Auf lautlosen Schwingen - Michelle Raven - E-Book

Auf lautlosen Schwingen E-Book

Michelle Raven

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die zurückgezogen lebende Amber wird vom Rat der Berglöwen gebeten, den Adlerwandlern eine Nachricht zu überbringen. Dafür überschreitet sie zum ersten Mal die unsichtbare Grenze zwischen ihr und dem Adler Griffin, der sie als Kind vor den Mördern ihres Vaters gerettet hat. Im Gebiet der Adler wird sie angegriffen, und wieder kommt Griffin ihr in letzter Minute zu Hilfe. Zum ersten Mal begegnen sie sich in ihrer menschlichen Gestalt, und erkennen, dass sie sich noch immer zueinander hingezogen fühlen. Aber können eine Berglöwin und ein Adler ein Paar werden? Während sie nach einem Weg suchen, wie sie ihr Leben gemeinsam gestalten können, wird ein Berglöwenwandler von unbekannten Angreifern schwer verletzt und sie begreifen, dass viel mehr auf dem Spiel steht als nur ihre Liebe.

Achtung, neue Ausgabe der beliebten Ghostwalker-Serie.

Die Ghostwalker-Reihe:

1. Die Spur der Katze
2. Pfad der Träume
3. Auf lautlosen Schwingen
4. Fluch der Wahrheit
5. Ruf der Erinnerung
6. Tag der Rache

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Die zurückgezogen lebende Amber wird vom Rat der Berglöwen gebeten, den Adlerwandlern eine Nachricht zu überbringen. Dafür überschreitet sie zum ersten Mal die unsichtbare Grenze zwischen ihr und dem Adler Griffin, der sie als Kind vor den Mördern ihres Vaters gerettet hat. Im Gebiet der Adler wird sie angegriffen, und wieder kommt Griffin ihr in letzter Minute zu Hilfe. Zum ersten Mal begegnen sie sich in ihrer menschlichen Gestalt, und erkennen, dass sie sich noch immer zueinander hingezogen fühlen. Aber können eine Berglöwin und ein Adler ein Paar werden? Während sie nach einem Weg suchen, wie sie ihr Leben gemeinsam gestalten können, wird ein Berglöwenwandler von unbekannten Angreifern schwer verletzt und sie begreifen, dass viel mehr auf dem Spiel steht als nur ihre Liebe.

Die Autorin

Schon als Kind war Michelle Raven ein Bücherwurm, deshalb schien der Beruf als Bibliotheksleiterin genau das Richtige für sie zu sein. Als sie alle Bücher gelesen hatte, begann sie, selbst für Nachschub zu sorgen. Und wurde zu einer der erfolgreichsten deutschen Autorinnen im Bereich Romantic Fantasy und Romantic Thrill. Bislang hat sie 49 Romane veröffentlicht, von denen einer auf der SPIEGEL-Bestsellerliste landete. 2008 erhielt sie die "DeLiA" für den besten deutschsprachigen Liebesroman. Wenn sie nicht vor dem Laptop sitzt, erkundet sie gern den Westen der USA und holt sich dort Inspiration für ihre Romane.

Weitere Informationen

https://www.michelleraven.de

Michelle Raven

Ghostwalker

Auf lautlosen Schwingen

 

Roman

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne Zustimmung der Autorin kopiert, nachgedruckt oder anderweitig verwendet werden.

Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Namen, Figuren, Unternehmen, Organisationen, Orte, Begebenheiten und Ereignisse werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, realen Handlungen und Schauplätzen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright © 2020 Michaela Rabe

Originalausgabe Copyright ©2010 EGMONT Verlagsgesellschaften mbH

Covergestaltung: Wolkenart – Marie-Katharina Wölk, https://www.wolkenart.com

Bildmaterial: ©Shutterstock.com

Textredaktion der Originalausgabe: Katharina Kramp

ISBN 9783754618073

Michelle Raven c/o autorenglück.de Franz-Mehring-Str. 15 01237 Dresden

Email: [email protected]

Weitere Informationen: https://www.michelleraven.de

Stand: August 2022

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

Epilog

So geht es mit den Ghostwalkern weiter …

Band 1 der Ghostwalker verpasst?

Die Romane von Michelle Raven

 

Prolog

Ängstlich blickte Amber sich um. Bisher war ihr der Wald immer wie ein Freund vorgekommen, doch jetzt wirkten die riesigen Bäume bedrohlich, ihre Blätter verdeckten die Sonne und ließen alles düsterer erscheinen. Die Büsche schienen näher zu rücken, und überall raschelte es. Amber hatte das Gefühl, als wären von allen Seiten Augen auf sie gerichtet. Sie wollte nach Hause! Mit einem kläglichen Laut setzte sie sich auf den weichen Waldboden und versuchte sich zu erinnern, aus welcher Richtung sie gekommen war. Aber es sah überall gleich aus.

Noch nie hatte sie sich so weit vom Lager der Berglöwenwandler entfernt, schon gar nicht ohne ihre Eltern oder ihren älteren Bruder Coyle. Eigentlich hatte ihre Mutter Coyle gebeten, auf sie aufzupassen, aber er wollte sich lieber mit seinem besten Freund Finn treffen und hatte ihr gesagt, sie sollte im Haus bleiben. Aber dazu hatte sie keine Lust gehabt und war stattdessen zum Spielen nach draußen gegangen. Sie liebte die Natur, es gab immer so viele aufregende Dinge zu entdecken. Diesmal war es ein Reh gewesen, bei dem sie ihre Anschleichtechnik geübt hatte. Amber war ihm gefolgt, bis es sie entdeckte und mit großen Sprüngen zwischen den Bäumen verschwand. Erst da hatte sie gemerkt, dass sie nicht mehr wusste, wo sie war.

Sie war so in ihr Elend vertieft, dass sie die Stimmen erst hörte, als sie schon ganz nah waren. Abrupt setzte sie sich auf, voller Hoffnung, dass einer der Berglöwenwandler zufällig in der Nähe war und sie mit zum Lager nehmen konnte.

„Ich sage dir, ich habe eben etwas gehört. Es muss hier irgendwo gewesen sein.“

„Wenn du uns wieder stundenlang nach etwas suchen lässt, das es gar nicht gibt, gehen wir nie wieder mit dir auf die Jagd.“

Furcht kroch über Ambers Rückgrat. Die Männer waren keine Wandler, sondern Menschen! Ihre Eltern hatten sie vor ihnen gewarnt. Sie durften sie auf keinen Fall finden. Hastig rappelte Amber sich auf und begann, vorsichtig in Richtung eines Dickichts zu pirschen. Sie musste sich irgendwo verkriechen und abwarten, bis die Männer verschwunden waren. Danach würde sie dann einen Weg nach Hause finden.

„Da ist es wieder. Los, kommt!“ Aufregung klang in der Stimme des Mannes mit.

Amber schob sich tiefer in das Dickicht, bemüht, so leise wie möglich zu sein. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie nichts anderes mehr hören konnte. Als sie nicht weiterkonnte, presste sie sich so dicht auf den Boden, wie es ging, und kniff die Augen zu. Vielleicht würden sie einfach weitergehen, wenn sie sie nicht sehen konnten. Bitte. Bitte. Der Geruch der Männer wurde immer intensiver, er war irgendwie … falsch. Die Wandler rochen nach einer Mischung aus Berglöwe, Mensch und Natur, doch diese Menschen stanken. Die Zweige über ihr knackten, und Amber hatte Mühe, ein Wimmern zu unterdrücken.

„Ah, wen haben wir denn da? Ein Pumajunges.“

Amber riss die Augen auf und starrte ängstlich nach oben. Einer der Männer hatte die Zweige zur Seite geschoben und blickte sie nun an.

„Los, schnell, fangt es ein!“

Panik durchzuckte Amber, und sie rannte blindlings los. Damit überraschte sie die Männer und schaffte es, ihnen zu entgehen. Amber hörte, wie sie etwas riefen, aber sie konnte sie nicht verstehen. Die Angst ließ das Blut in ihren Ohren rauschen, als sie einen Haken schlug und versuchte, durch dichteres Buschwerk zu entkommen. Die Flüche hinter ihr ließen sie für einen Moment hoffen, dass sie noch einmal davonkommen würde. Sie blickte im Laufen hinter sich und stieß unerwartet gegen etwas Hartes. Benommen versuchte sie, wieder auf die Füße zu kommen, und erstarrte, als sie über sich einen der Menschen erblickte. Er lehnte einen langen Gegenstand aus Holz und Metall an einen Baumstamm und beugte sich zu ihr hinunter.

„Hab ich dich.“ Zufriedenheit lag in seiner Stimme. Er sah seinen Kumpanen entgegen. „Ein schönes Exemplar, das wird uns jede Menge einbringen.“

Was immer er damit meinte, es hörte sich nicht gut an. Amber versuchte sich aufzurichten, aber der Mann stellte seinen Fuß auf ihren Rücken.

„Du bleibst schön hier.“ Er wandte sich an einen der Männer. „Gib mir einen Sack.“

Verzweifelt versuchte Amber zu entkommen, doch der Druck wurde immer stärker, bis sie glaubte, ihr Rücken würde durchbrechen. Sie fauchte schwach und schlug mit der Pfote nach dem Bein.

Der Mann lachte nur. „Wie niedlich, unser Kätzchen hat Krallen.“ Er beugte sich zu ihr hinunter, seine Hand ausgestreckt.

Bevor Amber irgendetwas tun konnte, stieß etwas mit voller Wucht gegen den Menschen, und sie war frei. Sie wollte davonlaufen, blieb aber wie erstarrt stehen, als sie ihren Vater sah, der sich gegen den Mann geworfen hatte und ihn nun am Boden hielt. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen, die Menschen waren so vom Auftauchen des gewaltigen Berglöwen überrascht, dass sie ihn nur mit offenen Mündern anstarrten. Dann schrie der Mann am Boden, als ihr Vater zubiss, und der Augenblick zerrann. Zeitgleich rissen die Menschen ihre Gewehre hoch.

„Schießt endlich!“

Amber blickte wild umher. Wo waren die anderen Wandler? Kam ihnen denn niemand zu Hilfe? Sie stürzte sich auf das Bein eines der Männer, aber der schüttelte sie einfach nur ab. Amber flog durch die Luft und landete einige Meter entfernt an einem Baum. Ein Knall hallte durch den Wald. Amber rappelte sich wieder auf und sah zu ihrem Vater hinüber. Er war über dem Mann zusammengebrochen, sein Fell färbte sich an der Seite rot. Nein!

„Nehmt ihn von mir runter!“ Die Stimme des Menschen klang schrill.

Amber presste sich zitternd auf den Boden. Ihrem Vater durfte nichts passiert sein! Sicher würde er gleich aufstehen und mit ihr davonlaufen, damit sie diesen schrecklichen Menschen entkommen konnten. Aber das tat er nicht. Die Männer hoben ihn stöhnend hoch und warfen ihn zur Seite. Amber stieß ein Wimmern aus, als sie das Blut in seinem Gesicht sah. Seine Augen öffneten sich langsam, und er sah sie direkt an. Lauf! Das tiefe Grollen war ein Befehl, doch sie zögerte. Sie konnte ihn doch nicht mit den bösen Menschen alleine lassen. Irgendwie musste sie ihm helfen, und dann würden sie gemeinsam zum Lager zurückkehren.

Sie machte einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu. Ihr Vater atmete tief aus, seine Augen schlossen sich. Danach lag er still da. Nein, er durfte jetzt nicht schlafen, er musste mit ihr kommen!

„Verdammtes Vieh, beinahe hätte es mich umgebracht. Worauf habt ihr gewartet? Dass es mir die Kehle herausreißt?“ Der Mann hockte sich neben ihren Vater und betrachtete ihn. „Er ist tot. Eine Schande, das war ein Prachtexemplar von einem Männchen. Das hätte gutes Geld eingebracht.“

Während Amber ihn wie betäubt anstarrte, unfähig zu glauben, dass ihr Vater tot sein sollte, rechtfertigte sich der Schütze. „Nächstes Mal lassen wir dich draufgehen, dann müssen wir den Gewinn auch nur durch zwei teilen.“

„Sehr witzig. Los, schnappt euch das Kleine, und dann verschwinden wir hier. Ich habe keine Lust, dass sich einer der Parkranger hierher verirrt und uns wegen Wilderei drankriegt.“

Der Schock löste sich, und der Schmerz breitete sich in ihr aus. Seit sie denken konnte, war ihr Vater für sie da gewesen, sie konnte sich nicht vorstellen, dass er fort war. Der Gedanke an ihre Mutter und ihren Bruder verschärfte den Kummer noch. Dann wurde ihr bewusst, was der Mann gesagt hatte. Sie wollten sie einfangen! Ihr Vater hatte seine letzte Kraft aufgewendet, um ihr zu sagen, dass sie weglaufen sollte, also tat sie genau das. Sie konnte die schweren Schritte der Menschen hinter sich hören und versuchte schneller zu laufen, doch ihre kurzen Beine verhedderten sich immer öfter in der Vegetation. Die Angst trieb sie vorwärts, bis sie vor Erschöpfung schwankte. Aber sie durfte nicht aufgeben, sonst war ihr Vater umsonst gestorben.

Amber spürte, wie etwas ihre Hüfte streifte, und schlug einen Haken. Mit letzter Kraft brach sie durch ein Gebüsch und sah sich verzweifelt um, doch da war nichts. Der Schwung trug sie vorwärts, und sie rutschte über eine Klippe ins Nichts. Sie ruderte mit den Beinen und versuchte, sich an irgendetwas festzukrallen, doch es gelang ihr nicht. Sie fiel, schlug gegen vorstehende Felsen und sich an den Steilhang klammernde Büsche, bis sie schließlich tief unten auf einem Vorsprung liegen blieb. Ein Wimmern löste sich aus ihrer Kehle, als die Schmerzen in ihrem Körper explodierten.

„Seht ihr es irgendwo?“

Die Menschen! Amber versuchte, sich so klein zusammenzurollen, wie es nur ging, damit sie nicht entdeckt wurde. Sie zitterte am ganzen Körper, was die Schmerzen noch verstärkte.

„Da, ich sehe es! Verdammt, nach dem Sturz ist es entweder bereits tot oder hat sich sämtliche Knochen gebrochen und ist damit für uns wertlos. Kommt, sehen wir zu, dass wir hier verschwinden.“

Furcht überschwemmte Amber. Stimmte es, was der Mann sagte und sie würde hier sterben? Tränen bildeten sich hinter ihren geschlossenen Lidern und liefen über ihr Fell. Sie wollte zu ihrer Mutter! Erschöpfung breitete sich in ihr aus, und ihre Gedanken lösten sich auf. Schwärze senkte sich über sie.

Ein hoher Schrei riss Amber aus ihrer Bewusstlosigkeit. Benommen hob sie den Kopf und blickte in den Abgrund. Rasend schnell kamen die Erinnerungen zurück, und Angst und Kummer holten sie wieder ein. Ihr ganzer Körper war steif, jede kleinste Bewegung löste furchtbare Schmerzen aus. So konnte sie nur vorsichtig den Kopf drehen und versuchen herauszufinden, woher das Geräusch gekommen war. Amber glaubte, die Anwesenheit eines anderen Lebewesens zu spüren, aber sie sah niemanden. Tief atmete sie ein und bemerkte einen fremden Geruch. Sie konnte sich nicht erinnern, so etwas schon einmal wahrgenommen zu haben, aber es war nicht so furchteinflößend wie der Menschengeruch.

Als etwas über ihr knackte, blickte sie auf. Auf dem Ast eines verkrüppelten Baumes, der schräg über ihr an der Felswand wuchs, saß ein großer Vogel. Ihr Herz begann schneller zu klopfen, als er erneut einen Schrei ausstieß und sie erkannte, dass es ein Adler war. Ihre Eltern hatten sie gewarnt, nie einem solchen Raubvogel zu nahe zu kommen, weil sie wehrlose oder verletzte Jungtiere schlugen. Wartete der Vogel nur darauf, sie anzugreifen? Auf dem kleinen Vorsprung hatte sie keine Möglichkeit, ihm zu entkommen. Wenn sie sich wenigstens aufrichten könnte, würde der Adler sicher wissen, dass sie keine leichte Beute war, aber sie brach mit einem Schmerzenslaut sofort wieder zusammen.

Der Vogel gab ein klickendes Geräusch von sich, das beinahe beruhigend klang. Nervös sah Amber zu, wie er mit einigen wenigen Flügelschlägen zu ihr hinunterschwebte und nur zwei Meter von ihr entfernt auf einer aus den Felsen ragenden Wurzel landete. Große dunkelbraune Augen blickten sie prüfend an, dann senkte er seinen braun gefiederten Kopf, wie um ihr zuzunicken. Da er anscheinend nicht vorhatte, sie anzugreifen, legte Amber ihren Kopf wieder auf ihre Pfoten. Es war irgendwie tröstlich, nicht mehr alleine zu sein, auch wenn er nur ein Adler war und sie nicht mit ihm reden konnte. Er würde ihr nicht helfen können, wieder nach oben zu kommen, aber so hatte sie wenigstens Gesellschaft. Sein Geruch war jetzt stärker, er wickelte sich um sie und drang in jede Pore ein, bis sie wusste, dass sie ihn überall wiedererkennen würde.

Je länger sie dort lag, desto schwächer wurde sie. Schließlich hatte sie sogar Mühe, die Augen offen zu halten. Immer wieder glitten sie zu, und sie dämmerte ein. Ein scharfer Laut schreckte sie wieder auf. Der Adler sah sie direkt an und nickte heftig mit dem Kopf. Anscheinend wollte er, dass sie wach blieb, aber es fiel ihr so schwer … Sie riss die Augen auf, als der Vogel seine Flügel ausbreitete und sich von der Wurzel abstieß. Zuerst dachte sie, er würde zu ihr kommen, aber dann drehte er ab und stieg in engen Schrauben immer höher aus dem Abgrund hinaus. Das Letzte, was sie von ihm sah, waren die hellen Bänder an der Unterseite seiner Schwanzfedern, bevor er über den Bäumen auf der Klippe verschwand.

Nein, komm zurück! Doch es war klar, dass er nicht zurückkehren würde. Wahrscheinlich war es ihm zu langweilig geworden, sie dabei zu beobachten, wie sie immer wieder einnickte. Seltsamerweise fühlte sie sich jetzt noch verlassener als vor seinem Auftauchen. Wütend auf sich selbst drängte sie die Tränen zurück, die in ihren Augen schwammen. Es war nur ein dummer Vogel gewesen, kein Freund. Sie sollte ihre Kraft schonen und lieber darauf hoffen, dass jemand aus ihrer Wandlergruppe sie fand. Mit Mühe konzentrierte sie sich darauf, nur noch ein- und auszuatmen und das Zittern zu stoppen, das wieder aufgekommen war, nachdem der Adler sie verlassen hatte. Langsam driftete Amber in den Schlaf.

„Amber!“ Der Ruf weckte sie. Erschöpft blickte sie nach oben und erkannte ihren Bruder, der an den Klippen nach unten kletterte. Ihr Herz begann zu hämmern. Endlich kam jemand, um ihr zu helfen! Ängstlich sah sie zu, wie Coyle sich vorsichtig an den Felsen entlang nach unten bewegte. Hoffentlich rutschte er nicht ab. Mit seinen zwölf Jahren war er zwar wesentlich größer und kräftiger als sie selbst, aber er war immer noch ein Kind. Warum war keiner der Erwachsenen hier?

Amber versuchte, auf die Pfoten zu kommen, aber es gelang ihr nicht. So konnte sie nur zu ihm hinaufblicken und warten, bis er bei ihr ankam. Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, trat er vorsichtig auf ihren Vorsprung und hockte sich neben sie.

Coyle hatte Tränen in den Augen, als er mit den Händen vorsichtig über ihr Fell strich. „Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe. Kannst du dich verwandeln, damit ich sehen kann, wo du verletzt bist?“

Amber wusste nicht, ob sie die Kraft dazu hatte, aber sie musste es zumindest versuchen. Quälend langsam setzte die Verwandlung ein, bis sie schließlich in Menschenform auf dem rauen Fels lag.

„Oh Gott, Amber. Es tut mir so leid.“ Schmerz und Scham lagen in Coyles Gesicht, als er auf ihre Verletzungen blickte. „Ich hätte dich nie wegschicken dürfen.“

Amber wollte seine Hand nehmen, aber sie schaffte es nicht, ihren Arm zu heben. „M…meine Schuld, ich hätte nicht alleine rausgehen dürfen.“ Tränen liefen über ihre Wangen. „Dad …“ Sie brachte es nicht über sich, zu erzählen, was geschehen war.

Coyle schluckte heftig. „Ich weiß, ich habe ihn gefunden.“ Er weinte ebenfalls, aber er schien es gar nicht zu bemerken. „Ich dachte, der Mörder hätte dich mitgenommen und ich würde dich nie wiedersehen.“

„Dad hat gesagt … ich soll fliehen. Deshalb bin ich so schnell gelaufen, wie ich konnte, aber sie waren immer noch hinter mir. Ich habe die Klippe nicht gesehen und bin hinuntergefallen.“ Ein Schauder lief durch ihren Körper und löste neue Schmerzen aus. „Die Männer dachten, es lohnt sich nicht, mich hier herauszuholen, weil ich fast tot bin.“

„Gott sei Dank haben sie es nicht versucht!“ Coyle beugte sich über sie und legte seine Stirn an ihre. „Ich hätte dich nie gefunden, wenn mich der Adler nicht hierhergeführt hätte.“

Amber riss die Augen auf. „Du hast ihn gesehen? Er hat mir Gesellschaft geleistet, und als er wegflog, dachte ich, es wäre ihm zu langweilig geworden.“

Coyle rückte von ihr ab. „Nein, er hat dich nicht alleingelassen, sondern Hilfe geholt. Ich glaube, er ist auch ein Wandler, so wie wir, er roch zumindest so.“

„Und ich dachte erst, er würde mich fressen.“

Beinahe etwas wie ein Lächeln zog über Coyles Gesicht, während er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht schob. „Ich glaube, er war noch sehr jung, vielleicht so alt wie du. Er hätte dich sowieso nicht tragen können. Außerdem jagen Wandler keine Wandler.“ Coyle wurde wieder ernst. „Und jetzt werde ich dich nach Hause bringen.“

Nachdem er festgestellt hatte, dass sie nicht alleine laufen konnte, setzte er sie auf seine Schultern und begann den Abstieg in den Abgrund, der kürzer und ungefährlicher war, als der Aufstieg gewesen wäre. Jede Bewegung ließ den Schmerz in Amber wieder aufflammen, aber immerhin war Coyle bei ihr und brachte sie nach Hause, und so klammerte sie sich nur so fest an ihn, wie sie konnte. Als ein Vogelschrei erklang, blickte sie in den Himmel und erkannte den Adler, der über ihnen seine Kreise zog. Sie wünschte, er würde näher kommen, damit sie sich bei ihm bedanken konnte, doch er blieb weit oben. Zögernd hob sie die Hand und winkte ihm zu. Er stieß noch einen Schrei aus, dann verschwand er über den Klippen. Als er nicht wieder auftauchte, schloss Amber die Augen und versank in der wartenden Dunkelheit.

1

24 Jahre später

Amber blieb stehen und ließ ihren Blick über die sie umgebende Landschaft gleiten. Die hohen Bäume wuchsen spärlicher und machten einer kargeren Vegetation Platz, die jetzt im späten Herbst beinahe trostlos wirkte. Das half ihr nicht gerade dabei, ihrer Aufgabe mit Freude entgegenzusehen. Warum hatte sie sich nur von Finn dazu überreden lassen? Weil sie sich vorgenommen hatte, endlich auch einmal etwas für die Gruppe zu tun, deshalb.

Doch musste Finn, Ratsführer der Berglöwenwandler und bester Freund ihres Bruders Coyle, sie unbedingt darum bitten, zu den Adlerwandlern Kontakt aufzunehmen? Es war eine gute Idee zu versuchen, weitere Wandlerarten als Verbündete in ihrem Kampf gegen die Entdeckung durch Menschen zu gewinnen, gar keine Frage. Aber sie wünschte, es gäbe jemand anderen, der diese Aufgabe übernehmen könnte. Allerdings wusste kaum einer der Berglöwenwandler, dass es überhaupt andere Wandlergruppen in der Nähe gab, ganz zu schweigen vom genauen Standort des Lagers. Vielleicht hätte sie lügen sollen, als Finn sie fragte, ob sie andere Wandler gesehen hätte, doch er hatte sie mit seiner Frage überrascht und sie hatte nicht darüber nachgedacht, was für Konsequenzen das für sie haben könnte.

Amber rieb über ihre schmerzenden Schläfen und blickte sich um. Das Gelände wurde felsiger, je näher sie dem Gebiet der Adler kam, der Weg immer beschwerlicher. Doch das machte ihr nichts aus, sie kannte die Strecke beinahe im Schlaf, so oft war sie sie bereits gelaufen, in der Hoffnung, noch einmal einen Blick auf den Adler zu erhaschen, der ihr als Kind das Leben gerettet hatte. Er war noch am Leben, das wusste sie, oft hatte sie ihn in der Nähe des Berglöwenlagers oder auf ihren Streifzügen durch die Wälder gesehen. Jedoch nie aus der Nähe, er war immer auf Abstand geblieben, fast, als würde er aus der Ferne über sie wachen. Amber stieß ein humorloses Lachen aus. Ja, sicher. Die Ereignisse vor drei Monaten, in deren Verlauf der Jugendliche Bowen entführt und schließlich ihre ganze Gruppe von Jägern eingefangen worden war, hatten ihr klargemacht, dass das Leben zu kurz war, um weiterhin auf etwas zu warten, das wohl nie passieren würde. Ihr Adler würde keinen Kontakt zu ihr aufnehmen. Es war glatte Ironie, dass sie nun, nachdem sie die Hoffnung aufgegeben hatte, zum ersten Mal in ihrem Leben das Adlergebiet betreten würde.

Ein Schauder lief bei dem Gedanken durch ihren Körper, dass sie ihn dort sehen könnte. Oder vielmehr riechen, denn sie hatte ihn noch nie in seiner menschlichen Gestalt gesehen. Damals, als er sie an dem Abhang entdeckte, den sie hinuntergestürzt war, war er noch jung gewesen, er konnte also jetzt nicht viel älter sein als sie selbst, vielleicht Anfang dreißig. Amber erhob sich langsam und streckte sich. Die Novembersonne schien fahl durch die kahlen Zweige der Äste, der Nebel über den Lichtungen löste sich nur langsam auf.

Sie war früh aufgebrochen, um spätestens bei Sonnenuntergang wieder zu Hause zu sein. Zwar konnte sie auch im Dunkeln perfekt sehen, doch mit der Bedrohung, die im Moment über ihnen lag, waren alle nervös und das Lager noch besser gesichert als früher. Amber war es gewöhnt, alleine durch die Wälder zu streifen, um Fotos von Landschaften und Tieren zu machen, die sie anschließend an Zeitschriften und Kalender verkaufte. Oft war sie wochenlang überhaupt nicht im Lager. Doch jetzt musste sie nicht nur an ihre eigene Sicherheit denken, sondern vor allem an die ihrer Familie und Freunde. Wenn sie entdeckt werden sollte …

Ein kalter Windhauch ließ sie frösteln. Gestern hatte es zum ersten Mal geschneit, weiche Flocken, die sogar ein paar Stunden liegen geblieben waren. Noch immer hingen dicke Wolken am Himmel, doch wie es aussah, würden sie heute verschont bleiben. Warum stand sie hier auch nackt herum, nur um ihren Auftrag hinauszuzögern? Amber hockte sich hin und verwandelte sich langsam zurück in eine Berglöwin. Ihr dickes Winterfell hielt sie auch bei Minusgraden und eisigem Wind warm, doch irgendetwas ließ sie heute ständig zittern. Amber stieß ein missmutiges Fauchen aus. Sie war dreißig Jahre alt, kein Kind mehr. Es gab überhaupt keinen Grund, nervös zu sein! Sie würde mit den Adlerwandlern sprechen, ihnen die Situation erklären und dann wieder gehen. In spätestens einer Stunde würde sie wieder auf dem Rückweg sein und diese ganze Sache vergessen können. Ihn vergessen können.

Mit einem frustrierten Aufschrei lief Amber los, schnell, immer schneller, bis sie ihren Gedanken wenigstens für eine Weile entkommen und sich nur darauf konzentrieren konnte, wo sie ihre Pfoten hinsetzte, um sich nicht an den glatten, scharfkantigen Steinen zu verletzen. Ihr Herz klopfte im Rhythmus ihrer Schritte, ihr Atem dröhnte laut in ihren Ohren. Sie wurde erst langsamer, als sie sich dem Adlergebiet näherte. Vermutlich würden auch die Adlerwandler Wachen haben und Ambers Eintreffen sofort an ihre Anführer melden, daher zwang sie sich, tief durchzuatmen und das Gebiet nicht so schnell zu durchqueren, wie sie es am liebsten tun würde. Sie wollte auf keinen Fall bedrohlich wirken oder so, als wollte sie das Lager der Adler auskundschaften. Ihr Geruchssinn führte sie tiefer in das Gebiet, auf die schroffen Felswände zu, die den Horsten der Adler Schutz vor Feinden boten.

Amber rechnete damit, irgendwann von den Wächtern aufgehalten und befragt zu werden, doch es kam niemand. Sie sah noch nicht einmal jemanden, obwohl sie genau wusste, dass sie da waren. Niemand würde einen potenziellen Feind einfach so in das Lager spazieren lassen. Oder hatte ihr Freund von damals sich für sie verbürgt? Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Würde sie ihm tatsächlich endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen? Wie würde seine menschliche Gestalt aussehen? Wieder lief ein Zittern durch ihren Körper, das nichts mit der Kälte zu tun hatte. Es war merkwürdig, nach so langer Zeit vielleicht endlich am Ziel zu sein. Selbst wenn er ihr sagte, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte, könnte sie danach endlich ihr Leben wieder aufnehmen, ohne sich ständig fragen zu müssen, ob sie sich dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit nur eingebildet hatte.

Mit Mühe riss Amber sich aus ihren Gedanken und konzentrierte sich wieder auf ihre Umgebung. Während sie die Luft prüfte, wurde sie langsamer, bis sie schließlich ganz stehen blieb. Etwas stimmte nicht. Sie konnte spüren, dass sie beobachtet wurde, sie witterte die Adler, aber es zeigte sich niemand. Und vor allem rührte sich nichts. Für einen Moment erstarb auch der Wind, und es herrschte völlige Stille. Ambers Nackenfell sträubte sich. Es wurde eindeutig Zeit für einen geordneten Rückzug, sie hatte das deutliche Gefühl, dass die Adler Besucher nicht unbedingt schätzten. Amber zwang ihre steifen Muskeln, sich zu bewegen, und machte vorsichtig ein paar Schritte rückwärts. Ein lauter Schrei gellte in ihren Ohren, gefolgt von einem seltsamen Rauschen. Erschrocken zuckte Amber zusammen und sah automatisch nach oben. Als sie die Adler auf sich herabstoßen sah, handelte sie instinktiv. Sie warf sich herum und rannte los.

Zweige peitschten in ihr Gesicht und rissen an ihrem Fell, als sie versuchte, vor den Angreifern in das dichtere Unterholz zu entkommen. Über sich konnte sie das Sirren der Schwingen hören und sogar den Luftzug spüren, wenn ihr einer der Adler zu nahe kam. Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass sie mit ihr spielten und sie auf felsiges Gebiet zutrieben. Wahrscheinlich sollte sie einfach stehen bleiben und sich verwandeln, um mit ihnen reden zu können, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die Adler nicht in der Stimmung waren zuzuhören. Amber schlug einen Haken und konnte so gerade noch den Krallen eines Angreifers entgehen. Sein erboster Schrei gellte in ihren Ohren. Ihr Herz hämmerte vor Furcht und Anstrengung in ihrer Brust, während sie immer wieder angegriffen wurde.

Eine Kralle streifte sie, Schmerz explodierte in ihrer Hüfte. Steine bröckelten unter ihren Pfoten, als sie in viel zu hoher Geschwindigkeit über die Felsen lief, über Spalten sprang und mehr als einmal beinahe stürzte. Panik kroch in ihr hoch, als ihr klar wurde, dass die Adler sie jederzeit töten oder zumindest schwer verletzen konnten. Wenn sie von oben herabstießen und nur einmal ihre Krallen oder starken Schnäbel richtig einsetzten, würde das fatale Folgen haben. Aber würden sie das auch tun, obwohl sie wussten, dass sie eine Wandlerin war? Sie wollte es nicht darauf ankommen lassen. Es war besser, so schnell wie möglich aus ihrem Gebiet zu verschwinden und sich irgendwo zu verkriechen, wenn sie ihr weiterhin folgten. Allerdings war das leichter gesagt als getan, es schienen immer mehr Adler zu werden, die verhinderten, dass Amber aus dem felsigen Gelände herauskam und im Wald untertauchen konnte.

Ihre Furcht verstärkte sich, die Realität wurde von der Vergangenheit überlagert, als sie genauso vor Verfolgern geflohen war – wenn auch menschlichen – und niemand da gewesen war, der ihr helfen konnte. Aber jetzt war sie erwachsen, sie ließ sich nicht mehr so leicht einschüchtern wie als Sechsjährige, die gerade den Mord an ihrem Vater beobachtet hatte. Ihr Inneres zog sich schmerzhaft zusammen, als sie wieder vor sich sah, wie er einfach zusammengebrochen war und sich seine Berglöwenaugen nach einem letzten Ausatmen für immer geschlossen hatten.

Amber war so in ihre Erinnerungen verstrickt, dass sie erst merkte, dass die Adler sie auf eine Klippe gedrängt hatten, als es zu spät war. Sie versuchte sich herumzuwerfen, doch ihre Pfoten verloren den Halt, und sie stürzte ins Leere. Verzweifelt suchte sie nach irgendetwas, an dem sie sich festklammern konnte, doch da war nur Luft und tief unter ihr Felsen. Amber schloss die Augen, während sich Kummer in ihrem Innern ausbreitete. Es würde ihrer Mutter und ihrem Bruder das Herz brechen, sie … Amber fauchte überrascht, als sich etwas schmerzhaft in ihre Schultern bohrte. Sie spürte, wie ihr Fall abgebremst wurde. Der Boden kam immer noch näher, aber deutlich langsamer. Über sich hörte sie ein seltsames Sirren und Flappen, und sie riskierte einen Blick nach oben. Ihr Atem stockte, als sie die riesigen Flügel sah, die viel zu schmal wirkten, um sie halten zu können. Doch sie taten es, wenn der Flug auch nicht mehr so elegant aussah wie normalerweise.

Die Krallen bohrten sich tiefer in ihre Schultern, je länger der Flug dauerte. Vermutlich konnte der Adler sie bald nicht mehr halten, schließlich wog sie deutlich mehr als normale Beutetiere. Amber biss die Zähne gegen den Schmerz zusammen, während sich ihr Herz vor Angst zusammenzog, als er zum Landeanflug ansetzte. Vermutlich würde sie nicht sterben, aber sie konnte sich schwer verletzen, wenn sie auf die Felsen prallte. Sie konnte nur versuchen, ihre Muskeln so locker wie möglich zu halten, um dann auf Katzenart zu landen. Das schien ihr Retter auch so zu sehen, denn seine Krallen lösten sich von ihr, obwohl sie noch ein gutes Stück über dem Boden waren. Unsanft kam Amber auf, sie rutschte durch den Schwung weiter und prallte gegen einen Felsen. Einen Moment lang blieb sie mit geschlossenen Augen liegen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ihr gesamter Körper schmerzte, aber sie war am Leben!

Eine sanfte Berührung an ihrem Nacken beendete ihre kurze Ruhepause abrupt. Amber versuchte sich aufzurappeln, wurde jedoch sofort zurückgedrückt.

„Bleib liegen, ich will erst sehen, wie schwer ich dich verletzt habe.“ Die raue Stimme gehörte eindeutig einem Mann.

Amber sog tief seinen Geruch ein und erstarrte. Sie kannte diesen Duft! Langsam drehte sie den Kopf und sah den nackten Mann mit großen Augen an. Er kniete neben ihr, seine muskulösen Beine gingen in schmale Hüften über, in deren Mitte … Rasch glitt ihr Blick weiter an seinem flachen Bauch und dem ausgeprägten Brustkorb hinauf, bis sie bei seinem Gesicht ankam. Es war schmal und kantig mit hohen Wangenknochen und einer gebogenen Nase, die sie selbst in seiner menschlichen Gestalt noch an den Adler erinnerten. Dunkelbraune Augen musterten sie besorgt, die Augenbrauen waren zusammengeschoben. Auch seine Haare waren dunkelbraun, die vom Wind zerzausten Spitzen etwas heller. Aber was sie am meisten faszinierte, war der schmale, aber schön geschwungene Mund und das Grübchen in seinem Kinn. Es machte sein sonst zu hartes Gesicht ein wenig weicher.

Seine Finger strichen durch ihr Fell und lösten einen Schauder in ihr aus. Sofort stellte er jede Bewegung ein. „Wo tut es dir weh?“

Da sie ihm in Berglöwenform kaum antworten konnte, jedenfalls nicht so, dass er es als Adler verstehen könnte, verwandelte sie sich. Sie hielt den Blick gesenkt, denn sie wollte nicht, dass er ihr ansah, wie sehr seine Nähe sie verwirrte. Beinahe spürte sie den kalten Boden nicht mehr, als seine rauen Fingerspitzen sanft über ihren Nacken glitten. Dankbar, dass die Haare ihre Brüste verdeckten, deren Spitzen sich aufgestellt hatten, wartete sie darauf, dass er etwas sagte. Doch er schien wie erstarrt zu sein, sie konnte ihn nicht einmal mehr atmen hören. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und blickte über ihre Schulter.

Ein gequälter Ausdruck stand in seinen Augen, während er auf ihren Rücken hinabsah, seine Lippen waren fest zusammengepresst. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen.“

Amber verzog den Mund, als sie die tiefen Wunden an ihrer Schulter sah, die seine Krallen hinterlassen hatten. „Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen, ohne dich wäre ich jetzt tot.“

Sein Blick ruckte zu ihrem Gesicht, sowie sie das erste Wort aussprach. „Ich mag dich nicht verletzt sehen.“ Seine Stimme war noch rauer geworden.

„Du hast mir nun schon zweimal das Leben gerettet, ich möchte dir dafür danken.“ All die Jahre hatte sie darauf gewartet, genau das tun zu können. Doch sie verspürte keine Erleichterung, sondern vielmehr den Wunsch, mehr über diesen Mann zu erfahren.

Er legte auf eindeutig vogelhafte Art seinen Kopf schräg. „Das ist nicht nötig.“ Sein Mund verzog sich unglücklich. „Vor allem, da meine Leute die Schuld daran tragen, dass du überhaupt erst in diese Situation gekommen bist.“

„Warum haben sie das getan? Sie müssen doch wissen, dass ich auch ein Wandler bin! Ich wurde von unserem Ratsführer gebeten, mit euch über eine mögliche Zusammenarbeit zu reden.“

„Sie wollen keinen Kontakt zu anderen Arten. Im Gegenteil, sie sind sogar sehr darum bemüht, jegliche Annäherung im Keim zu ersticken. Ich hätte nur nie gedacht, dass sie so weit gehen würden. Hätte ich es gewusst, hätte ich dich gar nicht erst in unser Gebiet gelassen.“

Ambers Herz begann unter seinem warmen Blick schneller zu schlagen. „Du hast gewusst, dass ich komme?“

Er hob die Hand, als wollte er ihr Gesicht berühren, doch dann erstarrte er und rückte von ihr ab. Seine Gesichtszüge wirkten härter, etwas Wildes glomm in seinen Augen auf. „Geh, schnell. Ich werde versuchen, sie aufzuhalten.“

Ihr Kopf ruckte herum, und sie sah mehrere Adler auf sich zufliegen. Der Impuls zu fliehen war beinahe übermächtig, doch sie sah den Adlermann ein letztes Mal an. „Wie heißt du?“

Ein Muskel zuckte in seiner Wange, und sie befürchtete schon, dass er ihr nicht antworten würde, doch schließlich neigte er den Kopf. „Griffin.“

Amber streckte die Hand aus und strich flüchtig über seinen Arm. „Danke, Griffin.“

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, verwandelte sie sich und rannte mit großen Sprüngen davon. Sie hörte einen lauten Adlerschrei, doch sie drehte sich nicht mehr um. Griffin war einer der Ihren, sie würden ihm sicher nichts tun, nur weil er ihr geholfen hatte. Zumindest redete sie sich das ein, damit sie nicht zu ihm zurücklief. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie ihm damit nicht helfen würde, und sie selber würde bei dem Versuch vermutlich sterben. Aber sie wünschte sich, sie könnte noch einmal in diese warmen Augen sehen, seine sanften Finger auf ihrer Haut spüren. Doch da die Adler keinen Kontakt wollten, war dies wohl das erste und einzige Mal gewesen, dass sie ihn gesehen hatte. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie wüsste überhaupt nicht, was sie verpasste. Doch jetzt war es dafür zu spät …

2

Griffin sah Amber nach, als sie hinter den Felsen verschwand. Noch jetzt hämmerte sein Herz, wenn er daran dachte, wie sie über den Rand der Klippe verschwunden war und er geglaubt hatte, zu spät zu kommen, um sie zu retten. Glücklicherweise war es nicht so gewesen, doch der Gedanke daran, dass er sie mit seinen Krallen verletzt und ihr Schmerzen bereitet hatte, verursachte ihm Übelkeit. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich auf die anderen Adler zu konzentrieren und nicht daran zu denken, wie weich sich ihre Haut angefühlt hatte. Noch nie war er ihr so nah gewesen, nie hatte er die grünen Flecken in ihren bernsteinfarbenen Augen gesehen, ihre rotblonden Haare gestreichelt oder eine Unterhaltung mit ihr geführt. Bisher hatte er sie nur von Weitem beobachtet, auch wenn er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als sie endlich so zu berühren, wie er es sich seit Jahren erträumte. Doch das war unmöglich. Noch nie hatte ein Adlerwandler sich einen Partner außerhalb der Gruppe gesucht, weder unter den Menschen noch unter normalen Adlern oder anderen Wandler-Spezies.

Er schnaubte. Wie sollte das auch geschehen, wenn ihre Anführer jeglichen Kontakt zu anderen Gruppen ablehnten? Und außerdem – nur weil er etwas für Amber empfand, musste es ihr nicht genauso gehen. Trotzdem war ein Gefühl heißer Zufriedenheit durch seinen Körper geströmt, dass sie ihn erkannt hatte. In ihren Augen hatte ein Ausdruck gelegen, als ob … Griffin riss den Kopf hoch, als er bemerkte, dass die anderen Adler vorhatten, Amber weiterhin zu verfolgen. Rasch verwandelte er sich und stieß sich mit einem lauten Schrei vom Boden ab. Mit mehr Kraft als Finesse katapultierte er sich in die Luft und schnitt den anderen den Weg ab. Dadurch, dass sie von oben kamen, hatten sie mehr Schwung, aber Griffin kämpfte mit allem, was er hatte, denn er würde auf keinen Fall zulassen, dass sie Amber weiterjagten. Die drei Verfolger versuchten, an ihm vorbeizukommen, und er wusste, dass er nicht lange gegen sie bestehen würde, irgendwann würde einer durchbrechen und Amber weiterhetzen.

Er konnte sich nicht vorstellen, dass gerade diese drei die Berglöwenwandlerin verletzen wollten, aber es könnte jederzeit wieder ein Unglück wie eben gerade geschehen, und Amber wäre tot. Allein der Gedanke löste in Griffin eine so heiße Wut aus, dass es an ein Wunder grenzte, dass sein Gefieder kein Feuer fing. Die Krallen voran stürzte er auf den nächsten Angreifer zu und schleuderte ihn von sich. Verzweiflung kam in ihm auf, als er sah, dass zur gleichen Zeit einer der anderen Adler über ihn hinwegflog. „Nein!“ Sein Vogelschrei gellte durch die Luft, und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Zu seiner Überraschung gaben die anderen Ambers Verfolgung auf und schwebten zu Boden. Nach kurzem Zögern folgte Griffin ihnen und verwandelte sich zurück.

Aufmerksam beobachtete er sie, jederzeit bereit, sich wieder in den Kampf zu stürzen, um Ambers Flucht zu ermöglichen. Doch wie es schien, hatten die anderen beschlossen, sie nicht weiterzuverfolgen. Stattdessen verwandelten sie sich ebenfalls.

Sein Freund Talon sprach zuerst. „Bist du verrückt geworden? Was hast du dir dabei gedacht?“ Ein Kratzer lief über seine breite Brust, und er schien eines seiner Beine zu schonen. Seine rotbraunen Haare standen zu allen Seiten ab.

„Das wollte ich euch fragen. Warum seid ihr auf sie losgegangen, obwohl sie euch überhaupt nichts getan hat?“ Griffin bemühte sich, seine Wut zu zügeln, aber es gelang ihm kaum.

„Die Berglöwin hat in unserem Gebiet nichts zu suchen. Sie hätte wissen müssen, dass wir uns verteidigen würden.“ Juna antwortete an Talons Stelle. Die rothaarige Adlerfrau war eine der wenigen Wächterinnen in ihrer Gruppe und sie nahm ihren Job sehr ernst, manchmal zu ernst.

„Sie hat keinerlei Gefahr für uns dargestellt! Und ihr wisst, dass sie eine Wandlerin ist, wie konntet ihr sie da fast töten?“ Wäre Griffin nicht genau im richtigen Moment zur Stelle gewesen, wäre sie jetzt tot. Mühsam unterdrückte er einen Schauder bei dem Gedanken.

Ciaran, dem dritten Verfolger, war wie immer nicht anzusehen, was er dachte. „Sie ist von selbst über die Klippe gesprungen.“ Ein Windstoß hob seine schwarzen Haare und blies sie in seine Augen.

„Weil ihr sie gejagt habt, bis sie nicht mehr weiterkonnte!“

„Einige haben den Befehl wohl ein wenig zu wörtlich genommen.“ Talon hob die Schultern, als wäre die Erklärung ausreichend.

„Welchen Befehl? Von wem?“

„Von unseren Anführern natürlich. Und der Befehl lautete, die Berglöwin loszuwerden, bevor sie beim Lager ankommt.“ Junas Lippen pressten sich zusammen, als wollte sie noch mehr sagen, doch sie tat es nicht. Was Griffin auch sehr gewundert hätte, denn sie hatte bisher noch nie die Entscheidungen der Oberen infrage gestellt.

Er fuhr mit der Hand über sein Gesicht, als ihm klar wurde, dass sie damit zumindest die Tötung eines anderen Wandlers in Kauf genommen hatten. Schon seit Langem war er nicht mehr damit einverstanden, wie die Gruppe der Adlerwandler geführt wurde, doch jetzt konnte er nicht mehr schweigen. Auch wenn er wusste, dass er sich damit erneut zur Zielscheibe machen und den Unmut der Anführer auf sich ziehen würde. Müde ließ er seine Hand sinken. „Und natürlich habt ihr dem Befehl gehorcht, ohne ihn zu hinterfragen.“

„Dafür bist du ja zuständig.“ Talon schüttelte den Kopf. „Herrgott, Griffin, du schaffst es immer wieder, dich noch tiefer reinzureiten. Dir muss doch klar sein, dass die Oberen nur darauf warten, einen Grund geliefert zu bekommen, damit sie dich bestrafen können.“

„Du meinst, ich sollte einfach zusehen, wie eine Wandlerin ohne Grund getötet wird?“

„Griffin …“

Juna fiel Talon ins Wort. „Die Oberen haben dich beobachtet und sind nicht besonders erfreut über deine Einmischung. Wir sollen dich zu ihnen bringen.“ In ihren grauen Augen war Unbehagen zu lesen. „Vielleicht wenn du zugibst, dass es ein Fehler war …“

„Auf gar keinen Fall. Ich bin hier anscheinend der Einzige, der noch klar denken kann. Hat sich denn jemand von unseren ach so schlauen Anführern überlegt, was passiert, wenn die Berglöwenwandler sich rächen? Und das hätten sie auf jeden Fall, wenn A… die Berglöwin hier gestorben wäre. Wir können nur hoffen, dass sie es nicht trotzdem tun.“ Beinahe hätte er Ambers Namen genannt, er musste unbedingt darauf achten, die Sache unpersönlich klingen zu lassen.

„Sie würden nicht bis zum Lager durchkommen.“ Ciarans Stimme klang, als würde er über das Wetter sprechen.

„Wenn du dich da nicht täuschst. Die Berglöwenwandler sind ziemlich widerstandsfähig, und vor allem halten sie zusammen.“

Nachdenklich sah Talon ihn an. „Die Oberen haben recht, du hast wirklich die Sache von damals nicht vergessen, obwohl es dir immer wieder nahegelegt wurde. Was fasziniert dich so an anderen Wandlerarten?“

Griffin hob nur die Schultern. Selbst wenn er eine Erklärung dafür hätte, würde er damit niemanden überzeugen können. Seit langer Zeit lebten die Adlerwandler völlig isoliert, und wenn es nach den Oberen ging, würde das auch so bleiben. Jeder Versuch, mehr über andere Wandlerarten zu erfahren, war stets abgeblockt worden, und so hatte er sie nur heimlich beobachten können. Und immer, wenn er es gewagt hatte, einen Schritt weiter zu gehen, war er dafür vor die Anführer zitiert worden. Selbst als Kind war er nicht ungeschoren davongekommen. Es war klar, dass der Ärger diesmal viel größer sein würde. Griffin straffte die Schultern.

„Bringen wir es hinter uns.“ Er wartete nicht darauf, dass die anderen ihm folgten, sondern verwandelte sich und flog aus der Schlucht heraus. Je schneller er die Sache erledigte, desto eher konnte er Amber folgen, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging.

Der Versammlungsort der Oberen lag hoch in den Klippen, von außen nicht zu erkennen und bei Sitzungen immer streng bewacht. Auch heute standen zwei Wächter in ihrer Adlergestalt auf einer schmalen Plattform vor der Höhle und traten erst zur Seite, als Juna neben Griffin landete. Talon und Ciaran flogen dagegen weiter, nachdem sie ihre Aufgabe, ihn hier abzuliefern, erledigt hatten. Wahrscheinlich waren sie froh, um eine Predigt herumzukommen, die sicherlich folgen würde. Griffin sah ihnen einen Moment sehnsüchtig hinterher, bevor er in die Höhle trat und sich verwandelte. Die drei Anführer, einer aus jeder der führenden Familien, saßen auf ihren hochlehnigen Stühlen, die beinahe an Throne erinnerten, und blickten ihn mit ihrer üblichen Mischung aus Unbehagen und Verachtung an. Er hatte sich im Laufe der Jahre angewöhnt, es an sich abprallen zu lassen, doch heute ging es um Amber, und bei dem Thema würde er vermutlich nicht ruhig bleiben können. Noch jetzt sah er ihre tiefen Wunden und ihr schmerzverzerrtes Gesicht vor sich. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

„Wir sind sehr enttäuscht von dir, Griffin.“ Euan ergriff wie üblich das Wort. Seine geringe Körpergröße und die deutlichen Geheimratsecken versuchte er stets mit seiner Position als Sprecher der Oberen zu kompensieren.

Griffin schwieg. Was sollte er auch dazu sagen? Entschuldigen würde er sich auf keinen Fall, auch wenn die Anführer das wahrscheinlich erwarteten. Juna bewegte sich unruhig hinter ihm, er konnte beinahe die Nervosität spüren, die von ihr ausging.

„Willst du gar nichts dazu sagen?“ Louan sah ihn durchdringend an, die hellblonden Haare wie üblich zu einem ordentlichen Zopf gebunden. Im Gegensatz zu Euan war er groß und schlank, ein ehemaliger Wächter, aber trotzdem in seinen Ansichten genauso verbohrt wie die anderen beiden Oberen. Vermutlich bekam man die schon von seinen Eltern eingebläut, wenn man zu den führenden Familien gehörte.

Griffin hob leicht die Schultern. „Ihr habt mich ja nichts gefragt.“

Euans Gesicht lief rot an. „Diesmal bist du zu weit gegangen, Griffin. Wir werden dein Benehmen und deinen Ungehorsam nicht mehr hinnehmen. Du …!“

Calum mischte sich ein, wie immer bemüht zu schlichten. „Hören wir ihn erst einmal an.“ Intelligente, hellbraune Augen blickten ihn forschend an. „Warum hast du dich eingemischt, als wir die Berglöwin aus unserem Gebiet vertreiben wollten?“

Mit Mühe drängte Griffin die Wut zurück und antwortete schließlich, so ruhig er konnte. „Ich habe mich eingemischt, wie du es ausdrückst, weil nicht versucht wurde, die Berglöwin zu vertreiben, sondern sich ein Spaß daraus gemacht wurde, sie zu jagen und dann dafür zu sorgen, dass sie eine Klippe hinunterstürzt.“

„Das ist totaler …“

Louan sprach über Euan hinweg. „Kannst du das beweisen?“

„Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Die Berglöwin hatte panische Angst.“

Louans kühler Blick ging an ihm vorbei. „Stimmt das, Juna?“

„N…nun … ja, einige haben etwas übertrieben. A…aber es wollte sicher niemand, dass sie ernsthaft verletzt wird.“ Jedes Mal, wenn sie vor den Oberen erscheinen musste, begann Juna zu stottern und lief rot an.

Normalerweise fand Griffin es niedlich, wenn die starke Wächterin verlegen war, doch diesmal ging sein Ärger zu tief. „Unsinn, sie haben es geradezu darauf angelegt, die Berglöwin schwer zu verletzen oder sogar zu töten, sonst hätten sie sie aus unserem Gebiet hinaus- und nicht auf die Klippen zugetrieben. Die Frage ist, wer hat ihnen gesagt, dass sie das tun sollen? Ich glaube kaum, dass sie sich das von alleine getraut hätten.“

„Was? Willst du uns etwa beschuldigen, dass wir …?“ Euan hatte sich halb von seinem Sitz erhoben, doch Louan legte ihm eine Hand auf den Arm.

„Beruhige dich. Ich bin sicher, Griffin wollte nichts dergleichen. Richtig?“

Vermutlich sollte er die Oberen nicht noch reizen, aber er konnte einfach nicht mehr länger dazu schweigen. „Ich meinte es genau so, wie ich es gesagt habe. Wenn ihr es nicht wart, muss es jemand anders gewesen sein.“ Griffin redete einfach über die empörten Ausrufe hinweg. „Wie kann es sein, dass wir eine Wandlerin angreifen? Sie wollte nur mit uns reden.“

„Glaub nicht, dass wir nicht wissen, was da läuft. Denkst du, es wäre unbemerkt geblieben, dass die Berglöwin oft in die Nähe unseres Gebietes kommt?“

Griffin biss die Zähne zusammen, damit er nicht verriet, dass er genau wusste, was Amber tat. „Ihr Rat möchte mit uns Kontakt aufnehmen. Vielleicht könnten wir …“

Louan unterbrach ihn. „Es wird keinen Kontakt geben. Erst recht nicht, nachdem wir gesehen haben, wie schwach die Gruppe ist. Und wir wollen ganz sicher nicht, dass die Menschen auch zu uns kommen.“

„Aber wenn alle Wandler zusammen …“

Euan schüttelte schon den Kopf. „Das wird nicht passieren. Wir sind ganz sicher nicht die Einzigen, die so denken.“

„Und deshalb lassen wir einfach alles so, wie es ist? Obwohl uns klar ist, dass wir uns hier nicht ewig verstecken können?“

Calum fuhr mit der Hand durch seine braunen Haare. „Es ist unsere einzige Möglichkeit.“

„Das glaube ich nicht.“

„Dann ist es ja gut, dass du nicht für uns alle entscheiden musst. Wir sind die Anführer dieser Gruppe und wir entscheiden, was passiert. Es wird keinen Kontakt mit Menschen oder anderen Wandlerarten geben. Das haben wir dir nun schon mehrfach gesagt, aber du scheinst dich nicht damit arrangieren zu können.“ Euan sah ihn abwartend an, und als Griffin schwieg, fuhr er fort: „Die Sache damals haben wir damit entschuldigt, dass du noch ein Kind warst und es nicht besser wusstest, aber vor drei Monaten hast du dich ganz bewusst über unsere Befehle hinweggesetzt, dich nicht in die Sache der Berglöwen einzumischen. Du hast einfach getan, was du wolltest, ohne darüber nachzudenken, was das für Konsequenzen für uns haben könnte.“

„Das stimmt nicht.“ Oder nur zum Teil. Griffin hatte damals Amber retten wollen, aber er hatte sich auch überlegt, was es für die Adler bedeuten würde, wenn die Existenz von Wandlern bekannt wurde. Wie konnten die Oberen nur so beschränkt denken?

„Und jetzt hast du wieder unsere Befehle missachtet. Was glaubst du, wie das auf die anderen Gruppenmitglieder wirkt?“

Vielleicht würden sie ja tatsächlich irgendwann einmal anfangen, für sich selber zu denken, überlegte Griffin. Aber das sollte er vermutlich auch nicht laut äußern. „Hätte ich das nicht getan, wäre die Berglöwin jetzt tot. Und ich glaube nicht, dass das für uns von Vorteil gewesen wäre. Schon gar nicht, wenn dann spätestens in einigen Tagen jemand kommen und sie suchen würde.“

Louan hob die Augenbrauen. „Wer sagt, dass sie sie gefunden hätten? Oder es überhaupt geschafft hätten, in unser Gebiet einzudringen?“

„Ich glaube, sie sind zu allem fähig, wenn einer der Ihren verschollen ist.“ Wie er eindrucksvoll gesehen hatte, als Coyle, der ehemalige Ratsführer der Berglöwen, alles getan hatte, um den Jugendlichen wiederzufinden, der von den Menschen entführt und gefoltert worden war. Sehr unwahrscheinlich, dass einer der Oberen so etwas getan hätte. Wie gut, dass sie nicht wussten, dass er mehr als einmal eingegriffen hatte, um den Berglöwen ein wenig zu helfen.

Calum blickte ihn ernst an. „Genau deshalb müssen wir uns von ihnen fernhalten. Sie sind nicht wie wir.“

„Nein, das sind sie nicht.“ Glücklicherweise.

„Du siehst also ein, dass es falsch war, der Berglöwin zu helfen?“ Euan beugte sich eindringlich vor.

„Nein. Ich würde es jederzeit wieder tun.“ Er hörte hinter sich einen erschrockenen Laut, drehte sich aber nicht zu Juna um.

Die Oberen blickten sich gegenseitig an, und schließlich nickte Euan. „Wie du willst. Wir haben dir oft genug die Möglichkeit gegeben, dich der Gruppe anzupassen. Da du dazu anscheinend nicht in der Lage bist, lautet unser Urteil folgendermaßen: Du hast bis Sonnenaufgang Zeit, das Lager zu verlassen, und darfst erst wiederkommen, wenn du dir darüber klar geworden bist, ob du zu uns gehören willst oder nicht. Solltest du bei deiner Rückkehr wieder nicht bereit sein, dich unseren Regeln unterzuordnen, wirst du für immer ausgeschlossen.“

Griffin blieb stocksteif stehen, obwohl seine Knie nachgeben wollten. Ihm war klar gewesen, dass sie ihn diesmal nicht davonkommen lassen würden, aber mit einer Verbannung hatte er nicht gerechnet. Wahrscheinlich trauten sie sich das nur, weil er keine Verwandten hatte, die daran Anstoß nehmen konnten.

Calums Stimme drang durch seine Gedanken. „Nutze die Zeit, um dir darüber klar zu werden, was du willst, Griffin. Ich hoffe sehr, dich bald wiederzusehen.“

Wie betäubt drehte Griffin sich um und trat aus der Höhle. Dicke Wolken dämpften das Sonnenlicht und ließen die Welt um ihn herum verschwimmen. Er zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seinen Arm legte. Es war Juna.

„Du hättest sie nicht noch provozieren sollen.“

Wut ersetzte die Leere in ihm. „Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Und meine Meinung vertreten, ganz im Gegensatz zu dir. Danke für deine Unterstützung.“

Junas Gesicht wurde noch blasser. „Du weißt, dass ich den Job als Wächterin brauche, ich kann es mir nicht leisten, eine Meinung zu haben oder sie einfach frei zu äußern. Vielleicht ist es dir egal, ob du zur Gruppe gehörst oder nicht, aber mir ist es das nicht.“

Müde strich Griffin über sein Gesicht. „Ich weiß. Lassen wir das, es bringt jetzt sowieso nichts mehr. Mach’s gut.“

„Du kommst doch wieder?“ Junas Zähne gruben sich in ihre Unterlippe, als er zögerte.

„Ich weiß es noch nicht.“ Griffin rieb über seine schmerzende Brust. Dies war das einzige Zuhause, das er kannte, und auch wenn er nicht mit der Führung einverstanden war, konnte er sich nicht vorstellen, es nie wiederzusehen. Aber er hatte keine Wahl, also verwandelte er sich zurück und flog zu seiner Hütte, hoch in den Bäumen am Rande des Lagers.

Es dauerte eine Weile, bis Amber sicher war, dass ihr kein Adler mehr folgte, und sie sich wieder aus ihrem Versteck traute. Griffin schien es tatsächlich gelungen zu sein, ihre Angreifer in der Schlucht aufzuhalten. Damit hatte er ihr zum zweiten Mal das Leben gerettet, ein Umstand, den sie nie vergessen würde. Genauso wenig wie den Ausdruck, der in seinen dunkelbraunen Augen gelegen hatte, beinahe, als würde er sich für das schämen, was seine Leute ihr angetan hatten.

Dabei hatte er dafür keinen Grund, es war nicht seine Schuld, und sie würde ihn sicher nicht für das Geschehene verantwortlich machen. Und auch nicht für die Wunden, die er ihr bei ihrer Rettung zugefügt hatte und die bei jedem Schritt schmerzten. Sie waren auf jeden Fall besser als die Alternative, jetzt tot auf dem Grund jener Schlucht zu liegen. Ein Schauder lief durch ihren Körper, der an den Wunden zerrte. Aber das war nicht das Einzige, was ihr zu schaffen machte, es gefiel ihr auch nicht, mit leeren Händen ins Lager zurückzukommen. Finn verließ sich darauf, dass sie ihre Aufgabe erfüllte, aber sie hatte auf ganzer Linie versagt. Wie konnte sie ihm unter die Augen treten, wenn sie nicht einmal in der Lage war, die einzige wichtige Aufgabe zu erfüllen, die sie jemals für die Gruppe übernommen hatte?

Es dauerte doppelt so lange wie auf dem Hinweg, bis sie schließlich das Lager der Berglöwen erreichte. Bemüht, von niemandem gesehen zu werden, bis sie sich um die Verletzungen kümmern konnte, schlich sie sich zur Rückseite ihrer Hütte. Glücklicherweise hatte sie die Voraussicht besessen, sie nicht in der Nähe anderer Behausungen aufbauen zu lassen, sondern etwas abseits. Die Lage war schön, mitten im dichten Wald, auf einer Seite durch Felsen abgegrenzt, von deren Kuppe aus sie einen wunderbaren Blick über das Tal hatte, in dem das neue Lager aufgebaut worden war, nachdem Jäger das alte überfallen hatten.

Trotzdem vermisste Amber die Freiheit, die sie am früheren Standort empfunden hatte, als sie wie alle anderen noch dachte, dass niemand sie jemals entdecken würde. Nie hätten die Wandler damit gerechnet, dass einer ihrer jungen Männer sie verraten würde. Zwar war Melvin inzwischen aus der Gruppe ausgestoßen worden und lebte bei seinem Vater Conner irgendwo in den Wäldern, doch das Gefühl von Sicherheit war trotzdem für immer dahin.

Amber schloss die Hüttentür hinter sich und lehnte sich aufatmend dagegen. Am liebsten hätte sie sich einfach ins Bett gelegt und alles andere um sich herum ausgeschlossen. Doch sie wusste, dass sie nicht viel Zeit haben würde, bis Finn merkte, dass sie zurückgekommen war, und einen Bericht erwartete. Eines war sicher: Wenn er erfuhr, was geschehen war, würde er sie nie wieder aus den Augen lassen und ihr auch keine Aufgabe mehr zutrauen. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass er sich an den Adlern rächen wollte. Das konnte sie nicht zulassen. Denn auch wenn die Adlerwandler sie beinahe getötet hatten, wollte sie doch nicht, dass es auf einen Konflikt zwischen den beiden Gruppen hinauslief. Das würde niemandem helfen, außer vielleicht den Menschen, die hinter ihnen her waren. Also würde sie duschen, sich verbinden und dafür sorgen, dass Finn nichts davon erfuhr, außer dass die Adler keinen Kontakt zu ihnen wollten.

Entschlossen ging Amber in das kleine Badezimmer und drehte den Duschhahn auf. Als das Wasser heiß genug war, stellte sie sich unter den harten Strahl und schloss die Augen. Auch wenn es in den Wunden wie Feuer brannte, blieb sie so lange darunter stehen, bis sie das Gefühl hatte, ihr Gleichgewicht ein wenig wiedergefunden zu haben. Schnell seifte sie sich ein und spülte den Schaum ab, bevor sie ein großes Handtuch um ihren Körper schlang, sodass nur ihre Schultern frei blieben. Es war nicht einfach, die Wunden über ihren Schulterblättern selbst zu behandeln, doch sie konnte niemanden darum bitten, wenn sie ihre Verletzungen geheim halten wollte. Nachdem sie die von ihrer Heilerin Fay hergestellte Salbe über die betroffenen Stellen gestrichen hatte, befestigte sie Verbände darüber. Durch die Bewegungen hatten sich die Schmerzen vervielfacht, und ihr Atem kam keuchend. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sie mit ihrer bleichen Haut und den dunklen Ringen unter den Augen zum Fürchten aussah. Wie sollte sie so irgendjemanden täuschen?

Wie auf Kommando klopfte es an der Tür. Amber zuckte zusammen und schloss dann die Augen. Ein tiefer Atemzug brachte die Gewissheit: Finn. So schnell es ihre Verletzungen zuließen, zog sie sich einen Rollkragenpullover und eine Hose über, bevor sie zur Tür ging. Einen Augenblick stand sie da und versuchte, sich zu sammeln, bevor sie die Tür schließlich zögernd einen Spaltbreit öffnete.

Finn blickte sie besorgt an. „Geht es dir gut?“ Es lag ein Zögern in seiner Stimme, wie immer, wenn er nicht wusste, wie er mit ihr umgehen sollte.

Amber bemühte sich, nicht so auszusehen und zu klingen, als hätte sie Schmerzen. „Ja, ich bin nur müde.“

„Konntest du mit den Adlern sprechen?“ Es war Finn anzusehen, dass er ihr die Ausrede nicht glaubte und nur zu höflich war, um sie darauf anzusprechen.

Ambers Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, bevor sie sich wieder unter Kontrolle hatte. „Nein, sie wollen keinen Kontakt zu anderen Wandlern.“

Enttäuscht stieß Finn den Atem aus. „Mist. Es wäre gut gewesen, Verbündete in der Nähe zu haben.“

Amber spürte ihr Versagen mit jeder Faser ihres Körpers. „Vielleicht habe ich mich nicht so schlau angestellt, und du könntest es noch mal mit jemand anderem als Botschafter probieren.“

Finn hob eine Hand, doch Amber zuckte zurück, bevor er ihr über die Wange streichen konnte. Er ließ den Arm wieder sinken. „Ich bin sicher, dass du alles richtig gemacht hast. Wir können sie nicht dazu zwingen, zu uns Kontakt aufzunehmen.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich hatte es nur gehofft, weil einer der Adler Marisa geholfen hat …“ Finn brach ab, als sein Blick auf ihren Mund fiel.

Sofort brachte Amber ihre zitternde Lippe wieder unter Kontrolle, doch es schien so, als könnte sie Finn nicht täuschen. „Wir werden uns etwas anderes überlegen. Ruh dich erst mal von der Reise aus und komm dann zu mir, wenn du so weit bist. Okay?“

Amber nickte stumm und schloss die Tür vor seiner Nase. Ihr war durch das Geschehene nicht nur klar geworden, dass die Adler nie ihre Verbündeten werden würden, sondern vor allem, dass ihr seit Jahren sehnlichster Wunsch nie in Erfüllung gehen würde. Griffin würde nie zu ihr gehören. Langsam sank sie zu Boden und schlug die Hände vor den Mund, damit Finn ihr Aufschluchzen nicht hörte.

3

„Bist du gekommen, um dafür zu sorgen, dass ich auch wirklich gehe?“ Griffin starrte Talon wütend an, der auf der Plattform vor dem Baumhaus saß, als er noch vor Sonnenaufgang hinaustrat. „Keine Angst, ich habe nicht vor, mich dem Befehl der Oberen zu widersetzen.“

Röte stieg in Talons Wangen. „Du weißt, dass es nicht so ist!“ Er senkte seine Stimme. „Juna hat mir erzählt, was passiert ist. Warum musst du immer so dickköpfig sein? Du wusstest genau, was geschehen würde, wenn du dich ihnen erneut entgegenstellst. Trotzdem hast du nicht den Mund gehalten.“

Griffin ließ den Beutel mit den Dingen, die er mitnehmen wollte, auf den Boden der Plattform fallen und schloss die Hüttentür hinter sich, bevor er Talon antwortete. „Weil genau das schon zu viele vor mir getan haben. Ich kann nicht mehr schweigen, wenn das, was unsere Anführer tun, falsch ist. Es kann nicht sein, dass wir Wandlern nicht helfen, die in Not sind, oder sogar ohne Provokation bereit sind, eine Wandlerin zu töten, die uns nichts getan hat.“ In einer unbewussten Geste strich er seine Haare zurück. „Amber wollte nur mit den Oberen reden, sonst nichts.“

„Amber …“ Talons Augen weiteten sich, er richtete sich auf. „Es war die Kleine, die du damals in den Klippen gefunden hast. Deshalb hast du dich so darüber aufgeregt!“

Griffin versuchte, seinen Zorn wiederzufinden, doch er spürte nur noch Müdigkeit. „Ich hätte bei jedem anderen Wandler auch eingegriffen.“

Talon betrachtete ihn forschend. „Ja, aber du hättest es nicht ganz so persönlich genommen. Jetzt ergibt alles einen Sinn.“ Kopfschüttelnd stand er auf. „Deshalb hast du dich immer weiter zurückgezogen und warst ständig fort. Du weißt, dass das nicht gut enden kann, oder?“

Griffin wollte erst so tun, als wüsste er nicht, wovon sein Freund sprach, doch es war klar, dass er damit nicht durchkommen würde. Und ehrlich gesagt war es ihm auch egal, was die anderen Adler von ihm hielten, er war die schiefen Seitenblicke und abschätzigen Bemerkungen gewohnt. „Ich weiß.“

„Aber trotzdem wirst du dir keine nette Adlerfrau suchen und dich endlich niederlassen?“

„Ich kenne keine, die mich genug interessiert, dass ich auch nur erwägen würde, mein Leben mit ihr zu verbringen.“ Diese Unterhaltung hatten sie schon oft genug geführt und es war immer das Gleiche herausgekommen. „Ich muss jetzt los.“

„Griffin …“

„Spar es dir. Die Oberen haben mit einer Sache recht: Ich muss mir darüber klar werden, ob ich zu dieser Gruppe gehören will oder nicht. Dafür muss ich alleine sein und weit weg von hier, denn momentan würde meine Entscheidung negativ ausfallen.“

Talon nickte widerwillig. „Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Ich werde dich vermissen.“

Diesmal gelang Griffin ein kleines Lächeln. „Ich dich auch.“ Sein Freund war einer der wenigen, die er längere Zeit um sich ertragen konnte.

Unsicherheit stand in Talons Augen. „Du kommst doch zurück und bleibst nicht einfach weg, wenn du dich entscheidest, nicht mehr zu uns gehören zu wollen?“

„Auf jeden Fall. Mach’s gut.“ Damit verwandelte Griffin sich, hakte seine Krallen in den Beutel und hob ab.

Mit einigen kräftigen Flügelschlägen stieß er in den Himmel, das Lager der Adlerwandler wurde schnell winzig klein unter ihm. Zu dieser Tageszeit war es noch ruhig, kaum jemand war auf. Und das war ihm nur recht so. Talon war der Einzige, von dem er sich verabschieden wollte. Seltsam, dass er bedrückt war, weil er sein Zuhause verlassen musste, aber gleichzeitig auch froh, dass er nun in Ruhe darüber nachdenken konnte, was er machen würde. Wie immer, wenn er das Lager verließ, fühlte er sich sofort freier, weniger eingeengt. Schon häufiger hatte er sich gefragt, warum er überhaupt noch zurückkehrte, doch er brachte es einfach nicht über sich, die einzige Verbindung zu anderen seiner Art zu kappen.

Nachdem er gestern von den Oberen entlassen worden war, hatte er die Schlucht abgesucht, in der Amber beinahe zu Tode gestürzt wäre, und war ihrem Verlauf ein Stück weit gefolgt, um sicherzugehen, dass die Berglöwin entkommen war. Mit seinen scharfen Augen hätte er es sofort gesehen, wenn sich etwas bewegt oder sie irgendwo gelegen hätte, also schien sie fort zu sein. Erst in dem Moment hatte er gemerkt, wie groß seine Angst gewesen war, die anderen könnten sie weitergejagt haben. Am Ausgang der Schlucht hatte er schließlich einige Blutflecke an den abgestorbenen Blättern eines Buschs gefunden, ein Zeichen, dass es Amber gelungen war, das Gebiet der Adler zu verlassen. Erleichtert hatte er kehrtgemacht und war zu seiner Hütte geflogen, um die Dinge einzupacken, die er benötigen würde. Viel war es nicht, warme Kleidung, etwas für die Körperpflege und den kleinen Holzkasten mit Erinnerungen an seine Eltern, den er immer mitnahm, wenn er länger wegblieb. Alles andere konnte er sich unterwegs besorgen.

Nach einem letzten Blick auf das Lager flog Griffin aus dem Gebiet der Adlerwandler hinaus in die Freiheit.

Coyle starrte Amber durchdringend an und versuchte herauszufinden, was seine Schwester so aus der Bahn geworfen hatte. Nachdem Finn bei seinem gestrigen Anruf neben der Tatsache, dass es Amber nicht gelungen war, mit den Adlern in Kontakt zu treten, auch ihr seltsames Verhalten nach ihrer Rückkehr erwähnt hatte, war Coyle unruhig gewesen. Er musste herausfinden, was geschehen war, und wenn er es aus seiner Schwester herausschüttelte. Also war er mit Marisa hierhergekommen, die sich mit der schwarzen Pantherin Jamila und mit Finn traf.

Seit Amber als Kind durch seinen Egoismus beinahe gestorben wäre und ihnen der Vater genommen worden war, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, dafür zu sorgen, dass ihr nie wieder etwas geschah. Das war leichter gesagt als getan, vor allem, seit sie als Erwachsene immer wieder längere Touren in andere Gebiete unternommen hatte. Da er als Ratsführer nicht ständig hinter ihr herlaufen konnte, hatte er darauf vertrauen müssen, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte und zu ihm kommen würde, wenn ihr etwas fehlte.

Bisher war das kein Problem gewesen, aber seit er nicht mehr im Lager lebte, sondern mit Marisa in einer Hütte am Waldrand, schien sich die enge Verbindung zu Amber aufzulösen. Und das machte ihm Angst. Unruhig fuhr er mit der Hand durch seine dunkelblonden Haare.

„Sagst du mir jetzt, was passiert ist?“

Amber sah ihn nur ruhig an. „Nichts. Wie gesagt, die Adler wollen keinen Kontakt, und wir können sie schlecht dazu zwingen.“

„Ja, den Teil hatte ich verstanden, danke. Was ich wissen möchte, ist, warum du aussiehst, als hättest du einen Geist gesehen. Du hast diesen Blick in den Augen, als hätte dir jemand wehgetan.“

Amber senkte die Lider und wurde noch bleicher. Ihre Bewegungen waren seltsam eckig, so als müsste sie sich dazu zwingen. „Niemand hat mir etwas getan, Coyle. Ich bin enttäuscht, dass mir meine Aufgabe nicht gelungen ist, das ist alles.“

Coyle beobachtete sie einen Moment schweigend. Zum Teil mochte das, was sie gesagt hatte, sogar stimmen, aber er war sicher, dass noch etwas anderes dahintersteckte. „Es wollte also niemand mit dir reden?“

Er richtete sich langsam auf, als er die Röte sah, die in Ambers Wangen kroch, denn das bestätigte, was er vermutete. Seine Schwester musste auf den Adlerwandler getroffen sein, der Marisa vor drei Monaten geholfen hatte, ihn und später auch alle anderen Berglöwenmenschen vor den Jägern zu retten. Nach Marisas und auch seiner Ansicht war dieser Griffin derjenige, der Coyle damals zu der Stelle geführt hatte, wo Amber als Kind die Klippen hinuntergestürzt war. Es machte Sinn, dass er mit Amber sprechen würde, auch wenn die Anführer der Adlerwandler keinen Kontakt mit anderen Spezies wünschten. „Du bist ihm begegnet, oder?“