auf dem Kopf. »Alles gut, Söder«, sagt sie und krault dem Tier die Ohren. »Bist du Joel?«, fragt sie und scannt mich kurz, aber nicht unfreundlich. In ihrem rechten Nasenflügel steckt ein kleiner Silberring. Ich nicke und werde mir bewusst, dass ich immer noch wie ein Idiot auf das merkwürdige Ensemble starre: ein Nomadenzelt irgendwo im Nirgendwo und eine Schamanenfrau mit Wolf. Absolut strange.

»Sina«, stellt sie sich vor. »Komm rein.«

Ich lehne mein Rad an den Weidenzaun und warte vorsichtshalber, bis der Hund im Inneren des Zelts verschwindet. Dann folge ich Sina in einen großzügigen Wohnraum ohne Ecken und Kanten und mit einem bulligen Kaminofen in der Mitte. Darüber spannt sich das gigantische Kuppeldach, das von rot lackierten und mit Mustern bemalten Dachlatten gestützt wird. Mitten im Dach befindet sich eine runde Kunststoffscheibe, durch die ich den Himmel sehen kann. Es riecht nach Holzfeuer und Schafen und ein bisschen auch nach Hund.

»Steff ist noch Holz holen. Aber sie kommt sicher gleich. Willst du einen Kaffee?«

Ich nicke geistesabwesend und betrachte staunend die winzige Küchenzeile mit nichts als einem Campingkocher und einer Propangasflasche, daneben ein Regal mit Töpfen und Küchenutensilien und einer Ablage, auf der eine verbeulte Zinkwanne für den Abwasch steht. Etwas weiter links eine alte Werkbank als Esstisch, vier verschiedene Stühle, ein Regal als Raumteiler, dahinter ein zerwühltes Bett aus Europaletten mit einem Baldachin aus bunten Stoffen. Neben dem Ofen eine Ansammlung aus Schaffellen, Kissen, Teppichen und einem Couchtisch aus Weinkisten. Alles irgendwie improvisiert, aber dabei auch irgendwie perfekt. »Wie kommt man denn an so ein Zelt?«, will ich wissen.

Sina wirft mir einen kämpferischen Blick zu, während sie aus einer Flasche Wasser in einen Espressokocher füllt. Sie gibt Kaffeepulver in den Siebeinsatz, schraubt die Kanne zu und stellt sie auf den Campingkocher. Es faucht kurz, als sie die Flamme entfacht, und ich verdränge den Gedanken an offenes Feuer in einem Raum, der nur aus Holz und Stoff besteht.