Fluch der Wahrheit - Michelle Raven - E-Book

Fluch der Wahrheit E-Book

Michelle Raven

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Beschreibung

Seit dem Verlust seiner Gefährtin widmet sich Torik ganz seiner Aufgabe als Wächter der Berglöwenwandler. Doch dann erfährt er, dass die Autorin Caitlin Walker einen Liebesroman geschrieben hat, dessen Held ihm bis ins kleinste Detail gleicht. Torik reist nach Montana, um herauszufinden, woher Caitlin so viel über ihn weiß. Als diese von skrupellosen Verbrechern überfallen wird, rettet Torik ihr das Leben und gewinnt damit ihr Vertrauen. Auch wenn er die Menschenfrau eigentlich auf Abstand halten sollte, kommen sich die beiden immer näher. Torik steht vor einer schwierigen Entscheidung, denn die Feinde der Wandler warten nur darauf, erneut zuzuschlagen.

Achtung, neue Ausgabe der beliebten Ghostwalker-Serie. SPIEGEL-Bestseller!

Die Ghostwalker-Reihe:

1. Die Spur der Katze
2. Pfad der Träume
3. Auf lautlosen Schwingen
4. Fluch der Wahrheit
5. Ruf der Erinnerung
6. Tag der Rache

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Das Buch

Seit dem Verlust seiner Gefährtin widmet sich Torik ganz seiner Aufgabe als Wächter der Berglöwenwandler. Doch dann erfährt er, dass die Autorin Caitlin Walker einen Liebesroman geschrieben hat, dessen Held ihm bis ins kleinste Detail gleicht. Torik reist nach Montana, um herauszufinden, woher Caitlin so viel über ihn weiß. Als diese von skrupellosen Verbrechern überfallen wird, rettet Torik ihr das Leben und gewinnt damit ihr Vertrauen. Auch wenn er die Menschenfrau eigentlich auf Abstand halten sollte, kommen sich die beiden immer näher. Torik steht vor einer schwierigen Entscheidung, denn die Feinde der Wandler warten nur darauf, erneut zuzuschlagen.

Die Autorin

Schon als Kind war Michelle Raven ein Bücherwurm, deshalb schien der Beruf als Bibliotheksleiterin genau das Richtige für sie zu sein. Als sie alle Bücher gelesen hatte, begann sie, selbst für Nachschub zu sorgen. Und wurde zu einer der erfolgreichsten deutschen Autorinnen im Bereich Romantic Fantasy und Romantic Thrill. Bislang hat sie 49 Romane veröffentlicht, von denen einer auf der SPIEGEL-Bestsellerliste landete. 2008 erhielt sie die "DeLiA" für den besten deutschsprachigen Liebesroman. Wenn sie nicht vor dem Laptop sitzt, erkundet sie gern den Westen der USA und holt sich dort Inspiration für ihre Romane.

Weitere Informationen

https://www.michelleraven.de

Michelle Raven

Ghostwalker

Fluch der Wahrheit

 

Roman

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne Zustimmung der Autorin kopiert, nachgedruckt oder anderweitig verwendet werden.

Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Namen, Figuren, Unternehmen, Organisationen, Orte, Begebenheiten und Ereignisse werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, realen Handlungen und Schauplätzen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright © 2020 Michaela Rabe

Originalausgabe Copyright ©2011 EGMONT Verlagsgesellschaften mbH

Covergestaltung: Wolkenart – Marie-Katharina Wölk, https://www.wolkenart.com

Bildmaterial: ©Shutterstock.com

Textredaktion der Originalausgabe: Katharina Kramp

ISBN 9783754675779

Michelle Raven c/o autorenglück.de Franz-Mehring-Str. 15 01237 Dresden

Email: [email protected]

Weitere Informationen: https://www.michelleraven.de

Stand: August 2022

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

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28

29

Epilog

Bonusstory: Ghostwalker

So geht es mit den Ghostwalkern weiter …

Band 1 der Ghostwalker verpasst?

Die Romane von Michelle Raven

Prolog

Das Herz hämmerte wild in Toriks Brust. Er musste sie finden, bevor es zu spät war! Tief atmete er die Waldluft ein und versuchte, eine Spur von ihr zu entdecken. Als halbem Menschen war es ihm früher schwer gefallen, seine Berglöwensinne so zu beherrschen wie die reinrassigen Wandler, doch mit langer Übung war es ihm gelungen. Mehr noch, er hatte Fähigkeiten entwickelt, die andere Wandler nicht hatten. Als sich Erinnerungen an seinen Vater einschlichen, einen Miwok-Indianer, der sie im Stich gelassen hatte, als Torik zehn Jahre alt gewesen war, schüttelte er sie mit einem Knurren ab. Er hatte vor langer Zeit erkannt, dass Tenaya keinen weiteren Gedanken wert war. Außerdem durfte er sich jetzt nicht ablenken lassen, wenn er Arlyn nicht für immer verlieren wollte. Furcht breitete sich in ihm aus, seine Gefährtin vielleicht nie wieder zu sehen, sie nie wieder berühren oder in ihre warmen goldbraunen Augen blicken zu können. Er würde nicht zulassen, dass sie ihm auch noch genommen wurde!

Noch schneller als zuvor hetzte Torik lautlos durch die Wildnis, in seiner Berglöwengestalt nur ein Schatten zwischen den Bäumen. Er war allein aufgewacht und hatte sofort gespürt, dass Arlyn fort war. Das Laken auf ihrer Seite des Bettes war kalt gewesen und die Hütte hatte sich leer angefühlt, wie tot. Seit Jahren wusste Torik, dass Arlyn labil war, immer in Gefahr, von ihrer wilden Seite verschlungen zu werden und zu vergessen, dass sie auch ein Mensch war. Manche Wandler wurden so geboren, andere entwickelten sich erst mit der Zeit zu Einzelgängern, die dann das Lager der Gruppe verließen und einsam als Berglöwen in den Wäldern lebten. Arlyn war immer zart und zerbrechlich gewesen und er hatte sie vom ersten Moment an geliebt. Zuerst wie ein Bruder, aber als sie dann älter geworden waren, hatte sie auch sein Verlangen geweckt. Ihre langen, fast weißblonden Haare, die helle Haut und hellbraunen Augen waren ein faszinierender Kontrast zu seinen schwarzen Haaren und Augen und der rötlich-braunen Haut, die er von seinem Vater geerbt hatte. Er liebte es, einfach nur neben ihr zu liegen, sie anzusehen und mit den Fingern Muster auf ihre Haut zu malen.

Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als er sich vorstellte, dass Arlyn ihre menschliche Seite nie wieder zeigen könnte. Obwohl er sie auch als Berglöwin schön fand: mit dem hellen, fast weißen Fell und dem zarten Knochenbau war sie mehr als ungewöhnlich. Aber noch mehr würde ihm ihr Lachen fehlen, das er in letzter Zeit immer weniger gehört hatte. Er hätte darauf vorbereitet sein müssen, dass sie ihn irgendwann vielleicht verlassen würde, aber er hatte gehofft, sie durch seine Liebe halten zu können. Und auch ihre Eltern zählten auf ihn. Die Vorstellung, wie sie auf den Verlust ihrer einzigen Tochter reagieren würden, verstärkte seinen Wunsch, Arlyn auf jeden Fall zu finden und nach Hause zu bringen. Es gab keinen anderen Weg, denn ohne sie wäre auch sein Leben zu Ende. Die Zähne fest gegen den Schmerz zusammengepresst, folgte er ihrer Duftspur, die ihn immer tiefer in die Wildnis führte.

Erleichterung machte sich in Torik breit, als ihr Geruch nach einiger Zeit stärker wurde. Sie musste in der Nähe sein, er konnte ihre Anwesenheit regelrecht spüren, auch wenn er sie nicht sah. Mit allen Sinnen konzentrierte er sich auf Arlyn und entdeckte sie schließlich in einem Dickicht. Langsam näherte er sich ihr und versuchte, nicht bedrohlich zu wirken. Schließlich verwandelte er sich und blieb einige Meter vor ihr sitzen.

Vorsichtig streckte er die Hand aus. »Hallo Arlyn. Ich habe dich gesucht.« Die Berglöwin sah ihn nur an, näherte sich aber nicht und verwandelte sich auch nicht. Toriks Herz zog sich zusammen, als er das Misstrauen in ihren Augen erkannte. Also bemühte er sich, es zu zerstreuen. »Ich habe dich vermisst, als ich heute Morgen in unserem Bett aufgewacht bin. Die Nacht war sehr schön, findest du nicht?« Sie hatten sich so leidenschaftlich geliebt, dass er jetzt noch weiche Knie bekam, wenn er daran dachte. Im Nachhinein fragte er sich, ob Arlyns Berührungen nicht etwas Verzweifeltes gehabt hatten, ob er hätte spüren müssen, dass sie ihn verlassen würde.

Wieder sah Arlyn ihn nur an, diesmal glaubte er aber, in ihren Augen ein Echo seiner Gefühle wahrnehmen zu können. Oder er bildete es sich nur ein, weil er es sich mehr als alles andere wünschte. »Arlyn, kannst du zu mir kommen? Ich möchte dich gerne berühren.«

Diesmal legte sie den Kopf schräg und seine Hoffnung wuchs, dass er sie erreichen konnte. Langsam bewegte er sich vorwärts, bemüht, so harmlos wie möglich zu wirken. Was bei seiner Größe und der Breite seiner Schultern nicht einfach war. Aber Arlyn musste doch wissen, dass er sich eher die Hände abhacken würde, als ihr weh zu tun. Torik blieb stehen, als Arlyn einen Schritt nach hinten tat. Wie sollte er sie erreichen, wenn er sie nicht berühren konnte? Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass er kein großer Redner war und Probleme hatte, über seine Gefühle zu sprechen. Aber es musste sein, wenn er seine Gefährtin nicht verlieren wollte.

Torik holte tief Luft und ließ sie langsam entweichen. »Ich brauche dich, Arlyn, du bist mein Leben. Ich weiß, dass ich das nicht oft genug gesagt habe, aber ich liebe dich über alles.«

Sie blieb stehen und sah ihn aufmerksam an. Torik bildete sich ein, in ihren Augen Liebe zu entdecken.

Er bemühte sich, seine Stimme noch beruhigender klingen zu lassen. »Komm bitte zu mir und lass uns nach Hause gehen.« Wieder streckte er die Hand nach ihr aus und diesmal kam sie tatsächlich näher. Zwei Meter vor ihm blieb sie schließlich stehen. Torik hockte sich auf den Waldboden und lächelte sie an. »Kannst du dich für mich verwandeln?« Hoffnung durchströmte ihn, als sie sich tatsächlich zu verwandeln begann. Mit Mühe gelang es ihm, sich nicht sofort auf sie zu stürzen und sie zu umarmen, was sie nur verschrecken würde.

Arlyn richtete sich auf, ihre Arme um ihren nackten Oberkörper geschlungen, als wäre ihr kalt. Als sie zu ihm aufschaute, konnte er die Qual in ihren Augen sehen. Ihre Haut war noch blasser als gewöhnlich und ein Zittern durchlief sie. Die langen Haare hingen wirr in ihr Gesicht und umgaben ihren Körper. »Torik.« Ihre Stimme klang rau und er sah die Reißzähne aufblitzen. Anscheinend war es ihr nicht gelungen, sich vollständig zu verwandeln.

Torik hatte Mühe, sein Lächeln beizubehalten. »Ja, mein Schatz.« Vorsichtig schob er sich ein Stück vor, bis er mit seinen Fingerspitzen ihren Arm berühren konnte. Ein Schauder schüttelte sie, ihre Augen schlossen sich. »Sieh mich an. Bitte.«

Arlyns Lider hoben sich und es lag ein so tiefer Schmerz in ihrem Blick, dass Torik ihn körperlich fühlte. »Ich kann nicht mehr, Torik.«

Sein Herz krampfte sich zusammen. »Versuch es bitte, für mich. Für uns.«

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Der Drang ist zu stark, ich kann ihn nicht mehr unterdrücken. Ich habe so lange dagegen angekämpft, ich bin müde.«

Torik nahm ihre Hand in seine. »Zusammen können wir es schaffen. Du darfst nicht aufgeben!«

Arlyns Finger strichen über seine Wange, ein trauriges Lächeln hob ihre Mundwinkel. »Ich liebe dich, Torik. Es tut mir leid.« Damit begann sie, sich zu verwandeln.

Verzweifelt sprang er vor und umschlang sie mit seinen Armen. »Nein, bleib bei mir!«

Sie fauchte warnend und versuchte, sich aus seinem Griff zu winden. Doch Torik wusste, dass sie für immer für ihn verloren war, wenn er sie jetzt losließ. Er legte seinen Kopf an ihren Nacken. »Bitte, versuch es!«

Er spürte es kaum, wie sie ihre Pfoten gegen seine Beine drückte, um ihn von sich zu stoßen. Erst als ein scharfer Schmerz durch seinen Arm fuhr, lockerte er seinen Griff und Arlyn gelang es, sich zu befreien. »Nein!«

Ein paar Meter entfernt blieb sie stehen und sah ihn noch einmal aus traurigen Augen an, dann drehte sie sich um und jagte davon. Torik wusste, dass er sie einholen konnte, aber er blieb einfach sitzen, seinen Arm an die Brust gepresst. Es war vorbei. Er hatte sie verloren. Selbst wenn er sie noch einmal fand und mit ins Lager schleppte, würde er sie nicht dort halten können. Das, was er und ihre Eltern schon seit langem befürchteten, war eingetreten: Arlyn war zu einer Einzelgängerin geworden. Leidenschaftslos blickte Torik auf seinen Arm hinab, über den sich eine lange blutige Wunde zog. Anstatt sie zu lecken, um das Blut zu stoppen und Narbenbildung zu verhindern, verwandelte er sich in einen Berglöwen und legte sich hin. Vielleicht hatte er Glück und starb am Blutverlust.

1

12 Jahre später

Mit einem schlechten Gefühl lief Torik auf Finns Hütte zu. Der Ratsführer hatte ihn während seiner Schicht als Wächter rufen lassen und das tat er normalerweise nur, wenn etwas Unvorhergesehenes geschehen war. War die Ruhe, die in den vergangenen Monaten geherrscht hatte, nun zu Ende? Nach dem missglückten Angriff von Menschen auf das Lager der Adlerwandler, bei dem es im Spätherbst auf beiden Seiten Tote und Verletzte gegeben hatte, war es überraschend ruhig gewesen. Torik hatte erwartet, dass die Menschen nun erst recht versuchen würden, die Wandler zu finden, um sich zu rächen oder um weitere Experimente an ihnen durchzuführen. Doch nichts war geschehen, und es hatte sich allmählich wieder so etwas wie Normalität eingestellt. Die Kinder durften endlich etwas freier umherlaufen – natürlich unter Aufsicht – und es fanden auch wieder Versammlungen statt, die nichts mit Notfällen zu tun hatten, sondern dem Gruppenzusammenhalt galten. Torik hatte sie zwar nicht unbedingt vermisst, aber er wusste, dass viele der anderen diese Treffen brauchten.

Bevor Torik bei Finns Hütte ankam, verwandelte er sich. Ein seltenes Lächeln überzog sein Gesicht, als er Marisas und Coyles Geruch erkannte. Coyle war damals zur gleichen Zeit Wächter geworden und jahrelang mit ihm durch die Wälder gestreift, auch noch, nachdem er zum Ratsführer gewählt worden war. Dieses Amt hatte Coyle zehn Jahre lang ausgefüllt, bis er es vor neun Monaten an Finn weitergegeben hatte, um mit seiner Gefährtin Marisa am Rand des Waldes zu leben. Zuerst war Torik misstrauisch gewesen, als Coyle Marisa mit ins Lager brachte, doch sehr schnell hatte er erkannt, dass die Menschenfrau nicht vorhatte, den Wandlern zu schaden. Und vor allem liebte sie Coyle und machte ihn glücklicher, als Torik ihn je gesehen hatte.

Er ignorierte den Anflug von Neid und klopfte an die Tür.

»Komm herein.«

Finns Stimme klang normal, deshalb war Torik überrascht, als er in die Hütte trat und die ernsten Gesichter sah. »Was ist passiert?«

Finn blickte ihn forschend an. »Wir hatten gehofft, du könntest uns das sagen.«

Marisa schnaubte. »Können wir uns vielleicht erst noch ordentlich begrüßen, bevor ihr mit dem Geschäft anfangt?« Sie kam auf Torik zu und umarmte ihn. »Du siehst müde aus.«

»Nachtschicht.« Was nur eine halbe Lüge war. Er schob sie ein Stück von sich weg und betrachtete sie aufmerksam. »Es scheint, als würde Coyle dich gut behandeln.« Sie strahlte geradezu vor Glück, ihre dunkelbraunen Augen funkelten lebhaft und ihre vollen Lippen waren wie stets zu einem Lächeln verzogen.

Marisa warf ihren schwarzen Zopf über die Schulter. »Natürlich.« Sie schrie überrascht auf, als Coyle ihren Arm ergriff und sie zu sich zurückzog, bis er sie mit seinen Armen umfangen konnte. »He, was soll das?«

Coyle küsste ihren Nacken und Marisa schmiegte sich automatisch an ihn. »Ich mache klar, zu wem du gehörst.«

»Als wenn ich das nicht wüsste.« Sie versuchte, ihn streng anzusehen, aber ihre geröteten Wangen sprachen für sich.

Torik blickte Finn an, der amüsiert den Kopf schüttelte. »Es hat sich nichts geändert, oder?«

Finns Gesichtsausdruck wurde ernst. »Jedenfalls nicht in der Beziehung.«

Als Torik ihn genauer betrachtete, stellte er fest, dass das Glück, das den Ratsführer stets umgab, seit er sich offiziell zu seiner Gefährtin Jamila bekannt hatte, von Sorge abgelöst worden war. »Ist irgendwas mit Jamila?«

»Nein, sie lernt bei Fay, wie man die Heilsalbe anmischt.«

Torik zog beide Augenbrauen hoch. »Die heilige, streng geheime Salbe?« Die Heilerin Fay hatte bisher noch nie jemandem das Rezept verraten, doch sie schien die schwarze Leopardin unter ihre Fittiche genommen zu haben und brachte ihr nun alles bei, was sie wusste.

»Genau die. Seit Conner und Melvin bei ihr leben, ist Fay zugänglicher geworden.«

Marisa lachte. »Lass sie das nicht hören, Finn. Obwohl sie tatsächlich deutlich zufriedener wirkt.«

Torik stimmte ihr innerlich zu. Genau das war der Grund, warum er sich noch weiter von der Gruppe zurückgezogen hatte: Er ertrug es nicht, dass überall um ihn herum Liebespaare aus dem Boden zu sprießen schienen. Nicht, dass er seinen Freunden das Glück nicht gönnte, es war nur sehr schwer mit anzusehen, wenn er wusste, dass er nie wieder etwas Ähnliches erleben würde. Im Gegensatz zu Coyle und Finn hatte er seine Gefährtin bereits in sehr jungen Jahren gefunden, aber seine Liebe hatte nicht ausgereicht, um sie zu halten, und er konnte sich nicht vorstellen, noch einmal einer anderen Frau so viel Macht über sich zu geben. Vermutlich konnte er überhaupt nicht mehr lieben, seit er Arlyn verloren hatte. Es war, als wäre damals sein Herz zerstört worden. Unbewusst rieb Torik über seine Narbe und bemerkte erst, was er tat, als Finns mitleidiger Blick auf seinen Arm fiel. Torik zwang sich, seine Hand fallen zu lassen und ballte sie stattdessen zur Faust.

»Weshalb hast du mich kommen lassen?« Er merkte, dass seine Frage schroff klang, aber er entschuldigte sich nicht dafür.

»Marisa hat etwas entdeckt, das uns – gelinde gesagt – Sorgen bereitet. Wir hatten gehofft, du könntest uns etwas dazu sagen.«

Torik richtete sich gerader auf. »Sind wieder Menschen aufgetaucht? Soll ich sie …?«

Finn hob beschwichtigend die Hand. »Nein, nichts dergleichen. Marisa?«

Marisa löste sich aus Coyles Umarmung und holte etwas aus ihrer Tasche. Verwundert erkannte Torik, dass es ein Buch war. »Isabel hat mich neulich auf ein Buch aufmerksam gemacht, das sie gelesen hat. Es ist ein Fantasy Romance, also ein paranormaler Liebesroman, und handelt von Gestaltwandlern. Um genau zu sein, geht es um Berglöwenwandler und sie leben versteckt in der Wildnis in der Nähe des Yosemite National Parks.«

Torik rieb über seine Stirn. »Ich kenne mich damit nicht aus, aber es gibt doch sicher viele solcher Romane, oder?«

Marisa nickte zustimmend. »Sehr viele. Aber ich habe nachgeforscht und keiner der anderen handelt von Berglöwen, die genau hier leben und der auch in der heutigen Zeit spielt. Isabel hat ihn mir geschickt, weil mich interessiert hat, wie nah die Fantasie der Autorin der Wahrheit kommt.« Sie blickte zu Coyle, der ihr zunickte. »Um es kurz zu machen: sie kommt sehr nahe. Von den Eigenschaften der Wandler bis hin zur Beschreibung des alten Lagers samt Versammlungshöhle.«

»Du meinst, es ist nicht nur Zufall, sondern sie schreibt über uns?« Das war das Schlimmste, was passieren konnte, denn wer wusste schon, ob nicht irgendwelche irren Leser auf die Idee kamen, nach den Wandlern zu suchen. Ganz zu schweigen von ihren Feinden, die sich solch eine Gelegenheit sicher nicht entgehen lassen würden.

Marisa sah ihn ruhig an. »Entweder war sie schon hier oder sie kennt jemanden, der sie mit Informationen versorgt hat.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand von uns so dumm wäre, das zu tun.« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als ihm ein Gedanke kam. »Melvin?« Der junge Wandler hatte sie schließlich schon einmal verraten.

Finn mischte sich ein. »Nein, ausnahmsweise mal nicht. Er hatte den Verbrechern eher generelle Informationen gegeben, nicht so detaillierte.«

»Hat vielleicht jemand von uns unter Pseudonym den Roman geschrieben?« Torik hatte zwar von niemandem gehört, der schriftstellerische Ambitionen zeigte, aber zugegebenermaßen kannte er die meisten anderen Gruppenmitglieder nicht gut genug, um das ausschließen zu können.

Marisa schüttelte bereits den Kopf. »Nein, ich habe es nachgeprüft, die Autorin existiert wirklich und schreibt seit Jahren Liebesromane, nur bisher nie über Gestaltwandler.«

Ratlos blickte Torik Finn an. »Was sagt der Rat dazu? Sollen wir eingreifen?« Finn hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, der Torik überhaupt nicht gefiel. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus.

»Ich habe noch nicht mit dem Rat gesprochen, weil wir dachten, dass wir uns erst anhören, was du dazu sagst.«

Toriks Herz begann heftiger zu schlagen. »Ihr denkt doch wohl nicht, ich hätte etwas damit zu tun?«

»Nein, aber …«

Als Coyle nicht weitersprach, spürte Torik Wut in sich hochkriechen. »Aber was?«

Marisa antwortete schließlich. »Der Held der Geschichte, ein Berglöwenmann, trägt den Namen Tarek. Er hat lange schwarze Haare, schwarze Augen und sein Vater war ein Indianer, der die Gruppe verlassen hat, als Tarek noch ein Kind war.«

Das Blut wich aus Toriks Kopf, während der alte Schmerz ihn überrollte. Marisa schlang ihre Hand um seinen Arm und führte ihn zu einem Stuhl, auf den er sich schwer sinken ließ. Wie betäubt schüttelte er den Kopf. »Ich kann mir das nicht erklären. Das muss ein Zufall sein.«

Mitfühlend sah Marisa ihn an. »Zusammen mit allem anderen kann ich mir nicht vorstellen, dass es Zufall ist.« Sie hielt ihm das Buch hin, schlug es auf der letzten Seite auf und deutete auf das Autorenfoto. »Hast du sie schon mal gesehen?«

Torik betrachtete das schwarz-weiße Bild. Die Frau hatte ein rundes Gesicht, das von einem wüsten Haarmob in undefinierbarer Farbe umgeben war. Der großzügige Mund war zu einem etwas gezwungenen Lächeln verzogen. Am Auffälligsten waren sicherlich die großen hellen Augen, die ernst in die Kamera blickten. »Nein, ich kenne sie nicht.« Torik merkte, wie rau seine Stimme klang und räusperte sich. »Hier steht, dass sie Caitlin Walker heißt und am Hebgen Lake beim Yellowstone National Park lebt. Das ist in Montana. Ich wüsste nicht, wie ich jemals mit ihr in Verbindung gekommen sein könnte.«

Finn rieb über sein Kinn. »Verdammt, ich hatte gehofft, du hättest irgendeine vernünftige Erklärung dafür. Mir gefällt es nicht, wenn jemand da draußen ist, der Geschichten über uns schreibt und anscheinend über Insiderinformationen verfügt.«

Torik stand abrupt auf. »Glaubst du, mir? Aber ich werde herausfinden, woher sie von uns weiß, das kann ich dir versprechen.«

Coyle sah ihn ernst an. »Wie denn? Du kannst sie schließlich schlecht danach fragen.«

»Ich werde zu ihr fahren und einen Weg finden.« Torik biss die Zähne zusammen, als er sich vorstellte, dafür in die Menschenwelt gehen zu müssen.

»Hältst du das für eine gute Idee? Was ist, wenn sie dich sieht?« Finn klang nachdenklich.

»Hast du einen besseren Vorschlag? Und keine Angst, sie wird mich gar nicht bemerken.«

Finn nickte. »Okay, fahr hin, aber sei vorsichtig.«

Torik lächelte grimmig. »Das bin ich immer.«

Marisa drückte ihm das Buch in die Hand. »Hier, vielleicht kannst du das gebrauchen. Aber Vorsicht, es ist teilweise … äh … recht deutlich, besonders was die Liebesszenen angeht.«

Sie lachte über seinen Gesichtsausdruck. »Du kannst sie auch einfach überspringen, wenn es dir zu heiß wird.«

Coyle grinste. »Wer weiß, vielleicht gefallen sie ihm.«

Finns Lächeln hielt nur kurz. »Wann willst du los?«

»Wenn ich hier nicht gebraucht werde, sofort.«

Torik bremste leicht ab, als er sich der Abzweigung zu Caitlin Walkers Grundstück am Hebgen Lake näherte. Da sonst keine Fahrzeuge unterwegs waren, nutzte er die Gelegenheit, einen Blick die Auffahrt hinauf zu werfen. Das Haus lag am Hang, versteckt hinter Bäumen und Felsen. Zufrieden, dass es keine anderen Häuser in unmittelbarer Nähe gab, fuhr er ohne anzuhalten weiter. Er würde den Jeep, den ihm Coyles Mutter Aliyah zum Rand der Wildnis gebracht hatte, irgendwo unauffällig parken und dann zu Fuß zurückkommen, um das Grundstück auszukundschaften. Wenn sie nicht zu Hause war, konnte er sich auch in ihrem Haus umsehen, vielleicht würde er dort Hinweise darauf entdecken, woher sie die Informationen über Wandler bekam. Nachdem er den Wagen abgestellt hatte, stieg er aus und streckte sich. Er schnitt eine Grimasse, als seine Muskeln gegen die lange Fahrt protestierten.

Seit morgens war er unterwegs, die sechshundert Meilen waren die längste Strecke, die er je am Stück gefahren war. Aber er hatte nicht noch mehr Zeit verlieren wollen. Das Buch dieser Caitlin Walker war bereits vor einem Monat erschienen, wer wusste, wieviele Menschen es schon gelesen hatten. Torik schulterte den Rucksack und begann, sich querfeldein auf das Grundstück zuzubewegen. Er wollte nicht riskieren, dass ihn jemand von der Straße aus sah. Als er endlich wieder von Vegetation umgeben war und die Bewegung seine Muskeln lockerte, fühlte er sich sofort wohler. Leichtfüßig lief er den Hügel hinauf und wünschte, er könnte sich verwandeln. Doch damit würde er noch warten, bis er sich umgesehen hatte. Vielleicht hatte sie einen Hund, der einen Radau veranstalten würde, sobald er ihn roch, so wie Marisas Bloodhound Angus es gerne tat. Instinktiv lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken.

Torik blieb in den dichten Büschen am Rande des Grundstücks stehen und betrachtete das großzügige Holzhaus, das sich an die dahinter liegenden Hügel zu schmiegen schien. Es war in einem dunklen Grünton gestrichen, Dach und Fenster dagegen strahlten weiß. Seitlich versetzt hinter dem Haupthaus stand noch ein kleineres Gebäude in den gleichen Farben, wahrscheinlich die Garage. Alles wirkte gepflegt und edel. Anscheinend verdiente sie nicht schlecht als Autorin – auf Kosten der Wandler. Wut durchströmte Torik und er musste sich zügeln, nicht ins Haus zu stürmen und sie zur Rede zu stellen. Doch das würde warten müssen, bis es dunkel war, denn das Haus war von einer breiten, trotz der Trockenheit des Sommers überraschend grünen Rasenfläche umgeben, über die er sich nicht ungesehen nähern konnte. Zuerst musste er herausfinden, ob Caitlin im Haus war, bevor er das Risiko einging, dort einzubrechen. Vermutlich würde sie es nicht lustig finden, wenn ein fremder Mann in ihre Fenster blickte.

Vorsichtig schlich er um das Grundstück herum, bis er vom Haus ungesehen hinter der Garage herauskam. Ein Blick durch das kleine rückwärtige Fenster bestätigte, dass sich ein Wagen darin befand. Die Autorin schien also zu Hause zu sein, sofern sie nicht mehrere Autos besaß. Torik zog sich wieder in die Büsche zurück. Nachdem er einen Standort gefunden hatte, von dem aus er das Haus und das Grundstück gut überblicken konnte, richtete er sich dort ein und wartete auf die Dunkelheit. Es würde nicht mehr lange dauern, der Himmel über den Bergkuppen, die hinter dem See aufragten, färbte sich bereits rötlich. Einen Moment lang war Torik von dem wunderschönen Panorama gefangen, dann schob er das Gefühl beiseite. Dafür war er nicht hierher gekommen, Natur gab es auch im Berglöwengebiet genug.

Torik nahm ein Stück Brot aus seinem Rucksack und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. Wenn er schon warten musste, konnte er die Gelegenheit nutzen und ein wenig lesen, solange es noch hell genug dafür war. Das Cover bestand aus einer Landschaft, vor der ein übermäßig muskulöser nackter Mann mit langen schwarzen Haaren und einem übertrieben grimmigen Gesichtsausdruck stand, neben ihm ein Berglöwe in Angriffspose. Torik rollte mit den Augen und schlug das Buch auf. Zuerst besah er sich noch einmal das Autorenfoto und versuchte zu verstehen, wie jemand, der derart harmlos aussah, so skrupellos sein konnte, Informationen über echte Wandler in einem Buch zu verarbeiten. Natürlich wusste er, dass man nicht jedem ansehen konnte, was er wirklich dachte. Doch auch die Liste von bisherigen Veröffentlichungen deutete nicht darauf hin, dass Caitlin etwas anderes war als eine Autorin von Liebesromanen. Bisher hatte sie ein Dutzend Romane veröffentlicht, einige davon waren Bestseller.

In Erinnerung an Marisas warnende Worte zum Inhalt schlug Torik mit einem Seufzer die erste Seite auf.

Unruhig lief Tarek die äußere Grenze ihres Gebiets entlang, auf der Suche nach demjenigen, dessen Geruch er witterte. Es war eindeutig ein Mensch und vor allem eine Frau, die hier nichts zu suchen hatte. Das Lager der Berglöwenwandler lag versteckt in der Wildnis hinter den Grenzen des Yosemite National Parks, wo sie sicher sein konnten, nie von den Menschen entdeckt zu werden. Und trotzdem war diese Frau hier, sie roch nach Sonne und Honig – und nach Furcht. Tarek wünschte, er hätte einem der anderen Wächter die Aufgabe überlassen, herauszufinden, wer oder was einen ihrer Sensoren ausgelöst hatte, mit denen sie ihr Gebiet schützten. Aber nein, er hatte sich freiwillig gemeldet, um damit der Versammlung zu entgehen, die er mied, so oft es ging. Tarek schüttelte den Gedanken ab und schlich sich näher an die Menschenfrau heran. Sein Herz klopfte im Takt seiner Schritte, während seine Pfoten auf dem weichen Waldboden keinen Laut verursachten.

Schließlich war er nah genug, dass er die Fremde sehen konnte. Langes hellblondes Haar schimmerte fast weiß im Licht des Vollmonds, ihre Haut wirkte wie Porzellan. Seine empfindlichen Ohren fingen ihre keuchenden Atemzüge auf, während sie durch den dunklen Wald stolperte und dabei immer weiter in das Gebiet der Berglöwen eindrang. Tarek nutzte den Vorteil seiner besseren Sehkraft aus und näherte sich ihr unbemerkt bis auf wenige Meter. Vermutlich hätte er sie töten sollen, damit sie die Wandler nicht verraten konnte, aber irgendetwas hielt ihn zurück. So folgte er ihr nur wie ein Schatten, um zu sehen, was sie vorhatte. Erst als sie dem Lager immer näher kam, entschied er, dass er sie aufhalten musste. Er setzte zum Sprung an und …

 

Torik hob abrupt den Kopf, als er einen fremden Geruch witterte. Die Haustür öffnete sich und eine Frau trat heraus. Ohne hinzusehen steckte Torik das Buch in den Rucksack und richtete sich auf. Caitlin Walker sah genauso aus wie auf dem Foto – nur in Farbe. Sie hatte runde, für das heutige Schönheitsideal vermutlich etwas zu breite, Hüften und große Brüste, wilde schulterlange Haare in einer undefinierbaren Farbe irgendwo zwischen blond und braun und vor allem große, ausdrucksvolle Augen. Im Moment kniff sie sie gegen die Sonne zusammen, als wäre sie die Helligkeit nicht gewöhnt. Caitlin drehte sich um und jonglierte eine Tasche, Jacke und ihren Schlüssel, wobei sie letzteren mehrfach fallen ließ, bevor sie ihn schließlich in das Schlüsselloch schob und die Tür abschloss. Dabei murmelte sie irgendetwas vor sich hin, dass Torik trotz seines guten Gehörs nicht verstehen konnte.

Vielleicht war er auch dadurch abgelenkt, wie gut ihr Po die Jeans ausfüllte oder von dem Duft nach Wildblumen, der von ihr ausging. Torik schüttelte den Kopf und erinnerte sich daran, weshalb er hier war. Und wer diese Frau war. Der Anfang des Buches hatte ihn so in die Geschichte hineingezogen, dass er sie beinahe nicht bemerkt hätte. Wie zum Teufel konnte sie von den Wächtern wissen und den Sensoren und – noch schlimmer – davon, wie ungern er zu den Versammlungen ging? Und die Beschreibung der Menschenfrau klang so sehr nach Arlyn, dass sich sein Herz schmerzhaft zusammengezogen hatte. Aber es konnte niemand von Arlyn wissen, sie hatte bereits vor zwölf Jahren die Gruppe verlassen. War es also nur ein Zufall? Schon die wenigen Zeilen führten ihm deutlich vor Augen, dass er um jeden Preis herausfinden musste, was Caitlin wusste und vor allem woher.

Aufmerksam beobachtete er, wie sie zur Garage ging. Anscheinend wollte sie wegfahren, was ihm die Gelegenheit geben würde, sich in ihrem Haus umzusehen. Aber was, wenn sie sich mit jemandem traf, von dem sie neue Informationen über die Wandler bekam? Die Wahrscheinlichkeit war nicht besonders hoch, doch er wollte sich nicht hinterher vorwerfen müssen, nicht allen Spuren nachgegangen zu sein. Außerdem war es sicher sinnvoll, ihre Gewohnheiten auszukundschaften. Kurzentschlossen sprintete Torik geduckt durch die Büsche, als Caitlin in die Garage trat. Erst als er jenseits des Grundstücks war, richtete er sich auf und rannte so schnell wie möglich zum Jeep. Er konnte nur hoffen, dass sie mit ihrem Auto genauso langsam war wie an der Haustür, denn sonst konnte sie ihn bereits abgehängt haben.

Torik fuhr auf die Hebgen Lake Road und atmete erleichtert auf, als er sah, dass der Wagen noch vor der Garage stand. Rasch bog er in eine Straße ein und wendete, damit er ihr folgen konnte, sobald sie aus ihrer Auffahrt kam. Es schien unendlich lange zu dauern, bis sie ihr kleines knallrotes Auto auf die Straße lenkte. Als sie an ihm vorbeifuhr, sah er, dass sie stur geradeaus blickte und dabei ihre Lippen bewegte. Redete sie mit jemandem? Aber er hatte keine Möglichkeit, das herauszufinden, er konnte ihr nur möglichst unauffällig folgen und sehen, wohin sie fuhr.

Die Straße schlängelte sich malerisch am Ufer des Hebgen Lakes entlang und wurde auf der anderen Straßenseite von einem mit Nadelbäumen bedeckten Hügel begrenzt. Dazwischen gab es einige kleinere Siedlungen und Flächen, in denen nur vertrocknete Gräser und Sträucher wuchsen. Die Höhe von über zweitausend Metern und die trockene Luft schienen für viele Pflanzen zu extrem zu sein. Umso erstaunlicher war Caitlins frischer, grüner Rasen. Torik vermisste die Wildnis in ihrem Gebiet, seine Haut fühlte sich schon jetzt ganz ausgetrocknet an. Schließlich verließen sie den See, überquerten den Grayling Creek und fuhren ins Landesinnere. Als Caitlin nach rechts abbog, vermutete Torik, dass sie nach West Yellowstone fahren würde, die einzige etwas größere Stadt mit genügend Einkaufsmöglichkeiten in der Umgebung. Um in den Yellowstone National Park zu fahren, war es bereits zu spät, und er hatte auch keine Reisetasche gesehen, die darauf schließen ließ, dass Caitlin woanders übernachten wollte.

Zufrieden, dass er Recht hatte, folgte Torik ihr in die kleine Stadt, die hauptsächlich von den vielen Touristen lebte, die jährlich in den National Park strömten. Es war kein Problem, Caitlin in den schachbrettartig angelegten Straßen nicht aus den Augen zu verlieren. Sie fuhr einfach zu ihrem Ziel, ohne je zu bemerken, dass sie verfolgt wurde. Außer sie hatte ihn gesehen und wollte ihn nun in einen Hinterhalt locken. Torik schüttelte den Kopf. Nein, Caitlin wirkte nicht so, als hätte sie dafür Talent und vor allem beachtete sie ihre Umgebung viel zu wenig. Ein Auto hinter ihr hupte, als sie bei Grün nicht sofort losfuhr und Torik lächelte grimmig. Als er schon fast dachte, dass sie gar kein Ziel hatte, hielt sie vor einem Supermarkt am Ende des Ortes. Torik parkte ein paar Reihen weiter und beobachtete, wie sie hineinging. Nach kurzer Überlegung stieg er ebenfalls aus und folgte ihr. Er hatte keine Angst, sie zu verlieren, schließlich kannte er jetzt ihren Duft. So ließ er sich einfach von seiner Nase führen und achtete darauf, ihr niemals zu nahe zu kommen, damit sie ihn nicht entdeckte.

Sie schien einen regelrechten Großeinkauf zu tätigen und nach einer halben Stunde wünschte sich Torik, er wäre im Wagen geblieben. Caitlin blickte nur auf ihre Einkaufsliste und schien die anderen Menschen gar nicht zu beachten. Es war offensichtlich, dass sie sich hier mit niemandem traf. Stattdessen schob sie ihren Einkaufswagen endlich zur Kasse und bezahlte mit einer Kreditkarte. Vollgepackt mit lauter Tüten und ihrer riesigen Tasche kehrte sie zu ihrem Auto zurück. Torik saß bereits in seinem Jeep und wartete darauf, dass sie einstieg, doch sie lud nur die Einkäufe ein und zögerte dann. Unauffällig schob sie etwas in ihre Jackentasche und schloss die Wagentür. Torik duckte sich, als sie sich umsah, während sein Herz schneller zu klopfen begann. Bisher hatte sie sich ganz normal benommen, doch jetzt war es offensichtlich, dass sie befürchtete, beobachtet zu werden. Als sie sich umdrehte und losging, stieg Torik wieder aus dem Jeep und folgte ihr in einiger Entfernung. Seine Vorahnung bestätigte sich, als Caitlin sich noch einmal umblickte und dann in eine schmale Gasse zwischen zwei Gebäuden schlüpfte. Ein seltsames Gefühl der Enttäuschung durchfuhr ihn, das er sich nicht erklären konnte.

2

Unruhig blickte Caitlin sich um, bevor sie mit raschen Schritten auf die kleine Gasse zustrebte. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, aber vermutlich spielte nur ihre Fantasie verrückt. Das passierte ihr häufiger, wohl eine Nebenwirkung ihres Berufs. In diesem Fall könnte es aber auch an ihrem schlechten Gewissen liegen, weil sie genau wusste, dass es nicht richtig war, was sie tat. Wenn jemand sie dabei erwischte, würde sie Mühe haben, ihre Anwesenheit zu erklären, schließlich hatte sie hier nichts zu suchen und tat etwas, das die Besitzer des Supermarktes sicher nicht gerne sahen. Caitlin schob ihr Kinn vor und trat entschlossen in die Gasse. Übler Geruch schlug ihr entgegen und brachte sie zum Husten. Herrje, es wurde immer schlimmer. Anscheinend hatten die umliegenden Geschäfte gemerkt, dass sie hier ihre Abfälle kostenlos abladen konnten, weil sich niemand darum kümmerte. Vorsichtig stieg sie über eine zerbrochene Kiste und schnitt eine Grimasse, als sie in etwas Glibberiges trat. Gut, dass sie ihre ältesten Schuhe angezogen hatte. Trotzdem wollte sie lieber nicht wissen, was jetzt unter der Sohle klebte.

Da es mit jedem Schritt ekliger wurde, beschloss Caitlin, sich zu beeilen und dann endlich nach Hause zurückzukehren. Sie hasste einkaufen, hätte sie nicht keinerlei Verpflegung mehr im Haus gehabt, wäre sie nie hierher gekommen. Aber wenn es eine Sache gab, die sie zum Schreiben brauchte, dann war es Nervennahrung. Mit leerem Magen konnte sie einfach nicht denken. Caitlin versuchte, den Atem anzuhalten, doch der Gestank schien trotzdem in jede Pore zu sickern.

»Bist du hier?« Sie zuckte zusammen, als ihre eigene Stimme laut durch die Gasse hallte. Natürlich erhielt sie keine Antwort. Kopfschüttelnd bückte sie sich, stellte die Dose auf den Boden und öffnete den Deckel. Hinter ihr ertönte ein kratzendes Geräusch und sie drehte sich rasch um. Zumindest wollte sie das, doch sie verlor ihr Gleichgewicht und landete mit der Hose im Dreck. Angewidert versuchte sie, auf die Beine zu kommen, ohne sich mit den Händen auf dem Boden abstützen zu müssen und verfluchte ihre Unsportlichkeit. Gerade hatte sie sich halb aufgerichtet, als etwas auf ihren Schultern landete und sie wieder hinunter drückte.

»Hey!« Furcht schoss durch ihren Körper, als sie erkannte, dass es Hände waren, die sie festhielten, irgendjemand stand hinter ihr und hinderte sie daran, aufzustehen. Caitlin wollte schreien, doch schwitzige Finger legten sich über ihren Mund und hielten sie davon ab. Übelkeit und Furcht stiegen in ihr auf und sie begann, sich zu wehren. Ihr Ellbogen traf etwas Weiches, ihr Hacken kollidierte mit einem Schienbein. Ein Fluch wurde dicht an ihrem Ohr ausgestoßen und der Griff verstärkte sich. Verzweifelt kämpfte Caitlin gegen den Mann an, doch er war viel stärker als sie.

Etwas Kaltes, Hartes wurde an ihre Kehle gedrückt und sie verspürte einen scharfen Schmerz. »Keinen Mucks, kapiert?«

Ein Messer! Caitlin erstarrte, Panik breitete sich in ihr aus. Dieser Kerl meinte es ernst! So etwas konnte ihr nicht passieren und schon gar nicht nur wenige Schritte von einer belebten Straße entfernt. Irgendjemand musste doch mitkriegen, dass sie überfallen wurde! Selbst wenn ihr Mund frei gewesen wäre, hätte sie nicht mehr schreien können, ihre Stimmbänder schienen erstarrt zu sein. Vor Jahren hatte sie als Recherche für ein Buch einen Selbstverteidigungskurs absolviert aber in diesem Moment konnte sie sich an keine einzige Abwehrbewegung erinnern, es war alles weg. Sie bekam keine Luft mehr, ihr Körper begann unkontrolliert zu zittern. So viel zu den starken, mutigen Heldinnen, über die sie immer schrieb. Caitlin war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, als der Mann sie durch die Gasse zerrte. Er nahm seine Hand von ihrem Mund und schlang dafür den Arm um ihren Brustkorb, aber das Messer bewegte sich keinen Millimeter von ihrem Hals weg. Sie traute sich nicht zu schlucken, aus Angst, die Klinge damit tiefer in ihre Haut zu drücken.

»I…ich habe Geld, wenn …«

»Ruhe!« Der Mann drückte warnend zu und Caitlin rang nach Luft.

Wenn der Verbrecher sich nicht für ihr Geld interessierte, worum ging es ihm dann? Oh Gott, wollte er sie vergewaltigen? Caitlin vergaß, dass er sie mit einem Messer bedrohte und bockte panisch auf. Ihre Faust traf seine Körpermitte und entlockte dem Mann ein Heulen. Volltreffer! Mit neuem Mut grub sie ihre Hacken in den Boden und kämpfte gegen seine Umklammerung an. Ohne Vorwarnung ließ er sie fallen und ihr Kopf stieß gegen etwas Hartes.

Er schob sich über sie und drückte sie mühelos zu Boden. »Du Schlampe, ich sollte dich …«

Während Caitlin noch versuchte, mehr als Sterne zu sehen und wieder Luft in ihre gequälte Lunge zu bekommen, die von dem Kerl gerade zerdrückt wurde, stieß der Mann einen überraschten Laut aus und verschwand wie von Geisterhand. Mit einem Scheppern landete er einige Meter weiter an der Hauswand auf einigen Mülltonnen. Jemand kniete neben ihr und sagte etwas, doch sie konnte nur ein fernes Rauschen hören. Sie versuchte zu sprechen, doch sie brachte keinen Ton heraus. Ein Mann beugte sich über sie und sie erkannte schwarze Haare und Augen und ein kantiges Gesicht. Ihre Augen weiteten sich. Nein, das konnte nicht … Caitlin wollte sich aufrichten, aber die Hand auf ihrer Schulter hielt sie zurück.

»Ganz ruhig. Ich will erst feststellen, ob Sie verletzt sind, bevor Sie sich bewegen.« Die tiefe Stimme vibrierte in ihrem Körper und für einen Moment hatte sie das Gefühl, sie wären die einzigen beiden Menschen auf der Welt.

Caitlin zuckte zusammen, als sanfte Finger eine empfindliche Stelle an ihrem Hinterkopf berührten. Wahrscheinlich hatte sie eine Gehirnerschütterung, anders konnte sie sich die Vision über ihr nicht erklären. Aber das war eindeutig besser als über diesen Verbrecher nachzudenken, der sie angegriffen hatte. Ein Schauder fuhr durch ihren Körper, als sie sich daran erinnerte, wie er über ihr gehockt hatte, bereit …

»Sie sind in Sicherheit, ich werde nicht zulassen, dass Ihnen etwas geschieht.«

Caitlin merkte, dass sie die Hand ihres Retters umklammerte und löste widerstrebend ihre Finger. Noch immer konnte sie nichts sagen, deshalb hoffte sie, dass er ihre Dankbarkeit in ihren Augen erkennen konnte. Für einen Moment schien seine Miene etwas weicher zu werden, doch dann ruckte sein Kopf herum und er sprang auf. Er bewegte sich dabei so schnell und fließend, dass ihr Blick ihm kaum folgen konnte. Viel zu langsam wälzte Caitlin sich herum und sah gerade noch, wie der Angreifer sich mit dem Messer in der Hand auf ihren unbewaffneten Retter stürzte. Sie konnte nicht zulassen, dass er ihretwegen verletzt wurde! Mühsam kämpfte Caitlin sich auf Hände und Knie und versuchte, die Übelkeit zu ignorieren, die in ihrem Magen wühlte. Sie würde hier nicht wie ein Opfer im Dreck liegen und andere für sich kämpfen lassen. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, Hilfe zu holen. Schwankend stand sie schließlich da und starrte auf den mörderischen Kampf, der nur wenige Meter von ihr entfernt stattfand. Ihr Retter schien eindeutig Erfahrung in solchen Auseinandersetzungen zu haben, immer wieder wich er den wütenden Messerhieben des Angreifers aus, bevor er dann seinerseits zuschlug.

Unbewusst stieß sie einen erschrockenen Laut aus als die Messerklinge nur wenige Millimeter von der Brust ihres Retters entfernt durch die Luft sauste. Damit lenkte sie ihn ab und er sah für den Bruchteil einer Sekunde in ihre Richtung. Das nutzte der Verbrecher aus und setzte nach. Der schwarzhaarige Fremde wollte zurückspringen, stolperte über das Gerümpel in der engen Gasse und ging zu Boden. Oh nein! Caitlin machte einen Schritt auf die Männer zu, bereit, sich ebenfalls in den Kampf zu werfen, wenn es sein musste. Der Angreifer grinste sie höhnisch an, als wüsste er genau, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte, und kam auf sie zu. Anstatt sich umzudrehen und aus der Gasse zu laufen, stand sie wie festgefroren, teils aus Angst um sich, aber auch weil sie ihren Retter nicht hilflos zurücklassen wollte. Caitlin öffnete den Mund, um einen gellenden Schrei auszustoßen, als sich der Unbekannte aufrappelte und ebenso leichtfüßig wie zuvor auf den Verbrecher zustürzte.

Erleichtert erkannte Caitlin, dass er nicht verletzt schien und sich mit einer Holzlatte bewaffnet hatte. Lauernd umkreisten sich die beiden Männer jetzt wieder, jeder schien eine Lücke in der Verteidigung des anderen zu suchen. Vorsichtig trat Caitlin zurück, um ihnen nicht im Weg zu stehen. Dabei stieß sie gegen eine Flasche, die laut scheppernd über das Pflaster rollte. Caitlin erstarrte, als beide Männer sie für einen kurzen Moment ansahen, bevor sie den Kampf noch heftiger fortsetzten. Die Polizei, genau! Sie wühlte in ihren Jackentaschen und stöhnte auf, als ihr klar wurde, dass sie ihr Handy im Auto gelassen hatte. Also musste sie doch aus der Gasse heraus, um entweder einen Passanten um Hilfe zu bitten oder an ihr Handy zu kommen. Allerdings befanden sich die beiden Kämpfenden direkt zwischen ihr und dem Ausgang zur Straße. Okay, also die andere Seite, auch wenn sie nicht wusste, wann sie dort auf Menschen treffen würde. Zur Not musste sie eben einmal um den Block laufen. Die Augen fest auf ihren Retter gerichtet, wich sie weiter zurück. Es widerstrebte ihr, ihn alleine zu lassen, aber ihr fiel keine andere Möglichkeit ein, wie sie ihm helfen konnte.

Überrascht schrie Caitlin auf, als sich von hinten Arme um ihre Taille schlangen und sie von den Füßen holten. Sie war so auf das fixiert gewesen, was vor ihr geschah, dass sie überhaupt nicht daran gedacht hatte, dass auch jemand hinter ihr lauern könnte. Der erste Angreifer grinste triumphierend, während ihr Retter ihr nur einen kurzen Blick zuwarf und dann noch verbissener auf den Verbrecher einschlug.

Caitlin kämpfte verzweifelt darum, dem eisernen Griff zu entkommen, doch der Verbrecher schleppte sie unerbittlich auf das Ende der Gasse zu. Was wollten diese Kerle von ihr? Sie war nicht arm, aber sie ging auch nicht mit ihrem Geld hausieren, sondern lebte eher unauffällig in einer Gegend, in der solche Verbrechen sehr selten waren. Es war sicher einfacher, die Touristen auszunehmen, als zu versuchen, sie zu entführen. Schon die Vorstellung ließ sie erstarren. Nein, sie war noch nicht bereit, aufzugeben.

Da der zweite Verbrecher kein Messer zu haben schien, tat sie alles, um ihm den Weg durch die Gasse so schwer wie möglich zu machen. Sie wand sich, trat um sich und wünschte sich zum ersten Mal in ihrem Leben, hohe Absätze zu tragen. Aber auch ihre flachen Sohlen schienen ihn zu verletzen, wie sie an dem schmerzerfüllten Grunzen erkennen konnte. Gut so! Obwohl sie normalerweise extrem friedliebend war, fühlte sie jetzt eine Wut in sich aufsteigen, die ihr beinahe Angst machte. Sie wollte diesem Kerl weh tun und dafür sorgen, dass er nie wieder den Wunsch verspürte, einer Frau aufzulauern. Sie war so mit ihrem eigenen Kampf beschäftigt, dass sie erst gar nicht merkte, wie still es in der Gasse geworden war. Nur noch ihre eigenen lauten Atemzüge waren zu hören. Ihr Retter hatte den ersten Angreifer anscheinend besiegt, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Jetzt kam er mit einer katzengleichen Geschmeidigkeit auf sie zu, das Messer in der Hand. Sein Blick war fest auf ihren Entführer gerichtet, ein Muskel zuckte in seiner Wange.

Caitlin schauderte, als sie in seine lodernden Augen sah und war froh, dass seine Wut nicht ihr galt. Unerwartet grub sich eine Hand in ihre Haare, während sich ein muskulöser Unterarm über ihre Kehle legte. Keuchend versuchte sie, Luft zu bekommen, doch es gelang ihr nicht. Verzweifelt kratzte sie mit ihren kurzen Fingernägeln über den bloßen Arm, doch der Verbrecher schien das überhaupt nicht zu bemerken. Er war nur damit beschäftigt, sie so schnell wie möglich aus der Gasse zu bekommen, ohne von dem Fremden angegriffen zu werden. Caitlin war klar, dass ihr Retter nichts tun konnte, solange sie mit ihrem Körper den des Verbrechers verdeckte. Mit letzter Kraft stieß sie ihre Füße gegen die Knie des Mannes und ließ sich dann fallen. Damit hatte sie ihn überrascht und er lockerte den Griff. Caitlin kam hart auf dem Boden auf und versuchte, Luft durch ihre gequetschte Kehle zu bekommen. Ihr Retter nutzte die Gelegenheit und sprang mit einem Satz über sie hinweg. Anscheinend flüchtete der Verbrecher, nachdem er sie nicht mehr halten konnte. Caitlin gab ein raues Krächzen von sich. Die Schwärze breitete sich in ihr aus und sie verlor das Bewusstsein.

Das Erste, was sie wahrnahm, war ein vertrautes Gesicht dicht über ihrem, eine Hand, die ihr sanft die Haare aus der Stirn strich. Einen kurzen Moment lang genoss sie das Gefühl, dann wurde ihr bewusst, dass sie Mühe hatte, zu schlucken, und dass jeder Atemzug schmerzte. Furcht kam in ihr auf und sie begann, sich gegen die Berührung zu wehren. Die Hand verschwand und Tareks Gesicht entfernte sich von ihr. Nein, es konnte nicht Tarek sein, er existierte nur in ihrer Fantasie. Caitlin runzelte die Stirn und zuckte zusammen, als selbst diese kleine Bewegung Schmerzen auslöste.

»Ganz ruhig, ich tue Ihnen nichts.« Auch die tiefe Stimme kam ihr bekannt vor. »Die Männer sind weg, Sie sind in Sicherheit.«

Caitlins Herz begann zu hämmern, als sie sich wieder daran erinnerte, wo sie war und wie sie hierher gekommen war. »Sie …« Schmerzerfüllt brach sie ab.

»Sprechen Sie erst mal nicht, der Kerl hat sie gewürgt. Und sie haben auch eine kleine Schnittwunde am Hals. Am besten lassen Sie sich von einem Arzt untersuchen.« Ihr Retter erkannte offensichtlich ihren Wunsch, sich hinzusetzen und half ihr sanft auf. Sein Arm stützte ihren Rücken und sie lehnte ihren Kopf, der ihr seltsam schwer erschien, an seine Schulter. »Geht es?«

Caitlin brachte ein minimales Nicken zustande. Als sie etwas sagen wollte, schüttelte ein Husten ihren Körper.

»Kommen Sie hier für einen Moment allein zurecht? Dann kann ich mein Handy aus dem Auto holen und einen Arzt rufen.«

Reflexartig schloss sich Caitlins Hand um seinen Arm. Nein, sie wollte hier ganz und gar nicht alleine gelassen werden. Ganz davon abgesehen, dass er an einem Sonntagabend in West Yellowstone keinen Arzt finden würde und sie eigentlich nur nach Hause wollte. Der Schreck saß ihr noch in den Knochen und sie konnte sich nichts Besseres vorstellen, als ihn in einer heißen Badewanne zu vertreiben. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie nach Hause kommen sollte, wenn nicht mal ihre Beine funktionierten. »Kein … Arzt. Sonntag.«

»Es wird doch wohl eine Notfallklinik geben.«

Er war eindeutig nicht von hier. »Ja, etwa … 60 Meilen … entfernt.«

Sie zog ihre Beine heran und versuchte, sich hochzustemmen. Was schwierig war, da ihre Muskeln die Konsistenz von gekochten Nudeln zu haben schienen. Ihr Retter spürte das offenbar und zog sie vorsichtig hoch. Schließlich stand sie schwankend auf ihren Füßen und klammerte sich an seine Arme. Obwohl sie es hasste, so hilflos zu sein, konnte sie sich nicht dazu bringen, ihn loszulassen. Sie wünschte nur, sie würde sich besser fühlen, um es auch genießen zu können, so nah an seinen kräftigen Körper gepresst zu werden. Gut, dass er ihre Gedanken nicht hören konnte, sonst würde er schreiend davonrennen. Der Mann hatte sie gerettet, wofür sie ihm überaus dankbar war. Alles andere spielte sich lediglich in ihrer Fantasie ab. Shannon würde lachen, wenn sie wüsste, wie sehr Caitlin sich in den Helden ihres letzten Buches verliebt hatte. In eine fiktive Figur, die noch dazu ein Gestaltwandler war!

»Danke für Ihre … Hilfe.« Ihre Stimme klang mittlerweile wie das Quaken eines Frosches. Sie räusperte sich und löste damit einen weiteren Hustenanfall aus.

Der Fremde sah sie forschend an. »Kein Problem. Für die Schnittwunde.« Er reichte Caitlin ein Taschentuch, das sie sich an den Hals presste. Ihr Gesicht verzog sich, als sie das Blut sah. »Kannten Sie die Männer?«

Entsetzt schüttelte Caitlin den Kopf und stöhnte vor Schmerz auf. »Nein. Nie gesehen.«

»Können Sie sich vorstellen, was sie von Ihnen wollten?«

Caitlin schauderte. »Erst dachte ich, sie wollten … Geld, aber als er dann begann … mich wegzuzerren …« Sie hob die Schultern.

Der Mann schien zu einem Entschluss zu kommen. »Sie wollen sicher hier raus.«

»Ja, mehr als alles andere.« Dankbar ließ sie sich von ihm aus der Gasse führen und stellte überrascht fest, dass die Sonne noch nicht ganz untergegangen war. Während des Kampfes hatte sie jedes Zeitgefühl verloren, wahrscheinlich waren es nur wenige Minuten gewesen, die sie im Zwielicht der Gasse verbracht hatte. Erleichtert atmete sie die frische Luft ein und spürte, wie das Zittern einsetzte. Sie versuchte, es vor ihrem Retter zu verbergen, aber er schien es zu bemerken und führte sie rasch zu einem großen Jeep. Er öffnete die Beifahrertür und schob sie sanft auf den Sitz. Caitlin wollte sich gerade hineinsinken lassen, als ihr ein Gedanke kam. »Was ist, wenn die … Kerle noch irgendwo in der Nähe sind?«

Seine Lippen pressten sich zusammen, Wut flammte in seinen Augen auf. »Sie sind weg. Ein Lieferwagen stand direkt vor dem hinteren Ausgang der Gasse, ich habe ihn nicht mehr erreicht. Aber ich habe mir das Kennzeichen gemerkt, falls Sie es bei der Polizei überprüfen lassen wollen.«

Bildete sie sich das nur ein oder hatte er gezögert, bevor er die Polizei erwähnte? »Danke, ich werde es mir gleich notieren. Kann ich Sie als Zeugen nennen?«

Wieder das Zögern, diesmal deutlicher. Er rieb über seinen Nacken, bevor er wieder zu ihr hinunter sah. »Mir wäre es lieber, Sie würden einfach nur sagen, dass Ihnen ein unbekannter Mann geholfen hat, der gleich darauf verschwunden ist.«

Caitlin legte den Kopf schräg. Zu gern würde sie fragen, warum er nichts mit der Polizei zu tun haben wollte, aber sie entschied sich dagegen. »Natürlich. Es tut mir leid, dass ich Sie da mit hineingezogen habe.«

»Was wollten Sie überhaupt in der Gasse?«

Caitlin spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. »Uh.« Vorsichtig sah sie sich um, ob ihnen auch niemand zuhörte. Die Miene des Fremden war seltsam intensiv als er auf ihre Antwort wartete und sie kam sich noch lächerlicher vor. »Ich habe jemandem etwas zu Essen gebracht.«

Der Mann richtete sich auf, Überraschung auf seinem Gesicht. »Wem?«

Caitlin verschränkte ihre Finger miteinander und blickte darauf nieder. »Vor einigen Monaten habe ich in der Gasse eine Katze entdeckt. Sie sah so abgemagert aus, dass ich einfach nicht vorbeigehen konnte.«

Ein Laut drang aus seiner Kehle, den sie bei jedem anderen für Lachen gehalten hätte. »Eine Katze.«

»Ja. Hätte ich sie verhungern lassen sollen?« Toll, jetzt klang sie auch noch verteidigend. »Ich weiß, dass es nicht richtig ist, die Katze hier in der Nähe des Supermarkts zu füttern. Aber ich konnte einfach nicht mit ansehen, wie sie leidet.«

»Warum haben Sie sie nicht eingefangen und mit nach Hause genommen?«

Caitlin schnitt eine Grimasse. »Als wenn eine Katze einfach so mitkommt. Außerdem hätte ich sie sowieso nicht behalten können, ich habe eine Katzenallergie.«

Ihr Retter sah aus, als würde er an etwas ersticken, brachte sich aber schnell wieder unter Kontrolle. »Ich hoffe, Sie denken nicht daran, noch einmal in diese Gasse zu gehen, wenn Sie das nächste Mal einkaufen.«

»Nein, bestimmt nicht.«

»Gut.« Damit richtete er sich auf. »Kann ich jemanden für Sie anrufen, der Sie nach Hause bringt? Ihren Mann oder Freund, eine Freundin, Familie?«

»Es … es gibt niemanden.« Verdammt, warum kamen ihr bei diesen Worten die Tränen? Es war ihre Entscheidung gewesen, hierher zu ziehen, und sie mochte die Einsamkeit.

»Okay, dann bringe ich Sie nach Hause.« Er formulierte es nicht als Frage. Bevor sie antworten konnte, hatte er schon ihre Beine in den Jeep geschoben.

»Aber …«

»Nichts aber, Sie können in diesem Zustand nicht selbst fahren.«

»Meine Einkäufe! Wenn ich sie im Wagen lasse, verderben sie und ich muss verhungern, weil ich nichts mehr im Haus habe.«

Er blickte sie durchdringend an und nickte dann. »Welches ist Ihr Wagen?«

Caitlin sah sich um. »Der kleine rote Toyota drei Reihen weiter.« Sie nahm den Schlüssel aus ihrer Jackentasche und hielt ihn ihrem Retter hin. »Danke.« Vermutlich sollte sie darüber nachdenken, wie sie später ihren Wagen zurückbekam, wenn sie sich jetzt fahren ließ, aber dazu war sie nicht in der Lage. Zu tief saß der Schock über den Überfall.

Der Fremde nahm den Schlüssel entgegen und ging mit langen Schritten auf ihr Auto zu. Einen kurzen Moment lang befürchtete sie, einen Fehler begangen zu haben, doch dann brachte sie sich zur Räson. Ein Mann wie er würde nicht ihr winziges Auto klauen, in das er im Prinzip nur zusammengefaltet passte. Wahrscheinlich sollte sie ihm eine Belohnung für seine Hilfe anbieten, aber sie befürchtete, ihn damit zu beleidigen. Tarek würde … Caitlin verdrehte die Augen, als sie merkte, dass sie den Charakter ihres Protagonisten auf ihren Retter übertragen wollte. Auch wenn er ihm mit den indianischen Zügen und den langen schwarzen Haaren, die er zu einem Zopf zusammengefasst hatte, zum Verwechseln ähnlich sah, war er nicht Tarek. Mit beiden Armen voller Tüten und ihrer Tasche kam er schließlich zurück und stellte die Sachen in den Kofferraum. Dann schlug er die Tür zu, ging um den Wagen herum und schwang sich in den Fahrersitz.

»Haben Sie eine Party geplant?«

Caitlin wurde schon wieder rot, aber sie zwang sich, dem Fremden direkt in die Augen zu blicken. »Nein, ich kaufe immer für längere Zeiträume ein, damit ich nicht so oft in die Stadt fahren muss.« Und vor allem aß sie für ihr Leben gern.

»Leben Sie außerhalb?« In seinen Augen war keine Verurteilung zu erkennen, als er sie ansah.

Anscheinend hatte er kein Problem damit, dass sie nicht den gängigen Modelmaßen entsprach. Caitlin schlug sich mental vor die Stirn, als sie sich daran erinnerte, dass er sie nur nach Hause fahren würde und ganz sicher kein Interesse an ihr als Person hatte. Er war einfach nur nett. Und war das nicht eine Schande? In spätestens einer Stunde würde der Mann, der ihr in der Not zur Rettung geeilt war und sich jetzt auch noch so höflich um sie kümmerte, wieder aus ihrem Leben verschwunden sein. Aber immerhin hatte sie danach wieder neuen Stoff für ihre Romane. Zum ersten Mal seit sie mit dem Schreiben begonnen hatte, machte sie dieser Gedanke nicht glücklich.

»Ja, am Hebgen Lake, etwa fünfundzwanzig Meilen von hier.« Besorgt sah sie ihn an. »Ich könnte es verstehen, wenn Ihnen das zu weit ist.«

»Kein Problem, ich habe nichts Besseres zu tun.«

Das klang nicht ganz so gut wie: ›Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen‹, aber Caitlin war froh, nicht wieder aussteigen zu müssen. Inzwischen fühlte sich jeder Muskel in ihrem Körper wie zerschlagen an und sie schaffte es kaum, den Kopf oben zu halten.

»Wenn Sie mir kurz die Richtung sagen, können Sie sich während der Fahrt ausruhen.«

»Die Gallatin Road nach Norden und dann an der Abzweigung nach links auf die Hebgen Lake Road. Dieser folgen Sie dann bis fast zum Ende des Sees.« Caitlin hatte Mühe, die Augen offen zu halten.

»Das werde ich wohl finden.« Der Motor des Jeeps startete mit einem tiefen Brummen und ihr Retter fuhr aus der Parkbucht heraus. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie auf der Straße unterwegs, die aus West Yellowstone heraus führte.

Die warme Luft und das sanfte Schaukeln führten zusammen mit dem tiefen Dröhnen dazu, dass Caitlins Lider den Kampf gegen die Schwerkraft verloren und sie sich mit einem zufriedenen Seufzer in das weiche Polster schmiegte.

3

Eine sanfte Berührung an ihren Haaren weckte sie auf. »Wir sind da, und Sie müssen mir noch sagen, welche Einfahrt es ist.« Die Stimme hörte sich so vertraut an, dass sie sich ihr instinktiv zuwandte und ihre Wange in die Hand schmiegte, die an ihren Haaren lag. Sie fühlte sich rau an und gleichzeitig so stark und lebendig, dass Caitlin am Liebsten hineingekrochen wäre.

»Komm, Kätzchen, wach auf, ich kann nicht auf der Straße stehenbleiben.« Etwas wie Belustigung schwang in der Stimme mit und weckte sie vollends auf.

Abrupt richtete sie sich auf und sah sich verwirrt um. Erleichtert atmete sie auf, als sie erkannte, dass sie nur wenige hundert Meter von ihrem Haus entfernt am Ufer des Hebgen Lakes standen. Sie wandte sich dem Mann neben ihr zu und spürte wieder das ungläubige Pochen in ihr, als sie in sein Gesicht blickte und glaubte, Tarek vor sich zu haben. »Woher kennen Sie meinen Namen?«

Er runzelte die Stirn. »Sie heißen Kätzchen?«

Caitlin verzog den Mund. »Nein, Caitlin, aber meine Freunde nennen mich Cat.«

»Cat.« Er schien den Namen auszutesten und nickte dann. »Er passt zu Ihnen.« Ohne weiter auf ihre Frage einzugehen, setzte er den Wagen wieder in Bewegung. »Und wo wohnen Sie nun?«

»Noch ein Stück weiter, am Hang.«

Schweigend nickte der Fremde und fuhr an den Grundstücken ihrer Nachbarn vorbei.

»Wie heißen Sie?«

Er sah sie an. »Torik.«

Caitlin verschluckte sich und begann zu husten. Sie konnte seinen verwunderten Blick auf sich spüren. Mühsam schnappte sie nach Luft. »Nächste Auffahrt.«

Während sie versuchte, sich wieder zu beruhigen, beobachtete sie, wie er ihre Einfahrt hinauffuhr und vor der Garage hielt. Er schaltete den Motor aus und drehte sich zu ihr um. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Ein schrecklicher Gedanke kam ihr: konnte es sein, dass ihre Freunde ihr einen Streich spielten? War ihr Retter nur ein Schauspieler, der nach seiner Ähnlichkeit zu Tarek ausgesucht worden war?

»Das ist ein Scherz, oder?« Die Worte purzelten aus ihr heraus, bevor sie sie zurückhalten konnte.

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Was soll ein Scherz sein?«

»Der Name. Von wem wurden Sie engagiert?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

Er griff hinter sich und Caitlin zuckte automatisch zusammen. Seine Miene verdüsterte sich noch mehr. Nach einem langen Moment kam seine Hand wieder zum Vorschein – mit einem Portemonnaie. Er zog einen Ausweis hervor und hielt ihn ihr hin. Torik Colston, geboren 1971. Caitlin konnte nicht beurteilen, ob der Ausweis eine Fälschung war, aber für einen Scherz schien es ihr nun doch sehr weit hergeholt. Vor allem hatte sich der Angriff der Verbrecher echt angefühlt.

Röte stieg in ihre Wangen. »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht beleidigen. Es ist nur …« Hart blies sie ihren Atem aus. »Für einen Moment dachte ich, dass sich Freunde einen Scherz mit mir erlauben. Der Schock muss meinem Gehirn geschadet haben.«

Torik sah sie noch einmal eindringlich an, dann neigte er den Kopf. »Schließen Sie die Tür auf, ich bringe Ihnen noch die Tüten rein.«

Vermutlich hätte sie keinen fremden Mann in ihr Haus lassen sollen, aber Torik hatte bisher mit keiner Geste angedeutet, dass er ihr etwas tun wollte, ganz im Gegenteil. Entschlossen stieß Caitlin die Beifahrertür auf und kletterte hinaus. Ihre Muskeln protestierten gegen die Bewegung, aber sie biss die Zähne zusammen. Es wäre ihr peinlich gewesen, sich weiterhin auf ihren Retter zu stützen, als wäre sie ein schwaches Weibchen, das nicht allein zurecht kam. Er hatte genug für sie getan und sie stand schon jetzt tiefer in seiner Schuld als sie je zurückzahlen konnte.

Schnell ging sie zum Haus und schloss die Tür auf. Es kam ihr vor, als wäre es Tage her, seit sie hier gewesen war, dabei waren höchstens anderthalb Stunden vergangen. Caitlin trat in die Küche und schnitt eine Grimasse, als sie das Durcheinander sah, das sie hinterlassen hatte. Hausarbeit stand bei ihr grundsätzlich sehr weit unten auf der Prioritätenliste, aber wenn sie wusste, dass sie Besuch bekam, räumte sie normalerweise vorher auf. Woher hätte sie jedoch wissen sollen, dass heute ein interessanter Mann ihr Haus betreten würde? So etwas war bisher noch nie vorgekommen. Sie zuckte mit den Schultern und stöhnte unterdrückt auf, als der Schmerz einsetzte. Es sollte sie nicht interessieren, was Torik von ihren hausfraulichen Fähigkeiten hielt. In fünf Minuten würde er weiterfahren, und sie würde ihn nie wieder sehen.

Entschlossen drängte sie das Bedauern zurück und machte schnell einen Platz auf dem Tisch frei, damit Torik die Tüten abstellen konnte. Lautlos trat er in die Küche und lud die Lebensmittel ab, als würden sie nichts wiegen. Er trat zurück und blickte sie über den Tisch hinweg an.

Caitlin suchte nach etwas, das sie sagen konnte. »Vielen Dank. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.« Unsicher sah sie ihn an. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Ein Glas Wasser wäre nett.«

Wasser. Kein Wunder, dass Toriks Körper nur aus Muskeln zu bestehen schien, zumindest wenn sie von seinen nackten Armen ausging. »Also ich persönlich könnte jetzt mindestens eine Cola gebrauchen, um den Schock zu verdauen.« Sie beäugte ihn kritisch. »Sicher, dass Sie nur Wasser wollen?«

Etwas glomm in seinen Augen auf, das er sofort wieder unterdrückte. »Dann nehme ich das, was Sie nehmen.«

Ha, sie schaffte es, jeden zu korrumpieren. Lächelnd holte sie zwei Gläser aus dem Schrank und schenkte die Cola ein. Sie reichte ihm ein Glas und beobachtete ihn, als er es an die Lippen setzte. Er nahm einen Schluck und schloss die Augen. In ihrem Magen kribbelte es, als sie seinen beinahe entrückten Gesichtsausdruck sah. Um nicht beim Starren erwischt zu werden, ließ sie ihren Blick nach unten wandern und keuchte auf, als sie den langen Riss in seinem schwarzen T-Shirt sah. Caitlin stellte ihr Glas ab und ging zu ihm. Ja, da waren eindeutig dunkle Flecken im Stoff.

»Sie sind verletzt.« Torik sah an sich hinunter, als würde er es jetzt erst bemerken. Schließlich hob er die Schultern. »Nur ein Kratzer.«

»Woher wollen Sie das wissen? Oh Gott, vielleicht hat der Kerl Sie erstochen!«

Seine Mundwinkel hoben sich. »Dann wäre ich jetzt nicht hier.«

»Das ist nicht lustig! Ziehen Sie das T-Shirt aus, ich will sofort die Wunde sehen. Irgendwo habe ich auch einen Verbandskasten.«

»Das ist nicht nötig.«

Caitlin trat näher heran. »Sie wurden meinetwegen verletzt und jetzt haben Sie auch noch meine Tüten reingetragen. Das Mindeste, was ich tun kann, ist Ihre Wunde zu verbinden.«

Es war deutlich zu erkennen, dass Torik ihrer Logik nicht folgen konnte, aber schließlich zuckte er nur die Schultern und zog das T-Shirt über den Kopf. Er sah nach unten. »Wie gesagt, nur ein Kratzer.«

Es war ein langer, hässlicher Schnitt, der quer über seinen Bauch lief. »Also bei mir ist ein Kratzer etwas anderes. Setzen Sie sich hin, ich hole mein Verbandszeug.«

»Das ist wirklich nicht …«

Caitlin riss die Augen auf, als sie eine Narbe an seiner Seite entdeckte, die über seine Rippen nach unten bis zum Bund der tief sitzenden Jeans führte. Anklagend zeigte sie darauf. »War das etwa auch nur ein Kratzer?«

Unerklärlicherweise schien ihn das zu amüsieren. »Genau.«

Doch darauf achtete Caitlin nicht, sie war viel zu sehr damit beschäftigt, der schmalen Linie mit dem Finger nach unten zu folgen. Seine Muskeln zogen sich unter ihrer Berührung zusammen und sie spürte Wärme in sich aufsteigen. Caitlin hakte ihren Zeigefinger in den Bund seiner Jeans und zog daran, doch bevor sie etwas sehen konnte, schlang sich eine Hand um ihre.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Toriks trockene Stimme ertönte über ihr.

Caitlin ließ ihn abrupt los, Hitze schoss in ihre Wangen. Oh Gott, was hatte sie getan? Sie schloss die Augen und wünschte, der Boden würde sich unter ihr auftun und sie verschlucken. Vermutlich sollte sie sich entschuldigen, aber sie brachte kein einziges Wort hervor.

»Wollten Sie sich nicht um den Kratzer kümmern, bevor ich verblute?«

Dankbar, vor ihm flüchten zu können, nickte Caitlin eifrig und lief ins Badezimmer, um das Verbandszeug zu holen.

Torik sah Caitlin hinterher, bis sie die Küche verlassen hatte. Die Berührung ihrer Fingerspitze hatte ihn so überrascht, dass er zuerst nicht in der Lage gewesen war, sie aufzuhalten. Und das Verlangen, das für einen kurzen Moment in ihren Augen aufgeflammt war, bevor die Verlegenheit überhand nahm, war verdammt erotisch gewesen. Zerknirscht musste er sich eingestehen, dass er für eine Sekunde sogar gehofft hatte, sie würde die Hose aufmachen und ihre kühlen Hände um seinen Schaft legen. Das war Wahnsinn! Wie hatte er auch nur für einen Moment vergessen können, dass Caitlin Walker Bücher über Berglöwenwandler schrieb und damit ihre geheime Existenz gefährdete? Manchmal hatte er fast den Eindruck, dass sie ihn erkannte oder zumindest seine Ähnlichkeit zu ihrem Helden Tarek bemerkte.