Die Spur der Katze - Michelle Raven - E-Book

Die Spur der Katze E-Book

Michelle Raven

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Beschreibung

Die Journalistin Marisa Pérèz lebt zurückgezogen in den Bergen Kaliforniens. Eines Nachts findet sie einen verletzten nackten Mann auf ihrer Veranda. Sie nimmt sich seiner an und versorgt seine Wunden. Am nächsten Morgen steht die Polizei vor der Tür - in der Nachbarschaft wurde ein Mord verübt! Marisa ahnt nicht, dass der faszinierende Fremde ein Geheimnis hütet, das ihre Welt erschüttern wird ...

Achtung, neue Ausgabe der beliebten Ghostwalker-Serie. Tauchen Sie ein in die Welt der Ghostwalker!

Ghostwalker-Reihe:
1. Die Spur der Katze
2. Pfad der Träume
3. Auf lautlosen Schwingen
4. Fluch der Wahrheit
5. Ruf der Erinnerung
6. Tag der Rache

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Das Buch

Die ehemalige Reporterin Marisa Pérèz lebt zurückgezogen in den Bergen Kaliforniens, nachdem ein Skandal ihren guten Ruf als Journalistin zerstört hat. Eines Nachts wird Marisa aus dem Schlaf gerissen und findet einen schwer verletzten nackten Mann auf der Veranda ihrer einsamen Hütte vor. Sie nimmt ihn in ihr Haus auf und versorgt seine Wunden. Am Tag darauf klopft ein Polizist an ihre Tür – in der Nachbarschaft wurde ein Mord verübt! Instinktiv deckt Marisa ihren geheimnisvollen Gast und begibt sich damit unwissentlich in tödliche Gefahr. Gemeinsam mit dem Fremden, der sich Coyle nennt, muss sie kurz darauf fliehen. Marisa fühlt sich unwiderstehlich zu dem faszinierenden Mann hingezogen, aber sie spürt, dass dieser etwas Ungeheuerliches vor ihr verbirgt. Zu scharf sind seine Sinne, zu lautlos und geschmeidig seine Bewegungen. Wie ein Schatten vermag er zu verschwinden und aufzutauchen, und manchmal verändern sich seine geheimnisvollen Augen. Marisa ist entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, und entdeckt eine Welt, die fremder ist als alles, was sie sich je vorgestellt hätte ...

Die Autorin

Schon als Kind war Michelle Raven ein Bücherwurm, deshalb schien der Beruf als Bibliotheksleiterin genau das Richtige für sie zu sein. Als sie alle Bücher gelesen hatte, begann sie, selbst für Nachschub zu sorgen. Und wurde zu einer der erfolgreichsten deutschen Autorinnen im Bereich Romantic Fantasy und Romantic Thrill. Bislang hat sie 49 Romane veröffentlicht, von denen einer auf der SPIEGEL-Bestsellerliste landete. 2008 erhielt sie die "DeLiA" für den besten deutschsprachigen Liebesroman. Wenn sie nicht vor dem Laptop sitzt, erkundet sie gern den Westen der USA und holt sich dort Inspiration für ihre Romane.

Weitere Informationen

https://www.michelleraven.de

Michelle Raven

Ghostwalker

Die Spur der Katze

 

Roman

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne Zustimmung der Autorin kopiert, nachgedruckt oder anderweitig verwendet werden.

Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Namen, Figuren, Unternehmen, Organisationen, Orte, Begebenheiten und Ereignisse werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, realen Handlungen und Schauplätzen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright © 2020 Michaela Rabe

Originalausgabe Copyright ©2009 EGMONT Verlagsgesellschaften mbH

Covergestaltung: Wolkenart – Marie-Katharina Wölk, www.wolkenart.com

Bildmaterial: ©Shutterstock.com

Textredaktion der Originalausgabe: Katharina Kramp

ISBN 9783754671610

Michelle Raven c/o autorenglück.de Franz-Mehring-Str. 15 01237 Dresden

Email: [email protected]

Weitere Informationen: www.michelleraven.de

Veröffenlicht über tolino media

Stand: Juli 2022

Inhaltsverzeichnis

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Epilog

So geht es mit den Ghostwalkern weiter …

Die Romane von Michelle Raven

1

Außerhalb von Mariposa, Kalifornien

Marisa sah von ihrem Buch auf, als Angus sich von seinem Platz zu ihren Füßen erhob und zur Tür lief. Die Nase witternd in die Luft gestreckt lehnte er sich an das Holz und grollte tief in der Kehle. Normalerweise ließ sich der alte Bloodhound durch nichts im Schlaf stören und reagierte äußerst empfindlich, wenn er sich bewegen sollte. Was konnte interessant genug sein, dass er so radikal mit seinen liebgewonnenen Gewohnheiten brach? Das Grollen wurde lauter, stumpfe Krallen kratzten an der Tür.

„Angus, lass das!“

Das Holz war ihr egal, aber erst neulich hatte sie mit ihm wegen einer ausgerissenen Kralle zum Tierarzt fahren müssen. Es gab vermutlich nichts Schlimmeres als einen leidenden Bloodhound – außer vielleicht die Arztrechnung.

Angus blickte sie mit seinen triefenden Augen an, bevor er sich umdrehte und seine Tätigkeit wieder aufnahm. Diesmal begleitet von einem ohrenbetäubenden Bellen, das zwischen Winseln und Jaulen wechselte. Marisa legte das Buch beiseite und presste sich beide Hände auf die Ohren.

„Angus, bist du wohl ruhig!“

Er drehte den Kopf zu ihr, ließ sich aber in seinem Konzert nicht stören. Im Gegenteil: kratzen, bellen, schnüffeln, winseln, jaulen wechselten sich in schneller Reihenfolge ab. Was um Himmels Willen hatte dieser Köter?

Mit einem tiefen Seufzer erhob sich Marisa und baute sich vor Angus auf. Die Augen auf sie gerichtet stieß er ein markerschütterndes Heulen aus. Sie zuckte erschrocken zusammen. Das hatte der Hund noch nie getan, seit sie ihn vor beinahe drei Monaten von ihrem Großonkel geerbt hatte. Wieder einmal fragte sie sich, wieso Juan Pérèz den Bloodhound gerade ihr anvertraut hatte. Sie hatte nie ein Tier besessen, nicht einmal ein Kaninchen, und dafür gab es gute Gründe. Aber eines Tages war ein Brief angekommen, in dem stand, dass Juan verstorben wäre und sie auserkoren hatte, sich um Angus zu kümmern. Es wäre gelogen, zu sagen, sie hätte Luftsprünge vollführt, aber sie hatte es nicht über sich gebracht, den Hund im Tierheim zu lassen, wo er nach kurzer Zeit eingeschläfert worden wäre.

Deshalb stand sie nun hier und fragte sich, in welcher Hautfalte der Ausschalter versteckt war. Sie beugte sich zu ihm hinunter und legte ihre Hand auf seinen massigen Kopf. „Ist ja gut, mein Junge, ganz ruhig.“ Genauso gut konnte sie mit einem der ausgestopften Tiere in Jack’s Superstore reden, so wenig reagierte Angus auf sie. „Komm mit, du bekommst auch ein Leckerli, wenn du brav bist.“ Normalerweise rannte der Hund sie fast über den Haufen, wenn sie Futter erwähnte, doch diesmal starrte er nur die Tür an, das Fell in seinem Nacken gesträubt.

Also gut, dann eben mit Gewalt. Marisa griff nach seinem Halsband und versuchte, ihn von der Tür wegzuziehen. Angus bewegte seine über fünfzig Kilogramm keinen Millimeter. Beinahe hatte sie den Eindruck, er würde die Augenbraue hochziehen und sich fragen, was sie da eigentlich versuchte. Marisa verdrehte die Augen. Jetzt fing sie schon an, einem Tier menschliche Eigenschaften anzudichten, es wurde eindeutig Zeit, den Spuk zu beenden und ins Bett zu gehen.

„Angus, wenn du jetzt nicht …“ Ein lautes Poltern auf der Veranda ließ sie verstummen. Ihr Blick wanderte zur Tür, als könnte sie durch das massive Holz erkennen, was das Geräusch verursacht hatte. Angus stand neben ihr, sein gesamter Körper angespannt, die langen Ohren zur Seite gedreht, die Nase witternd erhoben. Irgendetwas schien auf der Veranda zu sein.

Furcht rieselte durch ihren Körper, während sie angestrengt lauschte. Es war totenstill. Anstatt mit dem Hund zu schimpfen, hätte sie sich vielleicht fragen sollen, weshalb er einen solchen Lärm veranstaltete. Erschrocken zuckte Marisa zusammen, als Angus erneut laut bellte. Eine Hand auf ihr hämmerndes Herz gepresst, versuchte sie, ihn zu beruhigen, damit sie etwas hören konnte. Sollte jemand versuchen, einzubrechen, wurde er sicher von dem Radau abgeschreckt. Aber warum hörte der Hund dann nicht irgendwann auf zu bellen? Im Gegenteil, die Muskeln in seinem kräftigen Körper spannten sich an, als wartete er nur darauf, sich auf seine Beute stürzen zu können.

Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie einsam sie wohnte, auch wenn es nur wenige Meilen bis Mariposa waren. Die wenigen Nachbarn lebten weit verstreut und würden es nicht merken, wenn ihr etwas zustieße. Marisa richtete sich energisch auf. Sie hatte es so gewollt und brauchte die Einsamkeit und Ruhe, die sie hier fand. Es war ihr nur wichtig gewesen, so weit von allem, was in New York geschehen war, fort zu kommen, wie es nur irgend ging. Und das hatte sie erreicht, sie lebte jetzt tatsächlich in Kalifornien am Ende der Welt. Vielleicht kam es ihr auch nur so vor, weil sie ein anderes Leben gewohnt war. Die Hektik in der Redaktion, die Aufregung, immer neuen Informationen nachzuspüren – und natürlich Ben. Mühsam schüttelte sie diesen Gedanken ab. Sie wollte und konnte nicht über diesen elenden, verlogenen …

Ein erneutes Heulen von Angus brachte sie in die Gegenwart zurück. Sie musste unbedingt etwas unternehmen, doch was? Wenn sie die Polizei vergebens holte, würden ihre Nachbarn sie für eine hysterische Großstädterin halten. Außerdem hatte sie nach ihrer unliebsamen Erfahrung mit Ben ihre eigene Meinung über Gesetzeshüter. Und sie konnte durchaus auf sich alleine aufpassen, schließlich hatte sie ihr ganzes Leben in New York gewohnt.

Sie trat zum Fenster, schob vorsichtig den Vorhang zur Seite und blickte auf die Veranda. Im fahlen Lichtschein war niemand zu sehen. Marisa wollte sich gerade abwenden, als sie eine Bewegung in der dunkelsten Ecke der Veranda wahrnahm. Von der Größe ausgehend konnte es nur ein Tier sein, das sich dort verkroch. Oder ein Kind. Der Gedanke setzte sie wirkungsvoll in Bewegung. Ihre Hand zitterte, als sie in der Kommodenschublade nach der Schreckschusspistole suchte, die sie für solche Fälle dort aufbewahrte. Sie trat zur Tür und schob ihre Hand unter Angus’ Halsband. Sollte dort draußen jemand herumlungern, würde sie ihn loslassen, aber sie wollte nicht, dass er in einen Kampf mit einem Tier geriet oder, noch schlimmer, ein Kind anfiel.

Sie atmete noch einmal tief durch und öffnete rasch die Tür. Es gelang ihr kaum, den Bloodhound zu bändigen, der sofort zu der Ecke stürzen wollte, in der sie vorher die Bewegung gesehen hatte. Marisa stemmte die Füße auf den Boden, trotzdem rutschte sie mit den Hausschuhen über die glatten Holzdielen und hatte Mühe, die Schreckschusspistole nicht zu verlieren. Etwas Helles stach auf dem dunkelbraunen Holz hervor, vermutlich das, was sie vom Fenster aus gesehen hatte. Die Nase auf dem Boden zog Angus sie hinter sich her. Nach einigen Schritten blieb er abrupt stehen und knurrte. Das Geräusch drang ihr durch Mark und Bein, mühsam drängte sie das Unbehagen zurück.

Erneut schnüffelte Angus auf dem Boden, dann drehte er seinen Kopf zu ihr und sah sie augenscheinlich verwirrt an, so als habe er die Spur, die ihn gerade noch so aufgeregt hatte, mit einem Mal verloren. Marisa nutzte die Gelegenheit und schob sich vor ihn. Vorsichtig näherte sie sich der Ecke und entdeckte auf dem Boden dunkle Flecken. Bemüht, nicht hineinzutreten, solange sie nicht wusste, was zum Teufel hier eigentlich vorging, stieg sie darüber. Da sich das, was dort kauerte, nicht bewegte und auch keine Anstalten machte, sie anzugreifen, ging Marisa in die Hocke, um es besser sehen zu können, hielt sich aber weit genug entfernt, um im Notfall aufspringen zu können.

Entsetzt keuchte sie auf. Es war ein Mensch, der dort zusammengekrümmt lag, der Lichtschein aus dem Fenster traf auf die nackte Haut eines Arms. Marisa vergaß die Vorsicht und kniete sich neben ihn. Sie streckte die Hand aus, zögerte dann aber. Was, wenn er tot war? Ein Zittern lief durch ihren Körper, als sie sich daran erinnerte, wie sich ein Toter anfühlte. Niemals würde sie das vergessen. Die Haut noch warm, aber bereits von der Blässe des Todes gezeichnet, die Glieder verrenkt …

Hier in der Gegend gibt es keine Morde und schon gar nicht auf deiner Veranda, also reiß dich zusammen, Pérèz, ermahnte sie sich. Leichter gesagt, als getan.

Am liebsten wäre sie ins Haus geflüchtet, doch sie konnte diesen armen Menschen nicht einfach hier liegen lassen. Erneut erschauderte sie, diesmal vor Kälte. Zögernd legte Marisa ihre Hand auf den Arm und atmete erleichtert auf, als sie eine leichte Bewegung spürte. Sie setzte sich auf die Hacken zurück. Was sollte sie jetzt tun? Ihn mit Decken wärmen und einen Arzt rufen? Oder die Polizei? Marisa verzog den Mund. Nein, ganz sicher keine Polizei, wenn sie es vermeiden konnte. Also musste sie irgendwie versuchen, ihn zu wecken, damit er nach Hause gehen konnte.

Marisa berührte seine Schulter und rüttelte ihn sanft. „Hallo? Wachen Sie auf!“ Ein tiefes Stöhnen ertönte, Muskeln zuckten unter ihrer Hand. Eindeutig ein Mann, auch wenn sie bisher nur den Arm sah und der Rest von ihm im Dunklen verborgen lag. Etwas stieß sie von hinten an. Einem Herzinfarkt nahe, ruckte sie herum. Angus! Sie schob seine Schnauze beiseite. „Geh zurück ins Haus, ich komme gleich.“

Wie immer dachte der Bloodhound erst einmal über den Befehl nach, bevor er sich zurückzog und neben der Tür auf den Boden legte. Ausnahmsweise war ihr sein Ungehorsam recht, sie fühlte sich beschützter, wenn er in der Nähe war. Widerstrebend wandte sie sich wieder dem Mann und damit dem drängenderen Problem zu. Die Lippen zusammengepresst ließ sie ihre Hand über seine Schulter dorthin gleiten, wo der Kopf sein musste. Bartstoppeln kratzten über ihre Fingerspitzen, geleiteten sie zu seinem Gesicht.

Diesmal war sie etwas weniger sanft, als sie seine Wange tätschelte. „Wachen Sie auf!“

Der Mann drehte sich so schnell um, dass sie nicht mehr reagieren konnte, das Gleichgewicht verlor und auf ihrem Hinterteil landete. Ungläubig starrte sie ihn an, wie er im Lichtschein vor ihr lag. Er war völlig und komplett nackt. Und als wäre das nicht schlimm genug, bedeckten blutende Wunden seinen Körper. Marisa betrachtete ihre Hand, mit der sie ihn berührt hatte und erkannte unbehaglich, dass sie blutig war. Rasch wischte sie sie an ihrer Hose ab, was die Sache aber auch nicht besser machte. Was sollte sie tun? Der Mann brauchte Hilfe, soviel war klar. Mühsam rappelte sie sich auf und legte ihm erneut die Hand auf die Wange.

„Können Sie mich hören?“

Ein Stöhnen, die Augenlider zitterten.

„Genau, sehen Sie mich an. Sie sind in Sicherheit.“ Jedenfalls hoffte sie das. Wer immer ihm das angetan hatte, konnte durchaus noch in der Nähe sein. „Sie müssen mir ein wenig helfen, alleine bekomme ich Sie nicht ins Haus.“ Sie strich über seine Wange, als er nicht reagierte. „Nicht wieder einschlafen, bleiben Sie bei mir.“

Langsam öffneten sich seine Augen, und er sah sie direkt an.

Marisas Herz setzte für einen Moment aus. Es kam ihr vor, als würde sie in die Seele eines Tieres blicken, wild, ungebändigt und zum Töten bereit. Marisa unterdrückte ein Zittern und ärgerte sich über ihre lächerliche Reaktion. Es lag sicher nur am ungewöhnlichen Aussehen seiner Augen, die von dichten schwarzen Wimpern umrandet waren und ein wenig schräg standen, die äußeren Augenwinkel höher als die inneren. In der Dunkelheit konnte sie die Farbe nicht richtig erkennen, doch sie schienen hell zu sein, die Pupillen nur kleine Punkte umgeben von der riesigen Iris, die das Weiße fast verdrängte. Beängstigend. Faszinierend. Aber das war bestimmt nur eine durch das schwache Licht auf der Veranda bedingte Täuschung. Im Haus würde sie sehen, dass seine Augen ganz normal waren. Im Moment hatte sie ohnehin andere Sorgen: irgendwie musste sie ihn ins Haus bringen, möglichst ohne dass sie beide dabei auf die Nase fielen. Denn wenn sie noch länger zögerte, war er entweder erfroren oder verblutet.

„Können Sie aufstehen?“

Schweigend sah er sie so lange mit diesen seltsamen Augen an, bis sie glaubte, dass er vielleicht gar nicht sprechen konnte. „Ja.“ Seine Antwort klang wie ein tiefes Grollen, das eher aus seiner Kehle als aus seinem Mund zu kommen schien.

Marisa bemühte sich, ihren Mund wieder zu schließen und einen klaren Gedanken zu fassen. „Ähm … gut, sehr gut.“ Ihr Blick glitt an seinem Körper hinab. Er war schlank, aber an den richtigen Stellen muskulös und sicher um einiges größer als sie. Hoffentlich konnte er wirklich gehen, sonst würde sie ihn nie ins Haus bekommen. „Ich werde meinen Arm um Sie legen, und Sie stützen sich auf meine Schultern, okay? So sollten wir Sie hochbekommen.“

Ein knappes Nicken war seine einzige Antwort.

Er schien nicht sonderlich gesprächig zu sein, aber das war Marisa nur recht, so konnte sie sich ganz darauf konzentrieren, ihn so schnell wie möglich wieder fit zu kriegen, damit er weiterziehen konnte. Marisa schob ihren Arm um seinen Rücken und half ihm, sich aufzusetzen. Sein schweres Atmen zeigte, dass ihm die Bewegung wehtat. Seine Rippen hoben sich unter ihrer Hand, die Muskeln in seinem Brustkorb spannten sich an, als er seinen Arm um ihre Schultern legte. Schwer stützte er sich auf sie, während er langsam auf die Füße kam.

Angus hatte sich auch erhoben und sah ihnen mit schräg gelegtem Kopf entgegen. So etwas hatte er vermutlich auch noch nicht gesehen. Schritt für Schritt bewegten sie sich auf die Tür zu, wobei der Mann von Sekunde zu Sekunde schwerer zu werden schien. Er strauchelte, und Marisa schaffte es gerade noch, ihn vor einem Sturz zu bewahren. Ihre Wange lag an seiner mit Schweiß und Blut bedeckten Brust, während ihr freier Arm sich automatisch um seine Taille geschlungen hatte. Wundervoll, jetzt standen sie hier wie ein betrunkenes Liebespaar, und sie wusste nicht, wie sie ihn aufrecht halten sollte, wenn sie sich von ihm löste. Er würde schon ein wenig mithelfen müssen.

„Alles in Ordnung?“ Marisa verzog den Mund. Sehr intelligente Frage. Sein schwerer Atem und die Art, wie er sie als Kleiderständer benutzte, zeigten deutlich, dass er nicht in Ordnung war. Und Kleiderständer war vermutlich auch der falsche Ausdruck, zumal er gar keine Kleidung trug.

Es war nicht unbedingt ein angenehmes Gefühl, so dicht an einen nackten Unbekannten gepresst zu sein, dessen Blut gerade ihr Lieblingsgammeloutfit durchtränkte. Sie musste etwas tun, wenn sie ihn heute noch loswerden wollte und das möglichst, bevor ihr Rücken durchbrach. In Ermangelung einer besseren Idee kniff sie ihn kräftig in die Kehrseite.

Sein Körper zuckte gegen ihren, sein Kopf hob sich abrupt, ein Geräusch fast wie ein Fauchen entfuhr ihm. Marisa versuchte, sich von ihm zu lösen, doch sein Arm schlang sich fester um ihren Nacken. Ihr wurde bewusst, wie groß und kräftig er war und wie einfach er sie überwältigen konnte, wenn er es sich in den Kopf setzte. Ein scharfes Bellen erinnerte sie daran, dass Angus sich noch in der Nähe aufhielt. Sie war also nicht völlig schutzlos.

„Lassen Sie los, sonst hetze ich den Hund auf Sie.“

Der Körper des Mannes versteifte sich, aber er lockerte seinen Griff. Gut, immerhin schien er jetzt wach genug zu sein, dass sie den Rest des Weges zurücklegen konnten. Marisa löste sich von ihm, bis er sich nur noch auf ihre Schulter stützte. „Okay, noch ein paar Meter, dann können Sie sich ausruhen.“ Sie spürte eine Berührung an ihrem Knie. „Angus, ins Haus!“ Nach kurzem Zögern klackten seine Krallen über das Holz in Richtung Tür. Wunderbar, eine Sorge weniger.

Der kalte Wind ließ sie frösteln, obwohl sie durch die Aufregung und Anstrengung erhitzt war. Seltsamerweise strahlte der Fremde trotz seiner Nacktheit eine Wärme ab, die durch ihre Kleidung drang. Marisa biss sich auf die Lippe. Sie hoffte inständig, dass er nicht ernsthaft krank war, denn sonst konnte sie ihn nicht guten Gewissens vor die Tür setzen, sobald er dazu in der Lage war. Sie mochte keine Fremden – eigentlich niemanden – aber trotzdem war sie gerade dabei, einen sehr seltsamen, nackten Mann durch ihre Haustür zu bugsieren. Aber sein erschreckender Zustand ließ ihr keine Wahl. Außerdem machten sich Tote nicht gut im Lebenslauf, wie sie in New York bereits hatte feststellen müssen.

Marisa schnitt eine Grimasse als ihr klar wurde, dass sie ihr Bett würde hergeben müssen. Eine sehr unangenehme Vorstellung. Aber es half nichts, sie hatte kein Gästezimmer und verfügte nicht mal über ein Klappbett oder eine Luftmatratze. Mit letzter Kraft schleppte sie den Mann ins Schlafzimmer. Ursprünglich war die Idee gewesen, ihn langsam und vorsichtig ins Bett zu legen, doch beim letzten Schritt ließ er sich einfach nach vorne fallen und zog sie mit sich. Sein Oberkörper lag halb auf ihr und drohte, ihr die Luft abzuschnüren. Mühsam rutschte Marisa unter ihm heraus und landete schmerzhaft auf dem Boden. „Autsch.“ Für einen Moment lehnte sie sich an das hölzerne Bettgestell und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Schließlich rappelte sie sich auf. Der Mann lag bäuchlings quer über dem Bett, die Beine ragten heraus. Das konnte nicht wirklich bequem sein. Marisa schloss für einen Moment die Augen, bevor sie mit der Arbeit begann, den Mann so zu drehen, dass er vernünftig im Bett lag. Schließlich trat sie zurück. Okay, das wäre geschafft. Ängstlich wartete Marisa darauf, dass er die Augen öffnete, doch sie blieben geschlossen. Ein Blick auf die klaffende Wunde unter seinem Schulterblatt überzeugte sie davon, dass sie besser gleich mit dem Verarzten beginnen sollte.

Schnell holte sie eine Schüssel voll lauwarmem Wasser und den Verbandskasten und kehrte damit ins Schlafzimmer zurück. Der Mann schien sich nicht bewegt zu haben. Für einen winzigen Moment dachte sie, er wäre tot, doch dann sah sie das langsame Heben und Senken seines Brustkorbs. Unentschlossen, wo sie beginnen sollte, stellte Marisa die Schüssel auf den Nachttisch, zog die Latexhandschuhe über, tauchte einen Waschlappen ins Wasser und begann, die Haut um die Verletzung herum zu waschen. Übelkeit stieg in ihr auf, als sie die tiefe Wunde sah. Was konnte das für eine Waffe gewesen sein? Es war weder eine Schusswunde, noch sah es nach einem Messerangriff aus. Eher als hätte ihn ein Tier angefallen … Nein, das konnte nicht sein, dann wäre er nicht nackt. Vielleicht war er irgendwo gestürzt und hatte sich an Felsen verletzt? Aber auch dann verstand sie nicht, warum er keine Kleidung trug und wie er auf ihre Veranda gekommen war. Sie würde ihn fragen, sobald er zu sich kam, jetzt sollte sie sich darauf konzentrieren, ihn zu verbinden.

Methodisch reinigte sie die Wunden, desinfizierte sie und verband sie notdürftig. Sie war nicht darauf vorbereitet, einen Mann auf ihrer Veranda zu finden, der wie angestochen blutete und ihren gesamten Vorrat an Verbandsmaterial aufbrauchen würde, aber schließlich waren alle Wunden versorgt, die sie in seiner jetzigen Lage erreichen konnte. Sie richtete sich auf und rieb sich über ihren Rücken, der von der gebückten Haltung schmerzte. Nachdenklich betrachtete sie den Fremden. Wie sollte sie ihn umdrehen, ohne die Wunden wieder aufzureißen und ihm womöglich noch weitere Schmerzen zuzufügen? Sie würde einfach vorsichtig sein müssen, denn schließlich konnte sie ihn nicht liegen lassen und hoffen, dass er nicht aus einer verdeckten Wunde verblutete.

Marisa trat auf die andere Seite des Bettes, packte seine Schulter und die Hüfte und zog, einen Fuß gegen die Bettkante gestemmt, mit aller Kraft. Erst passierte gar nichts, dann rollte sein Körper schließlich herum, wobei sie allerdings erneut auf dem Boden landete. Leise fluchend kam sie wieder auf die Füße und erstarrte. Nicht, dass sie nicht wusste, wie ein nackter Mann aussah. Aber dieser war schon ein besonders gelungenes Exemplar. Die breiten Schultern reichten beinahe von einer Bettseite zur anderen, der behaarte Oberkörper war kräftig, die schmale Hüfte ging in lange, muskulöse Beine über. Marisa weigerte sich, das, was dazwischen lag, näher in Augenschein zu nehmen. Es reichte, wenn sie aus den Augenwinkeln den Streifen dunkelblonder Haare sah, der von der Brust abwärts verlief. Nach einem tiefen Atemzug konzentrierte sie sich wieder auf ihre Aufgabe. Glücklicherweise hatte er auf der Vorderseite nur eine Wunde am Oberarm und eine kleinere über den Rippen. Dafür würde ihr Verbandszeug gerade noch ausreichen.

Es bereitete ihr mehr Sorgen, dass er nicht wieder aufwachte. Vielleicht hatte er zu viel Blut verloren und lag nun im Koma. Nein, eigentlich war keine der Wunden so ernst, dass er dadurch verbluten konnte. Allerdings glaubte sie auch nicht mehr, dass er betrunken war, denn er roch nicht nach Alkohol. Eine Gehirnerschütterung oder sogar ein Schädelbruch wären auch eine Möglichkeit. Zögernd schob Marisa ihre Hände in seine Haare und tastete seinen Kopf ab. Die dunkelblonden Strähnen waren seltsam weich, fast als würde sie Fell berühren. Marisa verzog den Mund. Sie war eindeutig übermüdet. Sorgfältig forschte sie nach Beulen oder offenen Wunden, fand aber nichts.

Erleichtert trat sie zurück. Gut, das schien nicht der Grund für seine tiefe Bewusstlosigkeit zu sein. Also wohl doch Drogen. Vermutlich würde sie einfach warten müssen, bis er seinen Rausch ausgeschlafen hatte. Sie würde seine übrigen Wunden verbinden und ihm dann den Rest der Nacht Zeit geben, sich zu erholen. Wenn er morgen nicht aufwachte, würde sie wohl oder übel einen Arzt und die Polizei informieren müssen. Sicher wurde er auch schon vermisst, von seiner Frau oder Freundin … Marisa schüttelte den Gedanken ab. Das war nicht ihr Problem, sondern seines. Sollte er denen erklären, warum er nackt draußen herumlief und was passiert war. Mit inzwischen routinierten Bewegungen säuberte sie die Armwunde und desinfizierte sie. Auch diese Verletzung wirkte eher wie eine Risswunde und nicht wie ein Messerstich. Nun, er würde ihr hoffentlich morgen erklären können, was passiert war. Andererseits, vermutlich wäre es besser, wenn er einfach verschwand, ohne dass sie irgendetwas über ihn wusste. Schon jetzt spürte sie, wie sich die Reporterin in ihr zu regen begann.

Nein, diesmal würde sie ihre Neugier unterdrücken und sich nicht in Schwierigkeiten bringen. Außerdem war sie sich fast sicher, dass sie nicht wissen wollte, was der Fremde hier getrieben hatte. Leben und leben lassen, das war ihre neue Devise. Sie hatte genug damit zu tun, sich selbst über Wasser zu halten, sie konnte sich nicht auch noch um die Probleme anderer kümmern. Erst recht wenn es sich um einen Mann handelte. Einen kräftigen, gut aussehenden Mann. Die Erinnerung an Ben wirkte wie eine kalte Dusche. Es gab zwei feste Regeln in ihrem neuen Leben: keine Schlagzeilen und keine Männer. Beide waren erstaunlich leicht einzuhalten gewesen, zumindest bis heute Abend.

Heftiger als nötig wickelte Marisa den Verband um den Oberarm und befestigte ihn mit einem Klebestreifen. Die kleinere Rippenwunde war schnell versorgt, sodass Marisa sich kurz darauf aufrichtete, die Handschuhe auszog und einen Schritt zurücktrat. Ihr Rücken knackte protestierend und ein scharfer Schmerz breitete sich aus. Marisa unterdrückte gerade noch ein Stöhnen und presste ihre Fäuste in den unteren Rücken. Natürlich musste ihr nach der Anstrengung und dem gebückten Stehen der Ischiasnerv wieder Probleme bereiten, sie hätte es sich denken können. Andererseits hatte sie nicht wirklich eine Wahl gehabt, oder?

Bemüht, keine falsche Bewegung zu machen, ging sie zum Schrank und zog ein Laken und eine Decke hervor. Sie legte beides über den Fremden und steckte die Enden zwischen Bettkante und Matratze. Dann ging sie vorsichtig in die Hocke und hob ihr eigenes Bettzeug vom Boden auf. Angus zog es gerne vom Bett, eine dumme Angewohnheit, für die sie ihn schon oft – vergeblich – ausgeschimpft hatte. Aber diesmal war sie ihm dankbar dafür, denn dadurch lag es jetzt nicht vollgeblutet unter dem Fremden. Müde schleppte sie sich ins Wohnzimmer und blieb einen Moment lang unschlüssig stehen. Okay, als erstes ein Drink, dann eine heiße Dusche, und danach würde sie versuchen, es sich im Sessel so bequem wie möglich zu machen. Was im Grunde unmöglich war, besonders wenn ihr Rücken sich jetzt schon meldete, aber sie würde es zumindest versuchen.

Es wurde Zeit für die Dusche, sie fühlte sich schmutzig, physisch und psychisch erschöpft. Angus öffnete ein Auge, als sie an ihm vorbei ging. „Pass gut auf, okay? Nicht, dass wir noch weitere ungeladene Gäste bekommen.“

Sie beschloss, sein zuckendes Ohr als Zeichen der Zustimmung zu nehmen, griff sich ihr Nachthemd und verschwand im Bad. Zum ersten Mal seit sie hier eingezogen war, schloss sie die Tür ab. So schnell wie möglich entledigte sie sich der blutigen, verschmutzten Kleidung und stopfte sie in einen Müllbeutel. Rasch trat sie in die Duschkabine und drehte das heiße Wasser auf. Viel zu früh musste sie die Oase der Ruhe jedoch wieder verlassen, denn für lange Körperpflege fehlte ihr die Ruhe. Als sie sich das Nachthemd über den Kopf gezogen hatte und automatisch zum Fön greifen wollte, fiel ihr Blick in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken. Erschrocken hielt sie inne. Die Dusche mochte das Blut von ihrer Haut und aus ihrem schwarzen, langen Haar gewaschen haben, doch der Schreck über die unerwartete Begegnung mit dem Fremden war ihr immer noch deutlich anzusehen. Ihre dunklen Augen sahen ihr aus einem unnatürlich blassen Gesicht entgegen, und es lag ein angespannter Zug um ihre Lippen.

Marisa ließ den Fön wieder sinken. Irgendwie fühlte sie sich plötzlich zu müde, sich das Haar zu trocknen. Außerdem war das Ding so laut, und der Gedanke, dass sie dann nicht hören konnte, was im Haus passierte, machte sie nervös. Sie lauschte auf Geräusche aus den anderen Zimmern, doch es war immer noch ruhig. Sehr gut, sie hatte wirklich keine Kraft mehr, sich um irgendwelche größeren oder kleineren Probleme zu kümmern.

Sie drehte den Schlüssel herum und stieß die Badezimmertür auf. Die Hand am Lichtschalter hielt sie inne. Irgendetwas stimmte nicht. Behutsam schob sie den Kopf vor und sah um die Ecke. Nichts. Es war immer noch still im Haus, beinahe zu still. Sie tappte barfuß durch den kleinen Flur und warf einen Blick ins Schlafzimmer. Der Mann lag so da, wie sie ihn verlassen hatte. Dann waren es wohl nur ihre angespannten Nerven gewesen, die ihr einen Streich spielten. Beruhigt schaltete sie das Licht aus und ging ins Wohnzimmer.

Angus hatte es sich neben ihrem Sessel bequem gemacht und den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt. Als eine Holzbohle unter ihrem Fuß quietschte, hob er ein Augenlid, blinzelte sie verschlafen an und schloss es wieder. Kopfschüttelnd rückte Marisa den Fußhocker zurecht und schüttelte ihr Kissen aus. Mit einem unterdrückten Stöhnen sank sie in den Sessel, breitete die Decke über sich und versuchte, eine halbwegs bequeme Stellung zu finden. Schließlich gab sie seufzend auf und löschte das Licht. Mit Angus’ leichtem Schnarchen als Geräuschkulisse schlief sie kurz darauf ein.

2

Nein. Nein! Er musste weg bevor er … Schmerzen, alles schmerzte. Er musste es aufhalten, sonst würde er verraten, was sie all die Jahre beschützt hatten. Doch der Drang war stark, beinahe übermächtig. Seine angespannten Muskeln zitterten, kühle Luft strich über seine feuchte Haut. Er wollte hinaus, in die Nacht. Etwas war um seinen Körper geschlungen, hinderte ihn daran, sich zu bewegen. Furcht ließ ihn erstarren. Fesseln? Keine Erinnerung … Doch, sanfte Hände, ein schwarzer Wasserfall. Ein süßer Geruch … warme Haut. Eine samtige Stimme, die ihn aufforderte, ihr zu folgen. Ein weicher Körper, der sich an seinem rieb. Seine Finger ertasteten eine Matratze. Ein Bett. Wo war die Frau, hatten sie …? Unmöglich. Stoff rieb über seine Haut. Nackt. Ein scharfer Stich fuhr durch seinen Oberarm, als er ihn bewegte. Ein Gebiss blitzte auf, Zähne gruben sich in sein Fleisch. Gewalt, nicht Leidenschaft. Alles umfassende Wut. Bowen war nicht mehr hier, eine Falle. Keine Chance, wenn er versagte. Raus, sofort. Verstecken, bis sie ihn nicht mehr suchten. Ein Lichtschein im Fenster. Wärme. Der Geruch … Weg, schnell! Etwas grub sich in seine Seite. Zu spät …

Ohne Vorwarnung war Marisa hellwach, das Herz hämmerte in ihrer Brust, während sie versuchte, sich darüber klar zu werden, was sie aufgeweckt hatte. Ein dumpfes Grollen ertönte direkt vor ihrem Sessel. Angus! Erleichtert ließ sie sich wieder zurückfallen. Sie hatte schon gedacht … Marisa erstarrte. Der Hund würde sie nicht ohne Grund mitten in der Nacht wecken. Vielleicht spürte er eine Gefahr. Lautlos schob sie die Decke beiseite und setzte die Füße auf den Boden. Mit der Hand tastete sie nach Angus. Sein Grollen stoppte, als sie seinen Kopf berührte. Sie tätschelte ihn kurz, dann erhob sie sich. Bemüht, flach zu atmen und keinen Laut zu verursachen, tastete sie sich durch das Zimmer. Wenn jemand an der Tür gewesen wäre, hätte Angus längst gebellt, also musste seine Erregung durch etwas anderes verursacht worden sein. Und der einzige Grund, den sie sich vorstellen konnte, befand sich im Schlafzimmer. Lauschend blieb sie im Flur stehen. Jetzt hörte sie es auch, das Laken raschelte, ein Stöhnen ertönte. Hoffentlich riss er sich nicht die Wunden wieder auf, wenn er sich zu sehr bewegte.

Rasch betrat Marisa den Raum und tastete nach dem Lichtschalter. Das Licht flammte auf und beleuchtete das Bett. Sie hatte richtig vermutet, der Fremde bewegte sich unruhig, Schweiß schimmerte auf seiner Haut. Wenn er so weitermachte, würde er sich wehtun, soviel war sicher. Irgendwie musste sie ihn dazu bringen, sich wieder zu beruhigen. Seine Augenbrauen waren zusammengeschoben, der Mund verzerrt. Um ihn nicht zu erschrecken, beugte Marisa sich über ihn und berührte leicht seine Schulter. Ein stechender Schmerz an ihrem Arm ließ sie zurücktaumeln, doch bevor sie überhaupt realisiert hatte, was geschehen war, schlang sich bereits eine Hand um ihre Taille und zog sie in das Bett. In einer Mischung aus Entsetzen und Verwirrung starrte sie zu dem Mann hoch, der sich über ihr aufgestützt hatte und dabei weiterhin ihr Handgelenk festhielt. Seine seltsamen Augen waren offen, die Pupille beinahe vollständig von der Iris verschluckt. Er blickte ihr nicht ins Gesicht, sondern sah auf etwas neben ihr herunter. Marisa folgte seinem Blick und keuchte auf. Über ihren Unterarm zogen sich vier blutende Striemen, die sofort höllisch zu schmerzen begannen, sobald sie sie entdeckte. Er hatte sie angegriffen! Sie wusste nicht, wie und womit er die Verletzung verursacht hatte, aber sie würde nicht abwarten, bis er wieder auf sie losging. Mit aller Kraft versuchte sie, ihn wegzustoßen und sich unter ihm herauszurollen, doch er bewegte sich keinen Zentimeter. Stattdessen senkte er den Kopf. Marisa öffnete den Mund, um zu schreien, doch es kam kein Ton heraus, als sie sah, wie seine Zunge über die Striemen strich. Schock lähmte sie, wie erstarrt beobachtete sie, wie er eine blutende Wunde nach der anderen leckte. Ein merkwürdiges Gefühl durchzuckte sie, sie war sich nicht sicher, ob es Entsetzen oder Faszination war. Die Zunge war rau und kitzelte ihre empfindliche Haut.

Schließlich hob er den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Einige Tropfen Blut bedeckten seine Lippen. Seine Zungenspitze glitt darüber und verschwand wieder im Mund. Marisa verspürte das Verlangen, in Ohnmacht zu fallen, doch ihr Körper tat ihr nicht den Gefallen. Der Kerl musste wahnsinnig sein! Vielleicht war er ein irrer Kannibale, der seine Opfer aufaß, nachdem er sie zerstückelt hatte. Oder er hielt sich für einen Vampir und ernährte sich von Blut!

Mühsam versuchte Marisa, ihre Hysterie zu verdrängen. Viel wahrscheinlicher war, dass der Mann einfach nicht wusste, was er tat. Vielleicht gab es irgendwelche Drogen, die derartige Halluzinationen verursachten. Es konnte gut sein, dass er sich morgen nicht mehr an das erinnerte, was er getan hatte. Eines war aber ganz sicher: sie musste sofort hier raus, bevor er noch auf andere merkwürdige Ideen kam, die ihr mehr als nur ein paar Kratzer bescheren würden. Probehalber drückte sie gegen seine Brust, doch er bewegte sich nicht. Sie wollte ihn nicht noch mehr gegen sich aufbringen, aber sie musste sich befreien.

„Lassen Sie mich los, sofort!“

Ihre Stimme schien ihn zu erschrecken, seine Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, seine Nasenflügel blähten sich. Atemlos wartete Marisa auf eine Antwort, eine Bewegung, irgendetwas. Schließlich ging ein Ruck durch seinen Körper, er blinzelte, dann sah er sie an. Seltsam, seine Pupillen schienen sich in den wenigen Sekunden verändert zu haben, sie hatten jetzt beinahe eine normale Größe. Nur seine seltsam bernsteinfarbene Iris schien immer noch das Weiß zu verschlucken.

Vielleicht half es, wenn er gegen die Wirkung der Droge ankämpfte. Nun, er würde selber damit zurechtkommen müssen, sie wollte einfach nur zurück in ihr Bett … nein, da war sie bereits … zurück in ihren äußerst unbequemen Sessel, damit sie wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf bekam. Morgen früh würde sie sehen, ob sie ihm irgendwie helfen konnte, wenn er bis dahin noch nicht von selbst wieder in die Realität zurückgekehrt war. Als sie diesmal versuchte, aufzustehen, hinderte er sie nicht daran. Ihre Beine gaben nach, doch nach ein paar wackeligen Schritten hatte sie sich wieder unter Kontrolle.

In der Tür drehte sie sich noch einmal um. Der Fremde hatte sich ins Kissen zurückfallen lassen, und seine Augen waren wieder geschlossen. Rasch zog sie die Tür hinter sich zu und lehnte sich an die Wand. Was war da drin geschehen? Es war so blitzschnell gegangen, dass sie nicht sagen konnte, wie er sie überhaupt verletzt hatte. Und dann seine Zunge … irgendwie hatte sie nicht normal ausgesehen. Zu lang und irgendwie dünn. Gänsehaut überzog ihre Arme. Besser nicht darüber nachdenken, sicher hatte sie sich alles nur eingebildet. Die Erschöpfung spielte ihr einen Streich. Morgen würde sie feststellen, dass der Fremde ein ganz normaler Mann war, nur ein wenig nackter als diejenigen, die sie sonst zu Gesicht bekam. Kopfschüttelnd richtete sie sich auf. Darüber wollte sie erst gar nicht nachdenken, denn sonst … Zu spät, sein Anblick stand schon wieder deutlich vor ihren Augen. Der kräftige Körperbau, die straffen Muskeln in Armen und Beinen, die schlanke Hüfte und …

Mierda! Nein, darüber würde sie wirklich nicht nachdenken. Er war ein Mann, stand anscheinend unter Drogen und verhielt sich sehr merkwürdig. Ganz zu schweigen davon, dass er sie sogar verletzt hatte. Anstatt also absurden Schwärmereien nachzuhängen, sollte sie lieber nachsehen, ob sie ihre Wunde verbinden musste. Für einen Moment dachte sie darüber nach, die Tür zum Schlafzimmer zu verschließen, entschied sich jedoch dagegen. Der Fremde war stark genug, sie aufzubrechen, wenn er es wollte. Nein, sie würde sich darauf verlassen, dass Angus sie warnte, falls der Kerl noch einmal auf dumme Gedanken kam.

Sie ging ins Bad, schaltete das Licht an und schloss die Tür hinter sich. Doch als sie den Blick auf ihren Arm senkte, ließ sie sich fassungslos auf den Toilettensitz sinken. Was zum …? Die vier Striemen waren noch deutlich zu sehen, aber sie bluteten nicht mehr und schienen bereits den Heilungsprozess begonnen zu haben. Wie war das möglich? Sie hatte genau gesehen, wie das Blut daraus hervorgequollen war und dann … hatte der Fremde darüber geleckt. Vielleicht bewirkten die Drogen, die er intus hatte, eine schnellere Heilung? Genau genommen spürte sie auch keine Schmerzen mehr im Arm, seit seine Zunge sie berührt hatte. Sehr praktisch, so ein persönlicher Betäubungsmittelspender.

Marisa presste die Hand vor den Mund, als ein hysterisches Kichern hervorzusprudeln drohte. Genug! Wenn sie jetzt nicht endlich etwas Schlaf bekam, war sie morgen zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie musste sich nur ausruhen – dann würde sie auch nicht mehr Dinge sehen, die es gar nicht gab. Und falls doch, würde sie den Fremden vor die Tür setzen. Seltsame Männer waren das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnte.

Nach einem weiteren verwunderten Blick auf ihren Arm stemmte Marisa sich hoch und wusch sich die Hände. Den Impuls, die Wunde zu waschen, unterdrückte sie. Was auch immer der Fremde gemacht hatte, es schien zu helfen, und das sollte sie nutzen. Ohne noch einmal in den Spiegel zu sehen, der ihr sowieso nur tiefe Augenringe und Falten zeigen würde, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und sah auf Angus hinunter, der sich anscheinend von dem ganzen Aufruhr nicht hatte stören lassen, sondern wieder eingeschlafen war. Der macht es richtig, dachte sie mit einem schiefen Lächeln und rieb sich müde die Schläfen. Bett, sofort. Ohne weitere irrsinnige oder dämliche Gedanken. Einfach nur schlafen. Sie schob ihre Beine auf den Fußhocker und zog die Decke über sich. Ihr Rücken protestierte, als sie sich zurücksinken ließ, doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Morgen würde sie dann wieder in ihrem Bett schlafen und konnte alles andere vergessen. Morgen …

Marisa erwachte, als etwas Feuchtes ihre Hand berührte. Schlaftrunken setzte sie sich auf. Was war jetzt wieder los? Irgendwelche Notfälle, um die sie sich noch nicht gekümmert hatte? Sie blinzelte, bis sie die Augen mehr als nur einen Millimeter auf bekam. Etwas stieß an ihr Bein, erst sanft, dann immer drängender. Mit einem Stöhnen sank sie in den Sessel zurück. Angus. Eine seiner schlechteren Angewohnheiten war, dass er morgens Futter wollte und sich draußen erleichtern musste. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Sie war kein Frühaufsteher, aber normalerweise bekam sie es hin, die Tür für ihn zu öffnen und die Fleischbrocken in seinen Napf zu füllen, während er draußen beschäftigt war. Danach konnte sie bei Bedarf wieder ins Bett schlüpfen, während Angus zufrieden auf dem Teppich vor ihrem Sessel döste. Erneut ein Stupsen, begleitet von einem klagenden Wimmern.

„Okay, okay, ich komme schon.“ Marisa stöhnte auf, als sich ihre Rückenmuskulatur schmerzhaft zusammenzog. Anscheinend wurde es wieder Zeit für eine Sitzung bei ihrer Physiotherapeutin. Wo sie dafür bezahlen durfte, für ihre ungesunde Lebensweise beschimpft zu werden. Ja, natürlich sollte sie regelmäßig Sport treiben und natürlich sollte sie auch nicht schwer heben, und wenn dann nur aus den Beinen heraus. Und wie sollte sie das bitte machen, wenn ein halbtoter Mann auf ihrer Veranda lag und sie ihn irgendwie ins Haus schaffen musste?

Der Gedanke an den Fremden, der immer noch in ihrem Schlafzimmer lag, ließ Marisa schlucken. Sie musste nach ihm sehen, das wusste sie. Aber erst musste sie sich um den Hund kümmern, sonst würde Angus’ Sabber nicht nur ihre Hand, sondern auch den Sessel und den Boden einsauen. Sie stemmte sich mühsam hoch und schlurfte zur Tür. Sowie Marisa sie einen Spalt geöffnet hatte, schoss Angus hindurch. Der Herr hatte es eindeutig eilig, ein Zeichen dafür, dass es bereits ziemlich spät sein musste. Sie könnte natürlich auch die Sonne als Indiz nehmen, die bereits auf dem Weg in Richtung Süden war. Marisa lehnte sich gegen den Türrahmen und schloss die Augen. Tief atmete sie ein und genoss die saubere Luft.

Sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass es in Mariposa mitten am Tag so still war. Kein Vergleich zu New York City, wo es Tag und Nacht dröhnte und lärmte. Diesen Frieden hatte sie gesucht, als sie vor zehn Monaten mitten in der Nacht aus ihrem alten Leben geflohen war. Vermutlich hätte sie auch irgendwo an der Ostküste so einen Platz gefunden, aber sie zog es vor, einen ganzen Kontinent zwischen die Ereignisse und sich selbst zu legen. Sie hatte kurz darüber nachgedacht, nach Kanada oder sogar Alaska zu gehen, aber das war ihr dann doch ein wenig extrem vorgekommen. Die Gegend hier war schon in Ordnung – zumindest solange nicht spät abends irgendwelche nackten Verletzten auftauchten. Was zugegebenermaßen eher selten passierte.

Innerlich aufseufzend gestand sie sich ein, dass sie nur Zeit zu schinden versuchte, um eine erneute Begegnung mit dem Fremden hinauszuzögern. Dabei sollte sie sich eigentlich beeilen, um ihn schneller loszuwerden. Und das wollte sie unbedingt. Marisa ignorierte die beharrliche Stimme in ihrem Kopf, die ein ‚oder?‘ an die Aussage hängen wollte und stieß sich vom Türrahmen ab. Zuerst würde sie sich anziehen und etwas frisch machen und danach konnte sie sich dann um den Patienten kümmern, der hoffentlich inzwischen seinen Rausch ausgeschlafen hatte. Marisa drehte sich um und stieß einen erschreckten Schrei aus. Die Hand auf das Herz gepresst starrte sie den Fremden an, der seelenruhig in ihrem Wohnzimmer stand und sie beobachtete. Ihr Blick glitt für einen Sekundenbruchteil nach unten. Nackt, natürlich.

„Ich wollte Sie nicht erschrecken.“ Seine Stimme schien nicht mehr ganz so kratzig zu sein wie am Abend, aber sie war immer noch tief genug, um in ihrem Körper zu vibrieren.

„Und deshalb haben Sie sich so an mich herangeschlichen?“ Marisa räusperte sich, als sie merkte, wie atemlos ihre Frage klang.

„Deshalb habe ich Sie nicht angesprochen, während Sie in Gedanken weit weg waren.“

Immerhin schien er heute klarer zu denken als gestern. „Wie fühlen Sie sich?“

Ihr Blick folgte seiner Hand, die über seine Brust strich. „Etwas desorientiert, hungrig, und ein paar Muskeln schmerzen.“

Seine Bewegung war geschmeidig, beinahe hypnotisch. Marisa blinzelte einige Male, um den Bann zu brechen. „Erinnern Sie sich daran, was gestern passiert ist?“

„Sie haben mich gefunden.“

Ungeduldig fuchtelte Marisa mit der Hand. „Das weiß ich. Ich meinte, davor.“ Ein Schatten glitt über sein Gesicht, sein Mund presste sich zu einem Strich zusammen. „Ich wurde angegriffen. Ein Betäubungspfeil, damit ich mich nicht wehren konnte.“

Ungläubig starrte Marisa ihn an. „Ein Pfeil? Warum sollte jemand so etwas benutzen? Normalerweise bekommt man einen Knüppel über den Kopf oder wird gleich erschossen.“ Der Mann kam langsam auf sie zu. Er schien sich seiner Nacktheit überhaupt nicht bewusst. Marisa zwang sich, in seine Augen zu sehen.

„Äh … wie wäre es, wenn Sie erst mal wieder ins Bett gehen und mir dann sagen, wen ich anrufen kann, damit er Sie abholt und Ihnen auch gleich etwas zum Anziehen mitbringt?“

Dicht vor ihr blieb er stehen. Hitze schien in Wellen von ihm auszugehen, jedenfalls wurde ihr eindeutig zu warm in seiner Nähe. „Sehen Sie runter.“

„Wie bitte?“ Was ihre Empörung zum Ausdruck bringen sollte, klang schwach.

Seine Hand legte sich um ihren Nacken und zwang ihren Blick hinunter. „Sehen Sie den Einstich? Dort hat mich der Betäubungspfeil getroffen.“

Sie sah einen roten Punkt an seiner Hüfte, der alles Mögliche bedeuten konnte. Aber es gelang ihr nicht, sich darauf zu konzentrieren, denn es gab da noch etwas anderes, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Marisa versuchte, genug Speichel zu sammeln, um antworten zu können.

„Wie … ah … wie Sie meinen.“ Ihr Kopf schnappte hoch, als er ihren Nacken freigab. „Wäre es möglich, dass Sie mir ein wenig Freiraum lassen? Ich mag es nicht, wenn ich eingeengt werde.“

„Natürlich.“ Sofort trat er einige Schritte zurück.

Marisa verschränkte die Arme über der Brust, da sie ahnte, wie leicht er durch das dünne Nachthemd ihre Reaktion auf seine Nähe erkennen konnte. Nein, nur die automatische Reaktion ihres Körpers, nicht ihre eigene Entscheidung. Genau. Und wenn sie sich das oft genug sagte, würde sie es vielleicht auch glauben.

„Danke.“ Ihren Blick hielt sie konsequent auf seinem Gesicht. „Sie wurden also betäubt und angegriffen. Wie sind Sie entkommen?“

„Die Betäubung war zu niedrig angesetzt. Ich bin geflüchtet und …“ Er hob die Hände. „… hier gelandet, wie es aussieht.“

„Auf meiner Veranda, um genau zu sein. Angus hat sie bemerkt.“

Seine Augen schienen sich unmerklich zu verändern. „Angus? Ihr Mann?“

„Mein Hund. Der jeden Moment wieder da sein müsste.“

Der Fremde verzog seinen Mund. „Ich sollte mich wohl besser zurückziehen.“

„Sie brauchen keine Angst zu haben, er ist harmlos.“ Warum sagte sie ihm das? Sie hatte Angus erwähnt, damit er nicht auf die Idee kam, er könnte sie leicht überwältigen. Und nun sah es fast so aus, als wollte sie ihn schützen. Unglaublich. „Außer natürlich, wenn seine Herrin angegriffen wird.“ Sofern er nicht gerade schlief – aber das musste sie dem Unbekannten ja wirklich nicht auf die Nase binden.

Einer seiner Mundwinkel hob sich. „Natürlich.“ Er drehte sich um und ging in Richtung Schlafzimmer.

Marisa bemühte sich, nicht auf sein knackiges Hinterteil zu starren. „Wissen Sie noch, wo Sie Ihre Kleidung gelassen haben?“

Der Mann sah über seine Schulter zurück. „Ja, aber da kann ich nicht wieder hin.“

„Das verstehe ich, aber vielleicht könnte ich …“ Weiter kam sie nicht, denn er war mit wenigen Schritten bei ihr und umfasste ihre Handgelenke.

„Nein. Gehen Sie nicht dorthin. Es ist zu gefährlich. Haben Sie mich verstanden?“

„J…ja, natürlich. Wie sollte ich auch, ich weiß ja gar nicht, wo Sie waren.“

Seine Schultern entspannten sich. „Stimmt.“ Er lockerte seinen Griff, ließ sie jedoch nicht los. „Ich möchte nicht, dass Sie verletzt werden.“

Das klang irgendwie nett, wenn auch auf eine etwas altmodische Weise. Ihre Haut prickelte, als sein Blick an ihr hinunter glitt.

„Gut, wenn Sie jetzt …“ Weiter kam sie nicht.

„Woher haben Sie das?“

Das? Meinte er ihre im Nachthemd deutlich sichtbaren Brustwarzen? Hitze stieg in ihre Wangen. „Was?“

Er hob ihren Arm an. „Das.“

Verdutzt starrte sie auf ihren Unterarm, über den sich immer noch deutlich sichtbar die Kratzer zogen. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht, es sogar für den Teil eines merkwürdigen Traumes gehalten. „Das waren Sie letzte Nacht. Sie schienen einen Alptraum zu haben, ich habe versucht, Sie zu wecken und da …“ Sie zuckte mit den Schultern. Ihr Versuch, die Sache herunterzuspielen, misslang.

Die Augenbrauen zusammengeschoben starrte er auf die Striemen. Schließlich fuhr er mit dem Finger darüber. „Das tut mir leid. Tut es weh?“

„Nein, nicht mehr. Sie haben …“ Hilflos brach sie ab. Wie sollte sie erklären, dass er in seinem Wahn darüber geleckt hatte?

„Was?“ Als sie nicht antwortete, verstärkte er seinen Griff. „Habe ich etwas getan?“

Zögernd nickte Marisa. „Sie haben … die Wunden geleckt.“

Seine Augen schlossen sich, die Nasenflügel zitterten. Oh verdammt, hoffentlich regte ihn das nicht zu sehr auf. Sicher musste es ziemlich widerlich sein zu wissen, dass man das Blut einer fremden Person aufgeleckt hatte. Sie legte ihre Hand auf seine. „Es ist kein Problem, Sie standen unter dem Einfluss der Betäubung und wussten nicht, was Sie taten. Ich habe keine Krankheiten oder so, falls Sie sich darum Sorgen machen.“ Sie sah auf ihre Hände hinunter und bemerkte dabei, dass sich eine recht deutliche Erektion bei ihm abzeichnete. Abrupt hob sie den Blick und sah direkt in seine Augen. Vorher hatten sie beinahe normal gewirkt, doch nun schien die bernsteinfarbene Iris wieder das Weiß zu verdrängen, die Pupillen waren zu kleinen Punkten zusammengezogen. Verdammt, wie machte er das? Faszination und Entsetzen kämpften in ihr miteinander und ließen sie stocksteif stehen bleiben.

„Das war meine geringste Sorge.“ Seine leise Stimme glich einem dumpfen Grollen.

Marisa versuchte, ihre Hand zu befreien, doch er hielt sie mühelos fest. Atemlos sah sie zu, wie er den Kopf senkte und einen Kuss auf ihre Wunden hauchte. Seltsam schwindelig verspürte Marisa den unbändigen Wunsch, ihre Finger durch seine Haare gleiten zu lassen … Ein Ruck lief durch ihren Körper. Sie war wahnsinnig, diesen Fremden so dicht an sich herankommen zu lassen. Er war ein Mann, er war nackt und er hatte einen beachtlichen Ständer. Nichts, was sie in ihrem Leben wollte oder brauchte. Oder zumindest außerhalb der batteriebetriebenen Version. Sie trat einen Schritt zurück und befreite damit ihre Hand. Der Fremde schien den Wink zu verstehen, denn auch er zog sich zurück und sah sie abwartend an.

„Zeigen Sie mir Ihre Zunge.“

Ihr Befehl schien ihn zu überraschen, seine Augenbrauen hoben sich. „Warum?“

„Weil ich etwas überprüfen will.“

„Der Betäubungspfeil war …“

„… in Ihrer Hüfte, ja danke, das habe ich gesehen. Zunge raus.“

Erst sah es aus, als wollte er noch einmal ablenken, doch dann schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, waren die Veränderungen verschwunden. Er schob seine Zunge heraus.

Völlig normal. Sie musste wirklich unter Halluzinationen leiden oder die Furcht und die Schmerzen hatten sie verwirrt.

„Zufrieden?“

„Ich dachte …“ Marisa schüttelte den Kopf. Warum sollte sie ihm erklären, was sie glaubte, gesehen zu haben? Sie würde ihm Frühstück machen, etwas zum Anziehen besorgen und ihn dann aus dem Haus werfen. Ende der Geschichte.

Seine Finger strichen über ihre Wange, ein seltsames Gefühl, weich und fellig? Er zog die Hand zurück, bevor sie es genauer ergründen konnte. „Glauben Sie nie, was Sie sehen. Lassen Sie sich von Ihren Sinnen leiten.“

Mit offenem Mund starrte Marisa ihm nach, als er ins Schlafzimmer zurückkehrte und die Tür hinter sich schloss.

Coyle ließ sich erschöpft auf das Bett sinken. Es kostete zu viel Kraft, die ganze Zeit so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Als wäre er in Ordnung. Vor allem sollte er sich daran erinnern, dass es für jemanden wie seine unfreiwillige Gastgeberin nicht normal war, sich in Gegenwart eines nackten Menschen aufzuhalten oder von ihm berührt zu werden. Auch wenn er gespürt hatte, wie sie auf ihn reagierte … Er ballte die Hände auf seinen Oberschenkeln zu Fäusten.

Es war gefährlich, sich ablenken zu lassen. Vor allem nachdem er gemerkt hatte, wozu sie fähig waren. Bowens Entführer war regelrecht zerfetzt worden, und damit hatte er seine einzige Spur zu dem Jugendlichen verloren. Coyle schloss die Augen. Zu spät. Seit Tagen folgte er der Fährte, nur um in einer Sackgasse zu landen. Er würde den Jungen nie finden. Wie sollte er Amira das beibringen? Sie hatte sich auf ihn verlassen, geglaubt, dass er ihren Sohn zurückbringen könnte. Und er war so dicht dran gewesen. Nur um festzustellen, dass es sich um eine Falle handelte.

Wäre das Betäubungsmittel nur einen Tick höher dosiert gewesen, wäre er nun auch in der Gewalt der Entführer. Er war stärker als Bowen, doch gegen Drogen oder Folter wäre auch er letztlich machtlos. Das Schicksal so vieler hing davon ab, dass er den Jungen befreite, und es durfte niemand mehr in die Hände dieser Verbrecher fallen. Doch wie sollte er das bewerkstelligen? Sie wussten nun, dass er hinter ihnen her war, sie kannten ihn und würden nach ihm Ausschau halten. Ein dumpfes Grollen stieg in seiner Kehle auf, das er sofort unterdrückte. Er musste sich besser unter Kontrolle halten, besonders in Gegenwart der Frau. Die Betäubungsmittel hatten seine Selbstkontrolle untergraben, dafür waren die Wunden an ihrem Arm ein schrecklicher Beweis. Anscheinend hatte er sie sogar geleckt, was auf keinen Fall hätte passieren dürfen. Kein Wunder, dass sie ihn so misstrauisch ansah. Nie hätte er ihr zu nahe kommen dürfen, schon gar nicht in seinem derzeitigen instabilen Zustand. Er war eine Gefahr für sie, genauso wie sie für ihn. Am Besten holte er seine Kleidung aus dem Versteck und versuchte dann, eine neue Spur von Bowen zu finden. Was nachts allerdings sicherer wäre. Doch wo sollte er sich so lange verstecken?

Ein Klopfen ertönte an der Tür. „Wie sieht es aus, haben Sie Hunger?“

Wie auf Befehl knurrte sein Magen so laut, dass sie es sicher auf der anderen Seite der Tür hören konnte. „Ja, sehr großen.“

„Dann kommen Sie in die Küche.“ Sie zögerte. „Verhüllt, wenn möglich.“

Coyles Mundwinkel hob sich. Wie es schien, brauchte er sich erst später Gedanken über sein weiteres Vorgehen machen, für die nächste Zeit hatte er noch einen Unterschlupf. „Natürlich. Ich bin sofort da.“

Mit einem Ruck zog er das Laken vom Bett und band es sich um die Hüfte. Er zuckte zusammen, als seine Finger dabei über den Verband um seine Rippen strichen. Es wurde Zeit, sich um seine Verletzungen zu kümmern, doch zuerst brauchte er Nahrung, um wieder zu Kräften zu kommen. Coyle prüfte noch einmal, ob das Laken auch alles verhüllte, was seine Gastgeberin aus der Fassung bringen könnte, und ob es fest saß, bevor er die Tür öffnete.

Der Duft von Kaffee führte ihn zielsicher in die Küche. Obwohl es eher so aussah, als wäre eine Vorratskammer umgebaut worden, sodass ein alter Herd, ein noch älterer Kühlschrank und ein Spülbecken hineinpassten. Zwei Hängeschränke beherbergten vermutlich Geschirr und Vorräte, während sich an die gegenüberliegende Wand ein Klapptisch lehnte, der mit zwei Gedecken schon überfüllt wirkte. Zwei Hocker standen darunter. Coyle bemühte sich, einen Anfall von Platzangst zu überwinden, während er beobachtete, wie die Frau sich reckte, um eine Packung vom oberen Regalbrett zu nehmen, und ihr hochrutschendes Shirt dabei einen Streifen Haut offenbarte. Der Drang, diese Stelle genauer zu erkunden, war beinahe übermächtig.

Mit Mühe lehnte Coyle sich scheinbar locker an den Türrahmen. „Wie heißen Sie?“

Die Packung rutschte ihr aus der Hand und streifte die Herdkante, bevor Coyle sie kurz über dem Boden auffing. Er verzog das Gesicht, als die Wunden gegen die schnelle Bewegung schmerzhaft protestierten.

Die Frau wirbelte zu ihm herum, eine Hand auf ihre Brust gepresst. „Haben Sie mich erschreckt! Ich habe Sie nicht kommen gehört.“

Coyle deutete auf seine nackten Füße. „Schwer, damit Lärm zu machen. Aber ich hätte meine Anwesenheit ankündigen sollen. Es tut mir leid.“ Er reichte ihr die Packung.

„Ihre Reflexe haben anscheinend nicht unter den Verletzungen gelitten.“ Während sie sprach, drückte sie die Packung unbewusst an ihre Brust, als versuchte sie, Abstand von ihm zu gewinnen, was durch den kleinen Raum kaum möglich war.

Coyle trat trotzdem einen Schritt zurück, sodass er nun wieder am Türrahmen lehnte. „Nein, aber ich fürchte, meine Wunden haben unter meinen Reflexen gelitten.“

„Oh.“ Ihre Schneidezähne gruben sich in die Unterlippe. „Soll ich sie mir nachher noch einmal ansehen?“

„Das ist nicht nötig.“

Eine Mischung aus Schuldbewusstsein und Erleichterung malte sich auf ihrem Gesicht ab. „Wie Sie meinen.“ Sie drehte sich wieder zum Schrank um. „Was möchten Sie essen? Viel habe ich nicht da, aber Sie können zwischen Corn Flakes und Müsli wählen.“

Glücklicherweise konnte sie die Grimasse nicht sehen, die er zog. Es war undankbar von ihm, auch noch ein vernünftiges Frühstück zu erwarten. „Das ist mir im Grunde egal. Der Kaffee riecht gut.“ Aber sie roch noch besser. Ein leichter, frischer Duft mit erdigen Nuancen, der ihn wünschen ließ, gründlicher an ihr schnuppern zu können.

„Das liegt daran, dass es frisch gemahlener Kaffee ist.“ Sie drehte sich wieder um. „Setzen Sie sich, es wird hier zu eng, wenn zwei Leute stehen.“

Gehorsam ließ er sich vorsichtig auf dem Hocker nieder, nicht sicher, ob er sein Gewicht tragen würde. Während sie ihm eine Tasse Kaffee eingoss, ließ Coyle seinen Blick erneut über seine Retterin gleiten. Ihre unförmige Freizeitkleidung verdeckte ihren Körper, aber er meinte, sich an schlanke Formen erinnern zu können, die er berührt hatte. Ihre schwarzen Haare trug sie in einem langen, geflochtenen Zopf, streng aus dem Gesicht zurückgekämmt. Sie harmonierten mit ihrer gebräunten Hautfarbe und den dunkelbraunen Augen. Die Lippen unter der leicht gebogenen Nase waren voll und luden dazu ein …

Ertappt zuckte er zusammen, als sie ihn direkt ansah. „Danke.“ Der Kaffee duftete tatsächlich verführerisch. Er schloss die Augen, als er den ersten Schluck genoss.

„Sie können auch Milch …“ Ihre raue Stimme strich über ihn. Gänsehaut überzog seinen Körper, seine Muskeln spannten sich an. „Geht es Ihnen nicht gut?“

Coyle zwang sich dazu, die Augen wieder zu öffnen. Die Frau hatte sich zu ihm hinunter gebeugt und betrachtete ihn besorgt.

„Der Kaffee ist perfekt.“ Er unterdrückte ein zufriedenes Grinsen, als ihr Blick sich auf seinen Mund senkte. Doch dann erinnerte er sich, weshalb er hier saß. „Sie haben mir noch nicht geantwortet.“

Verwirrt sah sie ihn an. „Worauf?“

„Wie Sie heißen.“

Aus irgendeinem Grund pressten sich ihre Lippen zusammen, und ihre vorher freundliche Haltung wurde feindselig. Anscheinend hatte er einen wunden Punkt getroffen. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, warum eine einfache Frage nach etwas so Neutralem wie ihrem Namen eine solche Reaktion hervorrief, aber es war so.

„Warum wollen Sie das wissen?“ Stachelig wie ein Kaktus.

„Ich versuche, höfliche Konversation zu betreiben. Sie kennen zu lernen.“

„Lassen Sie es, es führt zu nichts.“

Coyle hob die Augenbrauen. „Sie haben mir geholfen, als ich mich in einer heiklen Situation befand. Ich möchte doch einfach nur wissen, wem ich dafür danken kann.“

Die Linie ihres Mundes wurde etwas weicher. „Das brauchen Sie nicht.“ Ihre Hand schloss sich um das Ende ihres Zopfes.

„Und wenn ich es möchte?“

Sie verdrehte die Augen. „Dann sagen Sie danke, und gut ist es.“

„Untgutistes? Das ist aber ein seltsamer Name.“

Ihre Mundwinkel begannen zu zucken, was er als gutes Zeichen wertete. „Sie sind ziemlich nervtötend. Und ich wüsste nicht, dass Sie mir Ihren Namen schon verraten hätten.“

„Coyle.“

Sie musterte ihn und nickte schließlich. „Ungewöhnlich, aber er passt zu Ihnen.“

„Danke.“

Seine trockene Bemerkung brachte sie zum Grinsen. „Gern geschehen. Würden Sie mir eine Frage beantworten?“

Coyles Muskeln spannten sich an. Bloß nicht wieder so eine Frage wie nach seiner Zunge. „Eventuell.“

„Corn Flakes oder Müsli?“

Sein Stöhnen war nur halb gespielt.

Nach dem Frühstück, das schweigend, aber in entspannter Atmosphäre ablief, lehnte sie sein Angebot, ihr beim Abwasch zu helfen, ab und schickte ihn stattdessen zurück ins Bett. Coyle gehorchte. Nicht, weil er sich noch weiter ausruhen musste, wie sie scheinbar annahm, sondern weil er die Zeit brauchte, sich um seine Wunden zu kümmern und sich zu überlegen, wie er weiter vorgehen sollte.

Sowie er die Tür hinter sich schloss, warf er das Laken aufs Bett. Er setzte sich auf die Bettkante und begann, den Verband um seinen Oberarm zu entfernen. Der Anblick der tiefen Bisswunde fachte erneut seine Wut an. Wer waren die Angreifer gewesen? Hunde sicher nicht, sie hatten nicht gebellt, wie sie es sonst immer taten, wenn sie ihn rochen. Wölfe? Aber er hatte noch nie welche gesehen, die auf Menschenbefehle hörten. Egal wer sie waren, er musste davon ausgehen, dass sie seinen Geruch jetzt kannten und ihn leicht aufspüren konnten. Wenn sie schlau waren, würden sie der Spur folgen, die sie direkt hierher führte. Der Gedanke, dass seine unfreiwillige Retterin durch ihn in Gefahr sein könnte, verstärkte seinen Groll. Wenn er verschwand, musste er eine deutliche Fährte hinterlassen, die jedem sofort klarmachen würde, dass er weitergezogen war.

Coyle hob den Arm und begann, über die Wunde zu lecken. Wie immer beruhigte ihn diese Tätigkeit und ermöglichte es ihm, seine Gedanken zu ordnen. Für die anderen Verletzungen würde er hier nichts tun können, aber er hatte keine Zeit, dafür nach Hause zurückzukehren. Sie würden von selbst heilen müssen. Coyle stand auf und ging zum Kleiderschrank, der in der Ecke des Schlafzimmers stand. Mit einem Hauch von schlechtem Gewissen öffnete er die Türen und begann, die Kleidung durchzugehen, die sich darin befand. Vielleicht hatte ein früherer Freund seiner Gastgeberin irgendetwas zurückgelassen, das er sich borgen konnte. Er atmete tief ein, als ihm ihr Geruch entgegen strömte. Hm, viel besser als der Kaffee. Etwas wie Hunger wühlte in seinem Magen, sein Mund wurde trocken. Mit den Fingern strich er über die Kleider und gab schließlich dem Impuls nach, seine Wange an einem weichen Vliespulli zu reiben. Die Augen geschlossen, brummte er tief in der Kehle. Gut.

Sein Kopf ruckte hoch, als lautes Bellen an seine Ohren drang. Gänsehaut überzog seinen Körper, seine Nackenhaare sträubten sich. Vermutlich der Hund seiner Retterin. Doch warum sollte er auf einmal anschlagen, wenn er sich vorher die ganze Zeit still verhalten hatte? Es kam jemand. Durch die geschlossene Tür konnte er die Stimme der Frau hören, die dem Hund befahl, mit dem Getöse aufzuhören. Ein kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht. Sie mochte also keine Hunde, anscheinend hatten sie da etwas gemeinsam. Seine Belustigung erlosch so schnell, wie sie gekommen war, als er ihr Gespräch mit dem Besucher belauschte, der sich als Polizist identifizierte. Coyles Blick glitt zum Fenster. Er musste sofort verschwinden.

3

Marisa starrte die Polizeimarke an, die der Uniformierte ihr unter die Nase hielt. Warum konnte sie nicht die Augen schließen und dann wäre er einfach verschwunden? Allerdings hatte das beim letzten Mal auch schon nicht funktioniert, es wäre also sinnlos, es zu versuchen. Nicht bereit, ihren Unwillen zu verbergen, blickte sie schließlich auf. „Scheint echt zu sein.“

Der Polizist, Harry Markov stand auf dem Schild an seinem Uniformhemd, lief bei ihrer Bemerkung rot an. „Natürlich ist sie echt!“ Wütend schob er das Etui zurück an seinen Hosenbund. „Sind Sie jetzt bereit, uns ein paar Fragen zu beantworten?“

„Uns?“ Marisa versuchte, an ihm vorbeizuschauen, was bei seinem Körperumfang nicht so einfach war.

Erneut schien sie etwas Falsches gesagt zu haben. Sie bemühte sich, ihr zufriedenes Grinsen nicht zu zeigen, als Markovs Lippen immer dünner wurden. 2:0 für sie!

„Mein Kollege untersucht gerade Ihre Veranda.“

Ihre Belustigung verschwand innerhalb eines Sekundenbruchteils. „Was? Warum sollte er das tun?“

Diesmal war dem Polizisten die Zufriedenheit anzusehen. „Weil hier in der Nähe ein Verbrechen begangen wurde, und wir eine Spur bis zu Ihrem Haus verfolgt haben.“

„Ein Verbrechen? Ist jemand verletzt?“ Ein klammes Gefühl breitete sich in ihr aus.

„Das könnte man so sagen. Der Typ ist mausetot, wurde regelrecht zerfleischt, um genau zu sein.“

Marisa bemühte sich, die Panik nicht zu zeigen, die in ihr aufstieg. „Danke für die anschauliche Schilderung.“

Für einen kurzen Augenblick wirkte Markov verlegen, dann räusperte er sich. „Jedenfalls haben wir eine Blutspur und Abdrücke bis zu Ihrem Haus verfolgt. Haben Sie letzte Nacht irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt?“ Während er sprach, versuchte er, an ihr vorbei ins Haus zu sehen.

Wie zufällig zog Marisa die Tür noch weiter zu, bis nur noch ein kleiner Spalt offen stand, den sie mit ihrem Körper verdeckte. „Nein.“ Sie befeuchtete ihre trockenen Lippen mit der Zunge. „Wer wurde getötet?“

„Harry, komm her, das musst du dir ansehen.“ Die Stimme des Kollegen klang aufgeregt.

„Entschuldigen Sie mich für einen Moment.“ Markov bewegte sich erstaunlich schnell für sein Gewicht. Wahrscheinlich war er froh, dass endlich einmal etwas los war und er ein richtiges Verbrechen untersuchen konnte.

Marisa verzog den Mund. Vielleicht war sie aber auch einfach nur zu zynisch. Sie kannte den Polizisten nicht und sie wollte ihn auch nicht kennenlernen, aber vermutlich sollte sie ihm zugestehen, dass er seine Arbeit gut machte, solange das Gegenteil nicht bewiesen war. Wobei sie wieder bei ihrem Problem war: Eine Spur führte vom Schauplatz eines Mordes bis zu ihrem Haus. Das konnte nur bedeuten, dass Coyle irgendwie darin verwickelt war. Warum hatte er ihr nichts davon gesagt? Wäre er nur ein Zeuge gewesen, hätte er ihr doch bestimmt von dem Mord erzählt, sowie er das Bewusstsein wiedererlangte. Aber er hatte nichts gesagt, keinen Ton. Stattdessen war er nackt durch ihr Haus spaziert, als könne er kein Wässerchen trüben. Zu gern wäre sie jetzt ins Schlafzimmer gestürmt und hätte ihn zur Rede gestellt, aber das musste warten, bis sie Laurel und Hardy wieder losgeworden war.

Markov hockte neben seinem wesentlich dünneren Kollegen und untersuchte etwas auf dem Boden in der Ecke der Veranda. Natürlich wusste Marisa genau, was sie dort gefunden hatten, schließlich hatte sie die Blutflecke nachts auch bemerkt. Es war Coyles Blut, nicht das des Opfers, doch das konnten die Polizisten natürlich nicht wissen.

Ein dumpfes Grollen zeigte ihr, dass Angus noch hinter der Tür stand und sein Territorium verteidigte. Es war beinahe lustig gewesen, zu beobachten, wie der Bloodhound auf die Männer losgegangen war, nachdem sie es gewagt hatten, aus dem Polizeiwagen auszusteigen. Notgedrungen hatte sie ihn ins Haus gezerrt und dafür gesorgt, dass er die Polizisten nicht zum Frühstück verspeiste. Obwohl ihr das gefallen hätte.

Markov erhob sich und kam zu ihr zurück, seine Miene hochoffiziell. „Ma’am, auf Ihrer Veranda befinden sich Flecke, die wir für Blut halten. Können Sie mir sagen, wie sie dort hingekommen sind?“

Marisa verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein, keine Ahnung.“ Es zahlte sich eben doch aus, dass sie als Reporterin das Bluffen perfektioniert hatte.

„Sie haben tatsächlich nichts gesehen oder gehört?“

Marisa knabberte an ihrer Unterlippe. „Es könnte sein, dass Angus nachts etwas gehört hat.“

„Ihr Mann?“

Es gelang ihr gerade noch rechtzeitig, die Grimasse aufzuhalten. „Der Hund, der Sie nicht aus dem Wagen lassen wollte.“

Markovs Gesicht färbte sich wieder rötlich. „Ah, ja. Er hat also etwas gehört? Was denn?“