Lost in the Wild - Antje Leser - E-Book

Lost in the Wild E-Book

Antje Leser

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Beschreibung

Dieser Trip in die Berge wird zum Albtraum - vielschichtiger Survival-Thriller ab 14 Jahren. 

Endlich Abi! Nun freuen sich Khadra, Timo, Jasper, Fabio und Daria auf eine Wanderung in den Bergen. Doch eine Schlammlawine bringt sie in große Gefahr. Timo wird mitgerissen und verletzt sich schwer. Auf der Suche nach Hilfe entdecken sie eine abgelegene Jagdhütte, die sich als Lager eines Prepper-Survival-Camps entpuppt. Die Freunde hoffen auf Unterstützung, doch die Prepper, angeführt von dem ehemaligen Bundeswehr-Ausbilder Franky Rohrbach, sehen die Jugendlichen als Übungsobjekte für den Ernstfall. Die fünf Freunde werden eingeschüchtert, schikaniert und gezwungen, an bizarren Überlebenstrainings teilzunehmen. Khadra und Daria gelingt die Flucht, doch Franky findet die Mädchen und bringt sie zurück. Jetzt wird die Situation erst richtig bedrohlich ...

-          Spannende Geschichte über Freundschaft, Überlebenswille und Mut

-          Vielschichtig, temporeich und detailgenau recherchiert

-          Einzigartiges Aufeinandertreffen von Jugendlichen und Preppern in der Wildnis

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Endlich Abi! Mit einem Trip in die Berge wollt ihr das feiern. Doch schon am ersten Tag geratet ihr in einen Bergrutsch. Einer von euch verletzt sich schwer. Ohne Ausrüstung und ohne Kontakt zur Außenwelt kämpft ihr ums Überleben. Als ihr auf Prepper beim Survivaltraining trefft, scheint plötzlich Rettung in Sicht. Ihr denkt, das Schlimmste sei vorbei, aber ist es das wirklich?

Die Autorin

© Wiebke Leser

Antje Leser studierte Germanistik und Romanistik in Heidelberg und Freiburg, bevor sie sich als Journalistin, Lektorin und Texterin selbstständig machte. Heute denkt sie sich Geschichten für Kinder und Jugendliche aus, schreibt Reportagen und brütet über Sachtexten. Sie lebt mit ihrem Mann, einem dynamischen Katzentrio und zwei wilden Islandpferden in der Nähe von Bonn.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor:innen und Übersetzer:innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator:innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Antje Leser

Lost in the Wild

Thienemann

Liebe Leser*innen,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte.

Auf der letzten Seite findest du eine Themenübersicht,

die Spoiler für die Geschichte enthält. Entscheide bitte für

dich selbst, ob du diese Warnung liest.

Wir wünschen dir das bestmögliche Leseerlebnis!

Antje Leser und das Thienemann-Team

Bleib in Bewegung. Hinterlass keine Spuren.

Nimm deine Umgebung wahr und sei wachsam.

Sichere dir Wasser und lerne, wie man Feuer macht.

Schärfe deine Sinne und wähle dein Team mit Sorgfalt.

Lerne eine Waffe zu gebrauchen und schütze dein Leben.

(Ragnar)

Prolog

»Keine Sorge, ich bin die ganze Zeit bei dir.« Die Stimme der Notärztin kämpfte gegen das Knattern der Rotorblätter an. Obwohl sie direkt neben ihm stand, konnte Jasper sie kaum verstehen. Der Lärm war nervenzerfetzend. Er warf einen nervösen Blick nach oben. Unmittelbar über ihnen schwebte der Rettungshubschrauber, ein Monster aus Aluminiumblech und Stahl. Aus seiner geöffneten Schiebetür starrte ein Typ mit Helm zu ihnen runter. Er schien auf ein Go zu warten.

»Bereit?«, fragte die Ärztin. Sie klang besorgt, aber auch ein wenig drängend. Jaspers Augen wanderten an dem Stahlseil entlang. Es war wirklich sehr dünn. Würde es sie beide halten? Er warf der Ärztin einen unsicheren Blick zu. Bereit fühlte sich definitiv anders an.

Sie hatten ihn in einen Rettungssitz gesteckt, eine Art Windel aus reißfestem Kunststoffgewebe, das mit einem Karabiner vor seinem Bauch gesichert war. Doch was war schon sicher, wenn man gleich dreißig Meter über der Erde baumelte? Mit nichts als Luft unter dem Arsch? Das Ganze fühlte sich alles andere als sicher an! Daran änderten auch die beiden Gurte nichts, die die Ärztin wie ein Paar Hosenträger über seine Schultern gestreift hatte, bevor sie das seltsame Geschirr mit einem weiteren Karabiner in das Drahtseil geklinkt hatte.

Noch berührten seine Füße die Erde, doch sein Körpergewicht hing bereits im Rettungssitz. Das wiederum war angenehm, denn er konnte beim besten Willen nicht mehr stehen. Der Streifschuss an seinem Bein pochte und brannte trotz des Schmerzmittels, das er bekommen hatte.

»Jasper?!«

Misstrauisch beäugte er den Karabiner, der seinen Rettungssitz mit dem Drahtseil verband. Was, wenn das Teil aufging? Erneut sah Jasper zum Hubschrauber hinauf. Dieses permanente Rattern trieb ihn in den Wahnsinn! Der Wind zerrte an seinen Haaren, riss an seiner Jacke. Regen peitschte ihm ins Gesicht. Mal wieder! Dieses Wetter hier oben! Einfach beschissen! Er zitterte so sehr, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. War das die Kälte oder doch die Anspannung der letzten Tage? Dass die Gruppe auseinandergerissen wurde, hatte ihm den Rest gegeben. Ob sie die anderen mittlerweile gefunden hatten? Und Timo? War er okay? Und würde es zwischen ihnen jemals wieder so sein, wie vor ihrer Bergtour?

»Können wir?«

Jasper riss sich zusammen. Die Ärztin war noch jung. Keine dreißig, schätzte er. Aber sie machte den Eindruck, als hätte sie das schon tausendmal gemacht. Verletzte ausfliegen. Sie lächelte ihm aufmunternd zu und schließlich nickte er. »Okay!«

Sie sagte etwas in das Mikrofon an ihrem Helm und gab dem Mann an der Seilwinde ein Zeichen. Es ruckte und gleich darauf verlor er den Boden unter den Füßen. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Nicht nachdenken! Einfach nur atmen. Ein und aus. Ein und …

[ 1 ]

Regen prasselte auf Timos Schultern, während er seinen Rucksack aus dem Kofferraum des Großraumtaxis hievte. Das hier konnte bloß ein kurzer Schauer sein. Seine Wetter-App hatte für die nächsten Tage Sonne vorhergesagt. Trotzdem: schlechtes Timing. Jasper war schon total angepisst. Sein verkniffenes Gesicht sprach Bände. Nicht mal ein Stück Schokolade konnte da noch helfen. »Ist meine Jacke noch irgendwo im Auto?«, fragte er, während er den Taxifahrer im Auge behielt. Er machte keinen besonders geduldigen Eindruck. Immer wieder sah er in den Rückspiegel und als er Timos Blick auffing, tippte er demonstrativ auf sein Taxameter.

»Hier, großer Survival-CEO!« Fabio reichte ihm seine Jacke mit einem entschuldigenden Grinsen. »Sie klemmte unter meinem Allerwertesten.«

»Wenigstens ist sie jetzt schön warm«, brummte Jasper und hauchte in seine klammen Hände. »Wie war das? Wir werden gigantisches Wetter haben. Tolle Prognose, großer Survival-CEO!«

»Hey!« Timo legte einen Arm um Jasper und zog ihn an sich. »Das hört bestimmt gleich auf!«

Jasper hob die gepiercte Braue und bedachte ihn mit einem dieser Blicke. »Wenn du es sagst«, gab er zurück und machte sich los.

»Na klar! Du wirst sehen, gleich kommt die Sonne raus.«

Jasper ließ seine Worte so lange stehen, bis Timo selbst merkte, wie hohl sie klangen. Dann schob er ihn beiseite und zerrte seinen Rucksack aus dem Auto. Als er ihn sich auf den Rücken warf, hätte er beinah Khadra umgefegt.

»Wow, Jasper!«, rief sie lachend und duckte sich gerade noch rechtzeitig unter ihm weg. »Spar dir deinen Schwung für den Aufstieg auf!«

Er tat, als hätte er sie nicht gehört und flüchtete ohne ein Wort der Entschuldigung unter den nächsten Baum. Timo fiel auf, wie ungewohnt er mit dem schweren Wanderrucksack aussah. Vielleicht lag es an seinen Klamotten? Bis zuletzt hatte er sich geweigert, mit ihm zusammen einen Outdoorshop zu betreten. Wenn ich das Wort Funktionskleidung bloß höre, muss ich kotzen, hatte er gesagt und Timo war froh gewesen, dass er ihn wenigstens zu ein paar neongrünen Trekkingschuhen hatte überreden können. Seinen Vorschlag, sie mit ihm gemeinsam einzulaufen, hatte Jasper jedoch lachend abgetan. Hier? In der City? Was, wenn uns jemand erkennt?

Timo seufzte. Jasper war stur wie ein Maultier. Und er war nicht seine Mum. Wenn er sich mit den neuen Schuhen eine Blase lief, war das sein Problem. Auch, dass er sich gegen eine praktische Outdoorhose mit vielen Taschen entschieden hatte und jetzt seine Lieblingshose (cremefarben!) trug. Timo konnte sein Gejammer bereits hören, wenn der erste Matschfleck darauf landete.

»Was ist denn mit dem los?«, fragte Khadra, die Jasper irritiert nachschaute.

»Ach, nichts. Der hatte nur noch keinen Kaffee«, gab Timo zurück, während er Khadra beim Aufsetzen ihres Rucksacks half. Es war eines dieser Teile aus recyceltem Meeresplastik. Timo erkannte es an dem kleinen Delfinlogo auf der Kopftasche. Er sah nicht besonders bequem aus, doch für Khadra war die Political Correctness wichtiger als ein perfekter Tragekomfort. Seit er sie kannte, war sie Mitglied beim WWF und engagierte sich für den Schutz der Ozeane. Sie hatte immer davon gesprochen, dass sie nach der Schule dort oder bei einer ähnlichen Organisation anheuern wolle. Bewundernswert, eigentlich. Doch bei einer viertägigen Wanderung mit schwerem Gepäck hätte er an ihrer Stelle lieber eine Ausnahme gemacht. »Hast du das komplette Zelt da reingekriegt?«, fragte er und musterte den Rucksack ungläubig.

»Daria trägt die Stangen. Und meinen Schlafsack.« Khadra justierte die Riemen an ihren Schultern und schloss den Hüftgurt. »Und morgen tauschen wir.« Sie hüpfte zweimal auf und ab, wie um ihm zu beweisen, dass sie kein Problem mit dem Gewicht hatte. »Mein Vater hat bis zuletzt gemeckert wegen unserer Tour. Am liebsten hätte er mir verboten mitzukommen.« Über ihr Gesicht huschte ein Schatten. »Der Mann ist so altmodisch!« Khadra schnaubte. »Er hat darauf bestanden, dass ich nur mit Daria in einem Zelt schlafe. Selbst als ich ihm erzählt habe, dass du und Jasper schon ewig zusammen seid. By the way: das hat ihn auch nicht gerade beruhigt.«

Timo schnaubte. Im Grunde konnte ihm die homophobe Einstellung von Khadras Vater ja egal sein. Aber enttäuschend war es trotzdem, denn eigentlich war der Mann ganz in Ordnung. Sie kannten sich flüchtig, denn er und Khadra hatten zusammen fürs Mathe-Abi gelernt. Dabei war ihm Herr Boukhami ein paarmal begegnet. »Und dass Fabio wie ein Bruder für mich ist, hat er mir auch nicht so ganz abgenommen. Und dann hat er mir noch einen Vortrag gehalten, was passiert, wenn wir beim Wildcampen erwischt werden.«

»Werden wir nicht«, sagte Timo schlicht. »Da, wo wir hinwandern, ist keiner.«

»Hab ich ihm auch gesagt. Aber das hat ihn nicht wirklich beruhigt. Im Gegenteil. Und am liebsten hätte er gehabt, dass ich meinen Standort dauerhaft mit ihm teile. Kannst du dir das vorstellen?« Auf Khadras Wangen bildeten sich rote Flecken. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. »Der Mann ist ein richtiger Kontrollfreak!«

»Ich weiß nicht, ob wir da oben Netz haben.«

»Hab ich ihm auch gesagt. Aber er …«

»Wird das noch was?« Der Taxifahrer wurde ungeduldig. Mit einem schnellen Blick überzeugte Timo sich, dass der Kofferraum leer war. Er knallte den Deckel zu und ging nach vorne, um das Taxi zu bezahlen. »Was wollt’s ihr denn bei dem Sauwetter da oben?«, fragte der Fahrer, als Timo sich ins Wageninnere beugte und dem Mann seine EC-Karte hinhielt. Es lag kein wirkliches Interesse in der Frage. Mehr so eine Art ungläubiges Kopfschütteln.

»Na, wandern«, erwiderte Timo und schenkte dem Mann sein strahlendstes Lächeln. Dann tippte er seine Pin in das Kartenlesegerät und steckte die Karte wieder ein. Wer so unfreundlich war, bekam auch kein Trinkgeld.

»Städter«, brummte der Mann, während er Timo die Quittung aushändigte. Dann ließ er den Motor an und gab Gas.

»Blödmann.« Timo sah dem Taxi hinterher. Ihre letzte Verbindung zur Zivilisation. Zumindest für die nächsten Tage.

Nachdem das Geräusch des Wagens verebbt war, senkte sich Stille auf den Parkplatz. Nur der Regen war noch zu hören. Ein gleichmäßiges Rauschen, begleitet vom Wind, der durch die Wipfel der Föhren brauste.

Gierig sog Timo die feuchte Waldluft ein. Herrlich! »Wie sieht’s aus, Leute?«, fragte er in die Runde. »Bereit für das größte Abenteuer eures Lebens?«

Jubel, Pfiffe und Applaus waren die Antwort. Nur Jasper stimmte nicht mit ein. Timo schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Heute Abend würden sie gemeinsam Sternschnuppen zählen. Und wenn ihn das nicht überzeugte, dann vielleicht eine romantische Nacht im Zelt. Wenn Fuchs und Has’ sich Gute Nacht gesagt hatten und sie endlich ungestört waren …

Daria spürte, wie der Regen langsam durch ihre Jacke drang. Sie stammte aus einem Secondhandladen in der Innenstadt und war leider doch nicht so wasserdicht, wie sie im ersten Moment ausgesehen hatte. Eigentlich hatte sie sie noch mit einem dieser Imprägniersprays bearbeiten wollen. Doch Khadra hatte ihr einen Vortrag zum Thema Fluorcarbone gehalten und dass die sich in der Natur nicht selbstständig abbauen könnten, krebserregend wären und Einfluss auf das Hormonsystem und die Fortpflanzung hätten. Am Ende hatte Daria darauf verzichtet. Aber mehr Khadra zuliebe und weil sie keine Lust auf einen weiteren Vortrag hatte. Im Laufe des Tages würde es ohnehin aufklaren und dann würde sie sich die Jacke um die Hüften binden. Bis heute Abend wäre sie wieder trocken.

»Hey, großer Bergführer! Wo geht’s lang?«, fragte sie und versetzte Timo einen freundschaftlichen Knuff in die Rippen. Seit Wochen sprach er von nichts anderem als von ihrer Bergtour und dass sie episch werden würde.

»Hab’s gleich!«, sagte er und wehrte grinsend ihre Hand ab. »Bloß noch die App starten! Ihr müsstet die übrigens auch haben. Hab euch den Link geschickt!«

»Reicht doch, wenn du uns führst«, entgegnete Daria. »Ich kümmere mich um die Fotos. Mein Akku ist nicht so toll.«

»Hast du keine Powerbank dabei?«

Daria schüttelte den Kopf. »Zu viel Gewicht«, sagte sie und wies über die Schulter auf ihren Rucksack. »Das hier reicht mir!«

»Daria!« Khadra hatte unter ein paar Bäumen Schutz gesucht. Jetzt winkte sie sie zu sich. Als sie sich zu ihr gesellte, wies sie unauffällig in Fabios Richtung. Er strich um einen dunkelgrünen Geländewagen, den jemand am anderen Ende des Parkplatzes abgestellt hatte. Gerade spähte er durch die Fenster der Fahrerseite. Khadra stieß Daria an und beide kicherten los.

»Darf ich mitlachen?« Jaspers sorgfältig gestylter, pinkfarbener Haarschopf troff vor Nässe. Seine Laune hatte sich noch nicht gebessert und Daria hoffte inständig, dass sich das im Laufe des Tages noch ändern würde. Jasper war von Anfang an gegen diese Wanderung gewesen, war aber überstimmt worden. Und damit konnte er gar nicht gut umgehen.

Sie zeigte auf Fabio, der immer noch um den Jeep strich.

In Jaspers Gesicht zuckte es. »Unser Nerd hat wohl auch keine Lust auf Wandern«, bemerkte er trocken.

»Passt auf, gleich hält er uns einen Vortrag über Geländewagen und deren Features und Skills.« Khadra betonte die letzten Worte und ahmte dabei Fabios Stimme nach.

Daria schüttelte sich vor Lachen. Sogar Jasper verzog das Gesicht jetzt zu einem Grinsen.

»Was ist jetzt?«, rief Daria, als Timo noch immer nicht von seinem Handy aufsah.

»Yallah!«, rief Khadra ungeduldig und schwang ihre Stöcke.

»Okay, okay!« Timo warf einen letzten Blick auf sein Handy, dann wies er in Richtung Straße. »Erst mal ein Stück hier lang. Irgendwo geht gleich ein Wanderweg los. Den dürfen wir nicht verpassen.«

»Hast du hier überhaupt noch Netz?«, wollte Daria wissen.

»Brauch ich nicht. Hab alles runtergeladen. Das GPS findet uns auch so.« Er steckte sein Handy weg und fügte augenzwinkernd hinzu: »Außerdem beginnen die meisten Abenteuer da, wo Pläne enden!«

»Sagt wer?« Daria heftete sich an seine Fersen, froh, dass es endlich losging.

Khadra folgte ihr.

»Sage ich! Und deshalb ist unsere Tour auch nicht komplett in Stein gemeißelt. Schließlich wollen wir was erleben, oder?«

»Du meinst, so wie damals bei der Abschlussfahrt in der Zehnten?«, erinnerte sich Daria. »Wo wir alle keinen Bock mehr auf Wandern hatten und per Anhalter in die Jugendherberge zurückgetrampt sind? Wisst ihr noch?«

»Puh, das gab Ärger!«, stöhnte Khadra, die sich noch gut an das Krisengespräch danach erinnern konnte. »Beinah hätten Hoffman und Keller uns nach Hause geschickt. Meine Eltern wären durchgedreht. Zum Glück haben die Lehrer dichtgehalten.«

»Die hätten doch selbst Ärger bekommen«, bemerkte Jasper trocken. »Keller war damals noch Referendarin gewesen. Die hätten die vermutlich direkt abgesägt.«

»Äh, Leute! Wo ist eigentlich Fabio?« Daria war stehen geblieben. Jetzt schaute sie sich suchend um. »Ist der immer noch auf dem Parkplatz?«

»Fabio?« Timo war ein paar Schritte zurückgelaufen. »Reiß dich los, Alter!«, brüllte er und spähte in Richtung Parkplatz. »Wir haben noch viel vor!«

»Sì! Arrivo!«, tönte es schwach und aus einiger Entfernung. »Arrivo subito!«

Vor ihnen schlängelte sich die nasse Straße durch einen Wald, dessen Umrisse der Nebel weichgezeichnet hatte. Der Rhythmus ihrer Schritte wirkte beinah hypnotisierend und Khadra spürte, wie sich die mystische Stimmung auf sie übertrug. »Voll schön!«, rief sie ausgelassen, während sie neben Daria lief, die die Führung übernommen hatte. »Wald im Regen. Regen im Wald. Regenwald!«

»Stimmt.« Daria seufzte. »In der Stadt ist Regen einfach nur nass und unpraktisch. Aber hier? Ich finde, es hat fast etwas Mystisches. Dieses Prasseln und Knistern im Laub. Der Geruch …« Daria holte tief Luft. »Als wären wir plötzlich in einer anderen Welt!«

»Ey, Leute!« Fabio schnaufte von hinten heran. »Habt ihr die Karre gesehen? Eben, auf dem Parkplatz?«

Khadra knuffte Daria in die Seite. »Nerd-Time!«, flötete sie und kicherte ausgelassen.

»Du meinst den Geländewagen?«, fragte Daria mit Unschuldsmiene. »Diesen grünen Jeep?«

»Der ist mir doch glatt entgangen!«, behauptete Khadra und grinste breit. »Was war denn mit dem?«

»Geiles Teil!« Fabio grinste zurück. Er hatte ihren ironischen Unterton sehr wohl mitbekommen. Doch eine seiner Stärken war, dass er es ihr niemals krummnahm, wenn sie ihn aufzog. »Die ultimative Offroad-Legende aus den USA!«

»Pah«, machte Khadra und warf Fabio einen vernichtenden Blick zu. »Ultimativer Klimakiller trifft’s wohl eher!«

»Es gibt sie auch zu hundert Prozent elektrisch!«

»Trotzdem kein Grund, damit durch den Wald zu brettern, und Tiere aufzuscheuchen!«

»Außerdem vermutlich scheißteuer«, pflichtete Jasper ihr bei. »Und dann noch in einer so hässlichen Farbe! Ich meine: Welcher normale Mensch kauft sich ein Auto in Rotzgrün? Und noch dazu matt? Haben die bei der Lackierung geschlafen?«

»Lass mich raten …« Timo starrte in gespielter Nachdenklichkeit auf die bleigrauen Wolken über ihnen. »Ein Jäger vielleicht?«

»Es heißt commando green«, korrigierte Fabio hoheitsvoll. »Und es ist auch kein Auto, sondern ein Wrangler Rubicon! Ein Plug-in-Hybrid, mit einem Vierradantrieb, da schnallt ihr ab. Der ist für den ganz harten Offroad-Einsatz gebaut. Wenn da ein Rad durchdreht und das andere festsitzt, kommt der trotzdem noch jede Steigung hoch!«

»Jede Steigung«, zog Jasper ihn auf. »Als ob!«

»Im Ernst! Mit dem wären wir in Nullkommanix auf dem Gipfel!«, rief Fabio, während sie an ihm vorbeizogen. »Und zwar querfeldein durch den Wald.«

»Nur Idioten fahren querfeldein durch den Wald!«, fauchte Khadra. »Ist der Wald nicht schon kaputt genug?«

»Außerdem: Der Weg ist das Ziel, Fabio!«, rief Daria lachend über ihre Schulter.

»Ja, eben!« Mit breitem Grinsen heftete Fabio sich an ihre Fersen. »Mit so einer Karre macht die Bergtour doch erst richtig Spaß!« Geschickt wich er einem ihrer Stöcke aus und streckte ihr dann die Zunge raus.

»Der Fahrer ist bestimmt ein Psycho«, brummte Jasper. »Bei der Farbe.«

»Hat denn jeder an seinen Klettergurt gedacht?«, wechselte Timo das Thema. »Und an seinen Helm?«

»Porca miseria!« Fabio war abrupt stehen geblieben. Die Panik in seiner Stimme klang so echt, dass alle zu ihm herumfuhren. Doch sein Gesicht hatte sich bereits zu einem breiten Grinsen verzogen. »Alter! Wie oft hast du uns daran erinnert?«, fragte er und schlug Timo lachend auf die Schulter. »Natürlich habe ich das Zeug dabei! Wäre mein Rucksack sonst so voll? Übrigens: Hier kommt deine Abzweigung, amico!«

Sie ließen die Straße hinter sich und tauchten in den Wald ein. Es war wie der Übergang in eine andere Welt. Der Boden unter ihren Sohlen war nicht mehr fest und glatt wie die Straße, sondern weich vom Laub und der nassen Erde. Es knirschte und knackte bei jedem Schritt, während sie dem winzigen Pfad folgten, der sich immer steiler den Berg hinaufwand. Umgefallene Bäume und Felsbrocken lagen kreuz und quer und machten den Aufstieg mühsam. Ab und zu erhaschten sie einen Blick ins Tal oder auf den Fluss, der unterhalb ihrer Strecke durch eine Schlucht rauschte.

Khadra genoss die Bewegung. Endlich wieder draußen in der Natur! Und noch dazu mit ihren besten Freunden! Die letzten Monate hatten sie an den Schreibtisch gefesselt. Bis sie das Abi in der Tasche hatte, war sie kaum vor die Tür gekommen. Selbst die abendliche Joggingrunde mit Daria war irgendwann auf der Strecke geblieben. Aber das würde sich jetzt ändern. Sie hatten sich vorgenommen, wieder regelmäßig laufen zu gehen. Wenigstens bis Daria ihr Praktikum im Krankenhaus begann. Und – wer weiß, wenn ihr das hier gefiel, würde sie vielleicht auch mit dem Klettern anfangen. Timo hatte ihr bereits angeboten, sie mal mit in die Boulderhalle zu nehmen. Mal sehen.

Jasper wusste, dass er unausstehlich war, und er hasste sich dafür. Doch er konnte gerade nicht aus seiner Haut. Wütend starrte er Khadra und Daria hinterher, die fröhlich plappernd vorneweg liefen. Diese Wanderung! Von Anfang an hatte er keinen Bock darauf gehabt. Er war ein Stadtkind, verdammt! Mit dem Trubel des urbanen Lebens konnte er umgehen. Mit dem Lärm, dem Chaos, notfalls auch mit dem Gestank. Damit kannte er sich aus. Aber mit so viel Natur auf einmal kam er nicht klar. Diese gigantische Berglandschaft, noch dazu diese unheimliche Stille. Das alles lastete auf ihm. Er fühlte sich dieser Natur förmlich ausgeliefert. Noch dazu die Unsicherheit über mögliche Gefahren. Plötzliche Wetterumschwünge (konnte es überhaupt noch schlechter werden?), ein Steinschlag oder die Begegnung mit einem Wolf. Er hatte es im Vorfeld gegoogelt und natürlich war er fündig geworden: Kürzlich war genau in dieser Gegend ein Wolf gesichtet worden. Er hatte sechs Schafe gerissen. Was, wenn der jetzt Lust auf eine Abwechslung in seinem Speiseplan hatte? Und hier wollte Timo wild campen? Really!? Jasper kickte einen faustgroßen Stein vor sich her und sah zu, wie er den Hang hinabhüpfte. Bei dem Wetter würden sie vermutlich auch kein Feuer ankriegen. Und wie sollten sie sich dann die wilden Viecher vom Hals halten?

»Hey!« Timo war stehen geblieben und wartete, bis Jasper ihn eingeholt hatte. Zwei muskulöse Arme legten sich um seine Taille und Jasper musste sich eingestehen, dass er auf diese Berührung gewartet hatte. Er ließ seinen Kopf gegen Timos Brust sinken und lauschte den Tropfen, die auf seiner Kapuze landeten.

»Hörst du das?«, raunte Timo dicht an seinem Ohr. »Bei Regen steckt die Welt hier oben voller Magie!« Er löste sich langsam und zu Jaspers Bedauern aus ihrer Umarmung und deutete mit großer Geste in die Landschaft. »Und schau mal, dieser Nebel! Der macht die Sache noch viel spannender. Wart’s ab, sobald er sich lichtet, können wir die Berggipfel sehen! Der glitzernde Schnee in der Sonne – ich sage dir, das ist wie Geburtstag und Weihnachten in einem.« Jasper fing Timos Hundeblick auf und las das Flehen darin. »Im Ernst, Jasper. Wandern bei Sonnenschein – das kann doch jeder!«

Jasper knirschte mit den Zähnen. Doch er spürte, wie sein Groll langsam verflog. Die Landschaft war wirklich schön. Und so still war es eigentlich gar nicht. Er hörte das Gezwitscher der Vögel, denen der Regen offenbar nichts ausmachte. Und das Trommelsolo eines Spechts irgendwo über ihnen. Jasper spähte in die Baumkronen, doch er konnte den Vogel nirgends entdecken.

»Kommst du?«, fragte Timo und streckte ihm seine Hand hin.

Jasper gab sich einen Ruck. Timo zuliebe könnte er dem Ganzen ja eine Chance geben. Vier Tage waren schließlich keine Ewigkeit. Vielleicht würde es ja doch ganz gut werden.

Stumm liefen sie eine Weile nebeneinanderher. Der Regen hatte etwas nachgelassen und ihm wurde tatsächlich warm. Auch Timo schälte sich aus seiner Jacke. Darunter trug er ein schwarzes, eng anliegendes Shirt, in dem sich seine Muskeln abzeichneten.

Jasper seufzte sehnsüchtig. Sein Freund sah zum Anbeißen aus. »Tut mir leid«, nuschelte er, ohne Timo dabei anzusehen.

»Ich weiß«, sagte Timo leise und drückte seine Hand.

Als sie kurz darauf den Waldrand erreichten, brach die Sonne durch und Fabio spürte eine Welle der Erleichterung. Er hatte schon befürchtet, dass es mit dem Regen so weitergehen würde. Aber da hatte er sich zum Glück getäuscht. »Komme gleich nach«, sagte er und ließ die anderen an sich vorbeiziehen. Dann zog er seine Jacke aus und stopfte sie in seinen Rucksack. Bis heute Abend würde er sie hoffentlich nicht mehr brauchen.

»Fabio?« Khadra hatte sich zu ihm umgewandt. Ihre Augen glänzten. Schon lange hatte er sie nicht mehr so gelöst gesehen. Das Abi hatte sie total gestresst. Oder vielmehr: ihre Eltern. Sie hatten sie unter Druck gesetzt, damit sie auch ja das Einserabi schaffte. Offenbar sahen sie in ihr bereits die zukünftige Anwältin. Dabei war Khadra mit ihrer kämpferischen Art die geborene Politikerin! Beim letzten Klimastreik hatte sie eine flammende Rede gehalten. Vor über tausend Menschen. Fabio hätte sich das nie getraut. Aber Khadra war aus einem anderen Holz geschnitzt. Sie hatte kein Problem, ihre Meinung freiheraus zu sagen.

»Alles gut«, sagte er und holte zu den anderen auf.

Vor ihnen lag eine sattgrüne Almwiese, über der sich ein schroffes Bergmassiv auftat. Schnee glitzerte auf den Gipfeln und der Himmel wechselte zunehmend in ein strahlendes Blau. Es war phänomenal, wie schnell das Wetter hier oben umschlagen konnte!

»Wow!« Daria war stehen geblieben und ließ das Panorama auf sich wirken. »Das ist irre!«

»Mega!«, pflichtete Khadra ihr bei.

»Jemand Sunblocker?« Jasper hielt eine Tube hoch, die er gerade aus seinem Rucksack gekramt hatte. Jetzt wo das Wetter besser wurde, besserte sich auch seine Laune.

»Guckt mal!« Fabio wies auf eine Gruppe Rehe, die sich aus der Deckung des Waldes gewagt hatte. Eines der Tiere hob witternd den Kopf und spähte in ihre Richtung, während die anderen entspannt weiterästen.

»Voll süß!«, hauchte Khadra. »Die haben ja gar keine Angst vor uns!«

»Wir tun ihnen ja auch nichts«, sagte Daria und zog leise ihr Handy heraus. Jetzt hoben auch die anderen Tiere ihre Köpfe. »Los! Gruppenbild mit Rehen!«, wisperte sie und hob das Handy. Sie rückten zusammen und strahlten in die Kamera. Plötzlich kam Bewegung in die Herde. Kurz darauf waren die Tiere im Wald verschwunden. Daria warf einen Blick auf das Foto. »Da! Eins hab ich noch erwischt.«

»Und ich hab mal wieder die Augen zu«, knurrte Fabio, doch im Grunde war es ihm egal. Er war hier mit seinen besten Freunden. Der Duft nach feuchtem Gras und frischen Kräutern kitzelte in seiner Nase. Und der Müsliriegel, den er gleich verputzen würde, würde ihm genug Energie für die nächste Etappe liefern.

»Na? Hab ich zu viel versprochen?«, fragte Timo und versetzte Jasper einen Stoß.

Fabio entging nicht, wie Jasper leicht errötete. Vermutlich war ihm sein Gezicke von vorhin nun doch etwas peinlich. Und das war gut so. Timo hatte wirklich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um diese Tour für alle zu einem Erlebnis zu machen.

»Okay, ihr habt ja recht«, gab er kleinlaut zu. »Hätte nicht gedacht, dass das hier ballert.«

Sie überquerten die Almwiese und umrundeten einen kleinen Bergsee. Dann ging es an den Aufstieg. Timos Hiking-App hatte die Tour als außergewöhnlich angepriesen. Wanderer mit guter Kondition sollten das Ganze problemlos bewältigen können. Knifflige Stellen wären mit einem Stahlseil gesichert, alles andere sei ein Feierabendspaziergang, den man in wenigen Stunden schaffen konnte. In der Beschreibung hatte sich das nicht besonders kompliziert abgehört und als sie nach gut einer Stunde den Einstieg in die Schwarzbachklamm erreichten, war Timo in Hochstimmung. Begeistert deutete er auf eine steile Treppe, die sich an der Felswand entlang nach oben zog. Ein mitlaufendes Drahtseil aus Stahl, das alle paar Meter mit Ösen im Berg verankert war, diente als Aufstiegshilfe.

»Brauchen wir jetzt nicht unsere Klettergurte?«, wollte Khadra wissen. Sie wies auf ein Schild am Eingang der Klamm. »Hier steht was von normgerechter Ausrüstung.«

Timo, der gerade einen großen Schluck aus seiner Flasche nahm, winkte ab. »Das gilt nur für Anfänger und Leute mit Kindern«, sagte er und steckte die Flasche weg. »Ihr müsst euch keine Sorgen machen.« Er nahm die ersten Stufen, ohne das Seil zu benutzen, bevor er sich noch einmal nach ihnen umdrehte. »Los! Let’s go!«

Eine halbe Stunde später hatten sie die Klamm hinter sich gelassen und einen Wanderpfad genommen, der sie über einen schmalen Berggrat führte. Der Weg war steinig und voll losem Geröll, doch die Aussicht war fantastisch. Dahinter ging es durch ein kleines Nadelwäldchen.

Und dann standen sie endlich vor ihrer ersten Steilwand. Es ging etwa fünf Meter über u-förmige Haken senkrecht nach oben. Auch hier gab es parallel dazu ein Drahtseil, in das man seine Karabiner einhaken musste. Fast schon idiotensicher, dachte Timo. Er setzte seinen Rucksack ab und kramte nach seinem Helm.

»Wie? Da hoch?!«, fragte Khadra ungläubig. »Und dann auch noch da rüber?« Sie wies auf einen Quergang, der in luftiger Höhe über ein paar Baumstämme führte.

»No way!« Jasper starrte die Konstruktion an. Dann schüttelte er den Kopf. »Auf keinen Fall!«

»Also hoch geht ja noch.« Daria warf einen Blick in den Abgrund und schauderte. »Aber dann noch über diese Baumstämme … Das ist ganz schön tief!«

»Wenn wir auf den Gipfel wollen, müssen wir da lang«, sagte Timo schlicht. Ganz sicher würde er seine Tour nicht wegen eines Klettersteigs umplanen. Außerdem: richtig nice hier! Und diese Aussicht! Unter ihnen lag ein riesiger Stausee. Das Wasser glitzerte in der Sonne.

»Aber dass ich einen Blitzableiter hochklettern soll, hättest du ruhig mal erwähnen können!«, beschwerte Jasper sich.

»Das schaffst du!« Timo klopfte seinem Freund beruhigend auf die Schulter. »Das ist nicht viel anders als bei einer Leiter. Außerdem: Ich bin doch bei dir.«

»Ha, ha!«

»Wer in den Bergen wandern will, muss auch mit dem einen oder anderen Abgrund rechnen.«

»Klugscheißer! Wer sagt denn, dass ich wandern wollte?«

»Jetzt fang nicht schon wieder damit an!«

»Leute!«, ging Fabio dazwischen. »Das bringt doch nichts. Wir sind jetzt so weit gekommen. Da schaffen wir das Stück hier auch noch.« Demonstrativ zog er seinen Helm aus dem Rucksack und setzte ihn auf. Auch die anderen begannen, ihre Gurte anzulegen.

»Das ist doch nicht euer Ernst!«, versuchte Jasper, die Gruppe umzustimmen. »Das sind bestimmt vierzig Meter bis zum Aufprall!«

»Dann schau halt nicht runter!«, schlug Fabio vor.

»Das sagst du so!«

»Hey, wir gehen das ganz langsam an«, sagte Timo mit ruhiger Stimme, während er ebenfalls seine Kletterausrüstung anlegte. »Ich bleibe dicht hinter dir und zeige dir, wie du dich sicherst. Wenn wir oben sind, klettere ich runter und hole Khadra. Okay?«

»Lass mal, ich krieg das allein hin«, sagte Khadra und vermied es dabei, Jaspers anzusehen. »Wie ist es mit dir, Daria?«

»Von mir aus kann’s losgehen.«

»Fabio?«

»Geht ihr mal lieber vor. Wer weiß, ob die Dinger mein Kampfgewicht aushalten.«

»Fabio!«

»Alles gut!« Fabio klopfte Khadra beschwichtigend auf die Schulter. Selbstironie war seine persönliche Strategie, mit seinem Körper umzugehen. Timo hatte eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass er mit dieser Offensive nicht nur eine gewisse Lockerheit erzeugte, sondern damit auch unangenehmen Situationen zuvorkommen wollte. Dabei wäre das gar nicht nötig. Alle kannten und mochten Fabio. Keiner von ihnen würde jemals einen blöden Kommentar zu seinem Äußeren machen. »Pass du mal lieber mit deinen Sneakers auf, statt hier blöde Witze zu reißen!«, ermahnte er seinen langjährigen Kumpel. Bis zuletzt hatte er ihm in den Ohren gelegen, dass er sich ein paar ordentliche Bergschuhe kaufen sollte.

»Certo, amore mio!«, kam es in übertriebenem Falsett von hinten. »Non stressarti!«

Alle lachten. Nur Jasper nicht. Er presste die Lippen aufeinander und starrte die steile Felswand empor.

»Kann’s losgehen?« Timo warf seinem Freund einen prüfenden Blick zu. Doch als Jasper immer noch skeptisch die Baumstämme beäugte, schob Timo sein Gesicht ganz dicht vor das von Jasper und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.

Jasper erwachte aus seiner Starre und erwiderte Timos Kuss. Dann gab er sich einen Ruck und setzte einen Fuß auf die erste Krampe. »Okay«, sagte er seufzend und begann mit dem Aufstieg.

Es war alles halb so wild. Jasper machte seine Sache gut und auch die anderen hatten die Steilwand in Kürze und beinah mühelos überwunden. Die nächste Etappe war etwas kniffliger, das war Timo schnell klar. Über Baumstämme balancieren mit nichts als Luft unter dem Hintern war nichts für schwache Nerven. Dennoch war er sicher, dass die Gruppe auch das ohne große Probleme meistern würde. »Diesmal gehe ich vor«, sagte er und ließ ihnen keine Zeit für Gegenargumente. Er hakte seinen Karabiner in das Drahtseil und tastete sich Schritt für Schritt voran. Der erste Baumstamm war etwas glitschig durch den Regen, aber wenn man die Füße richtig platzierte, rutschte man fast nicht.

Jasper folgte zögernd. Alles war gut. Khadra ließ ein wenig Abstand, damit er sich nicht gedrängt fühlte und auch Daria und Fabio waren konzentriert bei der Sache.

Doch dann stand der Wechsel zum nächsten Baumstamm an und Timo bemerkte, dass Jasper zurückblieb. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die etwa fünfzig Zentimeter große Lücke und die glitzernde Wasseroberfläche des Stausees viele Meter unter ihm. Eigentlich hätte er nur einen mittelgroßen Schritt machen müssen. Doch nun war ihm bewusst geworden, wie tief es hier tatsächlich runterging. Timo hörte deutlich das Nervenflattern in seiner Stimme, als er jetzt loslegte. »Scheiße! Oh mein Gott! Ich kann das nicht! Fuck, ist das tief!«

Timo, der bereits den nächsten Baumstamm passiert hatte, wandte sich nach ihm um. Zum Glück war sein Freund immer noch vorschriftsmäßig gesichert, so viel konnte er von hier aus sehen. »Nicht nach unten gucken! Schau auf deine Hände und konzentriere dich auf das Seil!«

Doch Jasper schien ihn nicht zu hören. Langsam begann er zurückzuweichen. »Was machst du denn?«, rief Khadra entsetzt, als er schon fast bei ihr angekommen war.

»Nowaynowaynoway!«, stöhnte Jasper, der voller Angst über ihre Schulter spähte. »Lass mich durch, ich will zurück. Geht ihr doch weiter. Mir reicht’s!«

»Du kannst hier nicht rückwärts!«, fuhr sie ihn an, Ärger und Verunsicherung in der Stimme.

»Jasper!«, rief Timo. »Warte, ich hole dich!« Verdammt! So würde sein Freund demnächst die restliche Gruppe in Panik versetzen!

Jasper starrte nach wie vor in die Tiefe. »Scheiße, ich kann das nicht, Timo! Ich kann das nicht!« Seine Stimme klang jetzt beinah schrill. Mit beiden Händen umklammerte er das Drahtseil.

Khadra und Timo tauschten hilflose Blicke. Was sollten sie tun?