Love - Fünf Geschichten über die Liebe - Antje Leser - E-Book

Love - Fünf Geschichten über die Liebe E-Book

Antje Leser

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Beschreibung

Jede Liebesgeschichte ist anders, und doch haben sie alle eines gemeinsam: ganz große Gefühle. Egal ob es darum geht, den Schwarm auf einer Party endlich nach einem Date zu fragen, mit einer verflossenen Liebe fertig zu werden oder unfreiwillig als Theaterschauspieler durchzustarten, nur um ein Mädchen für sich zu gewinnen. Manchmal gibt es auch ein Davor und ein Danach und manchmal braucht es die Vogelperspektive, um die richtige Richtung zu finden. Die Geschichten in diesem Buch erzählen von der Liebe, ihren atemberaubenden, schönen Momenten, aber auch von den traurigen Augenblicken.

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Seitenzahl: 262

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Rahlff • Hoffmann • Thamm • Fesler • Leser

Inhalt

Ruth Rahlff

Ein zerbrochenes Herz ist ein zerbrochenes Herz ist ein zerbrochenes Herz

Anne Hoffmann

Rot ist die unbequemste Farbe

Andreas Thamm

Nicht in diesem Universum

Mario Fesler

Davor/Danach

Antje Leser

Liebe in Zeiten von Corona

Ruth Rahlff

1

Das Haus hockte da wie eine gewaltige Kröte aus Stein. Schmutziggrau. Behäbig. Finster im Herzen.

Im Großen und Ganzen sah es also ziemlich genau so aus, wie ich mich fühlte.

Mintgrün blätterte von den Fensterläden, die kleinen Farbreste standen vom Holz ab wie Stacheln. Die Tür war bloß angelehnt und ich schloss eine Wette mit mir ab. Mit Sicherheit würde sie quietschen, sobald ich sie auch nur mit einem Finger antippte.

Bevor ich den Wetteinsatz mit mir selbst ausgehandelt hatte, wurde sie von innen aufgestoßen – ohne irgendein Knarren, Knarzen oder sonstiges Aufmucken. Ich seufzte. Noch nicht mal darauf war Verlass.

Ein Mann kam die Treppenstufen herunter, sein Bart wallte bis auf die Brust, und er erinnerte mich an den Weihnachtsmann oder an die Typen auf den Covern von Dads Musikmagazinen – dazu passte auch sein Bauchumfang. Direkt hinter ihm schleppte ein Junge ein paar Farbeimer. Er war etwas älter als ich, siebzehn vielleicht? Jetzt erst bemerkte ich die Arbeitskleidung der beiden. Die Ärmsten. Bei dem Schuppen musste eine Renovierung die reinste Lebensaufgabe sein.

Der Junge lächelte mich schüchtern an und schob sich dabei mit dem Unterarm ein paar Rastazöpfe aus der Stirn, doch ich verzog keine Miene. Dafür fehlte mir die Energie, nach all dem, was in den letzten achtundvierzig Stunden passiert war.

Am Straßenrand parkte ein schmuddelig-weißer Lieferwagen, jemand hatte im Stil eines Graffitis »Alfred – Ihr Mädchen für ALLES« quer über die verbeulte Motorhaube gesprayt. Wenn das nicht vertrauenerweckend war.

Der Bärtige öffnete die Kofferraumtür und drehte sich um. »Jonah, die Eimer kannst du da reinstellen, die brauchen wir die nächsten Tage noch.« Er deutete auf eine windschiefe Hütte hinter den Mülltonnen und wandte sich danach an mich. »Wenn du Anna bist, dann habe ich eine Nachricht von deiner Tante für dich.«

Typisch Lola.

Irgendetwas musste er mir am Gesicht abgelesen haben, denn er grinste breit. »Keine Sorge, sie kommt gleich, sie ist nur kurz einkaufen. Du sollst schon mal reingehen und es dir gemütlich machen.«

Gemütlich? Das Wort brachte ich nun wirklich nicht mit dem schäbigen Kasten da überein, aber hier länger auf der Straße herumstehen wollte ich auch nicht. Also nahm ich meine Reisetasche und den Seesack und schleifte beides die abgetretenen Treppenstufen hoch ins Haus.

Das Erste, was mir auffiel, war die Temperatur. Wir hatten Oktober, ja, aber bisher war der Herbst mild gewesen, sogar sonnig. Das hier drinnen war dagegen die reinste Eishöhle. Ich fror sowieso schon ständig, doch jetzt nahm mir die Kälte fast den Atem. Bevor ich einen weiteren Schritt tat, ließ ich mein Gepäck fallen und zerrte den Reißverschluss der Tasche auf. Zum Glück lag der Wollpulli ganz oben. Dass ich den so schnell brauchen würde, hätte ich nicht gedacht. Allerdings: Wunderte es mich wirklich? Lola und sichere Erwartungen – das passte einfach nicht zusammen.

Zimmer für Zimmer erkundete ich das Haus. Es war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Flur, Küche, Speisekammer, Gästetoilette … In jedem Raum, den ich betrat, herrschte Chaos: Bücher, Leinwände, halb fertige Skulpturen, Behälter mit eingetrockneten Gipsmassen, getragene Klamotten, Meißel in jeder Größe. Und überall Baustellen! Links von der Haustür war ein offenes Wohnzimmer, dort standen Lolas altes Samtsofa und der Beistelltisch mit den Katzenfüßen inmitten unzähliger Umzugskartons und haufenweise Werkzeug. An einer Wand war der Putz abgeschlagen, doch niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Mörtelteilchen auf den Holzdielen zusammenzukehren.

Von hier aus führte eine Treppe in einem Bogen nach oben, das Geländer war übersät mit geschnitzten Blütenranken, aber das Holz war grau und stumpf, es schrie geradezu nach einer Politur. Das Haus musste viel älter sein, als ich es zuerst angenommen hatte.

Im ersten Stock lag das Badezimmer. Drei Sprossenfenster gingen nach hinten hinaus zu einem verwilderten Garten, in dessen Mittelpunkt jemand eine verrostete Badewanne platziert hatte. Ich drückte die Stirn gegen eine der Scheiben. Bahnschienen trennten das Grundstück von dem Friedhof dahinter. Für so eine kleine Stadt schien er mir recht groß. Die Grabsteine und Statuen zogen sich über den gesamten Hügel bis zum Horizont, dazwischen wucherten unzählige immergrüne Hecken – wie ein Abschiedsgruß des Sommers in der trüben Nachmittagssonne.

Der Raum rechts neben dem Bad war riesig, mit einem gigantischen Kamin, der fast die ganze Wand gegenüber der Tür einnahm. Bis auf ein paar Plastikstühle und zwei Holzkisten war das Zimmer leer. Eine abgewetzte Blümchentapete schälte sich in Streifen von den Wänden, aber zwischen den Fetzen blitzte ein wunderschönes Meergrün hervor.

Ich atmete langsam aus und stutzte. Vor meiner Nasenspitze bildete sich ein seidenzarter Schleier und schwebte davon. Das konnte nicht sein. Wieder atmete ich ein und aus, heftiger als eben – diesmal war nichts zu sehen, ich musste mich getäuscht haben. Erleichtert – warum eigentlich? – wandte ich mich ab und betrat das Zimmer auf der anderen Seite des Flurs. Es passten gerade mal eine Kommode, ein schmaler Schrank und ein Bett hinein. Eine grob gehäkelte Wolldecke in Pink, Orange und Rot war achtlos über die Matratze geworfen, auf dem Nachttisch daneben stand ein Kärtchen. »Willkommen in Chymorgen, allerliebste Sim«.

Anscheinend hatte Lola gedacht, dass ich mich hier wohler fühlen würde als in dem Kaminsaal nebenan.

Ich zuckte mit den Schultern. Wo ich schlief, war mir egal. Hauptsache, ich hatte eine ruhige Ecke und die Bettdecke war groß genug, dass ich sie mir über den Kopf ziehen konnte.

Eine Stiege führte vom Flur hinauf ins Dachgeschoss. Ich steckte den Kopf durch die Bodenluke. Wahnsinn! Vor mir erstreckte sich ein Raum, dessen hintere Dachseite komplett verglast war. So viel Himmel und Licht und Weite … das hatte ich hier nicht erwartet.

Es war Lolas Atelier und zugleich ihr Schlafzimmer, denn in der Mitte stand ihr Himmelbett. Es roch nach Patschuli, so intensiv, dass es mir in der Nase kribbelte und ich niesen musste. Lola. Wo steckte sie eigentlich? Machte sie einen Großeinkauf? Die Mühe konnte sie sich sparen, seit zwei Tagen schmeckte sowieso alles nur nach nichts, ganz egal, was ich aß.

Bevor ich wieder nach unten ging, schaute ich mir noch einmal den Kamin an. Filigrane Stuckfiguren umrahmten ihn. Rings um die Feuerstelle tummelten sich feiste Engel, gelenkige Elfen mit anmutigen Flügeln und – ganz versteckt hinter einer angedeuteten Säule entdeckte ich ein Teufelchen; jedenfalls hatte das nackte Wesen einen Ziegenfuß und zwei Hörnchen, und sein winziges Glied reckte sich steil nach vorn.

Sachte fuhr ich mit dem Zeigefinger über den glatten Stuck und mit einem Mal kratzte es in meiner Kehle. Ich schluckte. Stück für Stück rutschte ich mit dem Rücken die Wand hinunter. Als mein Po die Dielen berührte, hockte ich mich hin und umfasste die Knie. Mir brannten die Augen. Warum weinte ich dann nicht? Ein paar Tränen, mehr wollte ich gar nicht, nur damit dieses Brennen endlich aufhörte. Ich wiegte mich vor und zurück, aber es fühlte sich fremd an, so als wäre ich bloß versehentlich in diesen Körper geraten und müsste alle seine Bewegungen erst lernen. Plötzlich gab die Wand hinter mir nach.

Ich fiel nach hinten und schrie auf. Neben mir bewegte sich eine Tür sachte im Luftzug. Sie war mit derselben Tapete überzogen wie der Rest des Zimmers, deshalb hatte ich sie auch nicht bemerkt. Hastig rollte ich mich herum und kam auf alle viere. Ich starrte ins Dunkel und schnappte nach Luft. Ein Hohlraum tat sich vor mir auf, eine kleine Kammer unter der Dachschräge. Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten.

Die Kammer war leer. Kein Geheimgang, keine Schatztruhe voll mit Gold und Edelsteinen, kein Tarnumhang, der mich, einmal übergestreift, an jeden Ort der Welt bringen würde. Aber wo sollte ich auch hin? Es wäre ja sowieso überall das Gleiche.

Ernüchtert rappelte ich mich auf und wollte die Tapetentür gerade wieder zuziehen, da bemerkte ich noch etwas: einen schwarzen Fleck, rechteckig und dunkler als der Rest des Raums. War da vielleicht doch eine geheime Luke?

Ich zögerte, beugte mich schließlich vor und streckte die Hand aus. Ein warmer Hauch umfing mich. Woher kam der? Meine Fingerspitzen berührten etwas Hartes, fuhren über Holz, blieben hängen. Ein stechender Schmerz durchzuckte mich und ich riss die Hand zurück. In meiner Fingerkuppe steckte ein zentimeterlanger Holzsplitter. Mein Finger pochte und ein Blutstropfen quoll hervor.

Sobald ich mir den Splitter herausgezogen hatte, griff ich nach dem rechteckigen Ding.

Ich atmete erleichtert aus. Es war harmlos, nur ein Bild in einem massiven Holzrahmen. Jemand musste es hier vergessen haben. Was es wohl zeigte? Ich tippte auf einen Hirsch oder einen kitschigen Sonnenuntergang.

Als ich es umdrehte, erstarrte ich. Ein Blick aus dunklen Augen traf mich. Eine halbe Ewigkeit schaute ich das Bild an, ich konnte mich nicht davon lösen. Erst nach und nach nahm ich anderes wahr, ein Gesicht, Haare. Vorsichtig berührte ich den unteren Teil des Gemäldes. Es zeigte einen jungen Mann. Er stand vor einer Steinmauer und sein Kopf war leicht zur Seite geneigt. Sein Oberkörper war ein paar Zentimeter gedreht, so als hätte er nur kurz angehalten und als würde er sich in wenigen Sekunden abwenden und davongehen. Wie er mich ansah! Als gäbe es nur mich, jetzt, in diesem Moment. Er war so lebendig, nur wie konnte das sein? Es war doch ein Ölbild.

»Anna? Bist du oben?«

Ich fuhr zusammen, fast hätte ich das Bild fallen gelassen. »Ja.« Meine Stimme war mir fremd und ich räusperte mich schnell. »Ich … ich bin hier oben. Im Kaminzimmer.«

Schritte erklangen auf der Treppe. Zwei Paar? Und dazu ein gleichmäßiges Klopfen.

Verwundert drehte ich mich um und da war sie. Lola. Sie lief geradewegs auf mich zu und schloss mich in die Arme. Wie immer duftete sie nach Patschuli, dazu kam heute noch ein Hauch Pfefferminze und der Geruch von Frittierfett. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, löste sie sich von mir, schluckte ihren Kaugummi hinunter und lächelte. »Ich habe Falafel geholt. Die besten südwestlich von London.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Du musst wenigstens davon probieren.« Sie trat einen Schritt zur Seite und ein Mann hinkte ins Zimmer. Er trug blaugrüne Sneakers und stützte sich auf einen Gehstock. Sein dichtes weißes Haar reichte bis knapp über seinen Kragen, und er hatte jede Menge Falten, vor allem rund um die blauen Augen. Trotz seines Alters sah er ziemlich agil aus.

»Sieh mal, wen ich auf dem Heimweg getroffen habe. Mr Crawford. Ihm hat Chymorgen früher gehört.« Wie immer redete Lola so schnell, als wäre jetzt ihre letzte Gelegenheit zu sprechen. »Er lebt bei seiner Schwester und deren Familie, hinter dem Hügel.«

Mr Crawford verbeugte sich leicht in meine Richtung. »Sie wollen die Ferien bei Ihrer Tante verbringen? Großartig, über ein bisschen Unterstützung freut sie sich sicher.« Sein Blick streifte die dreckigen Plastikstühle und schweifte dann weiter, er schien das gesamte Durcheinander hier im Haus zu umfassen. Jedenfalls kam es mir so vor, aber Lola lachte nur vergnügt und wirkte nicht im Mindesten beleidigt.

»Ach, das Einrichten kommt mit der Zeit schon. Erst einmal ist mein neuer Auftrag dran.« Sie hustete, fasste schnell in eine Tasche ihres Kleides (rosarot mit gelben Tupfen) und holte ihren Püsterich heraus. So nannte sie das Asthmaspray. Sie nahm einen Hub und sprach dann nach einer kleinen Pause weiter. »Sie müssen wissen, Sim ist auch eine Künstlerin. Sie zeichnet wie ein Engel.«

»Ach ja?« Interessiert musterte er mich.

Ich schüttelte den Kopf. »Erstens übertreibt sie und zweitens habe ich es sowieso aufgegeben. Ich zeichne nicht mehr.«

»Was?« Lola wirbelte herum. »Unsinn! Wahrscheinlich brauchst du nur eine neue Richtung. Und du musst schleunigst diesen schrecklichen Henry vergessen. Lass dich hier inspirieren, dann läuft es wieder. In unserer Familie machen alle Kunst.«

Fast hätte ich laut aufgelacht. Stimmt, Kunst wurde in unserer Familie ganz großgeschrieben. Genauso wie Liebe. Aber mal ehrlich: In beidem waren wir völlige Versager: Dad, Lola und ich. Von Mum brauchten wir da gar nicht erst zu reden.

»Ihre Nichte klang aber sehr entschieden.« Mr Crawford deutete auf das Bild in meiner Hand. »Ist das von Ihnen?«

»Das?« Für einen Moment hatte ich das schwere Ding fast vergessen. »Nein … äh … das habe ich eben gefunden.«

»Darf ich mal sehen?« Bevor ich antworten konnte, nahm er es mir aus der Hand.

Beim Anblick des Bildes wurde er bleich, sein Gehstock rutschte ihm weg und knallte auf den Fußboden. Lola streckte den Arm aus und stützte ihn, als er schwankte.

»Entschuldigung.« Er hob die Armbeuge und hustete hinein.

»Ein Stuhl.« Sie sprang durchs Zimmer und zog einen der Plastikstühle heran.

Was war denn los mit ihm? Es war doch nur ein Bild.

Mr Crawford atmete schwer. »Entschuldigen Sie«, wiederholte er, »ich wollte Sie nicht erschrecken. Es war nur …« Er stockte.

Lola nickte ihm aufmunternd zu. Ich stöhnte innerlich. Warum nur musste sie die Leute immer so drängen? Wenn er etwas erzählen wollte, würde er es tun, und wenn nicht, war es auch okay.

»Dieses Bild habe ich viele, viele Jahre lang nicht gesehen«, sagte er leise. »Genauer gesagt, ich hätte nicht gedacht, dass es überhaupt noch existiert.«

Ich warf einen Blick darauf. In den Augen des jungen Manns – dunkelbraun, fast schwarz – glänzten zwei goldene Fünkchen. Wieder zog mich das Gemälde an, am liebsten hätte ich es Mr Crawford aus den Händen gerissen, doch natürlich beherrschte ich mich.

»Es ist ein entfernter Verwandter von uns. Neil.« Mühsam erhob er sich. Ich streckte die Hand aus. Er zögerte.

Wir sahen uns an, keiner von uns beiden wandte sich ab. Es war wie ein Duell, nur ohne Waffen, oder vielleicht kämpften wir auch einfach mit unseren Augen.

Schließlich seufzte er und gab mir das Bild zurück. »Passen Sie gut darauf auf.«

»Wollen Sie es nicht mitnehmen?«, fragte Lola überrascht. »Immerhin gehört es Ihrer Familie.«

Ich presste das Bild an meine Brust.

»Nein, nein, das ist vorbei. Geben Sie nur darauf acht. Neil … er starb viel zu jung.« Er humpelte zur Tür.

»Oh, und was ist mit den Skulpturen?«, rief Lola ihm verdutzt nach. »Sie wollten doch mal schauen, ob etwas für Ihren Wintergarten dabei ist. Leoparden habe ich gerade nicht, aber …«

»Gern ein andermal«, schnitt er ihr das Wort ab, lächelte jedoch dabei. Er tippte sich zum Abschied an die Stirn und verschwand.

2

Das Haus atmete, da war ich mir sicher. Es ächzte und knarrte, stöhnte und heulte. Und das lag nicht nur am Wind, der draußen an den Fensterläden rüttelte.

Wärmflasche, dicke Wollsocken und eine Extradecke von Lola … nichts davon half. Ich lag im Bett, starrte wie eine Motte das Licht der Straßenlaterne vor dem Haus an und fror. Mir war so kalt, dass ich nicht einschlafen konnte. Und meine Augen taten so weh.

Es war Stunden her, seit Lola und ich zu Abend gegessen hatten. Lola hatte sich noch mit mir unterhalten, ihre neuesten Skulpturen vorzeigen wollen, doch mir fehlte die Lust auf Gespräche. Bei der erstbesten Gelegenheit hatte ich mich in mein Zimmer verkrümelt.

Und nun lag ich hier, hellwach. Meine Augen brannten immer mehr und nichts half dagegen. Kein Reiben, keine Teebeutel und auch die Gurkenscheiben nicht, die Lola mir vorhin noch auf einer Untertasse auf den Nachttisch gestellt hatte. Eine Weile hörte ich ihr zu, wie sie oben telefonierte: mit ihrer besten Freundin, danach mit einem potenziellen Kunden, gefolgt von ihrem liebsten Kumpel und zuletzt mit Dad. Da wurde ihre Stimme leiser, sodass ich sie kaum noch verstand. Nur ab und zu drangen einzelne Satzfetzen zu mir herunter.

»Sie wird sich schon fangen, mach dir keine Sorgen. Jetzt ist sie erst einmal ein paar Wochen hier.«

Seufzen.

»Ach, du weißt ja, wie das ist mit zerbrochenen Herzen.« Ein Auflachen, dann kurz Stille.

»Ja, damit haben wir alle unsere Erfahrungen. Das Wichtigste ist doch, dass sie Abstand hat zu diesem Idioten. Jetzt mal was anderes. Sag, haben die Flying Berserks deinen Coverentwurf für ihre Platte genommen?«

Anscheinend hielt Dad nun einen längeren Monolog, denn es wurde wieder still. Ich warf mich im Bett herum und wartete, bis Lola das Gespräch beendete. Ein paar Augenblicke später löschte sie das Licht und der helle Streifen vor der Türschwelle verschwand.

Ich wartete noch ein wenig, dann stand ich auf.

Eigentlich hatte ich mir nur etwas zu trinken holen wollen, doch als ich die halb geöffnete Tür zum Kaminzimmer sah, blieb ich stehen. Kalte Luft strömte von den Holzdielen nach oben, streifte die Wollsocken entlang und kroch mir die Beine hoch. Ich bückte mich und rieb über mein Nachthemd, versuchte, die Kälte zu vertreiben, aber vergeblich, also trat ich einen Schritt ins Kaminzimmer.

Hier war es dunkler als bei mir gegenüber, und ich wartete einen Moment, bis ich die Umrisse des Kamins wahrnehmen konnte. Draußen rollte ein Zug heran und für wenige Augenblicke erhellten weiße und rote Lichter den Raum. Die Tapetentür stand offen. Sollte ich? Etwas zog mich in die Kammer, doch dann war der Zug vorbei und es wurde wieder stockfinster.

Ich drehte mich um und tappte zurück in mein Zimmer, nahm das Handy vom Nachttisch und schaltete die Taschenlampe ein.

Kurz darauf betrat ich zögernd den winzigen Raum unter der Dachschräge. Das Bild lehnte noch an der Wand, natürlich, genau so, wie ich es nachmittags zurückgelassen hatte. Ich ließ mich im Schneidersitz davor nieder und hielt die Taschenlampe davor. Der Blick aus den dunklen Augen ließ mich sofort zusammenzucken. Ich wollte mehr wissen. Stück für Stück leuchtete ich den jungen Mann auf dem Bild an. Neil. Sein Name gefiel mir.

Er sah gut aus, mehr als das. Er war attraktiv. Das wuschelige dunkle Haar fiel ihm in die Stirn und einige Locken reichten bis zu seinen Augen. Der Mund war breit, mit vollen Lippen. Darüber ragte eine eher groß geratene Nase, sie wölbte sich ein klein wenig, fast wie bei einem Boxer. Es hätte ein Makel sein können, doch ihm verlieh es einen Hauch Verwegenheit.

»Du weißt, dass du gut aussiehst«, sagte ich leise, »aber es ist dir egal.«

Seine Augen funkelten mich an. Er wirkte unbekümmert, seine Mundwinkel waren ein klein wenig hochgezogen, so als schmunzelte er über etwas: ein Geheimnis, das nur er kannte.

»Ich wünschte, ich wäre auch wie du.« Ich zog die Knie an und stützte meinen Kopf auf die Unterarme. »Du wirkst selbstbewusst, sehr sicher. Als ob dir alles offenstehen würde.« Dann fiel mir ein, was Mr Crawford gesagt hatte. Neil war nur für eine kurze Zeit der König seiner Welt gewesen. Bis etwas passiert war. Nur was? Bei nächster Gelegenheit musste ich Mr Crawford unbedingt danach fragen.

»Jedenfalls hoffe ich, dass du es gut gehabt hast. Dass dich jemand geliebt hat.« Ich musste lächeln. »Quatsch, die Frauen standen bestimmt Schlange bei dir. Männer wahrscheinlich auch.« Ich wippte mit den Füßen sachte auf und ab. »Ob ich das auch mal erlebe? Liebe … ich weiß gar nicht, wie das geht. Dabei sagen sie das ständig bei uns in der Familie, weißt du? Wie sehr wir uns lieben. Wie wichtig Liebe ist.« Ich lachte auf und erschrak im nächsten Moment. Weil ich zu laut gewesen war? Oder weil ich selbst gehört hatte, wie bitter das geklungen hatte? »Seitdem Mum weg ist, verteilt Dad seine Liebe hauptsächlich an die Bands und die Kunden in seinem Plattenladen. Für jeden hat er ein offenes Ohr. 24/7. Wirklich, selbst nachts stehen manchmal irgendwelche Metal-Typen mit Liebeskummer vor unserer Haustür. Nur um Frauen macht Dad einen riesigen Bogen. Sobald eine den Laden betritt und auch nur einen Hauch Interesse signalisiert, springt er hinter seinem Tresen in Deckung, als würde sie mit einem Maschinengewehr vor seiner Nase herumwedeln.«

Neils Mundwinkel bogen sich ein winziges bisschen weiter nach oben, aber das war natürlich nur Einbildung.

Ich gähnte. »Tja, war nett, mit dir zu plaudern. Ich glaube, ich haue mich jetzt hin. Wäre echt schön, mal wieder zu schlafen. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie das geht.«

An der Tür drehte ich mich noch einmal um und leuchtete zurück. Diese Augen. Sie waren so warm. Fröhlich. Zuversichtlich. Hatte Neil denn nie etwas Schlimmes erlebt?

Doch, erinnerte ich mich.

Etwas schon.

Und das war dann gleich das Ende gewesen.

3

Am nächsten Morgen tobte Lola durch die Zimmer und kümmerte sich um tausend Dinge gleichzeitig: Sie räumte Kartons leer, rührte einen Pizzateig an, telefonierte zweimal mit dem potenziellen Kunden und dazwischen tat sie noch alles Mögliche andere. Nur um das Atelier machte sie seltsamerweise einen großen Bogen.

Gegen Mittag kamen Alfred und Jonah ins Haus. Wie gestern auch lächelte Jonah mir zu und verdrückte sich dann schnell in die Gästetoilette, wo er eine Tapetenbahn nach der anderen abkratzte, während Alfred mit verschränkten Armen im Türrahmen lehnte und ihn vollquatschte. Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht etwas zu Jonah gesagt, aber ganz bestimmt nicht, solange Alfred in der Nähe war, also verzog ich mich nach oben in mein Zimmer.

Auf dem Weg zum Bett stolperte ich über den Seesack. Es raschelte, und das Geräusch erinnerte mich sofort an das, was darin war und was ich damit vorhatte.

Ich schluchzte auf und warf mich aufs Bett. Bilder stiegen in mir auf. Drei Tage war es jetzt her oder auch siebzig, vielleicht zweiundsiebzig Stunden. Stunden passten besser, denn jede einzelne kam mir vor wie ein einzelner schrecklicher Tag.

Warm war es gewesen und sehr hell; Letzteres hatte alles erst ausgelöst. Die Sonne war schuld, sozusagen.

Wir lagen auf der Wiese im Park, Henrys blonde Haarsträhnen kitzelten mich im Nacken und wie immer duftete er ein wenig nach Salz. Meerwasser, ein typischer Surfer eben. Das Telefon piepte, doch Henry rührte sich nicht, er war eingeschlafen. Und ich erwartete eine Nachricht von Lola, also griff ich nach dem Handy und berührte das Display.

Henry und ich hatten das gleiche Handymodell. Und nicht nur das, auch die Töne waren gleich, und wir hatten dasselbe Sperrmuster, eine Raute mit drei diagonalen Strichen – Henrys Vorstellung von Romantik. Er hatte es mir sogar aufgemalt, eingebettet in eine Skizze unseres Lieblingscafés. Seine Zeichnungen waren genial, und ich war dankbar, dass er mir in den vergangenen Monaten etliche seiner Tricks beigebracht hatte.

Sonnenstrahlen trafen auf den Bildschirm, blendeten mich, sodass ich halb blind den Messenger öffnete. Im nächsten Moment wurde mir klar, dass mir ein Fehler unterlaufen war: Henrys Handy, Henrys Nachricht. Ich starrte auf das Motiv, wischte weiter zum nächsten Bild. Eine Wolke kroch vor die Sonne und mit einem Mal sah ich alles ganz klar. Foto eins: blonder Surferhaarschopf auf cremeweißer Haut mit Bauchnabel. Foto zwei: ein Haufen messingroter Locken umrankten eine nackte Brust. Eine unglaublich perfekt geformte nackte Brust.

Mein kleiner Irrtum deckte Henrys großen Betrug auf.

Das dritte Foto machte ich. Unser Abschiedsfoto. Wir beide, auf der Wiese im Park. In der viel zu warmen, viel zu grellen Herbstsonne.

Dann stand ich auf und ging.

Wie ich zu Lola gekommen war, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war ich jetzt hier, aber es war mir vollkommen gleichgültig. Ich hätte ebenso gut irgendwo anders sein können.

Als ich aufwachte, dämmerte es bereits. Ein lautes Scheppern hatte mich geweckt. Lola fluchte und klapperte wild in der Küche herum. Der beißende Geruch von verbranntem Teig stieg mir in die Nase. Das war es dann wohl mit der selbst gebackenen Pizza. Ich rollte mich auf die Seite und schloss wieder die Augen.

Später öffnete sich die Tür, und Lola fragte leise: »Hey, Kleines. Hast du nicht langsam mal Hunger? Wollen wir eine Pizza bestellen?«

Ich war zu benommen, um antworten zu können. Bevor ich etwas herausbrachte, nickte ich schon wieder weg.

Beim nächsten Aufwachen pochte es hinter meinen Schläfen, und mein Nacken war so verspannt, dass ich kaum den Kopf bewegen konnte. Im Haus war es ganz still, Lola musste längst schlafen gegangen sein.

Ich dachte an das Bild – Neil –, dann drehte ich mich auf den Rücken und stopfte mir das Kissen unter dem Kopf zurecht. So ein Unsinn! Nur weil ich gestern ein bisschen sentimental geworden war, hieß das noch lange nicht, dass ich mich jetzt jede Nacht mit einem Bild unterhalten würde! Ich war doch nicht verrückt. Mein Magen gluckerte leise und ich fühlte mich ein bisschen flau. Kein Wunder, meine letzte Mahlzeit war was gewesen? Das Frühstück? Aber ich war zu faul, um aufzustehen und mir unten noch etwas zu essen zu holen.

Ich drehte mich auf den Bauch. Ob mir das Bild auch heute so lebendig vorkommen würde? Bestimmt war das einfach nur Zufall gewesen oder es hatte an dem Durcheinander der letzten Tage gelegen.

Ich schaute an die Decke. Ein Auto näherte sich und malte mit seinem Scheinwerfer im Vorbeifahren Schattenbilder an die Wand. Das nächste Auto folgte kurz darauf, dann passierte eine ganze Weile lang gar nichts.

Ich seufzte und schlug die Decke zurück.

Unten in der Küche war es wie in einem Eiskeller, noch ein paar Minuten, dann würden meine Füße am Boden festfrieren. Aber noch war ich nicht so weit, dass ich auf Lolas Angebot einging, noch nicht! Die beiden flauschigen pinkfarbenen Flamingos beobachteten mich aus ihren glänzenden schwarzen Knopfaugen vorwurfsvoll vom Schuhregal aus, doch ich schüttelte den Kopf und ignorierte sie. Flamingo-Hausschuhe! Wenigstens einen Rest Würde wollte ich mir bewahren.

Lola hatte Pizza bestellt, also nahm ich mir das letzte Viertel und aß es kalt. Auf dem Weg nach oben schälte ich mir eine Banane.

Ich gähnte. Keine Ahnung, warum, aber ich war tatsächlich schon wieder müde.

Es knarrte leise, als ich über die Dielen schlich. Vor dem Eingang zum Kaminzimmer blieb ich stehen.

Es war so albern! Und dennoch … ich brachte es nicht fertig, das drängende Gefühl zu ignorieren. Mit festen Schritten durchquerte ich das Zimmer und blieb vor der Tapetentür stehen. Das Mondlicht war hell genug, sodass ich alles gut erkennen konnte. Ich zögerte kurz, dann stieß ich die Tapetentür auf und hob den Holzrahmen hoch.

»Das wird jetzt aber nicht zur Gewohnheit!«

Ich trug es hinüber zum Kaminsims. Er war wie für das Bild gemacht: nicht zu schmal, nicht zu breit. Das Porträt stand dort, als wäre es schon immer sein angestammter Platz gewesen.

Im Mondschein wirkte die Steinmauer auf dem Bild düster und geheimnisvoll. Ich trat näher heran und erkannte weitere Details auf dem Bild, die mir vorher entgangen waren. Türme und Bäume, eine Straße mit Kopfsteinpflaster, einen Wasserspeier, der seinen riesigen Mund mit beiden Händen – nein, es waren eher Pranken – aufriss und einen Schwall grünlicher Flüssigkeit ausspie.

Gerade wollte ich wieder ins Bett gehen, da fiel mir noch etwas auf. Vorsichtig hob ich die Hand und strich mit den Fingerspitzen über die Ölfarbe. Sie war ein wenig kratzig und … leicht warm. Seit wann strahlte Farbe Wärme aus? Gab es so etwas überhaupt? Unsinn, davon hatte ich noch nie gehört. Wahrscheinlich lag es nur daran, dass der Rest des Hauses so kalt war, deshalb kam mir das Bild warm vor. Oder die Pizza war mir zu Kopf gestiegen. Aber ein klein wenig seltsam fand ich es doch.

»Schlaf gut«, sagte ich laut.

Neil schmunzelte als Antwort.

4

»Sim, hilfst du mir mal eben?« Lolas Stimme schallte durchs Treppenhaus.

Ich war gerade im Bad fertig geworden und ging mit nassen Haaren die Treppe hinunter.

»Das Finanzamt braucht irgendeine Rechnung, die sie noch mal prüfen wollen.« Lola küsste mich flüchtig auf die Wange. »Hilfst du mir beim Suchen?« Sie zeigte auf zwei große Pappkartons mit zerfledderten Deckeln.

»Hat die jemand angenagt?«

»Scherzkeks, nein.« Sie guckte besorgt. »Das hoffe ich jedenfalls nicht. Sie standen immer im Keller von der WG.«

Sie tippte den ersten Karton an und hob den Deckel, als sich im Inneren nichts rührte. »Oh. Mein. Gott.«

Ich folgte ihrem Blick. »Und das ist noch untertrieben.«

Der Karton war vollgestopft mit allen möglichen Zettelchen, fettigen Papieren und Notizheften. In dem anderen sah es natürlich genauso aus. »Was für eine Rechnung suchst du genau?«

»Na ja, es ist eher ein Anschreiben. An einen Lieferanten. War es für Gips? Ich erinnere mich nicht so genau.« Sie schob die Ärmel ihrer korallenroten Bluse hoch. »Also los, bringen wir es hinter uns.«

Zwei Stunden dauerte es, bis wir den Boden des ersten Kartons erreicht hatten. Nach der Hälfte des zweiten Kartons knickte Lola ein und verzog sich in ihr Atelier. »Ich schaue mal, ob ich nicht den Leoparden für Mr Crawford zustande bringe. Von den Einnahmen kann ich dann die Strafgebühr für die verlorene Rechnung oder das Anschreiben oder was es auch war, bezahlen, die mir das Finanzamt sicher aufbrummen wird.« Sie wusch sich die Hände im Spülbecken. »Hör du auch auf, Sim, du hast genug gemacht.« Sie küsste mich auf den Scheitel und verschwand.

Ich betrachtete den Karton. Nein, ich würde es zu Ende bringen. Vielleicht kam ich mir dann wenigstens für heute ein bisschen weniger nutzlos vor.

Also hielt ich durch und wurde mit dem vorletzten Zettel belohnt. Es war eine Rechnung von einem Farbenlieferanten. Die Summe stimmte mit dem Schreiben vom Finanzamt überein.

»Du bist fantastisch, Liebes«, jubelte Lola, als ich ihr den Zettel ins Atelier brachte. »Übrigens, dein Telefon hat ein paarmal gepiept, ich glaube, jemand möchte was von dir.«

Mit Dad hatte ich heute früh schon gesprochen, mit Lisa und Jackie auch – viel mehr blieben gerade eigentlich nicht übrig.

Ich ging nach unten, setzte mich auf den Plastikstuhl im Kaminzimmer und schaute aufs Telefon. Mein Herz setzte für zwei Schläge aus.

Henry! Fassungslos las ich die Nachrichten.

Hi! Entschuldige, dass ich mich melde. Aber es ist wichtig! Können wir kurz reden?

Okay, du bist immer noch sauer. Verstehe ich voll. Muss dich nur unbedingt sprechen!

Ich weiß, ich hab es vergeigt. Trotzdem. Miss you.

Schön, ich hab’s kapiert, du willst keinen Kontakt. Aber ich muss unbedingt was wissen. Wegen deiner Zeichnungen …

Melde dich! Bitte! Professor Mortens hat angebissen. Ich habe ihm versprochen, dass er nächste Woche mehr davon sieht.

Miss you? Professor Mortens? Meine Zeichnungen? Melde dich? Während ich aufs Display starrte, brannten meine Augen wie Feuer. Ich rieb sie, aber es wurde nur schlimmer. Ich sah auf und blickte direkt in Neils Gesicht.

»Ich weiß, was dir durch den Kopf geht«, sagte ich halblaut. »Du denkst, sei doch froh, er macht es dir leicht, so ignorant wie er ist. Es geht ihm nur um sich!«

Bedrückt starrte ich auf die Zeilen. Hatten wir all die Monate in zwei komplett verschiedenen Universen gelebt? Was war los mit ihm?

Wieder sah ich auf. Neil schaute mich an. Mitfühlend irgendwie. Ich warf die Haare zurück. Es war so jämmerlich! Wie konnte man nur so am Boden sein, dass man schon Verständnis bei einem Bild suchte?

Ich stand auf und ging in mein Zimmer, holte den Seesack und schleppte ihn in den Garten.

Dort steuerte ich die alte Badewanne an. So verrostet die Wanne auch war, dicht hielt sie anscheinend noch, denn das Regenwasser darin reichte bis eine Handbreit unter den Rand. Ein paar verwelkte Rosenblätter schwammen auf der Oberfläche und natürlich jede Menge Laub.

Ich schöpfte die braunen Blätter ab, dann öffnete ich den Sack und holte die erste Zeichnung heraus. Mit dem Motiv nach unten legte ich sie ins Wasser und sah zu, wie sie leicht über die Oberfläche schaukelte. Nach ein paar Momenten fischte ich das Blatt heraus. Natürlich, das hätte ich mir denken können. Ich Idiotin! Nichts löste sich auf. Bleistift hielt ewig.

Ich setzte mich auf den Wannenrand und dachte nach. Klar, ich hätte alles in feine Schnipsel zerreißen können, doch das war irgendwie … zu simpel. Die Botschaft musste krasser sein. Unvergesslich.